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XV

Es war eine beschwerliche Fahrt gewesen, die Barthel und Joseph über den Westerwald und weiter nach Frankfurt geführt hatte. Alle Landstriche ringsum fanden sie von den Truppen der Verbündeten besetzt, und es bedurfte immer wieder der Legitimationskarte, die Barthel als Offizier des Landsturms auswies, um die Weiterfahrt von Ort zu Ort zu ermöglichen. Das Pferd freilich wurde bei dieser Art des Reisens unfreiwillig geschont, aber das konnte die Männer nur schlecht darüber hinwegbringen, daß sie eine Reihe von Tagen verloren. Dann aber erblickten sie die alte Krönungsstadt Frankfurt, und die Beschwerden waren vergessen, als sie vor einem Ausspann in einer abgelegenen Gasse hielten und endlich Quartier bekamen. Sie versorgten das Pferd, und Barthel machte sich sofort auf den Weg, um Heins Quartier zu erfragen.

Er fand es in der Nähe des Römers. Und er ließ sich in dem Stübchen nieder und erwartete Heins Rückkehr.

Nach einer Stunde vernahm er den festen Schritt Heins auf der Treppe. Die Tür öffnete sich, und ein gebräunter Mann in Felduniform stand auf der Treppe und staunte in das Zimmer hinein.

»Hein – alter, lieber Junge!«

»Barthel! Du in Frankfurt? Du bei mir? Herr Gott, ist das eine unerwartete Freude.« Sie standen noch immer und schüttelten sich die Hände. »Ich hätte dich kaum wiedererkannt, Hein. So kraftvoll und männlich bist du. Und in der Offiziersuniform scheinst du größer. Wenn ich das dem Vater erzähle.«

»Setz dich und erzähle du mir. Wie geht es dem Vater, wie geht es der Burg und allem, was darin atmet und was dazu gehört? Wenn du wüßtest, wie ich euch mit meinen Gedanken täglich zu mir zwinge. Und nun bist du da.«

Alle Grüße bestellte der Barthel, und vergaß die Maria nicht und nicht den alten Schmitz.

»Mit dir ist etwas vorgegangen, Barthel. Ich möchte sagen: es ist Kern in dich gekommen, seit wir uns nicht sahen.«

Der Barthel errötete vor Freude. »Das tut das Landsturmleben, Hein. Bei Tag und Nacht in Busch und Feld.«

»Was? Mein sanfter Barthel gehört dem Landsturm an?«

»Als Offizier, Hein. Nach glücklicher Überrumpelung einer Räuberbande.«

»Ah –!« rief der Hein und sprang auf. »Herr Kamerad!« Und sie schüttelten sich noch einmal lachend und fröhlich die Hände.

»Nun aber sag mir, welche kriegerische Mission dich nach Frankfurt führt, wenn das nicht unter das Dienstgeheimnis fällt.«

Sie saßen sich wieder gegenüber, und der Barthel strich sich das Haar aus der Stirn.

»Es ist keine kriegerische Mission, Hein, und es ist auch nicht deinetwegen. Nur insofern, als ich dich nötig habe. Es handelt sich um Sibylle.« Der Hein hob den Kopf. Ganz leise ging sein Atem. »Um – Sibylle?«

»Ich glaube, daß sie sich in einer starken Seelennot befindet. Sie schrieb an mich nur ein paar Worte, aber der Vater sagte: Das ist ein Notruf. Er kennt seine Kinder am besten. Und da hat mich der Joseph hergefahren.«

»Der Joseph,« wiederholte der Hein, und war mit seinen Gedanken nicht bei dem Wort. »Die Sibylle hat geschrieben? Und du kommst zu mir?«

»Weil sie dich am meisten liebt, und weil sie nach dir fragte.«

Er stand auf und ging ans Fenster. »Barthel,« sagte er, »wenn du wüßtest, was du mir mit deinen Worten antust. Sie ist die Frau eines anderen Mannes, und du kommst und sagst mir: Sie liebt dich am meisten. Nein, nein, nein, Barthel, ganz so ist es nicht. Ich liebe sie am meisten – ich sie. Aber was tut das zur Sache.«

»Ja, Hein,« erwiderte Barthel, und folgte ihm an das Fenster, »darauf weiß ich dir keine andere Antwort, als daß der, der am meisten zu lieben glaubt, auch der reichste ist. Was tut es dir, ob du von deinem Reichtum ein wenig abgibst, um einem anderen Menschen aus der Not zu helfen.«

»Ruft mich – der andere Mensch?«

»Ja, er ruft dich. Und wenn es nur geschieht, um von dir ein Lebenszeichen zu erhalten. Das ist eine verschämte Sehnsucht, Hein, und dies Lebenszeichen ist für die Sibylle vielleicht ein hilfreicher Ast, an dem sie sich wieder eine Zeitlang über Wasser hält.«

Der Hein wandte sich um und blickte dem Sprecher gerade in die Augen. »Du bist ihr leiblicher Bruder, Barthel. Glaubst du, daß es so um deine Schwester steht? Ist das dein innerstes und wahrhaftiges Gefühl?«

»Ich meine,« sagte der andere, »der Bruder weiß darauf weniger zu antworten als der Liebende und Geliebte.«

»Barthel! Sprich das nicht aus! Sprich das letzte nicht aus. Die Sibylle ist zu stolz und kennt ihre Pflicht als Frau.«

»Wenn sie die nicht kennte, Hein, wäre sie längst heimgekehrt. Aber es ist zweierlei um das Leben der Seele und um das Leben der Pflicht.«

