Paul Heyse
Jugenderinnerungen und Bekenntnisse
Paul Heyse

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4. Ein Jahr in Italien.

Am 11. Juli 1852 feierten meine Eltern in aller Stille ihre silberne Hochzeit.

Um allen festlichen Veranstaltungen ihrer Berliner Freunde aus dem Wege zu gehen, reisten sie mit mir nach Baden-Baden, wo wir ein paar heitere Wochen in der Gesellschaft meines Onkels Louis Saaling und seiner Frau verlebten.

Ich machte dort unter andern auch die Bekanntschaft des alten Justinus Kerner, den ich mit seiner wunderlichen Geistermarotte, die er gelegentlich selbst ironisierte, seiner »Klecksographie«Er ergötzte sich daran, ein Blatt Papier in der Mitte zu brechen, spritzte auf die eine Seite Tintenkleckse und drückte sie dann auf der Gegenseite ab. In die dadurch entstandenen breit ausgelaufenen Flecken zeichnete er mit der Feder Striche und Punkte, die Umrisse ergänzend, in denen er dann allerlei Figuren sah (unter anderen »eine Nonne, auf einem Husaren reitend«), wie Mädchen beim Bleigießen den unförmlichen Klümpchen mit der Phantasie nachhelfen. und seinem ganzen naiven, warmblütigen Wesen sehr liebgewann. Auch er fand an mir ein väterliches Wohlgefallen. Er war seit dem Tode seines treuen Rikele sehr weichmütig und tränenselig geworden und lebte in allerlei Mystik, gab mir bei dichtverhangenen Fenstern ein Konzert auf der Maultrommel, die in der Tat wie eine geheimnisvolle Stimme aus einem fernen Jenseits klang, und hatte eine wunderliche, etwas schwachsinnige kleine Gräfin bei sich, die beständig um ihn herumgeistete und seinen Rapport mit dem Zwischenreich vermittelte. Einmal saß er mir auch zu einer Bleistiftskizze, unter die er die Verse schrieb:

Endlich ist mein Bild getroffen,
Wider Hoffen,
Du, nur du hast es vollbracht.
Jeder, jeder
Mit dem Pinsel, mit der Feder
Malte mir, dem armen Tropf,
Sonst nur einen Kürbiskopf.

Wie er die Ähnlichkeit beurteilen konnte, da er fast erblindet war, blieb mir rätselhaft. Doch stand ihm wohl auch bei anderen Gelegenheiten ein Rest seiner Sehkraft zu Gebote. Wenn sich ihm Frauen und Mädchen näherten, wußte er sehr wohl die Häßlichen von den Hübschen zu unterscheiden, indem er jene stehen ließ und nur diese an sich heranzog, um ihre Gesichter ganz nahe zu betrachten und sie dann auf den Mund zu küssen.

Als ich ihn zum letztenmal besuchte, um mir zu meiner Romfahrt seinen Dichtersegen geben zu lassen, nahm er ein in schwarze Wachsleinwand eingenähtes Schreibheft von seinem Tische und schenkte es mir. Auf die erste Seite hatte er geschrieben:

Deine Saiten sind zersprungen,
Und erblindet bist du schier.
Überlaß dem frischen, jungen,
Alter Schreiber, dein Papier!

Ich habe den lieben alten Mann, der jedenfalls ein geborener Poet war, wenn er sich auch zu höheren Leistungen nie erzogen hat, nicht wiedergesehen. Seine unförmlich dicke Gestalt aber mit dem bleichen, blödsichtigen Kopf in dem abgetragenen, langen, schwarzen Rock an einen katholischen Landpfarrer erinnernd, steht mir noch deutlich vor Augen, und »sein Papier« ist in Italien fleißig beschrieben und des freundlichen Donators oft dabei gedacht worden.

*

Von Baden-Baden aus wendeten wir uns in die Schweiz und hielten uns vier Wochen in Interlaken auf, um dann noch eine längere Herbstfrische am Genfer See zu genießen. Die Fahrt dahin war fröhlich und beglückte mich sehr, da ich meinen teuren Vater selten so frisch an Leib und Seele gesehen hatte. Ein lang gehegter Herzenswunsch ging ihm in Erfüllung: er sollte die Gegenden wiedersehen, in denen er als sechzehnjähriger Lehrer, wie ich oben erzählt habe, zuerst auf eigenen Füßen gestanden und in eine fremde Welt geblickt hatte. Wie oft hatte er mir die Namen der Berge Dent du Midi, Dent de Morcle und der kleinen Städte von Chillon bis Genf genannt. Nun sah ich dies alles zugleich mit meinen und seinen Augen, kein Wunder, daß auch mir seitdem dieses zugleich liebliche und erhabene Seegestade des Pays de Vaud mehr ans Herz gewachsen blieb, als irgend eine andere Gegend der Schweiz.

Montreux war damals noch nicht wie heutzutage eine englische Kolonie. In der Pension Vautier fanden wir nur eine alte schottische Dame mit zwei Töchtern, die sich rasch mit uns befreundeten, wenn auch die Mutter es der meinigen nicht verzeihen konnte, daß sie die Sonntagsruhe verletzte, indem sie sich am Sonntagnachmittag mit ihrem Strickzeug im Salon niederließ. Außerdem war da ein englischer Geistlicher mit seiner Frau, der seiner Gesundheit wegen hier überwinterte. Als ich fünfzehn Jahre später wieder nach Montreux kam und die Wirtin fragte, ob sie inzwischen von Mister N. etwas gehört habe, öffnete sich die Tür, und der feine Kopf des alten Herrn erschien leibhaftig vor meinen Augen, mit dem gleichen sinnigen und heiteren Ausdruck wie damals. Er war längst gesund geworden, hatte sich aber von dem reizenden Fleck Erde nicht mehr trennen können.

