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In ein Sanatorium hatte sie ihn bringen müssen. Nicht in der alten Handelsstadt, wo sie gelandet waren, sondern in einem benachbarten Kriegshafen, wo sich zugleich eine Universität befand. Dort sollte ein berühmter Arzt sein. Zu dem war ihr dringend geraten worden.

Automatenhaft hatte sie es alles getan. Wie jemand eine Rolle hersagt, die nie für ihn bestimmt war, und die er nur durch einen Zufall, eine augenblickliche Notlage hat übernehmen müssen. Während der ganzen Fahrt nach dem Krankenhause hatte sie die Empfindung: Da ist irgendeine schreckliche Verwechslung vorgekommen – das ist nicht Wolf, das bin nicht ich – es muß sich gleich alles aufklären. – Und wenn er minutenweise so wie früher sprach und aussah, wallte es mit triumphierendem Frohlocken in ihr auf: Da seht ihr ja, es war alles Irrtum.

Aber diese Minuten wurden immer seltener. Verschwanden bald gänzlich.

In der Anstalt, da begriff sie, daß diese unmöglich scheinende Nachtmahr Wirklichkeit hieß.

Sein Los, ihr Los!

Warum?

Aber – nicht denken. Dachte man erst, so blieb keine Kraft, es zu ertragen.

Und sie brauchte ihre Kräfte.

Nach dem ersten lähmenden Entsetzen, das sie anfänglich gar nicht begreifen ließ, was da vor ihren Augen geschehen war, kam langsam das Verstehen. Und mit ihm der herzbrechende Jammer, die bittere Empörung, daß so etwas sein durfte, der brennende Wunsch, ihm zu helfen, das Bewußtsein der Ohnmacht, es nicht zu können.

Schlimmer wurde es und schlimmer. – Stunden beängstigendster Erregung des Kranken wichen Stunden erdrückendsten Verzweifelns. Immer und immer wieder schienen seine gepeitschten Gedanken die Erlebnisse der letzten Wochen zu durcheilen, und eine fieberhafte Unruhe war in ihm, eine Erwartung, daß noch irgendein Ergebnis, eine glänzende Rechtfertigung kommen müsse, daß es nicht so enden könne.

Und es war doch alles längst zu Ende, vergessen schon.

Unendlich verschärft und verfeinert hatten sich seine Sinne. Das fernste Geräusch nahm er wahr, fuhr auf im Bette und blickte nach der Tür, mit einem Ausdruck, der Ilse durchs Herz schnitt. So müssen Verurteilte ausspähen, die noch in letzter Stunde auf Begnadigung hoffen.

»Steht denn gar nichts in den Zeitungen?« fragte er sie flüsternd.

Da nahm sie eine Zeitung, ging damit ans Fenster, als wolle sie das Licht der sinkenden Abendsonne noch erhaschen, überflog suchend die Blätter und sagte dann: »Ja, hier ist wirklich etwas.« – Und mit fester Stimme las sie ihm vor, daß die Kunde vom Rücktritt des Gesandten von Walden in den weitesten Kreisen allgemeines Bedauern hervorrufe, da sich die Ansicht mehr und mehr ausbreite, daß sein Verhalten auf seinem letzten Posten während der dortigen bekannten Ereignisse ein durchaus richtiges gewesen sei, und man auch noch ferner viel gute Dienste fürs Vaterland von ihm erwartet habe.

Er sank in die Kissen zurück und schloß die Augen. Die neugeprägten schmerzlichen Linien um seine Lippen schienen einen Augenblick verwischt. Ilse aber glitt leise aus dem großen Krankenzimmer in die kleine anstoßende Stube, die sie bewohnte. Da durfte sie weinen.

Später sagte ihr die Krankenschwester: »Unser armer Herr wollte so gern noch einmal hören, was sie ihm vorhin aus der Zeitung vorgelesen haben – aber ich konnte die Stelle nicht wiederfinden.«

»Es steht ja gar nicht drin,« antwortete Ilse.