»Ja,« sagte der Hein, »es ist zweierlei. Sonst dürfte ich nicht Tag und Nacht an sie denken.«

»Du denkst an sie. Und glaubst du wirklich, daß es um Sibylle anders steht? Du kennst sie von Kind an.«

»Wenn ich es glauben dürfte,« entgegnete der Hein langsam, »so wäre das ein wunderherrlicher Gedanke – ein Gedanke, der mir das Leben erleichtern und verschönen würde. Aber das Glück ist es nicht. Sie ist die Frau eines anderen.«

Der Barthel legte ihm die Hände auf die Schultern. »Hein,« sagte er, »es war ein Tag, an dem du der Frau eines anderen zur Flucht verhalfst, zur Flucht von Mann und Kind. Und es war dir, als ob du eine heilige Tat vollbracht hättest. Und das hattest du auch, bleibe nur ganz ruhig. Wenn ich es erwähne, so tue ich es nur, um dir zu zeigen, daß eine Ehe nicht immer unangreifbar ist, und daß es zuweilen sittlicher und ritterlicher ist, einzugreifen als daran vorüberzugehen.«

»Barthel,« stieß der Hein hervor, »ist das – bei Sibylle – der Fall? Ich habe Blut in den Adern, Barthel, und reiß' mich nur zusammen.«

»Ich weiß es nicht, Hein. Aber ich vermute es. Denn Sibylle schreibt. Und Sibylle ist stolz. Und doch klingt es wie ein Notruf. Nach dir.«

Noch immer blickte der Hein dem Barthel gerade ins Gesicht. Aber seine Gestalt streckte sich, und in seine Augen trat ein heißes Leuchten.

»Ich liebe sie,« sagte er, »und da ich sie mehr liebe als mich, müßte ich ihr helfen, und wenn es gegen meine Anschauungen ginge. Sag mir, wo Sibylle sich aufhält, und ich werde auf der Stelle gehen und um Urlaub nachsuchen.«

»Sibylle ist in Frankfurt.«

»Hier –? Barthel, sie ist – hier in der Stadt?«

»Ich vermute es. Denn sie schrieb, daß sie bis gestern oder heute noch hier sein würde.«

Der Hein griff nach der Mütze.

»Barthel,« sagte er, »Barthel, wenn du mir gleich bei deinem Eintritt als erstes Wort gesagt hättest: Sibylle ist hier, so hätten wir uns diese ganze Unterredung sparen können. Ich habe ja nur Unsinn geredet. Nur Unsinn. Komm!«

Die Feldmütze im Nacken, den Säbel unterm Arm, stieg er vor dem Gast die Treppe hinunter. Barthel rief ihm die Wohnung zu. Er nickte nur und schlug festen Schrittes die Richtung ein. Kein Wort sprachen sie unterwegs, aber sie empfanden beide die freudige Stimmung, die mit ihnen unterwegs war. Und so kamen sie vor den Gasthof.

»Ich muß sie allein sprechen, Barthel. Du wirst das verstehen.«

»Ich verstehe dich. Und ich werde hinaufgehen und es ihr sagen.«

»Laß mich nicht zu lange warten. Ich bleibe unten in der Gaststube.«

Dann ging Barthel hinauf und ließ sich von einem Mädchen das Zimmer weisen. Er klopfte und trat ein.

Sibylle saß im Dämmerlicht am Fenster und blickte auf den Hof hinaus. Ihr Koffer stand gepackt in der Ecke, und es war, als ob sich die träumende Frau von dem kalten Gasthofzimmerchen noch nicht trennen könnte. »Wer ist da?« fragte sie.

»Dein Bruder Barthel, Sibylle.«

Da flog sie von ihrem Fensterplatz auf und dem Mann entgegen, und umschlang ihn mit beiden Armen. »Barthel, Barthel, alter, guter Barthel.«

»Wie du dich freuen kannst, Sibylle. Der Vater schickt mich, und ich wäre auch von selbst gekommen.«

»Barthel, Barthel – alter, guter Barthel – –«

»Wie geht es dir? Du siehst nicht fröhlich aus, trotz deiner Freude. Und das Gesichtchen ist noch schmaler geworden.«

»Gefall' ich dir nicht mehr, Barthel? Ach, du, mir will auch so manches an mir nicht mehr gefallen.«

»Nein, Kind, ich spreche nicht von deiner Schönheit, und du sprichst wohl auch nicht davon. Aber wir wollen uns setzen und uns freuen, daß wir uns endlich wieder einmal bei den Händen halten. Es ist kalt hier auf deinem Zimmer, und du bist allein?«

»Kalt? Findest du? Ich habe es kaum bemerkt – ja, und allein bin ich auch.«

»Darf ich fragen, wo dein Mann sich befindet, Sibylle? Ich dachte, die Truppe spielte hier?«

Sie streichelte seine Hände und seinen Rock. »Barthel, Barthel, daß du hier vor mir sitzest. Was fragtest du, Barthel? Wo mein Mann wäre und die Schauspielgesellschaft? Unser Repertoire wurde nicht mehr beliebt, und die Leute verstanden plötzlich kein Französisch mehr in den Rheinlanden. Hier in Frankfurt ging's drüber und drunter. Unser Protektor, der Fürst-Primas, wurde für abgesetzt erklärt, und die Menschen sahen sich lieber das Welttheater an als das Komödienhaus. Da löste sich die hungernde Truppe auf und verstreute sich in alle Winde.«