Die übrige Gesellschaft bestand zumeist aus Franzosen, aber auch an jungen Deutschen fehlte es nicht, guten Gesellen, mit denen ich auch später in Rom und Neapel wieder zusammentraf, wo wir jedoch bei ihrer sehr unkünstlerischen Bildung nicht viel aneinander hatten. Um ein Haar wäre ihnen und mir die Romfahrt überhaupt vereitelt worden. Ich hatte mich mit ihnen, ohne einen erfahrenen Bootsmann mitzunehmen, in einem leichten Segelboot bis nach Chillon gewagt, als bei der Rückkehr plötzlich ein Sturm losbrach und wir nur mit großer Anstrengung es dahin brachten, bei Montreux wieder zu landen.

In der zweiten Hälfte des September kam nun mein Freund Otto Ribbeck, mit dem zusammen ich die Reise machen sollte. Auf Ritschls, seines Lehrers, Empfehlung war ihm von der Berliner Akademie eine Reiseunterstützung bewilligt worden, um für eine große neue Ausgabe des Vergil auf italienischen Bibliotheken die Handschriften zu vergleichen. Jedenfalls trug er ein ganz anderes gelehrtes Rüstzeug mit sich, als ich für meine Provenzalen, zu deren weiterer Erforschung mir das preußische Ministerium ein Stipendium von fünfhundert Talern gewährt hatte. Er war auch freilich fast drei Jahre älter als ich (geboren am 23. Juli 1827 zu Erfurt) und sollte dermaleinst als der treueste Schüler seines großen Meisters die glänzendste Leuchte der philologischen Wissenschaft werden, eine weit ausgebreitete Lehrtätigkeit ausüben und durch kritische und darstellende Werke ersten Ranges bis in sein einundsiebzigstes Jahr sich hervortun.

Damals hatten seine Freunde wenig Hoffnung, daß er es zu hohen Jahren bringen würde. Man hatte ihn sogar mit Sorgen die Reise nach Italien antreten sehen, da seine Konstitution, insbesondere seine zarte Brust, bisher die größte Schonung erheischt hatte. Aber in dem anscheinend schwächlichen, überschlanken Körper herrschte ein energischer Geist und eine zähe Widerstandskraft, die alle Anfechtungen siegreich überwand.

Ein ähnlicher Gegensatz von Zartheit und Festigkeit erschien auch in seinem geistigen und sittlichen Wesen: eine fast mädchenhafte Reinheit und Jungfräulichkeit der Empfindung ohne eine Spur von moralisierender Prüderie, nur weil das Gemeine weit hinter ihm lag, und dabei eine so mannhafte Rüstigkeit des Willens, oft bis zur Schroffheit gesteigert, daß er sich nicht besann, Menschen, die er geringachtete oder auch nur unsympathisch fand, mit verletzender Schärfe abzustoßen. Wen er aber liebte, den umfaßte und hegte er mit einer Innigkeit des Gemüts, einer Zartsinnigkeit des Ausdrucks, die unwiderstehlich waren. Dazu konnte er an Tagen, wo ein jugendliches Wohlgefühl ihn beseelte, ausgelassen lustig sein, wie ein ganz junger Jüngling, und an tollen Streichen teilnehmen, als ob er noch keine Fragmente der lateinischen Tragiker ediert und Vergil-Codices kollationiert hätte.

Mit diesem brüderlich geliebten Menschen das gelobte Land kennen zu lernen, war zu allem andern eine Gunst des Glücks, die ich mir immer mit stillem Danke gegenwärtig hielt.

So trennten wir uns am Abend des 21. September von Montreux und fuhren die Nacht durch das Rhonetal hinan, das von Bergwassern teilweise unwegsam gemacht war und im hellen Mondschein die schauerlich schönsten Ausblicke gewährte. Um zehn Uhr morgens langten wir am Fuß der Simplonstraße an und brauchten den ganzen Tag, den Paß zu überschreiten und, nachdem wir das letzte Schweizerdorf Gondo und die erste italienische Dogana in Isella passiert hatten, den Abstieg zu vollenden.

Die milde lombardische Herbstsonne vergoldete uns auch den nächsten Tag, der uns über den Lago Maggiore und seine beiden herrlich blühenden Inseln nach Sesto Calende führte. Dann noch eine Mondscheinfahrt von neun Uhr abends bis drei Uhr früh im engen zehnsitzigen Omnibus, und im dunkeln Morgen war Mailand erreicht.

*

Von den vier Tagen, die wir hier rasteten, will ich nicht im einzelnen berichten. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß wir allem nachgingen, was von italienischer Art und Kunst in dieser halbfranzösischen Stadt vorhanden ist, Kirchen und Theater besuchten, in der Brera unsere ersten Kunststudien machten und das erhabene Wunderwerk Lionardos im Refektorium von Santa Maria delle Grazie, das trotz der Verwüstung durch den Zahn der Zeit und menschliche Rohheit uns gewaltiger ergriff, als alle ergänzenden Nachbildungen, andächtig bewunderten. Ein Tag wurde zu einem Ausflug nach dem Comer See verwendet, um in der Villa Carlotta (damals noch V. Sommariva) den Alexanderzug und Canovas Amor und Psyche, dann die Kunstwerke in der Villa Melzi zu betrachten und uns die reizenden Seeufer mit den Gestalten der Promessi sposi zu beleben.

Am neunundzwanzigsten mittags brachen wir nach Genua auf, damals noch eine beschwerliche Fahrt, da von der Eisenbahn erst die kurze Strecke zwischen Alessandria und Arquata fertig war und ein mehrmaliges Umsteigen in unbequeme Wagen der Impresa Sarda nötig wurde. So langten wir erst am Abend des 30. September in Genua an und fanden im vierten Stock des Albergo d'Italia ein bescheidenes Zimmer, von dem aus wir aber einen weiten Blick über das Meer und den von Schiffsmasten starrenden Hafen hatten und eine Ahnung, warum man von Genova la superba sprach.