Die Pflegerin sah sie verwundert an. Da sagte Ilse: »Ach Schwester, Sie geben ihm das Morphium und ich die Lüge – und wir beide üben Barmherzigkeit.«

Aber sie konnten ihm doch nicht helfen. Auch die Ärzte konnten es nicht. Die fiebernde Erregbarkeit, die folternde Schlaflosigkeit, all die schlimmen Symptome nahmen zu. – Es war ein plötzlicher, völliger Verfall, nicht nur der geistigen Herrschaft über die irrenden Gedanken, sondern auch aller physischen Kräfte, ein geheimnisvolles Versagen des Lebenswillens selbst.

Die Ärzte der Anstalt kamen täglich mehrmals und beschauten Wolf, wie man ein armes, havariertes Schiff betrachtet, das nach vielen Fahrten untauglich geworden ist. Sie schüttelten die Köpfe und sprachen von Nervenschock und tiefer seelischer Depression, die in einem durch lange Tropenjahre unterwühlten Organismus besonders verheerend gewirkt hätten. – Ach, wie es alles gekommen, wußte Ilse ja ganz genau – das brauchte ihr niemand zu erklären. Nur sagen sollten sie ihr, wie er zu heilen wäre, was geschehen müsse, damit er wieder werde, der er einst gewesen. – Aber gerade das konnten sie ihr nicht sagen. Das ganze Leben hätte eben anders gelebt werden müssen, dann wäre auch das Ergebnis ein anderes gewesen. Darauf lief die ganze Weisheit hinaus. Es war, als ob man einem, der eine Tragödie verfaßt hat, sagte: Warum hast du nicht lieber eine Komödie geschrieben, dann wäre das Stück heiter ausgegangen.

Aber haben wir denn je dem noch kommenden Unbekannten frei gegenüber gestanden? Läßt sich überhaupt das Leben leben, wie wir wollen, so daß es möglich gewesen wäre, anderes zu ergreifen, als was wir, scheinbar selbst bestimmend, wählten? Ilse fragte es sich jetzt bisweilen.

Und dabei erhob sich vor ihr, aus den Nebeln der Vergangenheit tauchend, das Bild jener Florentiner Villa, in der sie beide vor Jahren einen kurzen, seligen Tag verbracht und von einem langen, verschwiegenen Glück geträumt hatten. – Sie sah die zwei ansteigenden Reihen alter Zypressen, die zu dem Hause führten, und zwischen denen sich der längst nicht mehr benutzte Weg zu sanft abgestuften Rasenterrassen gewandelt hatte. Im kurzen Grase blühten Anemonen und Hyazinthen. Und den ganzen verwilderten Garten oben am Hause sah sie wieder, die Lorbeerhecken, die keinen Schnitt mehr kannten, die alte Marmorbank mit den Löwenköpfen, auf der sie beide einst gesessen. Zu ihren Füßen senkte sich, silbrig vom Laub der Olivenbäume, der Abhang hinab. Drunten auf der Stadt lag blauer Dunst gebreitet, nur die eine große Kuppel ragte ganz klar daraus hervor, gleich einer mystischen Glücksblume, die sich ihnen darbot.

War es ein Symbol gewesen? Hatte da das Glück zu ihren Füßen gelegen, bereit sich pflücken zu lassen? Und sie waren dran vorbeigeschritten, weil sie nicht verstanden, wohin der Wegweiser einer sich bescheidenden Weisheit wies?

Wie wäre es wohl alles geworden, wenn sie an jenem Abend nicht mehr hinabgestiegen wären in das Getriebe der Welt, sondern sich für immer dort oben verborgen hätten, in den wehmütig schönen Sälen der stillen Villa, in den verschwiegenen Lauben, die Rosen und Glyzinen umspannen? Wären sie dann geschützt, verschont geblieben? War es vielleicht zu viel, was sie vom Leben verlangt – Liebe und Taten?

Ach, müßig Fragen. – Wer entdeckte denn je das Land, da ihn das Schicksal nicht fände!

Dunkler und dunkler ward es um die beiden, die vor wenig Wochen noch wähnten, Prägung von ihrem Geist und Wollen den Ereignissen aufdrücken zu können, und die nun weilten unter den alles Rechtes auf Willen Beraubten, unter den schlimmer als Toten, den lebendig Begrabenen.