»Und dein Mann, Sibylle?«

»Der Chevalier? Der Direktor? Er ist nach Paris geeilt, an das er glaubt.«

»Und du bist nicht mit ihm?«

Sie schloß die Augen und saß ganz still. »Ich glaube nicht mehr an Paris. Ich glaube schon seit so vielen Jahren nicht mehr daran.«

»Heimweh, Sibylle?«

»Ja, Barthel. Heimweh und noch mehr – noch viel mehr als Heimweh.«

»Sibylle,« sagte der Barthel und beugte sich vor, »du hast in deinem Briefe nach dem Hein gefragt. Er ist hier.«

Sie nickte. »Ich habe ihn gesehen. Gestern sah ich ihn auf der Straße vorüberreiten. Und deshalb sitze ich noch hier und kann mich so schlecht trennen, obwohl ich längst auf der Reise sein sollte.«

»Er ist hier im Hause, Sibylle, und will mit dir sprechen. Soll ich ihn jetzt rufen?«

»Wer ist hier im Hause? Der Hein? Nein, nein – warte! Ich habe schon einmal eine so schlechte Rolle vor ihm gespielt – damals, bei dir in Köln. Das darf nicht noch einmal sein. Das ertragen wir alle beide nicht mit unserem Stolz. Nein, warte, Barthel. Ich will mich erst sammeln, damit ich ihm ein fröhlicheres Gesicht zeigen kann als damals in Köln bei dir. Erzähle mir irgend etwas. Erzähle mir von deinem Kind und deiner Frau.

Warte einmal – deine Frau ... Ich habe sie doch wiedergesehen? Ja, Barthel, wie ist denn das? Ich habe sie doch gesehen? In Paris? Und der junge General, den ich bei euch traf, führte sie in eine Loge? Ja – wart ihr denn in Paris?«

Der Barthel saß blaß und atmete kaum. »Wann war das, Sibylle?« fragte er mühsam.

»Ja – wann? Laß mich nachdenken ... Anderthalb Jahre werden es sein. Richtig. Wir spielten in Paris eine Heldenverehrung, einen dramatischen Gruß für des Kaisers neue Heerfahrt nach Rußland. Da war es. Und ich blickte zufällig von der Bühne auf und sah den General in der Loge und seinen Bruder, einen hohen Beamten, und zwischen ihnen – ich kam nicht davon los und dachte nur immer: Ist das nicht die Frau Josepha, deines Bruders Frau aus Köln?«

»Sibylle –«

Sie erschrak, als sie ihn ansah. »Was ist dir, Barthel? Wußtest du es nicht? Barthel – ja, Barthel, ich werde mich getäuscht haben, ich –«

»Nein, nein, Sibylle,« sagte er und zwang sich zusammen. »Sie war es, und es tut auch nicht mehr weh. Nur, daß ich plötzlich an sie erinnert wurde – daß, daß – ich das hatte vergessen können – daß sie mich und das Kind verlassen hatte und – irgendwo – lebt, und ich bin gar nicht frei, und alles, was schön war im letzten Jahr, darf so schön nicht mehr wiederkommen.«

»Was war schön, Barthel? –« fragte sie weich.

»Ach, Schwester, der Johannes ist gestorben, und ich schrieb es dir. Und der Vater hat des Johannes Frau zu uns gerufen, und wir beide, sie und ich, die wir beide nicht glücklich waren, haben in den stillen Abendstunden auf der Burg einander geholfen, das Leben wieder ein wenig schön zu finden. Das war es, Sibylle, und das kleine Brigittchen blühte unter ihrer Pflege auf, und ich weltfremder Mensch spürte auch, daß ich noch jung sei, und wurde ein anderer, und zog sogar mit dem Landsturm aus. Weshalb denn nur? Weshalb denn nur? Wenn es der Josepha gefällt, kann sie morgen zurückkehren und das Kind mit sich nehmen, wenn ich – sie abweisen wollte.«

Sibylle erhob sich. »Barthel,« sagte sie, »mir will jetzt plötzlich scheinen, als ob der Hein nötiger mit dir spräche als mit mir. Vergiß das nicht, wenn du mit ihm allein bist. Und jetzt ruf ihn mir herauf.«

»Kind,« bat der Barthel, und eine große Verlegenheit kam über ihn, »du mußt mein Ungeschick entschuldigen. Meine Angelegenheiten haben hier nichts zu tun, und ich bin nur deinetwegen hier, ganz allein deinetwegen. Beschäme mich nicht vor dem Hein und sag ihm nichts. Ja, Kind, und nun will ich gehen und dir den Hein rufen.«

Da legte sie ihm die Hände um das gute Gesicht und küßte ihn auf den Mund. »Adieu, Barthel ... Und Hab Dank, du ...«

Dann stand sie und horchte, wie sein Schritt sich entfernte, und horchte, wie ihr Herz schneller schlug und wie ein anderer Schritt über die Treppe kam und vor ihrem Zimmer hielt. »Herein!« rief sie und wußte nicht, ob es angepocht hatte. Und stand mitten im Zimmer und sah dem Hein entgegen.

Er trat ein, schloß die Tür hinter sich und legte die Feldmütze auf einen Stuhl. »Guten Abend, Sibylle.«

»Guten Abend, Hein.«

Er trat näher und streckte ihr die Hand hin, und sie legte ihre schmale Hand fest hinein.