Zwei Tage hatten wir für Genua bestimmt, die wir unermüdlich zur Fortsetzung unserer Kunst-, Natur- und Volksstudien verwendeten. Dann aber war unser Touristengewissen in betreff der genuesischen Kirchen, Paläste und hoch hinaufsteigenden Gassen vollauf befriedigt. Weder damals, noch bei späterer mehrmaliger Wiederkehr habe ich zu der stolzen, einst weithin das Meer beherrschenden Stadt ein rechtes Herz fassen können und mich ohne Bedauern nach kurzem Aufenthalt von ihrer kalten Pracht getrennt, zumal der tief in die Nacht fortdauernde Lärm in den Gassen, das Geschrei des Volks und das Rollen der Wagen stets meinen Schlaf gemordet hat.

Doch einer liebenswürdigen Szene im Teatro della Radegonda muß ich noch gedenken.

Wir hatten einer trefflichen Aufführung des »Don Pasquale« beigewohnt. Nach dem zweiten Akt wurde ein komisches Duett eingeschoben, ein Gutsbesitzer beklagt sich mit seinem Fattore über die schlechte Ernte des Jahres, die ihn in bittere Not bringe. Der Verwalter stimmt schwermütig ein und weiß sich ebenfalls keinen Rat, bis sie endlich beide auf die Knie sinken und die Götter des Olymp um Hilfe bitten. Wenn sie auf das Gebet armer Sterblicher hörten, sollten sie es Zechinen regnen lassen. Wirklich geschieht nach ihrem Flehen, aus den Soffiten kommt ein Regen blanker Zahlpfennige herab, denen die beiden in höchstem Entzücken auf allen vieren nachlaufen, dann sich aufrichten und eine drollige Dankhymne anstimmen.

Das zahlreiche Publikum wurde von dieser taumelnden Lustigkeit dermaßen angesteckt, daß es wütend applaudierte und so lange bis! bis! schrie, bis das Paar wieder erschien und die Szene noch einmal aufführte. Diesmal aber kam es zu einem noch muntreren Schluß. Denn als es wieder Zechinen regnen sollte, brach von allen Seiten, aus den Logen wie aus dem Parkett, ein Regen von wertvollerem Metall über die Duettisten los, daß die armen Teufel anfangs wie versteinert standen, dann aber in hellen Jubel ausbrachen und mit rührend komischen Dankesgebärden den silbernen und kupfernen Segen, – der von oben und unten kam, zusammenrafften.

*

Am regnerischen Morgen des dritten Oktober verließen wir die Stadt, diesmal nicht mit der Diligence. Wir hatten nach der damaligen Sitte mit einem Vetturin einen regelrechten Kontrakt gemacht, der ihn verpflichtete, uns in drei Tagen nach Lucca zu bringen und gegen eine bestimmte, immerhin sehr mäßige Summe unterwegs für unser Nachtlager und volle Beköstigung zu sorgen.

Wie vergnüglich diese Art zu reisen sei, erfuhren wir gleich bei der ersten Probe. Unser Vetturin traf unterwegs einen römischen Kollegen, der augenblicklich ohne Wagen und Pferde ziemlich trübselig auf der Landstraße dahinwanderte, und erlaubte ihm, hinten auf dem Wagentritt mitzufahren. Zum Dank dafür entfaltete der flotte Gesell, Graziano mit Namen, alle Talente eines Grazioso, sang uns die damals im Schwange gehenden Volkslieder vor, das berühmte Te voglio bene assaje und Bell' Angiolina, und regte den andern an, eine Menge Opernarien vorzutragen, leider sehr falsch. Der Compagno dagegen machte sich noch auf andere Weise nützlich, indem er uns von den Feigenbäumen am Wege saftige Früchte stahl und hundert kleine Dienste leistete. Dazu die lustige Fahrt unter dem weiten, tiefblauen Himmel am hohen Meeresufer, während man jetzt von der Schönheit dieser entzückenden Küste immer nur einen flüchtigen Momenteindruck empfängt, so oft der Bahnzug aus einem der siebzig Tunnel auftaucht, um gleich wieder in die Nacht des nächsten zu verschwinden.

Dies war das Italien, wie es uns in unsern Träumen vorgeschwebt hatte, und auch mit dem italienischen Volk kamen wir jetzt zuerst in nähere Berührung.

Die Mittagsrast hielten wir in dem malerisch gelegenen Rapallo, übernachtet wurde in Sestri. Wir hatten noch Zeit zu einem Gang in der Abendkühle, das von Pinien überschattete Felsenvorgebirge der Villa Piuma hinauf und nach der zweiten Bucht, wo das Hospiz der Seeleute so stattlich mit den weiß und schwarz gestreiften Marmorwänden am Ufer steht. Nach der Cena unterhielt uns dann der Wirt unseres »Hotel de l'Europe«, ein angeblicher Veteran der napoleonischen Garde, von seinen Kriegsfahrten, wies zu seiner Beglaubigung seine fünf Blessuren vor und sang spanische Lieder, die er auf seinem Feldzuge dort gelernt hatte.

Die ganze Romantik, die in Eichendorffs »Dichter und ihre Gesellen« die italienischen Abenteuer durchklingt, wurde in dieser »mondbeglänzten Zaubernacht« wieder lebendig und begleitete uns auch im Sonnenschein der folgenden Tage.

Bei jeder Mittagsrast hatten wir Zeit, das kleine Nest, wo unsere Colazione eingenommen wurde, wenigstens im Fluge zu durchstreifen, in die Kirche einen Blick zu tun – in einer wunderten wir uns nicht wenig, ein halb Dutzend verirrter Ferkel anzutreffen –, und ich insbesondere konnte ein paar Striche in mein Skizzenbuch machen, wenn auch die Suppe zuweilen darüber kalt wurde.