Es kamen Stunden, wo Ilse wie einst bei Anne Dore und dann im Sterbezimmer ihres eigenen Kindes die Nähe des unsichtbaren Etwas ganz deutlich fühlte, jenes Unheimlichen, das stets da ist und doch stets wieder vergessen wird. Und inmitten seiner fiebernden Phantasien mußte Wolf selbst plötzlich den kalten Hauch empfunden haben, der ihn schon so dicht streifte. Da stürzten all jene unsichtbaren Mauern ein, die sich auch zwischen den scheinbar vertrautesten Menschen trennend erheben. Und sie beide sprachen Worte zueinander, die nur auf die Lippen derer kommen, die vom Leben Abschied genommen haben. – Es gab keinen Schein mehr aufrecht zu erhalten, es lohnte nicht, noch irgend etwas zu verbergen. – Unverhüllt lag alles da. Einer blickte in des anderen geheimste Herzenstiefen, mit all ihrem Weh und Leid erschloß sich eine Seele vor der anderen. – Er sprach und sprach in der völligen Schwäche und Haltlosigkeit schwerer, zur Auflösung führenden Krankheit. Sie redete, um doch noch einmal im Leben dem alles gesagt zu haben, dem allein sie es sagen konnte, und den bald vielleicht kein Wort mehr erreichen würde.

Manches, worüber sie mit den Jahren gelernt hatten, schweigend und scheu hinwegzugehen, ward nunmehr klar. Schleier fielen, Rätsel lösten sich. Wie viel stummes Weh jeder vor dem anderen verborgen, erfuhren sie erst jetzt. Und wie müde die Schultern, wie wund die Füße ihnen oft geworden auf dem steinigen Weg an der brennenden Felsenwand, den sie nun schon so lange zusammen geschritten waren. Und wie immer, wo Menschen völlig aufrichtig zueinander sind, blieb nichts wie ein grenzenloses, gegenseitiges Erbarmen übrig, als letztes, geklärtestes Lebensergebnis.

Sie kniete an seinem Bett, und er umschlang sie mit letzten, schwindenden Kräften. Das Beste des ganzen Lebens, die Heimat, waren sie sich einer dem anderen gewesen. Mit erstickender Stimme sagten sie sich's – und sollten nun doch für immer voneinander lassen.

Die Pflegerin wandte sich ab – sie konnte den Jammer nicht mit ansehen. Hatte die beiden schon lieb gewonnen, gleich nach den ersten Stunden.

Dann kamen die Ärzte, mühten sich um Wolf die lange, langsam schleichende Nacht. Wollten des Daseins Lichtchen nicht erlöschen lassen, wenngleich es fortan noch so kläglich nur brennen sollte. Gestatteten dem müden Herzen nicht stille zu stehen, kämpften um das fliehende Leben, wie sie es ja auch getan hätten, wenn ihr Kranker ein zu lebenslänglichem Zuchthaus Verurteilter gewesen wäre. Wie man einen Ertrinkenden rettet, einerlei, welchem Elend er zurückgegeben werden mag.

Und Ilse stand daneben und hätte ihn halten und ihm zurufen mögen: bleib, bleib – und wenn nicht für dich, so für mich, weil ich gar zu einsam wäre und ohne dich das Leben nicht ertragen könnte. – Er aber weilte schon fern, konnte ihre Stimme nicht hören. – Da wandte sie sich an einen noch Ferneren. »Laß ihn mir! laß ihn mir!« betete sie. Und immer wieder: »Laß ihn mir! laß ihn mir!« Wie ein Pochen und Rütteln an einer geschlossenen Tür war dies Beten, ein verzweifeltes Pochen und Rütteln, das nicht nachlassen würde, bis die Tür sich öffnete.

Und er blieb am Leben. Auch das heißt ja Leben.

Ihr Rütteln und Pochen war gehört worden. Er war ihr gelassen. Sie konnte ihn sehen, all die langen Stunden der Tage und Nächte, in denen sie ihn nie verließ. – Ja, er war ihr gelassen. Und doch...

