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Das Unglück, Verstand zu haben

(1905)

Der Zug war nicht überfüllt. Ich durfte hoffen, in meinem Coupé allein zu bleiben, zumal nachdem ich mich mit dem Schaffner darüber verständigt und meinen Wunsch durch einen gehaltvollen Händedruck bekräftigt hatte. Doch schon auf einer der nächsten Stationen, wo ein großes Menschengewühl den Bahnhof füllte, öffnete mein Gönner plötzlich die Thür und trug einiges Handgepäck herein, mit verlegenem Achselzucken und indem er mir zuraunte: Hab's nicht anders machen können. Ist nur eine einzelne Dame, aber was für eine!

In der That folgte ihm auf dem Fuß eine Dame, deren Erscheinung das Zeugniß des Schaffners rechtfertigte: eine schlanke Gestalt mit leichten, sicheren Bewegungen, in der geschmackvollsten, doch sehr einfachen Reisetoilette, unter einem silbergrauen Schleier ein schönes, nicht mehr ganz junges Gesicht mit ernsten, dunklen Augen und einem Grübchen in der linken Wange. Sie erwiderte meinen Gruß mit einem leichten Neigen und installierte sich in der leeren Fensterecke mir gegenüber, indem sie ein elegantes Handtäschchen neben sich stellte, den Schleier zurückschlug und ein Buch hervorholte, in das sie sich, sobald der Zug sich wieder in Bewegung setzte, eifrig zu vertiefen schien.

Ich hatte nun alle Muße, sie näher zu betrachten, da sie nicht die geringste Notiz von mir nahm und die Gegend, durch die wir fuhren, so reizlos war, daß sie keinen Blick durch das Fenster warf. Die breiten Augenlider fielen mir auf, die sie auf das Buch gesenkt hatte, die schöne Stirn unter dem leicht gewellten aschblonden Haar und die zarte Linie der geraden Nase, deren Flügel leicht erzitterten, wenn etwas, das sie las, sie erregte. Besonders schön war der Mund, der auch im Schweigen einen lebhaft bewegten Geist verrieth, während das schon erwähnte Grübchen dem Gesicht bei allem Ernst einen witzigen Zug verlieh.

Das Buch, das sie las, war ein Tauchnitzband. Doch stand es mir außer Zweifel, daß ich eine Deutsche mir gegenüber hatte, und so sehr ich es sonst vermeide, in einem Eisenbahnwagen Bekanntschaften anzuknüpfen, diesmal fühlte ich eine lebhafte Neugier, von dem ungewöhnlich anziehenden Wesen etwas Näheres zu erfahren, vor allem zu hören, was für eine Stimme aus diesem weichen und doch charaktervollen Munde ertönen möchte.

Ein Blick, den ich zufällig auf das Handtäschchen warf, kam mir zu Hülfe. Ich las auf einem silbernen Schildchen den Namen der Besitzerin, einen mir sehr wohlbekannten, da einer meiner Jugendfreunde, der in Berlin wohnte, diesen Namen trug. Ohne mich lange zu bedenken, ergriff ich diesen Anknüpfungspunkt und sagte, als die Leserin nun doch einmal eine Pause machte und in die vorbeifliegende Landschaft hinaussah:

Ist es sehr indiscret, gnädige Frau, wenn ich eine Frage an Sie richte, zu der mich der Name auf Ihrer Reisetasche anregt? Alte Freunde von mir heißen so, und obwohl der Name nicht ganz selten ist, kommt er in dieser Schreibart doch nur in einem engeren Kreise weniger Familien vor. Wenn Sie daher mit dem Berliner Zweige verwandt wären – mein Freund ist Professor an der Universität+...

Sie sprechen von meinem Onkel, erwiderte sie ruhig, dem älteren Bruder meines Vaters. Es ist wieder die alte Geschichte von der kleinen Welt, in der man keine hundert Schritte thun kann, ohne auf Menschen zu stoßen, mit denen man in näherer oder entfernterer Beziehung steht. Auch Sie sind mir nicht fremd, nicht bloß durch Ihre Schriften. Ich habe Ihr Porträt bei meinem Onkel gesehen, als ich vor acht Jahren längere Zeit in seinem Hause lebte und oft von Ihnen sprechen hörte.

Ihre Stimme war sehr klangvoll, aber ihre Art zu sprechen hatte etwas Müdes, Gleichgültiges, wie wenn sie es im Grunde nicht der Mühe werth hielte, sich zu äußern, oder, während sie sprach, an etwas Anderes dächte.

Ich war längere Zeit nicht wieder in Berlin gewesen, und da mein dortiger Freund ein Feind des Briefschreibens war, ohne Nachricht von ihm geblieben. Nun hatte ich den besten Anlaß, das Gespräch mit meiner schönen Reisegefährtin fortzusetzen, indem ich sie nach allen Mitgliedern seiner Familie befragte.

Sie gab mir freundlich Bescheid, und die herzliche Art, wie sie von ihren Verwandten sprach, besonders von den beiden Töchtern des Hauses, ihren Cousinen, zeigte mir, daß sie die beste Eigenschaft des Menschen besaß, sich an fremdem Glück zu erwärmen.

Während sie sprach, war sie mir immer schöner und liebenswürdiger erschienen. Ich that immer neue Fragen, auch solche, deren Beantwortung mir ganz gleichgültig war, nur um zu sehen, wie ihre feingeschwellten Lippen sich bewegten und die weißen Zähne dazwischen vorglänzten.

Seltsam, daß ich Ihnen dort nie begegnet bin, gnädige Frau, noch von Ihnen gehört habe, sagte ich endlich.

Das ist sehr einfach, versetzte sie. Ich bin vor acht Jahren zum erstenmal nach Berlin gekommen, und seitdem haben Sie sich dort nicht mehr blicken lassen. Bis dahin hatte ich in Frankfurt an der Oder gelebt, wo mein Vater Justizrath und ein vielbeschäftigter Advokat war. Unsere Berliner Verwandten haben uns oft zu sich eingeladen. Ich konnte aber nicht leicht von Hause fort, meine Mutter war gestorben, als ich erst vierzehn Jahr alt war, da mußte ich für sie eintreten, die Wirthschaft führen und den Vater versorgen und meinen einzigen Bruder, der zwei Jahr älter war als ich. Erst als der Vater gestorben war, konnte ich das Haus verlassen, da der Bruder längst als Pächter auf einem großen Gut im Fränkischen lebte. Ich war damals fünfundzwanzig Jahre alt, noch eine rechte Provinzpflanze, der es sehr noth that, in der Großstadt ein bischen aufzublühen. Aber bis zur gnädigen Frau, wie Sie mich nennen, hab' ich's in Berlin nicht gebracht. Ich bin noch immer Fräulein und werde als solches wohl auch dereinst zu meinen Müttern versammelt werden.

Sie hatte das ganz heiter gesagt und sah mich nun mit einer Miene an, als ob der Ausdruck meines Gesichts sie belustigte.

Scheint Ihnen das so unglaublich? sagte sie. Trauen Sie mir nicht so viel Verstand zu, daß ich mit meinen vierunddreißig Jahren mich resigniert haben sollte, endgültig sitzen geblieben zu sein und dazu verurtheilt, die Heilige Katharina zu frisieren? Ober bedauern Sie mich aufrichtig, daß ich die sogenannte Bestimmung des Weibes verfehlt habe?