Als wir abends in La Spezia anlangten, war es zu einer Fahrt nach dem so malerisch ins Meer hinausgebauten Porto Venere zu spät. Wir mußten uns begnügen, unter den Bäumen am Hafen – damals noch eine sehr junge Anlage – herumzuschlendern und die Spaziergänger und Honoratiorenfrauen in buntem Gemisch mit den Weibern und Kindern aus dem Volk an uns vorüberziehen zu lassen. Sehr kleidsam erschienen uns die kleinen Strohteller mit krausen Strohschleifchen und roten Blumen, die hie und da ein Mädchen geringeren Standes schief auf dem schwarzen Haare trug, und da ich einem sehr schönen, schwarzbraunen Rassegesicht mit schwarzen Augen begegnete, das unter einem solchen cappellino hervorsah, blieb ich stehen und fragte die Alte, die mit dem Mädchen Arm in Arm lustwandelte, ob ich wohl eine Porträtskizze von der ragazza machen dürfe. Die Schöne schwieg, die Alte aber erwiderte, ich müsse ihre Herrin um die Erlaubnis bitten, die unweit von ihnen ihren Spaziergang machte. Als sie mich dann zu der Dame geführt hatten, die ein häßliches kleines Mädchen von etwa sieben Jahren an der Hand hielt, wiederholte ich meine Bitte, indem ich mich als einen deutschen Maler vorstellte, dem diese Strohhütchen sehr malerisch erschienen. – Aber die ragazza wird nicht stillhalten, versetzte die Dame. Ich versicherte, es sei mit einer Sitzung von zwanzig Minuten getan, worauf ich die Erlaubnis erhielt, mich nach dem Abendessen da und da in Casa Bonini einzufinden.

Sehr stolz und glücklich über meinen Erfolg kehrte ich zu meinem Freunde und einem andern Reisegefährten zurück, die mich beneideten und, als es dunkel geworden war, mich bis zu dem bezeichneten Hause begleiteten. Die Schöne wartete schon unten an der Tür und führte mich eine schmale, finstere Steintreppe hinauf in ein großes, kahles Zimmer, wo der Hausherr, ein langer, schwarzbärtiger Mann mit einer argwöhnischen Miene sich aus dem Sofawinkel ein wenig erhob und mir mit einer stummen Verbeugung den Stuhl an dem kleinen Tische anwies. Auf diesem stand eine Lampe, die nur wenig Licht gab. Ich ergab mich aber in alles und wollte eben das Mädchen bitten, auf dem andern Stuhl mir gegenüber Platz zu nehmen, als die Dame des Hauses ihr eigenes Töchterchen dort hinsetzte, dem garstigen, kleinen Geschöpf einen cappellino auf den dünnen blonden Scheitel band und ihm einschärfte, ja recht ruhig zu sitzen.

In meinem ersten Schrecken, und da ich noch nicht genug Italienisch wußte, um das Mißverständnis höflich, ohne die Muttereitelkeit zu verletzen, aufzuklären, fing ich mit verbissenem Ingrimm zu zeichnen an, lehnte aber das Anerbieten des Hausherrn ab, den Bleistift an einem großen Dolchmesser zu spitzen, das er neben sich auf den Tisch gelegt hatte, und sputete mich, so viel ich konnte, da hinter mir mein eigentliches Modell nebst einigen anderen weiblichen Hausgenossinnen mir über die Schulter aufs Blatt schaute. Kein Wort wurde gesprochen, und so kam die Unglücksskizze hurtig zustande, ich bedankte mich »für gnädige Straf'« und mußte es noch leiden, daß mir das schöne Gesicht wie zum Hohn die Treppe wieder hinunterleuchtete.

Daß ich, ins Hotel zurückgekehrt, zum Schaden noch den Spott meiner Gefährten hinnehmen mußte, versteht sich von selbst.

Neben diesem unliebsamen Abenteuer hatte ich aber meinem Künstlerhut und Skizzenbuch andere, anmutigere Erlebnisse zu danken. Denn so argwöhnisch erfahrene Mütter ihre hübschen Töchter vor dem Verkehr mit einem Fremden zu behüten pflegen – die Bitte, ein schönes Gesicht porträtieren zu dürfen, klingt auch ihnen schmeichelhaft, und dem Maler, der in einer Stunde weiterfährt, öffnen sich Türen, die jedem anderen fest verschlossen bleiben.

*

Am nächsten Tage wurde früh aufgebrochen und auf ziemlich schwierigen Wegen, da das Flüßchen Macra ausgetreten war, Sarzana erreicht. Erst nach vielfachen Scherereien bei den verschiedenen Doganen, die damals ebenso wie die obligaten Paßvisa und Aufenthaltskarten an jeder Grenze und jeder größeren Stadt den Reisenden in Italien Zeit und Geld kosteten, langten wir abends in Lucca an. Von hier konnte schon die Eisenbahn benutzt werden, auf der wir am nächsten Tage, Pisa nur im Fluge durcheilend, gegen Abend in Florenz landeten.

Was wir in den drei Tagen unseres damaligen ersten Aufenthalts in der entzückenden Arnostadt an Herrlichkeiten der Kunst und Natur genossen, war nur ein Vorgeschmack der eigentlichen Florentiner Freuden, die hier im nächsten Sommer unser warteten. Da wir hierauf sicher rechnen konnten, setzten wir unsere Reise ohne allzu großen Kummer fort, fuhren auf der Bahn bis Siena, von dort – wo mein Tagebuch allerlei Kunsteindrücke notiert, ohne des großen Sodoma zu gedenken! – am nächsten Tage wieder mit einem Vetturin über Radicofani, Montefiascone, Viterbo, Ronciglione in vier Tagen nach Rom.

Die Fahrt war lustig und interessant genug, auch befand sich unter den Mitreisenden ein Pariser Advokat, Monsieur Landrin, der uns auf öderen Strecken mit seinen Calembourgs und pikanten Histörchen unterhielt, besonders aus dem Leben der Rachel, deren Rechtsgeschäfte er geführt hatte. Wir guten deutschen Jünglinge taten Blicke in eine Welt, die uns mit einem tugendhaften Entsetzen erfüllte. Auch Bernhardin de Saint Pierre erschien uns in einem sonderbaren Lichte, da der Verfasser der zartsinnigen Schilderung des vielbeweinten, jungen Liebespaares seine drei Frauen zu Tode gequält haben sollte, le plus mauvais bougre du monde, un égoiste froid et sec.