War das wirklich ihr Wolf? Der, den sie all die Jahre gekannt und geliebt, mit dem sie alles in all den Ländern geteilt hatte? Es konnte ja nur er sein. Und doch war es ein anderer, jemand, den sie nicht kannte. Wie ein Spuk schien es ihr manchmal, durch den ein Fremder sie mit den wohl vertrauten Zügen narre.

Aber sogar die äußeren Züge änderten sich, die Krankheit grub neue scharfe Linien in sie ein und bleichte die Haare; wenige Wochen bewirkten, was sonst nur die unmerkliche Arbeit vieler Jahre vollbringt. Vor der plötzlichen Wandlung stand sie gramerfüllt; jede Stunde, die verrann, nahm ihm etwas von dem, was er gewesen, machte ihn zu einem anderen. Und da gab es kein Halten, weiter, immer weiter glitt er fort von ihr. Und sein Geist weilte in fremden Welten, zu denen es für sie keinen Zutritt gab. – Ach, wo war der, der all sein Denken und Wissen einst mit ihr geteilt? War es möglich, daß er und dieser ein und derselbe sein konnten?

Szenen ihres früheren Lebens tauchten plötzlich vor ihr auf; Worte, die er an verschiedenen Orten zu ihr gesprochen, glaubte sie noch einmal zu vernehmen – und dabei überkam sie ein grenzenloses Verlangen, nach diesen Orten eilen zu können, im Wahne, daß sie ihn dort wiederfinden würde, so wie er damals war. Nach jener scheinbar noch so nahen Vergangenheit verlangte ihr ganzes Herz, in sie wollte sie hinabtauchen. So begann sie mit ihren Gedanken rückwärts zu leben, und ihre Vorstellungen verwirrten sich allmählich so, daß sie bisweilen wähnte, wenn sie eine Uhr nähme und die Zeiger immer weiter und weiter zurückdrehe, so würde sie die Zeit zwingen, um Tage, Wochen, Jahre rückwärts zu gehen – und dann mußte sie doch endlich einmal bei dem Augenblick anlangen, wo sie ihn wiederfinden würde, so wie er einst wirklich gewesen und jetzt nur noch in ihrer Erinnerung war. Ja, in die Vergangenheit wollte sie zurück, so weit, bis sie bei Dem anlangte, nach dem ihr Herz vor Heimweh brach.

Wachen und Träumen, Gegenwart und Vergangenheit gingen ineinander über, wenn sie so Nacht um Nacht neben ihm saß. Manchmal schlossen sich ihre Augen, ohne daß sie es selbst wußte. Wie durch einen Nebel sah sie Bilder, und Töne klangen zu ihr aus weiter Ferne. – Das Zirpen zahlloser Zikaden, das sie beide so oft in tropischen Nächten vernommen, glaubte sie wieder zu hören, all die tausend Stimmchen, die in den Ländern jenseits der Meere während der finsteren, schwülen Stunden tönen. Palmenblätter knisterten metallisch, gleich den Schwertern unsichtbarer Heere, Farren auf hohen Stämmen winkten und nickten wie grüßend aus fernen Urzeiten der Erdengeschichte. In die Mysterien der Tropenwälder, die sie so oft zusammen geschaut, blickte sie noch einmal im Halbschlummer zurück, fühlte sich noch einmal umgeben von all jenem brodelnden Leben, das achtlos über den Tod hinwegeilt, dem ein einzelnes zerstörtes Dasein so belanglos scheint! Oft war sie so erschöpft, daß sie nicht mehr genau unterschied, was sie sah und hörte. Die alltäglichen Laute, die von der Straße zum Krankenzimmer nur gedämpft drangen, wandelten sich in ihrem halb dämmernden Bewußtsein zu anderen einst vernommenen Tönen und beschworen Bilder, ganze Zeiten vor ihr auf. Das Tuten der Automobile wandelte sich zum beklemmenden Klang von Nebelhörnern, wie sie durch dichtes wogendes Grau auf schauerlicher Meerfahrt tönen. – Die Klingel eines vorbeieilenden Radfahrers wurde zur Glocke einer Kamelkarawane; sie sah die lange Linie der aneinander gebundenen Tiere; mit den wippenden, wiegenden Köpfen, sich an steilem dürren Abhang herabwinden und tief unten in die breite, baumbeschattete Straße biegen, die zu der fernen heiligen Stadt des Ostens führt. Seltsam geformte Karren knarrten durch den Staub, gezogen von weißen Rindern, die Ketten goldgelber Blumen trugen. – Einen großen Hof sah sie, umschlossen von ragenden Palästen. In langer Reihe umstanden Elefanten den weiten Platz, regungslos, wie aus Stein gehauen, so daß sie Teile zu sein schienen des reichgeschnitzten Gemäuers. – Tänzerinnen in goldgestickten Gewändern drehten sich langsam in dem Hofe, von flackernden Fackeln beschienen, und die silbernen Reifen an ihren schmalen braunen Knöcheln schlugen zu ihrem Reigen rhythmisch aneinander. – – – – Und weiße, mondbeschienene Kuppeln, die sich in einem breiten Strome spiegelten, tauchten vor ihr auf; goldene Pagoden an violetten Seen, verlassene Städte, in deren ausgestorbenen Straßen graue Affen wie die Gespenster einstmaliger Menschen hausten.