»Es ist so dunkel hier, Sibylle, daß ich nur deine Umrisse gegen das Fenster sehe. Damit möchte ich mich nicht gern begnügen.«

»Hein,« sagte sie, »ist es nicht besser so? In Köln sahst du mich im hellen Lichterglanz nicht mehr. Und tatest vielleicht recht.«

»Ich tat sehr unrecht, Sibylle. Das erkannte ich schon am anderen Tage. Aber da warst du schon fort, und ich konnte es dir nicht mehr sagen. Wenn ich heute darauf zurückkomme, Sibylle, so geschieht es nur, daß du nicht glauben sollst, ich wollte dich nachträglich noch zu Erklärungen drängen. Das Leben gebietet oft dieses und jenes, was so natürlich und zwingend ist und nur dem Fernstehenden ungeheuerlich erscheinen will.«

»Bist du gekommen, um mir das zu sagen, Hein, so ist es gut von dir.«

»Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß ich dich liebhabe. Da fällt Güte und Edelmut fort, und alle großtönenden Dinge werden so selbstverständlich und einfach. Soll ich jetzt Licht machen, Sibylle?«

Sie schwieg, und er hörte sie rascher atmen. Da fragte er noch einmal, und sie antwortete ihm. »Bleiben wir nicht besser – im Dunkeln?«

»Ich meine, Sibylle, das, was wir uns zu sagen haben, braucht das Licht nicht zu scheuen. Wir sind keine Diebe in der Nacht. Wir sind – die Sibylle und der Hein.«

»Die Sibylle und der Hein ...« wiederholte sie und ging selbst und legte die Läden vor das Fenster und zündete die Lampe an. Da fiel das Licht auf ihre Gestalt und ihre Züge, und des Heins Stirn zog sich zusammen, als er sie schlanker noch und abgemagerter vor sich sah in dem dünnen und billigen Gewand, das schmucklos an ihr niederfiel. Und er blickte auf, und blickte in das seine, schmale Mädchengesicht, das unter der Last der braunen Haarkrone noch schmaler erschien, und blickte in die großen Augen, die ihm ruhig entgegensahen.

»Ich habe es gewußt, Hein, daß du ein wenig erschrecken würdest.« Und da er noch immer stand und sie anstarrte, flog ein Zittern über sie hin, und ihre Brust hob sich, als wollte sie dem Zittern mit Macht Einhalt tun. »Ich kann – das Licht – wohl wieder auslöschen?« fragte sie mit einem Lächeln, das scherzen sollte und dem Manne weh tat.

»Mädchen,« sagte er dumpf und ging mit schwerem Schritt auf sie zu und preßte sie in seine Arme, daß sie sich nicht wehren konnte. »Mädchen, du weißt ja gar nicht, wie schön und wie rührend du bist.«

»Ich will dich aber nicht rühren, Hein,« stieß sie atemlos hervor.

»Ruhig, du. Spürst du, wo du bist? Also bleib ganz ruhig.«

Sie bog den Kopf zurück und sah ihm in die Augen. Und er ihr. Ihr Herzschlag drang ihnen bis in die Ohren, und sie preßten die Lippen zusammen, um ihn zu beschwichtigen. Dann sah er, wie ein Schleier ihren Blick überzog und ein Zucken um ihren Mund ging, wie es schon bei dem Kind gewesen war, wenn es sich gegen das Weinen sträubte. »Tu ich dir weh, Sibylle?«

»Nein, nein – wie kannst du mir weh tun.«

»Wir haben uns noch gar nicht begrüßt, Sibylle. So fremd sind wir uns doch nicht. Guten Abend, liebe, liebe Sibylle ...« Und er küßte sie leise auf den Mund.

»Mein Gott,« sagte sie und schloß die Augen, »darauf warte ich nun seit Jahren ...«

Er streichelte behutsam ihr Haar. »Setz dich, Sibylle. Und ich setz' mich zu dir. Und nun wollen wir reden.«

Sie saß auf dem kleinen, verblichenen Kanapee, und er saß auf einem Stuhl neben ihr. »Weshalb reden, Hein? Wir wollen dies Beisammensein still auskosten. Wann kommt uns wieder einmal eine so freundliche Stunde?«

»Darüber, Sibylle, wollen wir gerade sprechen. Wir beide sind ja beieinander, um darüber zu bestimmen.«

»Wie du dich verändert hast, Hein. – Nein, nicht verändert, aber fortgeschritten bist du, so schnell und so sicher.«

»Ich mußte dich doch wieder einholen, Sibylle. Jetzt lächelst du, und ich sehe das kleine Mädchen wieder vor mir, mit dem ich in den Weinbergen herumlief und das ich später zu den Nönnchen fuhr und das ich noch später –«

»... küßte,« sagte sie. »Ja, das taten wir. Im Wald und am Rhein und im Siebengebirge und – ja – und an dem alten Rheinbreitbacher Bergwerk, aus dem du mir die Erze heraufholtest und die bunten Malachite. Es hat keine Zeit mehr gegeben, die so schön war.«

»Wir stehen ja auch erst am Anfang, Sibylle,« erwiderte er ruhig.

»Am – Anfang? Ich verstehe dich nicht, Hein. Du meinst doch nicht –« und sie starrte ihn an ... »Nein, nein, Hein, ich kann ihm doch nicht davonlaufen, wie Barthels Frau ihrem Mann davongelaufen ist? Du, du – sprich doch. Das ertrügen wir ja beide nicht.«

Der Hein schüttelte den Kopf. »Daran denke ich nicht, Sibylle. Aber er muß dich freigeben. Ihr lebt in einer Zivilehe, und die kann geschieden werden.«

»Er wird mich nicht freigeben. Er wartet in Paris auf mich.«

»Wie kam es denn, daß er dich zurückließ? Ein Mann läßt doch seine Frau nicht in einer fremden Stadt, in die der Feind einrückt.«