Als aber am Morgen des letzten Reisetages Rom endlich sichtbar wurde und die Kuppel des Sankt Peter über die Hügel an der Landstraße aufragte, wurde der geschwätzige Franzose stumm, während ein Engländer, der bisher kein Wort gesprochen hatte, in begeisterter Beredsamkeit sich über die »Ewige Stadt« erging, und wir beide »still und bewegt« über Ponte Molle unseren Einzug in die Porta del Popolo hielten.

*

Wer heutzutage nach einer unaufhaltsamen Tag- und Nachtfahrt mit dem Nord-Süd-Expreßzuge an dem südlich der Stadt gelegenen Bahnhofe anlangt und dann auf der breiten Via Nazionale gleich ins Herz der Stadt hineinrollt, erfährt nichts von der feierlichen Stimmung, in der man vor einem halben Jahrhundert Rom betrat.

Es war noch das alte Rom, fast unverändert, wie es zur Zeit des Rinascimento gewesen war, jedenfalls das Rom der Winckelmann, Goethe und Wilhelm von Humboldt, das Rom des Papstes und seines geistlichen Hofstaates, der zahllosen Mönchsorden jeder Observanz, das Rom der engen, schmutzigen, winkeligen Gassen und jenes so höchst charakteristischen Volkes, das in G. G. Bellis zweitausend Sonetten mit all seinen Sitten und Unsitten, witzig, pathetisch, zynisch, bigott und pfaffenfeindlich in seiner drolligen Mundart sich sehen und hören läßt. Dann aber auch vor allem das Rom der alten Welt, dessen gigantische Baudenkmäler noch nicht wie heutzutage durch den vandalischen Forschergeist der Archäologen in ihren Grundfesten durchwühlt und aus ihrer jahrhundertelangen Verschüttung bloßgelegt waren, sondern von wilder Vegetation überwuchert in traumhaft malerischer Erhabenheit den Beschauer fesselten. Noch war weder im Forum noch im Coliseo der Boden aufgegraben, noch wandelte man zwischen den geheimnisvollen Palastruinen des Palatin ohne genauen Wegweiser herum, und aus den verwilderten Gärten der Villen schweifte der Blick über die weite Campagna mit ihren trümmerhaften Aquädukten bis an die Albaner- und Sabinerberge, ohne durch die ungefügen Zinskasernen einer neuen, nüchternen Zeit gehemmt und beleidigt zu werden.

Eine gewisse Enttäuschung freilich erfuhr der fromme Rompilger auch damals. Man hatte die berühmten Gebäude antiker und mittelalterlicher Zeit so gründlich in hundert Abbildungen studiert, wenn nicht gar aus den Lindemann-Frommelschen Steindruckblättern kennen gelernt, die durch eine romantische Beleuchtung und theatralische Gruppierung die einfache Größe jener Architekturen zu entstellen pflegen. Man dachte sich nun eine Stadt, die aus lauter Monumentalbauten hohen Stils und riesigen Trümmern von Palästen und Tempeln bestehe, und war erstaunt, im Corso an einer langen Flucht ordinärer, völlig stilloser Häuser entlang zu fahren.

Doch die Ernüchterung hielt nicht lange stand. Man erkannte bald, daß diese Verwahrlosung und Armseligkeit, die sich an die gewaltigen Überreste größerer Epochen anschloß, gegen den Eindruck der erhabenen Bauten verschwand, wie man auch in alten deutschen Städten zu Füßen der hohen Domkirchen einen Kranz von unscheinbaren Häuschen und Hütten gewerbetreibender Kleinbürger angesiedelt findet, aus denen die Bogenfenster und Strebepfeiler der gotischen Architektur mit um so größerer Majestät sich emporheben. Zudem übte sich auch in Rom das Auge des Neulings bald darin, an diesen Zusätzen einer charakterlosen späteren Zeit vorbeizusehen und, wie nach chemischer Wegnahme einer zweiten jüngeren Schrift, den ehrwürdigen Palimpsest der Roma antica mühelos zu entziffern.

*

Es war meinem Vater und wohl auch mir als eine besonders günstige Fügung erschienen, daß ich in meinem Onkel Theodor Heyse den erfahrensten Wegweiser in dieser neuen Welt finden sollte, den ich nur wünschen konnte.

Dieser drittjüngere Bruder meines Vaters war nach eben absolvierten Universitätsstudien nach der Schweiz gegangen, um dort an einer Erziehungsanstalt in Lenzburg mehrere Jahre als Lehrer zu wirken. Dann hatte es ihn nach Italien getrieben, das ihn nicht wieder losgelassen, so daß er seinen Geschwistern völlig verstummt und verschollen war. Nur an meinen Vater wendete er sich, in langen Pausen, so oft er etwas von ihm wollte. Denn er wünschte nur sich selbst zu leben, ein Leben geistigen Genusses, von keiner Verpflichtung gegen andere gehemmt, nur soweit mit Arbeit belastet, als nötig war, mit einigem Behagen sich durchzubringen. So hatte er seine reichen philologischen Kenntnisse nie auf eine eigene größere Arbeit angewendet, sondern sie in den Dienst anderer gestellt, die Editionen von Klassikern, Kirchenvätern oder neue Bibeltexte auf Grund der in Italien befindlichen Handschriften veranstalteten.

Bald war sein Ruf als sommo grecista so fest gegründet, daß er, besonders von London aus, die lohnendsten Aufträge erhielt. Nebenher ging als eine früh ergriffene Lieblingsaufgabe die Beschäftigung mit Catull, dessen Text kritisch festzustellen ihm jahrzehntelang am Herzen lag, wie er auch nie müde wurde, seine Übersetzung von Catulls Liederbuch immer von neuem zu feilen und umzudichten.