O mein Fräulein, versetzte ich, nun auch in dem gleichen scherzhaften Ton, ich machte ein so dummes Gesicht, nur weil ich vor einem ganz anderen Dilemma stand: entweder zu glauben – verzeihen Sie, wenn ich etwas sage, das nach einem banalen Compliment aussieht – daß die Männer Ihrer Bekanntschaft keine Augen im Kopf gehabt hätten, oder daß keiner gekommen wäre, der Ihr Herz hätte rühren können.

Und welcher dieser beiden Hypothesen würden Sie den Vorzug geben?

Jedenfalls der letzteren. Vielleicht gerade, weil Sie viel umworben wurden, haben Sie die Qual der Wahl empfunden und immer noch auf den entscheidenden Himmelswink gewartet.

Sie sah nachdenklich vor sich hin. Ihre Lösung des Räthsels ist sehr schmeichelhaft, aber sie trifft nicht ganz zu. Um zu verstehen, wie das so gekommen ist, müßten Sie mich und das wunderliche Leben, das ich geführt habe, näher kennen. Das wäre aber zu weitläufig und kann Sie nicht ernstlich interessieren.

Glauben Sie? sagte ich. Das kann Ihr Ernst nicht sein, da es, abgesehen von dem Eindruck, den Ihre Person auf mich gemacht hat, überhaupt mein Metier ist, Menschenschicksale zu ergründen. Und da ein freundlicher Zufall uns zusammengeführt hat und wir hier ungestört sind –

Sie lächelte. Sie haben Recht, ich sitze hier wie im Beichtstuhl, und Sie haben gewiß nicht zum erstenmal die Bekenntnisse einer mehr oder weniger schönen Seele mitangehört. Auch ist, was sich mit mir ereignet hat, nichts, was nur aus meinem besonderen Charakter zu erklären wäre, oder gar einer Schuld entspränge, die man geheim halten möchte. Mein Fall ist der von vielen Tausenden meiner Schwestern und läßt sich auf eine sehr einfache Formel bringen. Es soll eine russische Komödie geben, die den Titel hat: »Das Unglück, Verstand zu haben«. Sehen Sie, dies Unglück ist mir begegnet.

Sie werden sagen, daß das heutigentags kein so großes Unglück für eine Frau sei, wie in der guten alten Zeit noch vor fünfzig Jahren, wo man von dem schwachen Geschlecht, wenn es sich um eine Lebensgefährtin handelte, vor allem ganz andere Eigenschaften schätzte als Verstand, allerlei praktische häusliche Talente und was man Gemüth, Hingebung, Unterordnung unter den männlichen Willen nannte. Es ist wahr, wir sind aus diesem Puppenstand herausgekommen und dürfen unsere Flügel frei bewegen, und um zu wissen, in welcher Richtung wir's am besten thun sollten, brauchen wir ja auch ein bischen Verstand. Wohl gemerkt: ein bischen! ja nicht zu viel, nicht so viel, daß wir dadurch »unweiblich« erschienen. Den Häßlichen und auch sonst vom Glück Gemiedenen unter uns erlaubt man allenfalls, sogar sehr viel Verstand zu haben, um ihr Leben auf eigene Füße zu stellen. Wenn man aber keine Noth leidet, nicht um zu leben einen »Beruf« ergreifen muß und so aussieht wie – nun wie eben ich ausgesehen habe, als ich die Kinderschuhe ausgetreten hatte und nun lange Kleider trug – da ist es sehr übel angebracht, das Leben ernst zu nehmen, statt hübsch und liebenswürdig und so wie alle Anderen zu sein und es sich merken zu lassen, daß man sich nichts Besseres wünschen könne, als möglichst bald eine gute Partie zu machen.

Meine Eltern hatten sehr glücklich miteinander gelebt, doch nur, weil meine liebe Mama auf das Recht, einen eigenen Willen zu haben, völlig verzichtete. Das hatte mich oft in ihre Seele hinein empört, da sie ebenso klug wie liebevoll war und guten Grund gehabt hätte, bei manchen Einrichtungen unseres Lebens ihrem Kopf zu folgen, wenn der Vater in seiner raschen Art sich vergriff. Aber ihr Herz beherrschte ihren Kopf so sehr, daß sie, wenn sie sich dann fügte, Gründe hervorsuchte, weßhalb es so das Bessere sei. Hätte sie von Anfang an den Muth ihrer Persönlichkeit gehabt, so wäre es nicht zum Schaden ihrer Ehe gewesen, da der Vater, wenn man es richtig anfing, gegen Vernunftgründe sich nicht verstockte.

Als ich dann allein mit ihm geblieben war, ließ ich mir, was ich an meiner guten Mutter gesehen, zur Witzigung dienen und fand, daß ich ganz gut damit durchkam. Ich hatte viel vom Vater geerbt, er neckte mich damit, an mir sei ein Jurist verdorben, und fand es ganz in der Ordnung, daß ich meines Bruders Schulstudien auf meine eigene Hand mitmachte. Im Latein kam ich auch so weit, daß ich Livius lesen konnte, im Griechischen erlahmte ich, als die schwierigeren Aufgaben kamen, und die Mathematik war mir ein Greuel. Übrigens betrieb ich diese »Unweiblichen« Studien ohne irgend einen Zweck, wie andere höhere Töchter Klavier spielen oder singen lernen, wozu ich kein Talent in mir fühlte. Und nichts lag mir ferner, als eine gelehrte Frau werden zu wollen oder mir auch nur auf mein bischen klassische Anfangsgründe etwas einzubilden. Es war mehr eine Art Neugier, einmal zu erproben, was denn an der berühmten humanistischen Bildung sei, von der die Herren der Schöpfung uns einfältigen Frauenzimmern gegenüber ein so großes Wesen machen.

So hätte denn auch kein Hahn danach gekräht. Aber mein Bruder, der mich überhaupt vergötterte, verdarb's, indem er damit herumprahlte, wie gescheit ich sei und was ich alles lernte und wüßte. Das schadete mir nun vollends, da ich schon immer für eine unausstehliche kleine Person gegolten hatte, die sich auf ihre Logik wunder was einbilde. Dann allerdings hatte ich mir die Redensart angewöhnt, wenn mir bei einem Disput etwas allzu Dummes erwidert wurde: Das ist nicht logisch!

Nun wußte man, warum mir der Kamm geschwollen war: Griechisch und Lateinisch und auch Geschichte hatte ich aus den Büchern meines Bruders gelernt, etwas gründlicher, als Französisch und Geschichte und andere Dinge in unserer Töchterschule gelehrt wurden.

Daß ich über meiner Gelehrsamkeit nicht versäumte, eine ganz leidliche kleine Hausfrau zu machen, auch gern an allerlei Lustbarkeiten theilnahm und leidenschaftlich tanzte, wurde nicht in Anschlag gebracht. Es konnte mich nicht wundern. Ich war wirklich eine der Hübschesten in unserm geselligen Kreise; nun auch noch für eine der Gebildetsten zu gelten, durfte man mir nicht einräumen. So wurde mir der Ruf aufgebracht, daß ich unendlich stolz auf meine Wissenschaften sei, und die jungen Herren, die schon ohnehin mir's nicht verzeihen konnten, daß ich sie zuweilen ad adsurdum führte und in ihrer Selbstgefälligkeit beschämte, waren nur allzu willig, den Spitznamen eines pedantischen Blaustrümpfchens, den die Freundinnen mir gaben, in allen Häusern, wo ich verkehrte, mir anzuhängen.