Ja, all die vielen Punkte der Erde, die sie mit Wolf geschaut, erblickte sie wieder. Das ganze Leben zog in Bildern an ihr vorüber – das Leben, von dem er so viel noch erhofft hatte, dessen lichte Stunden ihm immer als die Vorboten noch strahlenderer Tage erschienen waren – das Leben, das oftmals ein so schwerer Kampf gewesen und das zu dieser Niederlage geführt hatte. –

Anfänglich ertrug es Ilse alles mit einer Widerstandskraft, über die sie selbst und alle, die ihr nahten, staunen mußten. Es war, als besäße sie Vorräte an Mut und Ausdauer und Nervenstärke, die unergründlich blieben, mochte sie daraus auch noch so verschwenderisch schöpfen.

Allmählich aber begann, neben dem eigenen bohrenden Jammer, auch der Einfluß der ganzen Umgebung an ihrer Gesundheit und Selbstbeherrschung zu nagen. Zuerst hatte sie diese Umwelt ja gar nicht beachtet. Als wäre sie plötzlich in einen Raum tiefster Finsternis gestoßen worden, so war es gewesen. Doch nun hatten ihre Augen gelernt, in dieser Dunkelheit zu sehen, – und sie erblickte eine Welt, von der sie bisher nichts geahnt hatte, wo alles Schrecken und Grauen war. – Hinter jeder Tür in diesem Hause barg sich ja eine andere Tragödie, ein anderes Stück menschlichen Elends. Und solcher Häuser gab es viele! Über die ganze Erde waren sie verstreut! – All dies Dunkle, Furchtbare bestand, hatte immer bestanden, von jeher mußten zahllose Wesen so leiden – und doch war es möglich, daß währenddessen und dicht daneben das andere Leben, wo man tat, als wisse man nichts von all diesem Jammer, seinen gewohnten Lauf weiter ging. Wie nichtig, wie trughaft erschien doch alles, um das man sich dort sorgte, neben den furchtbaren Tatsachen, die Ilse hier kennen lernte!

Wie früher von Karrierenaussichten, von Ernennungen und Verabschiedungen, so hörte sie jetzt von Krankheitsverläufen reden, von schlimmen Symptomen, von unheilbaren Fällen. Und unter dem Ansturm all der so gänzlich neuen, so qualvollen Eindrücke sank die Welt, in der Ilse bis dahin gelebt, immer weiter ins Schattenhafte zurück. Abgeschieden von allem, was sich außerhalb der Mauern des Krankenhauses zutrug, dünkten sie Gesundheit und Leben jetzt oft nur noch ein Traum. Leiden und Sterben, das waren die großen Wirklichkeiten!