Mit deutscher Literatur der Zeit nach seiner Ansiedlung in Rom hatte er nicht die geringste Fühlung behalten, sondern war bei Goethe stehen geblieben, den er fast ohne jeden Vorbehalt vergötterte. In dessen Bann stand auch sein eigenes Dichten, das über ein geistreiches Nachklingen weimarischer Tonarten nicht hinauskam. Bei der völlig verwandelten ästhetischen Stimmung der fünfziger Jahre war es unmöglich, für seine Gedichte, die ich später mit nach Deutschland nahm, einen Verleger zu finden, so wenig wie für Lieder eines modernen begeisterten Haydnverehrers nach der Zeit von Beethoven und Schubert ein Publikum vorhanden wäre.

Als ich nach Rom kam, fand ich den »Onkel Catull« in einer unfreundlichen Erdgeschoßwohnung der Straße Sant' Andrea delle Fratte, die aus fünf Zimmern, einer Küche und einer Loggia bestand, diese mit einem lustigen Blick über allerlei Nachbarhöfe und sonnig genug, um hier etliche immergrüne Pflanzen zu ziehen. Auch eine kleine Menagerie hatte hier einmal ihren Platz gefunden, große Vögel in Käfigen, ein Affe und anderes seltsames Getier. Diese Passion war aber vergangen, seit der Züchter, der eigensinnige pädagogische Methoden bei seinen vernunftlosen Zöglingen anwendete, einen ungebärdigen großen Geier im Jähzorn erschlagen und auch den Affen so mißhandelt hatte, daß das alte trauliche Verhältnis in die Brüche ging. Jetzt war nur noch das Hündchen Fido und der Kater Micetto übrig, für deren leibliches Wohl die Köchin Pia sorgte, während der Onkel selbst seine Erziehungsversuche etwas gelinder an ihnen fortsetzte.

Pia war eine richtige Romana di Roma, bis auf die äußere Schönheit und Stattlichkeit, die ihr völlig gebrach, mit allem unergründlichen Aberglauben und unglaublichem Mangel an jeder, auch der geringsten Schulbildung. Ihr Mann hatte sich unfreiwillig von ihr trennen müssen, um auf einer Galeere für gewisse Messerübungen zu büßen, und ein ziemlich verwahrloster sechzehnjähriger Sohn Domenicuccio, der irgendwo irgendwas bei irgendwem zu verrichten hatte, besuchte die Mutter nur von Zeit zu Zeit, meist halb berauscht, wo ihn dann der Padrone unsanft genug behandelte, wie er auch der guten Pia gegenüber oft sein jähes Temperament nicht im Zaum hielt, wenn ihre Dummheit alle Grenzen überstieg.

Sie war aber eine gute Köchin und hielt seine Zimmer und all seinen Besitz in musterhafter Ordnung und Reinlichkeit, so daß er doch besser mit ihr daran war, als wenn er eine Römerin des Mittelstandes zur Frau genommen hätte, eine von denen, die bis zehn Uhr morgens liegen bleiben, sich von ihrem Gatten die Schokolade ans Bett bringen lassen und ihn dann zum Metzger und auf den Markt schicken, um die Spesa zu machen, das heißt die Einkäufe für die Küche zu besorgen.

So sah ich die Romulusenkel täglich in dem Metzgerladen schräg gegenüber sich einstellen und das Stück Fleisch für ihr Mittagsmahl in ein buntgewürfeltes Schnupftuch wickeln, sehr selten unter ihnen die Köchin eines wohlhabenderen Bürgerhauses oder die Hausfrau selbst.

Einmal freilich war der deutsche Gelehrte nahe daran gewesen, ein römisches Mädchen heimzuführen. Nicht gar lange nach seiner Ansiedlung hatte er sich in die Tochter einer Frau, bei der er zur Miete wohnte, sterblich verliebt, ein anziehendes Gesicht von edlen, ruhigen Formen – ich sah ihr kleines Brustbildnis über dem Bücherschrank des Onkels hängen, von einem befreundeten Maler in Öl gemalt –, und als sie einmal gegen die strenge Sitte, die ihr eingeschärft worden, in sein Zimmer getreten war und sogar neben ihm auf dem Sofa Platz genommen hatte, fragte er sie, indem er ihre Hand ergriff: Mi volete un poco bene, Teresa? – Oh! molto più di Voi! hatte sie geantwortet. Als er sie aber an sich ziehen und umarmen wollte, war sie, ihn ruhig abwehrend, rasch aufgestanden und hatte ihm auch während der ganzen nun folgenden Zeit ihrer Verlobung nicht die geringste Liebkosung gestattet.

Die römischen Mädchen wissen, daß sie vor ihrem eigenen heißen Blut auf der Hut sein müssen, und da sie praktische Naturen sind, halten sie sich streng an die Warnung:

Tut keinem Dieb
Nur nichts zulieb,
Als mit dem Ring am Finger.

Daran hielt sich auch die junge Römerin, doch in etwas anderem Sinne.

Die Pfaffen hatten hier eine gute Beute zu machen gehofft, indem sie den fremden Lutheraner durch seine Liebe zu einem ihrer Beichtkinder in den Schoß der Mutterkirche zu locken dachten. Als aber der Deutsche fest blieb, wurde der Mutter seiner Braut dermaßen die Hölle heiß gemacht, daß sie die Verlobung aufhob und ihr Kind trotz alles Sträubens zwang, einem ungeliebten, halbverwandten Spießbürger sich antrauen zu lassen.

Nach der Hochzeitsnacht aber, die der unglückliche Verstoßene in Qualen schlaflos zugebracht hatte, klang morgens früh die Glocke an seiner Tür. Als er öffnete, stand die junge Frau mit hold erglühenden Wangen an der Schwelle, trat hastig ein und sagte mit ihrem klangvollen Alt freudestrahlend: Eccomi! Sono zitella ancora.

*

Damals muß der Sor Teodoro ein junger Mann gewesen sein, der seiner Macht über die Frauen sicher sein konnte, von all seinen Brüdern der Wohlgebildetste, ein wenig hager, aber mit Gebärden, die ein leidenschaftliches Gemüt verrieten, und schwarzen, durchdringenden Augen. Dazu eine sanfte, wenn er wollte, sehr einschmeichelnde Stimme und eine unwiderstehliche Beredsamkeit.