Ja, einen noch boshafteren. Ein junger Mann aus Süddeutschland war in ein Handelshaus bei uns eingetreten und bald überall eingeführt worden. Ich hatte ihn ein paarmal getroffen, und da er mir in läppischer Weise den Hof machte, ihn ziemlich unzweideutig ablaufen lassen. Als man ihn fragte, wie ich ihm gefallen habe, hatte er sehr von oben herab erklärt: es sei schade, daß ein Mädchen, das so gut tanze, so ein Fräulein Siebengescheit sei, die ihren Tänzer wie einen Schulbuben corrigiere, wenn er mal einen Schnitzer mache.

Das alles nur darum, weil er, um mir zu imponieren, allerlei geschichtliche Kenntnisse ausgekramt hatte, wobei es ihm begegnet war, Karl den Großen für den Vater von Philipp dem Zweiten zu halten und Katharina von Bora, was ihren Geburtsort betrifft, mit dem Käthchen von Heilbronn zu verwechseln.

*

Ich hatte freilich das Verbrechen begangen, ihn zu corrigieren. Zur Strafe dafür blieb ich nun bei all meinen Altersgenossen die »Siebengescheite«, da das süddeutsche Wort rasch bei uns Eingang fand.

Sie haben einmal von einem Bauern erzählt, den man ebenso genannt hatte, und der sich auf seinen Grabstein schreiben ließ:

Thu nur nicht Recht behalten
Und bleib fein dumm!

Es war ihm im Leben schlecht ergangen, weil er klüger war als die Anderen und sich's leider merken ließ. Die Geschichte habe ich erst später kennen gelernt und meinen Schicksalscollegen herzlich bedauert. Aber freilich, ich hätte mir kaum eine Lehre daraus genommen. Man wird ja nur durch Schaden klüger.

Mein Bruder, der die Hauptschuld an meinem Schaden trug, war wüthend, konnt' es aber nicht ändern. Ich selbst hatte schon früher eingesehen, daß nächst der Thorheit, Verstand zu haben, die größte sei, sich's merken zu lassen. So bemühte ich mich aus Leibeskräften, es zu verbergen, wenn mir etwas Albernes, Widersinniges oder Unrichtiges vorkam, und wenigstens zu schweigen, so leicht das Widerlegen gewesen wäre. Sie kennen das Sprichwort: drei Dinge lassen sich nicht verbergen: Husten, Feuer und Liebe. Ich lernte aber noch ein viertes kennen: Verstand. Du magst ein noch so einfältiges Gesicht machen, sagte mein Bruder, das Fältchen an deinem linken Mundwinkel verräth, was du denkst.

Ich sah endlich ein, daß ich's unheilbar verschüttet hatte, daß man mir's eher verzeihen würde, wenn ich etwas Schlechtes beginge, als den Hochmuth, den man mir imputierte, als sei ich zu gut für diese Welt, in der doch Manche waren, die ich von der Schule an wahrhaft lieb gehabt hatte, gleichviel, was für Censuren sie bekamen und ob sie auf der ersten oder letzten Bank saßen.

Auch diese zogen sich von mir zurück, so daß ich endlich in meinem Kreise ganz isoliert war. Ehrlich gestanden, nahm ich mir das nicht sehr zu Gemüthe. Ich war über die Tanzjahre hinausgekommen, lebte jetzt für meinen Vater und hatte an guter Gesellschaft in meinen Büchern keinen Mangel. Nur wenn wieder eine meiner Freundinnen Hochzeit machte, stellte ich wohl mit leisem Seufzer Betrachtungen darüber an, daß ich dergleichen wohl nicht erleben würde. Sie können mir's glauben, es war mir dabei nicht sowohl um einen Mann zu thun, der mich heimführen sollte, als, daß ich's grade heraussage, um ein Kind, dessen Mutter ich werden würde.

Denn dies war einer meiner leidenschaftlichsten Wünsche.

Immer habe ich Kinder geliebt und sie zugleich glühend beneidet. Sie haben ja alles, was mir fehlt, die Fähigkeit der Illusion, das Glück, die nüchterne Welt ringsum wie in einem wachen Traum zu sehen und ihr Leben täglich wie ein Märchen zu erleben, in dem gute und böse Feen auftreten. Ich dagegen, mit meiner traurigen Klarheit, meinem Wirklichkeitssinn, wie das heutzutage genannt wird – was hätte ich darum gegeben, die glückselige Dummheit oder Dumpfheit zu gewinnen, die Andere neben mir über alle Abgründe und Untiefen des Schicksals hinwegtäuschte! Glauben Sie nicht, daß ich mich etwa von dem Pessimismus hätte anstecken lassen, der damals Mode wurde. Ich hatte keine Zeile von Schopenhauer gelesen, wollt' es auch nicht, denn ich fand, obwohl man mir diese neueste Weisheit, die so alt ist wie König Salomo, vielfach vortrug, daß es sehr viel Hübsches, Heiteres, Beglückendes in der Welt gab, wovon auch ich mein Theil genießen durfte, so wenig blind ich gegen die Schattenseiten war. Aber ich ließ mir auch, was ich schwarz sah, von Niemand weiß machen, und die Hauptsache, einen Menschen, der mir um die gemeine Deutlichkeit der Dinge, wie Schiller so schön sagt, den goldenen Duft der Morgenröthe weben wollte, fand ich nicht. Das konnte, so viel ahnte mir, nur die Liebe, und man ließ mich ja beständig merken, daß ich nicht liebenswürdig sei.

Das wollte ich nun, so wenig eitel ich war, nicht gelten lassen.

Ich wußte ja, daß ich neben meinem Verstande, den man mir zum Verbrechen machte, auch so etwas wie ein Herz besaß, ein ganz anspruchsloses, warmes, vielbedürftiges Mädchenherz, das nichts Besseres verlangte, als irgend wo in festen Händen zu sein. Auch hatte ich von seinem Dasein Beweise der verschiedensten Art gegeben, indem ich an den Verliebungen und Brautschaften meiner Freundinnen lebhaften Antheil nahm. Daß ich das aber neidlos thun konnte, bestärkte nur das Vorurtheil, als hätte ich selbst keine Herzensbedürfnisse, natürlich weil mein hochmüthiger Kopf dies ungebildete Organ für viel zu gering hielt, um ihm eigene Rechte einzuräumen.

So blieb es dabei: ich wurde fünfundzwanzig Jahr alt, ohne daß mir jemand auch nur die kleinste Liebeserklärung gemacht hätte.

Ich, wie gesagt, so lange mein Vater lebte, nahm die Sache nicht tragisch. Doch war ich auch nicht gesonnen, mich für immer dabei zu beruhigen. Als ich daher verwaist und einsam in dem alten Hause zurückgeblieben war, beschloß ich auszuwandern, nach einem Ort, wo man vielleicht nachsichtiger über meinen Charakterfehler dachte, und wohin der Ruf meiner Siebengescheitheit noch nicht gedrungen war.