»Ich habe mich krank gemacht,« gestand sie ein. »Ich war ja krank, krank vor Heimweh, und wollte Barthels Antwort haben und wissen, wo du warst. Denn daß du bei der preußischen Armee warst, hatte ich ja aus Barthels Briefen gelesen. Und ich will ganz offen sein und dir bekennen, daß ich dich wiedersehen wollte. Deshalb – deshalb reiste ich nicht mit, und der Chevalier hatte Sorge um neuen Verdienst und konnte nicht länger warten, weil er an neue Kaisertage dachte, an neuen Glanz, den der Kaiser in Paris jetzt mehr als früher brauchen werde. Und ich versprach, sobald es mir möglich wäre, nachzukommen.«

»Behandelt er dich gut?« fragte der Hein und sah an ihr vorüber. Und als sie nicht gleich antwortete, fragte er noch einmal: »Behandelt er dich gut?«

»Wir wollen nicht davon sprechen, Hein.«

»Doch,« sagte er, und nun sah er sie fest an, »wir müssen davon sprechen. Zwischen uns darf nichts sein, was der andere zu berühren fürchtet. Du hast mir damals in Köln gesagt, daß du Bedingungen gestellt hättest, als du seinen Namen annahmst. Hat er – versucht – diese Bedingungen – zu – verletzen?«

»Nein, Hein. Denn dann würde ich dir so nicht gegenübersitzen. Ich bin deine alte Sibylle.«

Und mit einem Male kam eine so große Erregung über ihn, daß er ihr nachgeben mußte und die Hände um die Stuhllehne kämpfte. Schneeweiß wurde er im Gesicht, und seine Stirn war ganz feucht geworden.

»Hein – Hein – mein alter, dummer Hein.« Und da er nicht antworten konnte, fuhr sie fort, erregt und lachend: »Ich glaube wahrhaftig, wenn ich Ja gesagt hätte, du hättest deinen Schmerz hinuntergewürgt, und nun, da ich Nein sage, wirft es dich nachträglich zusammen. Verteidige dich nicht. Ich kenne doch meinen alten Hein und seine standhafte Seele. In diese klare, vornehme Knabenseele war ich ja schon in der Kinderzeit verliebt – wie ich in den Vater verliebt war. Ach du großer, lieber, dummer Junge, daß du es nur weißt, und wenn ich dir dabei ins Gesicht weine – ich gebe nichts von mir her, nichts, nichts, nichts, wenn es nicht für dich ist.«

Da beugte er sich vor und griff auf dem Tisch nach ihren Händen und legte sein Gesicht hinein.

»Bist du jetzt wieder mit mir zufrieden, Hein? –«

Er preßte seine Augen ganz fest in ihre kühlen Handflächen. Und die furchtbare Erregung verlief sich ... Und die Sibylle fuhr fort und sagte, während sie ihre Wange auf sein Haar legte: »Immer, wenn ich daran dachte, wir würden uns wiedersehen, malte ich es mir aus, daß wir uns wie ein Heimatsgruß sein würden. Und es ist auch so geworden. Nur daß ich jetzt weiß, daß meine Gedanken immer nur ein einziges in der Heimat suchten – dich, Hein, dich. Ich muß wohl all die Jahre mit dir gelebt haben, denn ich spüre gar keine Scham, es dir zu sagen, so eins fühle ich mich mit dir. Es war nicht immer leicht, Hein, an dich zu denken und dich nicht ganz nahe zu haben. Ganz – nahe. Verstehst du das, oder muß ich dir das auch noch erklären? Siehst du, Hein, ich bin doch auch nicht aus Holz und Stein und bin es nie gewesen. Und in mir drängte oft das Blut, daß mir ganz heiß wurde und ich nicht aus noch ein wußte. Die Jugend in mir drängte und verlangte, und ich war allein, und die Sehnsucht rieb mich fast auf. Das ist nichts Häßliches, Hein. Das ist nur etwas so Verzweiflungsvolles, die ganze Kraft und den ganzen Reichtum in sich zu fühlen und nichts, nichts davon geben und austauschen zu können, um noch stärker und reicher zu werden. Und es kommen Menschen, immer wieder, immer wieder, die dich schön und begehrenswert finden, und es dir sagen und um dich werben, und du verstopfst dir die Ohren und jagst die Sinne auseinander, die in dir schreien, und wirst matter und auch nicht – jünger. Hein, du warst nicht draußen und nicht so ganz auf dich allein angewiesen, daß du heute meinen Stolz und meine Frauenseligkeit verstehen könntest: ich komme nicht verarmt, ich komme mit vollen Händen und hab' dir so viel zu bringen wie du mir.«

»Mädchen, Mädchen, ich versteh' dich ja.«

»Und nun quäl' ich mich nie mehr und lass' keine Qual von draußen mehr an mich heran.«

Er hob den Kopf und lauschte. »Keine Qual von draußen? Du wolltest vorhin nicht davon sprechen, als ich dich fragte: Behandelt er dich gut? Jetzt darfst du mir nicht mehr ausweichen. Behandelte er dich nicht gut?«

»Er ist alt geworden,« sagte sie, »alt und wunderlich, und das Komödiantenleben ist nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Da haben sich seine Begriffe von Ritterlichkeit ein wenig verwirrt, und es freut ihn heute, wenn hochstehende Personen hinter die Kulissen kommen und mir den Hof machen. Es freut ihn so sehr, daß er mir Vorwürfe macht, ich behandelte die wohlwollenden Freunde des Theaters nicht artig genug, und die Bühne sei kein Nonnenkloster. Und als ich ihn ersuchte – und es war hier in Frankfurt zuletzt – die Herren, die Freunde des Theaters sein könnten, ohne diese Freundschaft auf meine Person zu übertragen, nicht mit in meine Wohnräume zu bringen, geriet er außer sich und warf mir vor, daß ich sein Theater schädige und die Einnahme ruiniere mit meiner kindischen deutschen Empfindsamkeit, der er längst den Garaus hätte machen sollen.«