Wie nun die Wochen schwanden, ohne Wandlung zu bringen, kam doch schließlich eine große Erschöpfung über Ilse. Aber nicht die Müdigkeit ihres hinwelkenden Körpers war das Schlimmste, nein, mit Entsetzen nahm sie wahr, daß ihr bisweilen die Herrschaft über ihren Geist entglitt, daß auch ihre Begriffe sich zu verwirren begannen. Sie beobachtete sich nun selbst, ganz so, wie sie allmählich gelernt, daß Ärzte und Pflegerinnen die Patienten beobachteten. Und sie hatte Angst vor den eigenen unsteten Gedanken, vor all dem Huschenden, Sprunghaften und Verschobenen, das sie in sich fühlte. – War auch sie vielleicht schon eine Kranke, eine der vielen, von denen die anderen Menschen es nur noch nicht wissen?

Aber das durfte nicht sein – sie mußte klar und wach bleiben. Und sie trachtete, gegen sich anzukämpfen, suchte inmitten all des flatternden, sich verwischenden einen Halt zu finden. Aber was steht denn fest, wo alles schwankt? – Zahlen, dachte sie da, Zahlen, die verändern sich nicht – und aus den Wogen schwindender Begriffe klammerte sie sich in einer verzweifelten Anstrengung an das, was ihr wie Felsen erschien! – Zwei und zwei macht vier; vier und vier macht acht; acht und acht macht sechzehn – soweit kam sie – aber ihre Hände zitterten, und ihre Stirn war feucht – weiter, weiter, es mußte gehen – acht und acht macht sechzehn, keuchte sie, – sechzehn und sechzehn – sechzehn und sechzehn? – Sie suchte, suchte: sechzehn und sechzehn? – Wenn sie die Antwort fand, war sie gerettet. Aber sie konnte nicht – so sehr sie ihre Gedanken auch spannte. – Eine Angst, eine entsetzliche, alles verwirrende Angst hatte sie gepackt. – Alles um sie her verschwand, sie sah in einen schwarzvioletten Abgrund, in dem sich feurige Kreise drehten: sechzehn und sechzehn? fragte der Verstand noch einmal – aber immer wieder wirbelten die glühenden Kreise vor ihren Augen. – Die Kreise zählen! die Kreise zählen! kreischte es in ihr. Aber die hatten sie selbst schon in ihren wilden Reigen gezogen, sie war zu einem Etwas geworden, mit dem eine unerbittlich grausame Macht spielte, wie der Sturm mit einer Feder – hin und her wurde sie geschleudert – es war ihr, als pralle sie gegen feststehende Tatsachen, an denen sie zerschellen mußte, aber das Verwirrendste war, daß nicht sie zerschellte, sondern die Tatsachen umsanken – alles ließ sich umstoßen, alles verschwamm – auch die Zahlen standen nicht mehr fest – zwei und zwei macht vier – war das wirklich so? Es konnte ja auch alles anders sein! –

Solche Stunden, nach denen sie wie gepeitscht zusammensank, durchlebte sie manche Nacht. Und das Erschöpfendste war, daß sie nie ganz nachgab, daß immer noch ein Fünkchen Wille in ihr blieb. Sie durfte ja nicht die Zügel fallen lassen, – so sehr sie sich auch sehnte, in jenen dunklen Strudel hinabzugleiten, wo alle menschliche Verantwortung endet.

Und wenn dann der Morgen kam, brachte er eine andere Angst: daß die Ärzte entdecken könnten, wie hoch schon die Wellen des Meeres der Unzurechnungsfähigkeit an ihr emporleckten. Sie zwang sich mit gesenkten Lidern zu ihnen zu sprechen, aus Furcht, daß sie es alles in ihren Augen lesen möchten. Denn ihre Augen, das fühlte sie, mußten auch schon den seltsam stieren, wie unter ungeheurer Last erstarrten Blick haben, den sie mit Grauen an so manchem Kranken gesehen, und der nur wich, um einem noch unheimlicheren Flackern Platz zu machen, das hüpfte und sprang, wie gierig sengende Flammen.