Als ich ihn kennen lernte, war von all diesen verführerischen Eigenschaften nur die letzte geblieben. Er hatte ein halbes Jahrhundert voll Arbeit und mancher Entbehrung hinter sich und fühlte sich selbst erschöpfter, als seine Jahre es erklären konnten. Aber wenn er an einem leidlich gesunden Tage still vor sich hinträumend aus dem Fenster des gewölbten, weißgetünchten Zimmers auf die enge Straße sah, konnte er in eine dichterische Erregung geraten, in der ihm die tiefsten und seltsamsten Reden über Gott und Welt, Kunst und Natur, Menschenschicksal und Lebensüberfluß von den Lippen strömten. Wie wenn ein Musiker an seinem Flügel sitzend in glücklicher Stimmung die Finger über die Tasten gleiten läßt und in solchem Phantasieren oft Schöneres hervorbringt, als wenn er mit bewußter Künstlerschaft ans Komponieren geht.

Indem er so improvisierend sich auslebte und im Selbstgenuß seiner Persönlichkeit schwelgte, trat ihm auch das Bedürfnis nicht nahe, diese seine innere Welt zu »befestigen mit dauernden Gedanken«. Dazu kam, daß er zu den geistvollen Menschen gehörte, die eine künstlerische Befriedigung darin finden, ausgesucht reizende und gehaltvolle Briefe zu schreiben, und darauf all ihren schriftstellerischen Ehrgeiz beschränken. Er machte von diesen kleinen epistolaren Kunstwerkchen stets einen Entwurf, und die Reinschrift eines solchen war ihm ein hinlängliches Arbeitspensum, worauf der übrige Tag ihm gehörte.

Nach alledem wird es begreiflich sein, daß es mir im höchsten Grade anziehend war, diesem Onkel nahezutreten, und daß der vertraute Umgang mit ihm mir in vielfacher Hinsicht ersprießlich sein mußte. Und doch war ich sehr bestürzt, als er mir nach der ersten herzlichen Begrüßung erklärte, ich müsse durchaus bei ihm wohnen, wenn er mir auch keine volle Gastfreundschaft anbieten könne, da seine Einnahmen eben nur ausreichten, ihn selbst über Wasser zu halten.

Das war eine erste schmerzliche Erfahrung in der ewigen Stadt. Ich hatte es nicht anders gedacht, als daß ich den ganzen Winter hindurch mit meinem liebsten Otto Ribbeck alles und jedes teilen würde, und mußte mich, noch dazu mit einer dankbaren Heuchelmine, darein finden, in der düsterlichen Straße ein langes, schmales, einfenstriges Gemach zu beziehen, während der Freund bei einer guten, dicken »weisen Frau«, Sora Rubicondi, sich eines behaglichen, sonnigen und unabhängigen Daseins erfreute.

Denn dieser letzte Punkt war's nicht zum wenigsten, der mir so manche Annehmlichkeiten des Zusammenwohnens mit dem guten Onkel aufwog. Ich hatte von vornherein das Gefühl, daß er mich als eine Art Zögling betrachtete, an dem er seine pädagogische Kunst und Erfahrung bewähren sollte, in aller Lieb' und Güte freilich. Doch da ich mir bewußt war, als junger Poet, Doktor der romanischen Philologie und hoffnungsvoller Bräutigam mich selbst genügend zügeln zu können, war mir das Aufgeben meiner Ungebundenheit, abgesehen von der Trennung von meinem Freunde, im höchsten Grade verdrießlich, zumal es nicht einmal meinem Beutel zugute kommen sollte.

Doch durfte ich mich nicht gegen etwas auflehnen, was mir wie ein Beweis der gütigsten Gesinnung geboten wurde. Und um es gleich hier vorwegzunehmen: das Verhältnis gestaltete sich leidlicher, als ich anfangs gefürchtet hatte. Ribbeck fand fast täglich den Weg zu mir oder ich zu ihm, und wir absolvierten unser Studium der Stadt und all ihrer alten und neuen Herrlichkeiten gemeinsam. Und der Erziehungsversuche des Onkels wußte ich mich nach und nach immer erfolgreicher zu erwehren. Er ersparte sie mir freilich nicht, zumal wenn er sich unwohl in der eigenen Haut fühlte. Dann mußte ich wohl, wenn etwa eine Arbeit mich zu Hause hielt, von ihm hören: ich sei doch nicht nach Rom gekommen, um hinterm Ofen zu hocken und über den Büchern zu schwitzen, was ich auch in der Behrenstraße hätte tun können. Streifte ich dann aber ein paar Tage hintereinander, wenn die Vaticana geschlossen war, in Villen und Galerien oder den Osterien der Campagna herum und kam spät nach Hause, so empfing mich eine wohlgemeinte Paternale, daß ich von einem solchen vergnüglichen Bummelleben nicht viel geistige und künstlerische Frucht ernten würde, da es vor allem darauf ankomme, sich zu sammeln und das Erlebte und Gesehene zu verdauen.

Ich ließ mir indessen meine Freiheit nicht verkümmern, und da ich denn doch manches zustande brachte, auch im übrigen dem alten Herrn – sein Haar war in der Tat schon angegraut – zu allerlei guten Dingen hold und gewärtig war, so fanden wir uns auf die Dauer ganz wohl ineinander.