Ich folgte daher freudig der Einladung meines guten Onkels, zu ihm nach Berlin zu kommen. Jedem Andern würde ich nicht gestehen, daß ich nur deßhalb gerade dorthin ging, weil ich hoffte, nirgends sonst so viel Gelegenheit zu finden, rund herausgesagt: einen Mann zu bekommen. Sie aber, nach allem, was ich Ihnen schon vertraut habe, werden mich eher darum hochschätzen, weil ich nicht besser war, als Alle meines Geschlechts, die sich nur einfach »zu versorgen« wünschen. In dem Sinne der äußeren Lebensversicherung brauchte ich's ja nicht. Mein kleines Vermögen reichte eben aus für meine bescheidenen Bedürfnisse. Aber eine tiefere Bedeutung hatte das Wort für mich: »mich versorgen«, darunter verstand ich, mir Sorgen zu verschaffen für ein Wesen, das mir theuer wäre, und nachdem ich für meinen Papa nicht mehr zu sorgen hatte, dies für einen anderen Menschen zu thun, am liebsten für ein geliebtes Kind. Das Leben ist ja so öde und leer, wenn man nur an sich zu denken hat.

*

Nun war ich der Meinung, gerade in Berlin würde ich finden, was mir Noth that. Die Berliner stehen ja im Ruf, so ungemein klug, gelehrt, witzig und von sich selbst durchdrungen zu sein, daß eine arme Siebengescheite aus der Provinz unter ihnen nicht auffällt, am wenigsten deßhalb über die Achsel angesehen wird. Wenn sie überdies hübsch ist und nicht so arm wie eine Kirchenmaus und mit ihrer Gescheitheit nicht groß thut, warum soll sie den Männern nicht begehrenswerth scheinen?

Darin hatte ich mich auch nicht verrechnet.

Bald nachdem ich in den Berliner Kreisen aufgetaucht war, fanden sich Bewerber um meine Hand, die in den Augen meiner Angehörigen durchaus annehmbar waren. Nun aber stand mein alter Spielverderber, der Verstand, in anderer Weise als früher meinem Glück im Wege.

Er ließ mich nämlich sehr bald bei jedem der trefflichen Männer, die sich in mich verliebten, mit grausamer Klarheit erkennen, woran es ihm fehlte, und gerade die Gelehrtenschwächen – die Freunde und Bekannten des Onkels gehörten fast sämmtlich der Universität oder dem Polytechnikum an – schienen mir besonders unleidlich, da ich mir durch mein bischen Wissenschaft mein eigenes Leben verdorben hatte. Ich sah überall Pedanterie, Einseitigkeit, engherzige Verachtung aller allgemeineren Bildung, die für dilettantisch gehalten wurde, und daneben vielfach ein Streberthum, das mir mit einem idealen Forscherleben nicht vereinbar schien.

Darin hatte ich wohl Unrecht. Es gibt ja auch Viele, die ihre Wissenschaft um ihrer selbst willen treiben, aber solche, die daneben Zeit und Bedürfniß haben, sich überhaupt nichts Menschliches fremd werden zu lassen, sind mir selten begegnet. Der Kreis jeder Wissenschaft ist ja so groß und erweitert sich so schnell, daß der Einzelne, wenn er nur nachkommen will, nicht rechts noch links blicken darf.

Ich sah aber, daß auch alle anderen Berufsarten ihre besonderen Schwächen und Charakterfehler zu haben pflegen, Künstler, Militärs, Kaufleute. Fast glaubte ich, diese anderen Schattenseiten oder, wenn man will, Fehler ihrer Tugenden eher mit in Kauf nehmen zu können, als Professorensünden. Aber wenn auch Einer oder der Andere aus jenen Kreisen sich mir näherte und es nur eines geringen Entgegenkommens bedurft hätte, ihn zu fesseln – ich konnte mich für Keinen entscheiden. Das wollte ich denn doch meinem alten Lebensfeinde nicht zu Gefallen thun, daß ich ihm bei dieser wichtigsten Entscheidung das letzte Wort gönnte und eine sogenannte Vernunftheirath schloß. Eine Neigung aber, die mir den Entschluß über den Kopf wegnahm, eine Liebe, die höher war als alle Vernunft, die mit elementarer Gewalt sich meiner bemächtigt hätte, die blieb mir immer fern, so schmerzlich mir die Erkenntniß war, daß ich nun wohl lebenslang allein bleiben würde.

*

Sie schwieg und sah an mir vorbei, zu den Wipfeln der Wälder hinauf, an denen wir vorüberflogen. Ich hatte sie sprechen lassen und nur von Zeit zu Zeit eine fragende Bemerkung dazwischen geworfen. Jetzt, da sie ans Ende ihrer Bekenntnisse gekommen zu sein schien und nur der Ausdruck einer müden Resignation auf ihrem Gesicht zurückgeblieben war, fühlte ich die Verpflichtung, meinen Antheil etwas ausführlicher auszusprechen.

Sie sind noch so jung, verehrtes Fräulein, sagte ich. Sie müssen der Zeit nur Zeit lassen, und es braucht kein Wunder zu geschehen, damit das Leben auch Ihnen noch einmal das Beste beschert, was es zu bieten hat: eben jenes Zusammenklingen von Verstand und Gemüth, von Seele und Sinnen, jene, wie Sie selbst sie genannt haben, elementare Macht, die uns mit einem anderen Menschen unwiderstehlich verbindet? Ob das dann zum Heil oder Unheil ausschlägt, ist gleichgültig. Man hat doch einmal erfahren, was den Menschen über alle anderen Geschöpfe erhebt, und ich kann nicht glauben, daß dies Höchste Ihnen versagt bleiben sollte, da nur ein bischen Genialität des Herzens, jener Leichtsinn, der allem Genialen eigen zu sein pflegt, dazu gehört, der alten Schwiegermutter Weisheit aus der Schule zu laufen.

Das war eine etwas gekünstelte Phrase, aber in der Verlegenheit fand ich nichts Besseres. Sie aber schien das Geschmacklose daran nicht zu empfinden.

Sie hatte, während ich sprach, die Augen zugedrückt. Ein schmerzlicher Zug war an ihrem Munde erschienen. Als sie wieder aufsah, schimmerte es feucht unter ihren Lidern.

Und wenn das alles, wie Sie's da schildern, schon eingetroffen wäre?

Ich hörte diese Worte in einiger Bestürzung, da ich begriff, daß ich an eine Wunde gerührt hatte. Doch schwieg ich, um es ihr zu überlassen, ob sie mir eine weitere Aufklärung geben oder darüber hinweggehen wolle.

Ja, verehrter Herr, fuhr sie nach einer Pause mit leisem Seufzer fort, es ist so gekommen, aber das vermeintlich geniale Herz hat sich zum Schluß sehr ungeschickt benommen und hätte dem Verstande diesmal nicht dreinreden sollen, als er die Sache nach seinem Sinn zu ordnen gedachte. Wenn ich Ihnen wirklich nicht schon viel zu viel von mir und meinem alltäglichen Schicksal vorgeschwatzt habe, mögen Sie nun auch das noch hören.

Zwei Jahre bin ich in Berlin im Hause des Onkels geblieben. Die Tante, die ihre Töchter so gut verheirathet hatte, gab es endlich auf, auch mich unter die Haube zu bringen, und ich selbst kam mir mit meinen achtundzwanzig Jahren uralt vor, völlig hors concours, aber von den bekannten Requisiten der alten Jungfer, dem Mops, dem Gummibäumchen und der heimlichen Verbitterung besaß ich keins. So machte ich mich auch bei meinen Leuten nicht unbeliebt, bis auf den einen Gefallen, den ich ihnen nicht thun konnte, und als ich ihr Haus verließ, waren sie aufrichtig betrübt.