»Es ist gut,« sagte der Hein, »das wollte ich hören.«

»Das – wolltest du hören?«

»Wenn es noch etwas hätte geben können, um mein Gewissen zu beruhigen – jetzt ist es beruhigt.« Er erhob sich und stand vor ihr. »Sibylle, ich würde dich auch ohne das mit diesen Händen hier festgehalten haben, würde keinen Schritt breit mehr von dir gegangen sein, würde über Recht und Unrecht hinaus meine und deine Liebe zu Hilfe gerufen haben – aber um des Vaters willen und der Burg willen, die wir so bald nicht hätten wiedersehen können, ist es mir lieb, daß wir vor aller Welt das Rechte tun.«

»O du mein Hein, wie leicht stellt sich in deinem lieben Knabenkopf das Rechte dar. Gut, nenn du zuerst den Weg.«

»Der Weg liegt vor uns. Du verlässest deinen Mann und euer Leben, und ich bringe dich heim.«

»Wie willst du mich jetzt heimbringen, Hein? Der Chevalier ist in Paris, und ihr steht vor dem Ausmarsch.«

»Ihr habt keinen festen Wohnsitz. Ich kann die Klage bei dem nächsten französischen Gerichtshof anbringen lassen.«

»Nein, Hein, nein. Der Chevalier würde sich sträuben und den Termin weit hinausziehen. Das läßt sich nur Auge in Auge verhandeln. Und wenn es selbst ginge, wie du es meinst – du kannst mich jetzt nicht heimbringen, ihr steht vor dem Ausmarsch.«

Der Hein sah finster vor sich hin.. »Ich – würde dann eben nicht mehr vor dem Ausmarsch stehen.«

Überrascht blickte sie auf. »Du nicht? Wie soll ich das verstehen?«

»Ich habe für Deutschland redlich gekämpft und bin zweimal schwer verwundet worden. Das letzte Mal bei der Verfolgung des Feindes. Es wird nicht schwer halten, daß ich mich zum Landsturm überschreiben lasse. Dem Landsturm aber ist der Schutz der heimischen Scholle im eigenen Gau anvertraut. So bringe ich dich heim und bin bei dir.«

Sie hatte sich erhoben und war dicht vor ihn getreten. »So bringst du mich nicht heim. Nein, so nicht.«

»Was ist dir, Sibylle?« .

»Mir ist, als könntest du mich nicht ansehen, Hein. Mir ist, als würdest du mich niemals so ganz frei und fröhlich ansehen können, wenn ich jetzt so klein wäre, dein Herz auszunutzen und dich von deiner Aufgabe abzuziehen. Ach, Hein, und wir beide wollen ja in die Freiheit und Fröhlichkeit hinein und nicht in die Scham und in die Heimlichkeit.«

»Unsere Liebe – wird uns das alles nicht empfinden lassen, Sibylle.«

»Unsere Liebe nicht. Wenn wir allein beieinander sind und uns umschlungen halten, o dann werden wir gewiß alles vergessen. Aber wir werden nicht in jeder Stunde beieinander sein, und der Mann braucht noch anderes zum Leben als Frauenliebe. Glaubst du, es würde dich nicht treffen und niederdrücken, wenn du mit Kameraden beisammen bist, und sie erzählen von ihrem Einmarsch in Frankreich, von ihrem Einmarsch, für den alles, was bisher geschehen ist, nur die Einleitung und Vorbereitung gewesen ist, und du sitzest stumm dabei und schlägst die Blicke nieder, weil du beim Besten und Größten nicht mehr dabeisein konntest? Deshalb nicht dabeisein konntest, weil du, als es um den Wiederaufbau Deutschlands ging, ein Schwalbennestlein bauen mußtest? Haben denn die Kameraden, die weitermarschieren, nicht auch Frauen und Geliebte daheim und Sehnsucht hüben und drüben? Nein, Hein, ich will das Schwälblein nicht sein, das dich ins Nest lockt.«

Und er empfand, daß alles, was sie sagte seine eigenen Empfindungen waren, und konnte doch von ihr nicht los.

»Ich muß dich doch wohl mehr lieben als du mich,« sagte er finster, »sonst würdest du an nichts anderes denken als an die Heimkehr mit mir, und jeden Tag, den wir gewinnen, segnen.«

»Nein, Hein,« entgegnete sie, »ich liebe dich mehr, denn ich denke nicht mehr an mich und nur noch an dich. Hein, weißt du noch, wie wir einst von der alten Lilithsage sprachen und von einem großen Menschengeschlecht? Da träumte ich davon, wie ein Falkenweibchen hoch in die Luft zu schießen und dem Mann, der mich haben wollte, immer höher, immer höher den Weg hinauf zu weisen, Ringe und Kreise über ihn zu ziehen, bis er mich erreichte – um dann nochmals, und mit letzter Kraft, noch höher zu stoßen, damit er immer wieder folge und durch mich nicht niedergehalten würde. Hein, das ist die Aufgabe der Frau, die Aufgabe, die so viel Kraft erfordert wie Liebe und der Frau ihre bedeutsame Stellung im eigenen Leben und im Leben des Mannes anweist. Die Liebe soll nicht in das Gefängnis der Ehe, sie soll in die Freiheit der Ehe hinein, die uns als seligsten Rausch empfinden läßt, was erst zwei Menschen, die eins wurden, zusammen vollbringen können. Und nun frage dich: wer würde ich später in deinen Augen sein, wenn ich dich jetzt zurückhielte? Deine liebe, kleine Sibylle. Es gibt so viele davon. Aber sie sind mir nicht gut genug für dich.«