Es war ein seltsamer Doppelzustand, in dem sie sich befand. Sie hörte ganz genau, was die Ärzte sagten, sie verstand jedes ihrer Worte, gab die richtige Antwort auf alle Fragen und führte Anordnungen peinlichst aus – aber dicht neben diesem Gebiet, wo sich alles mit automatenhafter Pünktlichkeit abspielte, lag das andere große Reich, wo Chaos und Entsetzen herrschten, das Reich, in das niemand blicken durfte, das mit eisernen Türen verschlossen werden mußte. – Und diese Türen waren ihre gesenkten, bläulich geäderten Lider, ihre zusammengepreßten zuckenden Lippen.

Und dann kam der dunkelste Tag.

Eine besondere ärztliche Berühmtheit war Ilse zur Konsultation vorgeschlagen worden. Wie in jedem solchen Fall erwachte alsobald eine beinahe abergläubische Hoffnung in ihr: Der, gerade der, mußte Heilung bringen! Und sie konnte sein Kommen kaum erwarten.

Endlich war der berühmte Professor da. Er untersuchte sehr genau und stellte allerhand verwickelte Versuche an. Wolf ließ alles über sich ergehen, mit stumpfer Teilnahmlosigkeit, in die sich doch, wie ein Schimmer früheren Wesens, eine gewisse müde Höflichkeit mischte. Dann versuchte der große Arzt, sich von ihm erzählen zu lassen. Anfänglich erhielt er nur widerwillige, abgerissene Antworten von dem Kranken, als fürchte der, seine geheimsten Gedanken einem feindlichen Späher zu offenbaren. Aber allmählich gewann die hypnotisierende, vertrauenerzwingende Persönlichkeit Macht über ihn. Weit vorgebeugt, mit kaum hörbarer Stimme und von Zeit zu Zeit scheu um sich blickend, begann Wolf in kurzen Sätzen stoßweise zu reden. – Ilse vermochte den Anblick, den sie nun doch schon so gut kannte, kaum zu ertragen; die hagere, ganz zusammengekauerte Gestalt, das abwechselnde Starren und Flackern der Augen, das Zittern der mager und gelb gewordenen Hände, der ganze Ausdruck gequälter, gehetzter Angst. Was hatte das erbarmungslose Leben doch aus ihm gemacht! – Und was er sagte, war ebenso schmerzvoll, wie die Art, es zu sagen. – Da kamen Erinnerungen ihres früheren Lebens – die waren so klar und deutlich, daß Ilse sich ganz in die entschwundenen Zeiten zurückversetzt wähnte, aber während er noch erzählte, von dem letzten Posten, der Ankunft der Schiffe und seiner plötzlichen Abberufung, verwandelte sich sein ganzes Wesen und Reden, leiser, scheuer flüsterte er, von der Verschwörung gegen ihn, die damals begonnen und die weiter bestände, die ihn auch hier umgäbe, hinter jeder Tür lauere, aus dem Benehmen aller hervorgehe. Die tödlichste Angst stand dabei auf seinen Zügen, während er keuchend und zitternd die gewähnten Verfolgungen enthüllte. – Und Ilse sah, wie das Gesicht des Arztes, der den ersten Ausführungen mit sichtlichem Interesse gefolgt war, allmählich den halb mitleidigen, halb gleichgültigen Ausdruck annahm, den Ärzte für Fälle haben, über die sie glauben, keine Illusionen mehr hegen zu können. Er widersprach nicht, sondern ließ Wolf ruhig reden. Schließlich zuckte der berühmte Mann unmerklich die Achseln. Dann zog er sich zur Besprechung mit den behandelnden Ärzten zurück.

Bald darauf ward Ilse zu ihnen gerufen. Wie einer Beschuldigten vor den Richtern war ihr zu Mute: »Angeklagte, Sie haben einen schwerkranken Mann.« – Ja, ja, das wußte sie! Aber, nicht wahr, es war ihm doch zu helfen? Er konnte gerettet werden? es war doch keine ... Verurteilung, die die Richter aussprechen wollten? – Die Antwort kam zögernd: »Diese Verfolgungsideen sind ein schlimmes Symptom.« – Nun fühlte sie sich als seinen Anwalt, sie hatte ja immer die Empfindung, ihn verteidigen zu müssen. »Aber er ist doch wirklich verfolgt worden,« brach es aus ihr hervor, »alles was er ihnen erzählt hat von seiner Abberufung, das ist wörtlich wahr, ich habe es ja alles mit erlebt!«

»Das will ich Ihnen gern glauben,« antwortete der berühmte Mann, »obschon die Darstellungen in manchen Blättern damals anders lauteten – das Bedenkliche sind die weiteren Folgerungen, die der Patient daraus zieht – er hat sich ein ganzes System ausgedacht.«

»Und... wie kann man das heilen?« fragte sie.