Ich hatte nämlich eine Schwester meiner Mutter, die ich nie mit Augen gesehen, da sie in Petersburg verheirathet gewesen war, nach dem Tode ihres einzigen Sohnes beerbt, kein großes Vermögen, doch hinreichend, daß ich ein paar Jahre in der Welt herumreisen konnte. Das that ich denn, und fing mit England an, ging dann für einen Winter nach Paris und im Frühjahr darauf nach Rom. Ich fand, daß die Welt auch außer der verliebten Liebe noch viele Freuden hat, und wenn es mich manchmal betrüben wollte, daß ich diese Freuden einsam und allein genoß, sagte ich mir das Sprichwort vor, das ich in Italien gehört hatte: Meglio sola che male accompagnata.

Nun, alles nimmt einmal ein Ende, auch das Vergnügen am landstreichen, Museeen und Kirchen durchwandern und la bella Napoli singen hören. Ich sehnte mich nach deutschem Walde und deutschem Winter zurück und nach dem spießbürgerlichen Behagen, mich täglich in demselben Bett schlafen zu legen.

So gerieth ich auf der Suche nach einem bleibenden Wohnort in das thüringische Städtchen Arnstadt. Da miethete ich eine Wohnung, die geräumig genug war, eine kleine Schule darin zu etablieren. Ich habe Ihnen meine Neigung zu Kindern ja schon gestanden. Ich hatte Glück. Schon im ersten Winter wurden mir sechs kleine Mädchen anvertraut, im nächsten verdoppelte sich die Zahl, und es dauerte nicht lange, so mußte ich einen eigenen Saal für meine kleine Heerde miethen.

Aber mit meinen pädagogischen Erfahrungen, Freuden und Leiden will ich Sie nicht langweilen.

Genug, im dritten Sommer wollten meine Nerven mir nicht länger parieren. Ich hatte mir etwas zu viel aufgebürdet und mußte dafür büßen. Doch waren ja eben die großen Ferien, und mein Arzt verordnete mir, sie an der See zu verbringen.

Ein kleines Ostseebad war mir empfohlen worden, dahin ging ich denn auch und fand es ganz nach meinen Wünschen, sehr stilles Wasser ohne Ebbe und Flut, so daß es hauptsächlich von kinderreichen Familien besucht wurde, die ihre kleine Brut in dem flachen, spiegelglatten Bassin gefahrlos plätschern lassen konnten. Ich hatte wieder die Wahl zwischen den reizendsten Blond- und Schwarzköpfen und war sehr beliebt, da ich mich zur »Tante« stets qualificiert hatte und dies Talent hier con amore ausüben konnte.

Nicht lange aber sollte sich meine Badegesellschaft auf lauter Unmündige beschränken.

In meinem Hôtel erschien ein junges Paar, noch ein Brautpaar, mit der künftigen Schwiegermama des jungen Mannes, einer sehr stattlichen, temperamentvollen und liebenswürdigen Dame, die ganz in der Sorge für ihr Töchterchen aufging.

Das Fräulein war eben so zart an Leib und Seele und von so passiver Gemüthsart, wie die Mutter derb und thätig und von beneidenswerther Gesundheit. Als ihre Zimmernachbarin kam ich bald in näheren Verkehr mit den Damen und erfuhr, daß die Verlobung im Frühjahr auf einem der letzten Bälle stattgefunden habe, die Hochzeit solle aber erst gegen Weihnachten gefeiert werden, da die Braut dann erst kaum siebzehn geworden sein würde, auch noch mancherlei zu lernen habe. Nun sei sie plötzlich erkrankt, an einem seltsamen Wechselfieber, das zwar wieder gehoben sei, doch eine große Schwäche und Reizbarkeit zurückgelassen habe, wogegen eben dieser Aufenthalt an der See ihr verordnet wurde.

Die Tochter ließ all das von sich berichten, ohne sich an dem Gespräch viel zu betheiligen. Sie schien an nichts, was um sie her vorging, sonderlichen Antheil zu nehmen, und nur, wenn von ihrem Bräutigam die Rede war oder wenn er gar selbst ins Zimmer trat, belebte sich ihr müder Blick und röthete sich das blasse Gesichtchen, dessen feine, liebliche Züge noch einen fast kindlichen Ausdruck hatten.

Auf den ersten Blick schien das junge Paar wie für einander geschaffen.

Auch der Bräutigam, obwohl er wohlbestallter Professor an einer bedeutenden Universität und gewiß über die Dreißig hinaus war, machte den Eindruck eines fahrenden Schülers in höheren Semestern. Sein hübsches, bartloses Gesicht – nur ein dünnes blondes Schnurrbärtchen saß über dem frischen Munde –, seine Gewohnheit, den Kopf in den Nacken zu werfen, als wenn er in den Wolken eine muntere Musik hörte, vor allem der naive, treuherzige Blick, mit dem er die Menschen betrachtete, ließen ihn als einen ewigen Studenten erscheinen. Sah man ihn aber genauer an und hörte ihn über irgend ein ernsteres Thema reden, so erkannte man leicht, daß man einen reifen Mann vor sich hatte, in dessen Innerem nur noch ein unverwüstlicher Rest seines Kinderherzens übrig geblieben war.

Es war sehr hübsch mit anzusehen, wie er sich gegen seine leidende Braut betrug. Nie kam er zu ihr, ohne ihr etwas mitzubringen, eine Muschel, eine seltene Pflanze, oder auch nur ein amüsantes, kleines Erlebniß, das er unter den Eingeborenen gehabt oder unter den Badegästen beobachtet hatte. Sie durfte nicht baden und wurde nur im Rollstuhl auf den Strand hinausgefahren, die stärkende Seeluft einzuathmen. Dann blieb er eine Weile neben ihr, plauderte heiter und suchte sie auf jede Weise zu zerstreuen, und da ihm das selten gelang, fügte er sich mit einem Seufzer in diesen apathischen Zustand, der ja eben ein Symptom ihres Leidens war.

Ich konnte mir freilich nicht helfen: ich fand schon bald diese beiden, äußerlich sich so ähnlichen Verlobten sehr ungleich gepaart. Ein paarmal hatte er mich auf weiteren Spaziergängen begleitet, wozu die schönen Wälder reiche Gelegenheit boten. Da erschloß sich mir eine ganz neue Welt. Der junge Professor erschien mir als ein weißer Rabe unter seinen Berufsgenossen, kein Stäubchen von Zunftstolz und Gelehrtendünkel haftete an seiner Seele, obwohl er nichts Höheres kannte als seine Wissenschaft. Diese aber, die Wissenschaft von der Natur, betrieb er nicht aus Büchern, sondern aus der Fülle der Erscheinungen, und der kinderhafte Zug in seinem Wesen stammte eben davon her, daß er mit neugierigen Kinderaugen der alten Mutter Natur ihre Geheimnisse abzulauschen suchte.

Von ihm habe ich zum erstenmal im Leben sehen gelernt, und eine Welt der Wunder that sich mir auf in den alltäglichsten Dingen, die ich doch schon gut genug zu kennen glaubte. Daß ich so dankbar dafür war, einen so aufmerksamen Schüler machte, gewann mir bald sein Interesse. Bei seiner Braut fand er nicht das geringste Eingehen auf all das, was sein geistiges Leben war. Sie hatte in ihrem engen, matten Herzchen nur Sinn für kleine Weibersachen, Toilette und persönliche Angelegenheiten, ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, die viel Natursinn besaß. Ihr Schwiegersohn gestand mir auch mit einem etwas gezwungenen Lächeln: zuerst habe er sich in die Mutter verliebt, als sie einmal einen Besuch in seinem Laboratorium gemacht, wo er verschiedenen Damen eine neue physiologische Entdeckung zeigen wollte. Erst nachher sei er durch das Rühmen, das gute Freundinnen von der schönen Tochter gemacht, auf diese aufmerksam geworden.