»Mädchen, Mädchen, mir auch nicht! Mir bist du nur gut genug!«

»Also muß ich sein, wie ich bin!«

»Und wohin mit dir? Ganz frei kann ich dich doch nicht geben!«

»Ich will es dir morgen sagen.«

»Wie komme ich nur über die Stunden bis morgen hinweg? Weißt du nicht auch dafür ein Sprüchlein?«

»Komm her,« sagte sie, »ich will dir helfen – –«

Und sie hob die Arme.

Auf festen Füßen stand er und hielt sie. Und er küßte sie inbrünstig und lange. Und sie küßte ihn wieder mit ihrer ganzen Seele.

»Ohne dich, Sibylle, war mein ganzes Leben nur ein Warten auf diese Stunde.«

»Und das meine ohne dich war nur ein Suchen nach dir.«

»Und kannten uns doch so lange und waren täglich einander so nahe, daß wir nicht zu warten und zu suchen brauchten.«

»Hein, wir wären Kinder geblieben und mußten wohl erst Menschen werden.«

»Ja,« sagte er, »das wird es sein. Erfahren lernen, was zu einem Menschenleben nötig ist. O du!«

»Gute Nacht, Hein.«

»Muß ich schon gehen? Ich möchte dich nicht aus dem Arm lassen.«

»Ich dich auch nicht – ich dich auch nicht – und deshalb schicke ich dich fort.«

Aber sie hielt ihn nur um so fester und suchte seinen Mund und konnte sich nicht trennen.

»Gute Nacht, Hein – gute Nacht, Hein ...«

»Gute Nacht, Sibylle.«

»Geh nun – geh nun – es ist besser für uns beide. Herr Gott, und es ist doch so schwer –.«

Da griff er die Feldmütze vom Stuhl auf und zog sie sich in die Stirn und packte den Säbel mit der Linken, und mit der Rechten umfaßte er sein Mädchen. »Auf Wiedersehen, Falkenweibchen,« und lachte sie an und winkte noch einmal in der Tür.

Aus der Gaststube rief er den Barthel heraus, der über seinem Glas Wein in Gedanken versunken saß. »Komm, Alter, alles wird gut!«

»Ich freue mich mit dir,« sagte der Barthel, und schritt an seiner Seite durch das lichterhellte Frankfurt. »Und für die Sibylle freue ich mich von Herzen. Frauen, die aufblühen sollen, wollen und müssen wissen, für wen. Es darf keine Ungewißheit für sie geben.«

»Von wem sprichst du, Barthel?«

»Ach,« meinte der Barthel, »weshalb von trüben Dingen reden, wo es dir so ganz anders ums Herz ist.«

»Was ist das, Barthel? Du hast mir heute den Weg zu Sibylle gewiesen, und ich sollte nicht dankbar sein? Wo bliebe da die Kameradschaft, Landsturmmann?«

Der Barthel hing noch immer einem Gedanken nach. Aber Gang und Haltung waren stramm und soldatisch, wie die des Hein. Die Straßen waren belebt von Wagen, Reitern und Fußgängern. Staatsmänner und Generale eilten vorüber, Ordonnanzen und Stafetten sprengten über die Zeil und den Römerberg, Fürstlichkeiten fuhren noch in später Abendstunde zu Beratungen und Verhandlungen. Es war das rastlose Leben des Hauptquartiers vor neuen, entscheidenden Zügen auf dem Kriegsschachbrett. Napoleon dachte nicht daran, sich matt zu erklären.

»Ich möchte dich etwas fragen, Hein,« sagte der Barthel im Weiterschreiten, »und ich möchte auch deine Hilfe in Anspruch nehmen.«

»Tu beides,« erwiderte fröhlich der Hein. Es war ihm zumute, als könnte er heut der ganzen Welt seinen Beistand leihen.

»Ich möchte aus dem Landsturm zur Linie übertreten. Ich habe mein Patent als Offizier. Würde es dir möglich sein, beim Feldmarschall ein Wort für mich einzulegen? Vielleicht, daß ich zu deinem Bataillon käme?« Der Hein stand auf der Straße still. »Höre ich recht?« fragte er. »Du – du willst mit nach Frankreich?«

»Ja, Hein. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Und wenn ich fallen sollte, so falle ich, und die Ungewißheit ist auch vorüber.«

»Von welcher Ungewißheit sprichst du nur immer? Soeben zieltest du auf die Frauen im allgemeinen. Jetzt sprichst du von dir.«

»Ich muß wissen, wo meine Frau sich aufhält. Was sie treibt. Welche Pläne sie hat. Es ist da noch so manches.«

»Und deshalb willst du mit ins Feld?«

»Komm, Hein, wir wollen weitergehen. Es ist nicht so erstaunlich, daß wir darum den Bürgersteig sperren müßten. Ich habe die feste Zuversicht, daß unsere Heere in Paris einziehen werden und auf kürzestem Wege, denn Frankreich hat nicht mehr so viel Mannschaften, um uns lange zu hindern, und die Bevölkerung hat wohl auch den guten Willen nicht mehr, sich für den Kaiser bis aufs Blut aufzuopfern. Doch das wird die nächste Zeit lehren. Auf jeden Fall gelange ich früher ans Ziel, als wenn ich in beständiger Unruhe daheim das Ende des Feldzugs abwartete und dann in der Verwirrung und Umwälzung, die in Frankreich und in Paris herrschen wird, auf die Suche gehen wollte. Sprich nichts dagegen, Hein. Ich seh' es dir an, daß du dich selbst anbieten willst, die Nachforschungen für mich zu übernehmen. Aber das läßt sich nicht von einem anderen, und wäre es mir der Nächststehende, für mich erledigen. Da kann es auf einen Ton ankommen und auf eine Gebärde.«