Zumal ich mehr und mehr erkannte, daß sein Leben denn doch ziemlich freudlos war und er die Freiheit, der er alles geopfert hatte, teuer genug bezahlen mußte. Freunde, mit denen er früher gesellig verbunden gewesen, waren ihm weggestorben oder nach Deutschland zurückgekehrt. Die neugierigen Durchzügler, die ihn als eine römische Sehenswürdigkeit aufsuchten, konnten ihm nur eine flüchtige Genugtuung seines Selbstgefühls bieten. Die englischen Aufträge wurden spärlicher. Seine Haupteinnahme war das Honorar, das er für den Unterricht der beiden erwachsenen Töchter des Fürsten Orsini erhielt. Auch diese täglichen Lektionen, in denen, wie es mir vorkam, nur eine allgemeine Förderung in höherer Bildung beabsichtigt war, pflegten ihn zu verstimmen, da die jungen Principessen wenig begabt und für geistige Interessen nicht allzu empfänglich waren. Er kam dann schwermütig, obwohl der alte Fürst ihn aufs höchste verehrte und um jeden Preis festzuhalten suchte, in sein helldunkles Zimmer zu seinem einsamen Mahle zurück, melancholisierte mir eine Weile vor und entließ mich mit sichtbarem Neide zu meinem Mittagessen, das ich in einer der Trattorien, wo ich Otto und andere Bekannte traf, einzunehmen pflegte.

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Gleich am dritten Tage nach meiner Ankunft in Rom hatte ich durch einen Schulfreund, den ich im Café Greco getroffen, den jungen Dr. med. Klaatsch, die Bekanntschaft des Kirchenrats Hase gemacht, des berühmten Jenenser Professors und Kirchengeschichtschreibers, der mit Frau und Töchtern seit einigen Wochen in Rom sich aufhielt. Wir trafen uns bei meinem ersten Gang durch den Riesendom des Sankt Peter, und der gewaltige Eindruck, der uns wie ein Elementarereignis überstürzte, näherte uns in der ersten Stunde so herzlich, als hätten wir schon den berühmten Scheffel Salz miteinander gegessen. Der sehr lebhafte kleine Herr mit dem übersprudelnden Temperament gewann mich völlig, und ich empfand eine Lücke, als er einige Wochen später Rom verließ.

Auch war er gerade an dieser Stätte der größten päpstlichen Erinnerungen wie kein zweiter zum Cicerone geschaffen. Wir stiegen endlich miteinander die endlosen Treppen und Treppchen bis in die höchste Spitze der Laterne hinauf, wo wir in dem engen runden Raum einige Zeit stumm und beklommen nebeneinander saßen und durch die offenen Fensterlöcher über die ungeheure Stadt hinabschauten. Endlich fing einer von uns »Ein' feste Burg« zu summen an, und sogleich fielen wir anderen mit ein und sangen das ganze herrliche Lutherlied auf dem obersten Gipfel dieses allerpäpstlichsten Gotteshauses fröhlich und andächtig bis zu Ende.

An dieser Stelle will ich ein für allemal erklären, daß ich nichts weniger im Sinn habe, als meine Eindrücke von römischen Bauten, Kirchen und Palästen, antiken und neueren Kunstwerken, die ich diesen Winter hindurch nach und nach kennen lernte, hier auch nur mit flüchtigen Strichen zu schildern. Was ich mit allen künstlerisch angeregten Romfahrern gemein hatte, wäre von geringem Interesse und würde diesen Bericht über meine erste italienische Reise allein schon zu einem Buche anschwellen. Nur was mir von persönlichen Erlebnissen teils in meiner inneren Welt, teils im Verkehr mit guten Leuten und bedeutenderen Persönlichkeiten in heller Erinnerung geblieben ist, soll hier erwähnt werden.

So muß ich vor allem jenes fröhlichen Ausfluges nach dem Tal der Egeria gedenken, den ich in einer Terzinenepistel an Arnold Böcklin geschildert habe. Da ich in jener Dichtung streng bei der Wahrheit geblieben bin, kann ich hier einfach darauf hinweisen. An Böcklin war ich, wenn ich mich recht erinnere, durch seinen Baseler Landsmann Jakob Burckhardt gewiesen worden. Ich hatte ihn schon am zweiten Tage nach meiner Ankunft in seiner sehr dürftigen Wohnung in der Via bella Purificazione aufgesucht und mich an seinen wundervollen Landschaften erbaut. Am Abend desselben Tages führte er mich – im Stromregen – nach einer echt römischen Winkelkneipe, wo ein kleines Häuflein von befreundeten Malern und Bildhauern beisammensaß. Sie hatten sich den Namen »Tugendbund« beigelegt – lucus a non lucendo – und empfingen mich, da ich ihnen durch Böcklin angekündigt war, mit der ganzen zutraulichen Herzlichkeit unserer zwanziger Jahre. Der Angesehenste der Bande war Franz, genannt Dreber, ein sehr begabter Landschaftsmaler aus Sachsen, der leider durch einen grüblerischen Zug seiner Natur sich um das volle, naive Ausleben seines Talents gebracht hat. Neben ihm sein Intimus, der Bildhauer Gerhardt, der alle Freunde außer Böcklin überleben sollte, zwei andere Bildhauer, Kaupert und der Däne Holbeck, ein langer. grotesker Geselle, endlich ein Maler, der mir nur unter seinem Spitznamen »der Indianer« im Gedächtnis geblieben ist.

In dieser Gesellschaft nahm ich an der Ottobrata nach dem Tal der Egeria teil. Sie setzte sich von dem Hause an der Ripetta in Bewegung, in dem Gerhardt und Kaupert ihre Bildhauerwerkstätten, Dreber im zweiten Stock sein Studio hatte und ich noch manchen Abend der erquicklichsten Geselligkeit genoß. An jenem ersten des 18. Oktober, nachdem wir alle Wonne des herrlichsten Tages erschöpft hatten und, wie mein Tagebuch sagt, es »immer tiefer ins Leben hineinging« (Heinses Ardinghello), bis zu jenem Tanz ums Feuer nach abgeworfenen Kleidern, traten wir, eh' wir unter der zauberhaften Abendbeleuchtung der stillen Campagna uns zur Heimfahrt nach den »bunten, schimmernden« Straßen der Stadt entschlossen, noch einmal in die Grotte der Egeria zu einer dankbaren Abschiedsfeier ein, bei der unser Däne mit seinem mächtigen Baß der gastfreundlichen Nymphe in der Arie Casta diva unsern letzten Gruß zurief.

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