Wie's eben weiterging, brauche ich gerade Ihnen wohl nicht ausführlich zu erzählen. Sie wissen ja, daß ich zu allem Kindlichen einen tiefen Hang in mir fühle, und wenn das nun noch in einem Manne mir entgegentrat, bei dem mir alle Kritik verging, der zum erstenmal meinen wachen Verstand überrumpelte, so daß er sich wehrlos gefangen gab, so begreifen Sie, daß endlich auch die Reihe an mich kommen mußte.

Ich war aber noch so hellsichtig, dies sogleich einzusehen und mir's dabei unsäglich wohl sein zu lassen, so hoffnungslos die Sache war. Endlich einmal zu erleben, was mir bisher nur ein dunkler Begriff gewesen war: ein Gefühl, das alle anderen geistigen und seelischen Triebe verschlang, jene Liebe, die in der That höher war als alle Vernunft und völlig blind machte für jedes äußere Hinderniß –! Und freilich, auch wenn ich noch so scharf nach Mängeln und Schwächen gespäht hätte, der, den ich liebte, konnte die kälteste Prüfung aushalten.

Ob er etwa die Schwäche hatte, trotz seiner Bräutigamspflichten auch mich liebenswürdig zu finden, danach fragte ich keinen Augenblick. Wenn ich dich liebe, was geht's dich an? war meine Devise, und so lag mir, da er ja nicht frei war, nichts ferner, als ihn in mich verliebt zu machen, ja es war eine Art süßer Schmerz in meiner Erkenntniß, daß ich alles zu geben hatte und nichts dafür zurückempfing. So etwas müssen die richtigen Märtyrer empfunden haben, die den Himmel offen sahen, wenn sie sich auf einen glühenden Rost legten.

Und da ich mir der Reinheit und Redlichkeit meiner armen Seele bewußt war, beobachtete ich auch nicht die geringste Vorsicht ihm gegenüber, genoß den täglich immer vertrauter werdenden Verkehr ganz arglos und dachte: Schlimmer kann es nicht kommen! Tiefer kannst du in diesen Abgrund von Leidenschaft nicht versinken, als schon geschehen ist. Für ihn braucht dir nicht bange zu sein. Den hält ja eine Andere an einem festen Seil, so daß er nicht auch abstürzen kann und heil davonkommt.

So genoß ich unbedenklich das Glück dieser Stunden und Tage.

Er pflegte jeden Vormittag eine Stunde bei seinen Damen und ein paar ihrer Bekannten zuzubringen und ihnen, da er sein Wissen gern mittheilte als ein richtiger Professor, einen kleinen Vortrag zu halten über irgend ein Naturprodukt, das er mitgebracht hatte, ein Seethier, eine Pflanze, ein Insekt. Die ließ er uns dann durchs Mikroskop sehen. Die Braut hatte, wie gesagt, wenig Interesse dafür, desto mehr ihre Mutter, am meisten ich selbst. Ich war dann regelmäßig bei ihnen auf der Veranda, die zu ihren Zimmern gehörte, und meist wandte er sich mit seinen Erörterungen an mich, da ich ihn durch immer neue Fragen reizte. Nachmittags machten wir Zwei unsere Exkursionen, am liebsten in einem kleinen Segelboot, das ein alter Schiffer führte. Da hing er sein Schleppnetz über Bord, und während wir uns treiben ließen, sprachen wir von tausend Dingen und freuten uns, daß wir über die meisten übereinstimmten.

Irgend welche sentimentalen Themata wurden nie berührt. Wir disputierten so eifrig über die abstraktesten Fragen, als läge uns die Welt der Gefühle und unsere persönlichen Interessen völlig fern und wir wären zwei junge Studenten, die noch vertrauten, alle Welträthsel lösen zu können.

Nach einigen Wochen aber bemerkte ich, daß seine Stimmung ungleichmäßiger und gedrückter wurde. Auch schien mir in dem Betragen der Braut gegen ihn eine Änderung eingetreten zu sein. Sie war anfangs von einer engelhaften Milde und Ergebung gewesen. Auf einmal verfiel sie ihm gegenüber oft in einen gereizten Ton, und wenn ich eintrat, sah ich, daß die Beiden sich gestritten haben mußten. Er hatte Falten auf der Stirn und sie geröthete Augen.

Ich konnte wohl merken, daß ich die Ursache war. Denn auch mir zeigte die arme Leidende nicht mehr das alte freundliche Gesicht, und da ich mir nicht den Vorwurf machen wollte, an der Verschlimmerung ihres Zustandes schuld zu sein, nahm ich mir vor, mit dem Professor offen darüber zu reden, auf die Gefahr hin, daß meines Bleibens dann nicht länger sein könnte und mein Glück zu Ende gehen müßte.

Mit diesem Entschluß fand ich mich eines Nachmittags am Strand ein, wo unser Segelboot angepflockt lag. Er war auch schon da, aber der Schiffer hatte Botschaft geschickt, er sei heute verhindert, uns zu fahren. Nun, so fahren wir allein, sagte ich. Wir haben ihm so lange abgesehen, worauf es ankommt, es wäre eine Schande, wenn wir bei dem ruhigen Wetter das Schifflein nicht selbst regieren könnten.

Damit stieg ich rasch ein, ohne auf seine Hülfe zu warten, und er folgte mir schweigend. Seine Miene war still und traurig, er vermied es, mich anzusehen, stumm half er mir das Segel aufrichten und nahm dann am Steuer Platz, während ich am anderen Ende des schmalen Bootes die Segelschnur hielt. So trieb uns ein frischer Wind in die glatte See hinaus, die so still war, daß wir nichts als das gleichmäßige Rauschen des Wassers an unserem Kiel vernahmen und hin und wieder den heiseren Schrei einer Möwe, die über unseren Köpfen hinstrich.

Mir war sehr glücklich zu Muthe. So von der starken Brise fortgetrieben zu werden in der goldensten Sonne, einem unbekannten Ziel entgegen, und in der kleinen Nußschale das mit mir zu nehmen, was mir von allem Besitz an Erdengütern das theuerste, ja das einzig werthvolle war, mich der Illusion hinzugeben, das werde ewig so fortgehen, bis wir an einer Insel der Seligen landeten und von einer Rückkehr in die hoffnungslose Wirklichkeit nie die Rede sein könne – es bedarf nicht Ihrer Dichterphantasie, um zu verstehen, daß eine Art Rausch mich überkam, der mich auch über meinen Vorsatz, es zu einer Aussprache zu bringen, hinaushob.

Da das Segel zwischen uns sich blähte, konnte ich auch nicht sehen, ob sein Gesicht eine ähnliche Stimmung verrieth. Darum erschrak ich heftig, als ich ihn plötzlich mit stockendem Ton sagen hörte: Wissen Sie auch, liebes Fräulein, daß das unsere letzte gemeinsame Fahrt sein muß?

Mir schlug das Herz so gewaltsam, daß ich kein Wort hervorbringen konnte. Erst als ich mich mühsam gesammelt hatte, sagte ich:

Sie wollen abreisen? Schon so bald?