»Barthel,« sagte der Hein nach einer Weile, »ich spreche nichts dagegen. Und du hast recht: unsere Geschicke müssen wir selber bestimmen. Wenn du willst, suche ich heute abend noch den Regimentskommandeur auf und lasse mich, wenn es not tut, durch ihn beim Feldmarschall melden.«

»Ich danke dir, Hein. Dann will ich mich hier von dir verabschieden.«

»Bleib in deinem Gasthof auf. Ich komme noch zu dir.« –

In später Nacht suchte der Hein den Barthel in seinem Zimmer auf. »Es ist geglückt,« rief er noch in der Tür, »und es hat wenig Umstände gemacht. Morgen früh um neun will dich der Kommandeur sehen und dich dem Feldmarschall vorstellen. ›Tüchtige Leute können wir immer brauchen,‹ sagte er, ›und im Feldzug ist guter Ersatz von Bedeutung.‹ Denn in wenigen Tagen werden wir sicher vorrücken, Barthel.«

Der Barthel reichte ihm die Hand. »Ich danke dir nochmals, Hein. Also – auf erneute Kameradschaft. Wir haben ja schon so manches zusammen durchgefochten.«

Der Joseph wurde gerufen. Helle Freude in den Augen, begrüßte er seinen jungen Herrn. »Der Hein – der Hein! Un sieht us wie't ewige Lewen.«

Und der Hein freute sich nicht weniger, und schüttelte ihm derb die Hände und lachte ihn an. »Alter Kerl – alter Kerl!«

»Joseph,« sagte der Barthel, »ich habe dir eine Neuigkeit mitzuteilen, die nicht in unserem Programm steht. Ich marschiere mit nach Frankreich.«

Aber der Joseph war nicht verblüfft, er war nur begeistert. »Da donn ich met,« schrie er, »ich donn met.«

»Du wirst nach Hause fahren und alles genau melden.«

»Wat? Ich allein no Hus. Ich well den Düvel donn. Dat ich mech von ming Modder uslache loß, ich hätt de Kinder geschlabbert. Enee, wo de Jungs sind, do es och der Juseph.«

Es half nichts, dem Manne Vorstellungen zu machen und ihm seine Jahre vorzuhalten. Er wurde nur hartköpfiger. »Ich sin ers fünfzig, un der Blücher is öwer de Siebenzig. Ich sin en Jüngeling un gehör noch lange nit unter et ahle Iser.«

»Nein, unter das alte Eisen gehörst du sicher nicht,« half ihm der Hein. »Aber gerade deshalb bist du zu Hause nötig.«

»Ich donn et nit,« beharrte der Joseph. »Dat wär der ahl Frau Wasser op der Müll för ihr Uzereie. Denn wo der Düvel selver nix usreechte kann, do scheck' e en ahl Wiew. Do klopp ich doch leewer de Franzuse, un dat klein Jusephche kritt Respek' vor singem Vatter.«

Es blieb dabei, und sie beschlossen, den Querschädel als ihren Pferdeburschen einschreiben zu lassen. »Das Bataillon wird seine Freude haben,« lachte der Hein, und er freute sich selber am meisten. Dann besprachen sie ihre Zusammenkunft für den nächsten Tag und verabschiedeten sich, um ein paar Stunden zu schlafen. –

Der Barthel war vom Regimentskommandeur freundlich empfangen worden, der ihm Erfüllung seiner Wünsche zusicherte und ihn gleich dem Feldmarschall melden ließ. Der Hein aber nahm die erste freie Stunde wahr und eilte zu dem Gasthaus Sibylles. Der Wirt kam und erklärte ihm, die Dame sei bereits abgereist, habe aber einen Brief für ihn hinterlassen. Er nahm ihn ruhig entgegen und ging seiner Wege.

»Was bedeutet das? Was bedeutet das?« murmelte er vor sich hin. Und als er außer Sicht des Wirtes war, öffnete er den Umschlag und las auf offener Straße.

»Mein Hein! Das Falkenweibchen tut den ersten Stoß in die Luft. Mein Paß erlaubt mir, noch abzureisen. Ich gehe, um für uns zu kämpfen, wie Du für Deutschland kämpfst. Ich erwarte Dich in Paris. Aus der Ferne küsse ich Dich und rufe ich Dich. Komm! Deine Sibylle.«

Er steckte den Brief in die Brusttasche. Seine Bestürzung war einer furchtlosen Ruhe gewichen. »Das Falkenweibchen tut den ersten Stoß,« wiederholte er, und ein Leuchten ging über sein Gesicht. »Warte, ich überfliege dich und hole dich.«

Um die Weihnachtszeit rückten die Heere an den Rhein. Barthel und Hein marschierten in derselben Kompanie, und der Joseph hielt sich bei ihnen. Der alte Blücher sprengte die Kolonnen entlang. »Kinder,« rief er seinen Soldaten zu, »jetzt werden wir mal Französisch lernen!«

Und von den Hängen des Gebirges aus sahen sie den Rhein. – – –

*

 


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