»Die Wissenschaft steht da noch vor Rätseln – wahrscheinlich handelt es sich bei solchen Erkrankungen um chemische Veränderungen des Gehirns, die weder nachzuweisen noch zu beeinflussen sind.«

»Aber er wird doch wieder gesund werden? Er muß doch? Er kann doch nicht so bleiben?«

»Ich möchte Ihnen nicht ... allzuviel ... Hoffnung machen.«

Sie starrte ihn wortlos an, und er fröstelte unter der Verzweiflung dieses Blickes.

Ihre Lippen waren weiß geworden, und sie preßte unwillkürlich die Hände an ihre linke Seite, wo sie plötzlich einen unerträglichen Schmerz empfand. Der Arzt drückte sie in einen Sessel nieder und beugte sich beobachtend über sie.

»Es ... ist ... nichts,« keuchte sie, »nur ... das grenzenlose Mitleid ... das ... tut so weh.«

»Ja, das Mitleid!« sagte der Arzt sinnend. »Das Mitleid ist eine sehr kostbare Sache – wir dürfen damit nicht zu verschwenderisch umgehen – denn wir nehmen uns viel damit und können schließlich doch immer nur wenig dadurch geben.«

»Wer vermöchte denn je bei Mitleid zu rechnen?« flüsterte sie.

»Es ist eben nötig, auch das zu lernen,« sagte er.

»Sie meinen, die Kräfte würden dadurch zu sehr verringert?« fragte sie leise.

»Ich fürchte es – in Ihrem Fall.«

»Ich werde die nötigen Kräfte schon bewahren, Herr Professor.« – Sie stand jetzt hoch aufgerichtet vor ihm, und es klang beinahe drohend, aber er verstand, wie sie es meinte, sie bedrohte ja sich selbst.

Als sie wieder bei Wolf eintrat, saß er noch immer, wie sie ihn verlassen, angstvoll zusammengekauert, wie ein Gefangener, und sie hatte eben vernommen, daß er schon ein Verurteilter war.

»Bleib doch bei mir, laß mich nicht so lang allein,« sagte er klagend.

Da kniete sie auch schon neben ihm, hatte ihn umschlungen und ihr Gesicht an seine Schulter vergraben, daß er nicht den grenzenlosen Jammer in ihren Zügen sähe. Der furchtbare physische Schmerz von vorhin preßte ihr wieder das Herz zusammen – ja, das Mitleid tat weh, weh. Aber sie achtete nicht mehr darauf. Sie allein blieb ihm, was immer sie geben konnte, das sollte er haben.

»Ich werde dich nie allein lassen – ich werde immer bei dir bleiben.«

Von da an kam eine gewisse Ruhe über Ilse, denn sie fühlte, daß sie an die Grenze ihrer Leidensfähigkeit gelangt war, diese Grenze, bis zu der jeder einmal muß, und die, durch ihre verschiedene Weite, vielleicht den Ausgleich der ungleich scheinenden Geschicke bildet.

So fühlte sie auch nicht mehr das Schuldbewußtsein, das den nachdenkenden Reichen beim Anblick der Armen überkommt. Zu den bleichen Fabrikarbeitern, den rußigen Lastenträgern, den verkümmerten Bettlerkindern hätte sie jetzt sprechen können: Ich gehöre nicht mehr zu denen, die ihr feindselig und neidisch anzuschauen braucht, denn mein Elend mag anders aussehen wie das eure, aber es ist ebenso schwer.

In der Größe ihres Schmerzes lag eine Art Vollendung.


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