Nein, hörte ich ihn erwidern, immer ohne ihn zu sehen, wir müssen noch bleiben, solange das Wetter es erlaubt, Annies wegen. Aber die Freude, mit Ihnen zu verkehren, werde ich mir versagen müssen.

Er hatte offenbar Mühe, den Grund offen herauszusagen. Erst nachdem er wieder Muth und Athem geschöpft hatte, fuhr er fort. Schon seit längerer Zeit habe die Kranke sich darüber beklagt, daß er sie über den langen Fahrten und Gängen mit mir vernachlässige, heute aber sei es zu einem so heftigen Ausbruch ihrer Eifersucht gekommen, daß er ernstlich für ihre ohnehin nur langsame Genesung fürchten müsse, wenn solche Scenen sich wiederholten.

Als ich schwieg, nicht eben überrascht, sondern mehr, weil ich schon vorher mir hatte sagen müssen, daß hierauf nichts zu erwidern sei, schien er zu glauben, daß er mich verletzt habe. Um mich zu begütigen, brach nun alles aus ihm heraus, was er bisher sich wohl nur dunkel eingestanden hatte: wie theuer ich ihm geworden, daß er nie ein weibliches Wesen gefunden, dessen theilnehmende Nähe ihn so beglückt, vor dem er sein ganzes Inneres habe aufschließen mögen und auf dessen Umgang zu verzichten ihm wie ein Lebensverzicht erscheine. Und doch – er habe andere Pflichten – in die er sich verstrickt habe, er wisse nicht, wie, die ihm aber heilig sein müßten, zumal Tod und Leben der armen Kranken daran hänge. Und deßhalb wage er mich zu bitten+...

Ich ließ ihn nicht ausreden. Das Glück, das dies Geständniß für mich einschloß, bestürmte mich mit solcher Gewalt, daß ich an nichts anderes denken konnte, als es festzuhalten um jeden Preis.

Nein, mein Freund, sagte ich, bitten Sie mich nicht! Ich kann es Ihnen nicht gewähren, kann nicht fortreisen und Sie hier zurücklassen. Alles, was Sie mir von Ihrem Gefühl für mich gesagt haben, lebt auch in mir. Ich habe nie einen Mann gefunden, der mir so theuer gewesen wäre. Mich nun von ihm trennen, mich ohne ihn in meinem einsamen Leben behelfen zu sollen – eine Verpflichtung dazu erkenne ich nicht an. Ich mache keine übergroßen Ansprüche an das Glück. Wenn Sie sagen, daß Sie Ihrer Braut nicht abtrünnig werden können, so muß ich das hinnehmen. Aber neben Ihnen zu leben, mich Ihres Daseins zu freuen und im stillen auch ein wenig stolz darauf sein, daß ich Ihnen nicht gleichgültig bin, das ist denn doch eine bescheidene Zukunftshoffnung, während eine Andere Sie ganz besitzen wird, die weniger Ansprüche daran hat, als ich, und nur ein übereiltes Wort von Ihnen dafür anführen kann.

Ich weiß nicht, was ich noch alles in diesem Sinne sagte. Er ließ mich ausreden und kämpfte offenbar, auch nachdem ich verstummt war, mit seiner Erregung. Plötzlich hörte ich ihn, immer durch das Segel gedeckt, wie zu sich selber sagen: Wissen Sie denn auch, daß das alles Unsinn ist? Daß ich zu Grunde gehe, wenn ich Sie noch länger sehen muß, ohne jede Hoffnung, Sie zu besitzen?

Es überrieselte mich heiß und kalt bei diesen Worten. Ich erhob mich und ließ die Segelschnur fahren, so daß die Leinwand zur Seite schlug und wir uns ins Auge sehen konnten.

Wenn es so steht, sagte ich, so ist vollends an keine Trennung zu denken. So müssen wir fürs Leben zusammenbleiben.

*

Sie schwieg, und ich sah, wie bei der Erinnerung an diesen verhängnißvollen Augenblick alles Blut ihr zum Herzen geströmt war. Denn ihr Gesicht war tief erblaßt, sie athmete mühsam, und erst nach einer Weile konnte sie weitersprechen.

Was werden Sie von mir denken! Freilich, das Glück macht egoistisch und grausam, zumal einen Menschen, dem es so lange unbekannt geblieben war. Aber daß ich so weit mich vergessen konnte, über Glück und Leben einer Anderen hinweg diesen Mann, den ich liebte, an mich zu reißen, ihn an Rücksichtslosigkeit zu überbieten, ohne zu warten, ob auch seine leidenschaftliche Empfindung stark genug sein möchte, ihn die Stimme seines Gewissens überhören zu lassen – das wird mich in Ihrer Hochachtung nicht eben befestigen.

Als ein gescheiter Kopf, an dem ein Jurist verdorben war, wie mein Vater gescherzt hatte, war ich auch um Gründe nicht verlegen, meine selbstsüchtige Überzeugung zu rechtfertigen.

Sollten hier wirklich zwei Menschen für ihr ganzes Leben auf ihr bestes, einziges Glück verzichten, nur damit eine Dritte nicht zu Schaden komme? Und stehe es denn auch fest, daß diese Dritte lebensgefährlich dadurch getroffen werden würde? Gerade, was Annies einziger Reiz war, die weibliche Zartheit und Ergebung, werde ihr über den Schmerz der Enttäuschung hinweghelfen und wahrscheinlich bald dazu führen, daß sie einen Ersatz für das Verlorene fände. Wäre es denn die erste Verlobung, die aufgehoben wurde, weil die Charaktere nicht zueinander paßten? Und würde er, wenn er auf seinem Entschluß verharrte, überhaupt hoffen können, sie glücklich zu machen, da sie mit der Zeit wohl empfinden würde, daß sie ihn nicht beglücken könne?

Ich sprach lange so fort. Meinem Verstande war es leicht, dies ganze Räsonnement als unwiderleglich hinzustellen. Auch erwiderte er kein Wort. Er hatte, da wir nun zurückkehren mußten und der Wind vom Lande kam, die Ruder ergriffen und bewegte sie mit kräftigen Stößen. Ich sah, daß es ihm Bedürfniß war, allein zu sein und sich mit seinem streitenden Innern ins Reine zu bringen. Vorläufig erwartete ich ja auch kein zustimmendes Wort. Daß er über Nacht das Gewicht meiner Gründe klar einsehen würde, stand mir außer Zweifel.

Wir hatten uns mit einem stummen Händedruck getrennt. Den Rest des Tages blieb ich auf meinem Zimmer und erschien auch nicht bei dem gemeinsamen Abendtisch. Ich war in einem seltsam aufgeregten Zustande, wie wenn mich Flügel über die niedere Erde hintrügen. Zuweilen, das fühlte ich wohl, regte sich ein Bedenken, ob ich auch richtig handelte, und wollte mich aus meiner sicheren Höhe herabziehen. Ich widerstand aber tapfer. Einmal sollte mir doch meine Vernunft, die mir so wenig zum Glück verholfen hatte, auch einen Dienst leisten, alles Feige, Kleinliche, sogenannt Moralische niederkämpfen, das einer freien Seele unwürdig wäre. Ich war mir des reinen Willens und der Kraft dazu bewußt, diesen lieben, edlen Menschen, den ein schwächliches Mitleid für sein ganzes Leben unselig machen wollte, auf einen höheren Standpunkt zu erheben. Ein ewiger Vorwurf wäre mir's gewesen, wenn ich ihn sich selbst überlassen hätte.

Die Aufregungen dieses Tages aber und das ewige Grübeln hatten mich erschöpft. Schon wollte ich früher, als ich gewohnt war, zu Bett gehen, als an meine Thür gepocht wurde. Herein trat eine Hausgenossin, die ich sonst immer gern bei mir gesehen hatte, heute aber lieber nicht empfangen hätte – die Mutter der Braut.

Verzeihen Sie, liebes Fräulein, sagte die gute Frau, daß ich noch so spät bei Ihnen eindringe. Aber wenn ich's nicht vom Herzen herunter habe, was schon seit Tagen darauf lastet, ist an Schlaf für mich nicht zu denken, und noch viel weniger für mein armes Kind. Sie sind heute wieder mit meinem Schwiegersohn in die See hinausgefahren, diesmal allein. Was im Hause darüber geredet wird, kümmert mich nicht. Meine Annie aber hat sich so darüber aufgeregt, daß der Doctor große Mühe gehabt hat, einen heftigen Nervenanfall zu bekämpfen. Das dürfe sich nicht wiederholen, hat er gesagt, oder er stehe für nichts. Aber wie soll das vermieden werden, wenn alles bleibt, wie es ist? Es liegt mir fern, Ihnen eine Schuld daran zu geben. Sie können nichts dafür, daß Sie liebenswürdig sind, und da Sie gesund und schön und gebildet sind, all das mehr als meine Tochter, kann man's dem Bräutigam verdenken, wenn Annie in seinen Augen neben Ihnen verliert? Nicht daß ich an ihm zweifelte. Aber er muß sich sichtbar Mühe geben, trotz alledem in der Liebe zu seiner Braut nicht kühler zu werden, und sie empfindet es und verzehrt sich in Gram darüber. Wenn das so fortgeht, seh' ich voraus, daß sie mir unter den Händen hinschwindet und eines Tages auslöscht, wie ein Licht. Nun aber habe ich schon zwei liebe Kinder verloren, und wenn ich auch das dritte und letzte hergeben soll –

Die Thränen unterbrachen ihre Rede, sie sank auf einen Stuhl, und ich hatte große Mühe, sie zu beruhigen. Sie erzählte mir, als sie sich erst wieder gefaßt hatte, von ihrem Leben, das kein leichtes gewesen war, von den beiden Kindern, die sie verloren, und wie sie gehofft hatte, das Glück ihrer Annie werde sie für alles Ausgestandene und Verlorene entschädigen. Was soll ich Ihnen die peinliche Scene ausführlich schildern? Genug, als sie mich eine Stunde später verließ, umarmten wir uns unter Thränen, und sie nahm mein Versprechen mit, am nächsten Morgen in aller Frühe abzureisen.

Kaum war sie aus dem Zimmer, so bereute ich, daß ich ihr nachgegeben hatte. Mit ihr und dem kranken jungen Wesen hatte ich Mitleid gehabt – aber auch mit meinem Freunde, selbst wenn ich das Opfer, das ich selbst brachte, gar nicht rechnen wollte? Welch einer Zukunft überließ ich ihn, an der Seite einer kränklichen, ungeliebten Frau, die an seinem geistigen Leben keinen Antheil nahm? Mußte er eine Übereilung wirklich so schwer büßen, da auch sein Gewissen kaum Einspruch thun konnte, wenn er sich scheute, dies Mädchen zur Mutter von Kindern zu machen, die vielleicht ihr nacharten würden?

Und doch – soviel ich grübelte, das dumme Herz entschied. Sie selbst haben ja gesagt: Der arme Kopf gibt immer nach, weil er der Klügere ist von beiden. Und so bin ich am anderen Morgen vor Thau und Tage abgereist und habe meinem Freunde nur einen Zettel mit einem einsilbigen Lebewohl hinterlassen und dem Wunsch, daß er sich Mühe geben möchte, glücklich zu werden, trotz der Entsagung.

Eine Antwort darauf habe ich nicht erhalten.

*

Es blieb eine Weile ganz still zwischen uns Beiden. Dann sagte sie: Der Zug fährt langsamer, ich werde gleich am Ziel sein. Das Gut, das mein Bruder bewirthschaftet, liegt eine Stunde von der nächsten Station entfernt, und sein Wagen erwartet mich. Ich möchte Ihnen nun noch danken für die Geduld und Theilnahme, mit der Sie mich angehört haben. Und glauben Sie nicht, daß ich mich beklagenswerth fühlte. Auch wie ich auf Umwegen hörte, die Verlobten hätten sich bald darauf geheirathet, die junge Frau sei völlig gesund geworden, gab es mir keinen neidischen Stich ins Herz. Das Erlebniß lag abgeschlossen hinter mir; wenn ich daran zurückdachte, fühlte ich nur wieder Dank für das Glück, daß ich das kennen gelernt hatte, was das Süßeste im Leben ist, das völlige Hingeben unserer Seele an eine andere, da, wie gesagt, Geben seliger ist als Nehmen. Und ich hatte doch auch zurückempfangen. Der Dank dafür konnte nie in mir erlöschen, und vielleicht gerade, weil es so kurz gewesen war, hatte das Gefühl nicht Zeit gehabt, schwächer zu werden und seine Zauberkraft zu verlieren. Man muß halt vorlieb nehmen lernen! suchte sie zu scherzen, um ihre Bewegung zu bezwingen.

Dann hielt der Zug. Sie stand auf, und ich half ihr zu ihrem Handgepäck, während der Schaffner in der Thür des Coupés erschien. Auf dem Bahnsteig sah ich einen Herrn in einem Jagdanzug, neben dem zwei Kinder standen, ein Knabe von sieben Jahren und ein etwas jüngeres Mädchen, die beim Anblick meiner Reisegefährtin in großen Jubel ausbrachen.

Sie hatte sich mit einer lieblich freundschaftlichen Geberde von mir verabschiedet, zeigte draußen noch einmal nach mir zurück, worauf der Herr höflich die Mütze zog, mich zu begrüßen. Dann setzte sich der Zug in Bewegung, und die Gruppe entschwand meinen Augen.

*

Jahr und Tag waren nach dieser Begegnung, die mir in wärmster Erinnerung blieb, vergangen, da erhielt ich aus einer norddeutschen Universitätsstadt ein Blatt mit der Vermählungsanzeige eines mir unbekannten Professors mit einem Fräulein, dessen Name mir unvergeßlich war.

Sie selbst, die Neuvermählte, hatte hinter der gedruckten Anzeige ein paar Zeilen hinzugefügt: »Fast gerade an dem Tage, wo ich von der armen Annie Ihnen erzählte, ist sie aus dem Leben geschieden, nachdem sie einem Kinde das Leben gegeben hatte. Wie gut von dem ›armen Kopf‹, daß er der Klügere war! Hätt' ich des Glücks, das mir jetzt beschieden worden, froh werden können, wenn ich's auf Kosten einer Anderen mir angeeignet hätte? Ich brauche mir nicht erst Mühe zu geben, dem Kinde, das mir nun gleich mit dem geliebten Manne beschert worden ist, eine gute Mutter zu sein. Wenn aber der Himmel mir noch eine eigene Tochter gönnt, die dann vielleicht erblich belastet ist, will ich nach Kräften dafür sorgen, daß man ihr den Namen, unter dem ihre Mutter gelitten, nicht aufbringen soll, obwohl es kein Unglück ist, Verstand zu haben, wenn man nur im rechten Augenblick auch das Herz auf dem rechten Fleck hat.«

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