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VII.
Im Kometen.

Wie Wolfgang vorausgesetzt hatte, so war es. Eine Sternengasse gab es in B nicht. Jenes Buch und der Vermerk, die in löblichster Absicht geschrieben waren, waren jedoch nicht mißzuverstehen. Vielleicht hatte die Straße im Laufe der Zeit einen anderen Namen erhalten. Man sagte ihm, auf dem Rathause seien noch alte Stadtpläne aufbewahrt, und vielleicht gelinge es ihm, dort Aufschluß zu erhalten. Es dauerte denn auch nicht lange, so hatte Wolfgang eine Sternengasse erwischt.

»Tausend,« rief er aus, »das ist die Feilenhauergasse, in der ich so lange gewohnt habe. Daran hätte ich auch selbst denken können!«

Als er zum erstenmal in die Stadt kam, hatte es ihm Spaß gemacht, gleichsam in seiner eigenen Straße zu wohnen. Es war ihm jedoch nie in den Sinn gekommen, daß der Name eine andere als zufällige Entstehung habe. Mit ganz anderen Gefühlen schritt er jetzt des Weges und beschaute rechts und links die Giebel der Häuser. Eben war er im Begriffe, in seine ehemalige Studentenwohnung hinaufzueilen, als sein Blick auf das altersgraue Nachbarhaus fiel.

Über der Tür war ein Stein eingemauert und dieser Stein trug als Abzeichen einen Stern mit zahlreichen kleineren Sternen als Schweif. »Das ist, so wahr ich lebe, der Komet, den ich suche,« rief Wolfgang. »Mehr als tausendmal bin ich in früheren Jahren daran vorübergegangen. Damals waren die Fensterläden immer geschlossen, kein Mensch ging aus und ein. Es schien ein Haus des Todes zu sein. Das ist es wohl heute noch. Sieht es nicht aus, als ob seit Jahrhunderten kein lebendes Wesen hineingekommen wäre?«

Also mit sich selbst redend, suchte Wolfgang seine frühere Wirtin auf. »Ist mein Quartier noch unbesetzt?« fragte er. »Ist gestern leer geworden,« antwortete die Wirtin. »Will der junge Herr seine Studien fortsetzen, so kann er gleich hereintreten und da bleiben.«

»Nichts wäre mir lieber!« entgegnete Wolfgang. »Ich lege Beschlag auf das Zimmer,« sprach er. »Natürlich setze ich voraus, daß in dem Hause nebenan keine unruhigen Leute wohnen.«

»O, da können der junge Herr ruhig sein,« sprach die Wirtin. »In dem Hause wohnt schon seit Menschengedenken niemand. Es ist die Bücherei des Herrn von Cedernstein, und der macht sich mit Büchern nicht gern zu schaffen.«

»Kann man da zuweilen ein Buch entleihen?«

Die Wirtin lächelte: »Schwerlich, junger Herr. Das Gebäude ist jahraus jahrein verschlossen, und es kann sich niemand rühmen, jemals von dem Bücherreichtum Gebrauch gemacht zu haben. Erst in letzter Zeit kam ein junger Mann häufiger in das Haus. Jetzt sieht man auch diesen nicht mehr. Es heißt, in dem alten Hause würden die Familienpapiere der Cedernstein aufbewahrt. Sie mögen manches Geheimnis enthalten, in das fremde Augen nicht schauen sollen. Noch aus einem anderen Grunde wird das Haus gemieden.« Die Stimme der Wirtin sank zu einem geheimnisvollen Flüstern herab: »Man erzählt sich, ein Graf von Feilenhauer gehe allnächtlich mit zerschmetterter Hirnschale dort spuken.«

»Der Graf von Cedernstein, meinen Sie wohl, denn es ist ja das Cedernsteinsche Haus.«

»Wie das zusammenhängt, weiß ich nicht. Das Volk nennt ihn so, wie ich gesagt habe.«

Wolfgang wunderte sich, daß er früher niemals davon gehört hätte und konnte es sich nur dadurch erklären, daß er immer still auf seiner Studierstube geblieben und wenig mit der Welt in Berührung gekommen war. Bei der Erwähnung des Spukgeistes mit dem zerschlagenen Schädel fiel ihm sogleich der Tote in dem Steinsarge ein. Eine dunkle Erinnerung jener Gewalttat hatte sich wohl im Volke fort und fort erhalten, und gerade diese Sage deutete auch auf den gewaltsamen Raub hin, den Kuno an seinem Bruder begangen. Ein Rätsel blieb es freilich noch immer, wie das Haus zum Kometen später an die Cedernstein übergegangen war.

Über seine Aufgabe war sich Wolfgang sofort klar. Wollte er den Bericht der Gräfin Agnes in dem unterirdischen Gewölbe vervollständigen, so mußte er die Familienbücher derer von Feilenhauer einsehen. Dazu gab es nur einen Weg: Die Durchforschung des »Kometen.«

Es galt also ins Nachbarhaus einzudringen. Wolfgang zögerte nicht lange. Von der belebten Straße aus war ein Einstieg ebenso unmöglich wie von der vergitterten Hofseite her. Das flüchtige Abtasten und Beklopfen der Zimmerwand führte auch zu keinem Ergebnis. Je größer indessen die Hindernisse waren, desto mehr reizte es Wolfgang, sie zu bewältigen. Unaufhörlich trug er den Gedanken mit sich herum, von seiner Stube aus in den Kometen zu gelangen. Während er sinnend dasaß, fiel ihm sein Kleiderschrank in die Augen. Hinter diesem hatte er die Wand noch nicht untersucht. Er schob ihn auf die Seite und beklopfte die Mauer – wieder alles fest und solid.

»Ich könnte hier ein Loch brechen,« sprach er zu sich selbst. »Niemand würde es bemerken.«

Der Gedanke sagte ihm zu, und er ging sogleich in die Stadt, um ein Brecheisen zu kaufen. Als er zurückgekehrt war, schloß er die Türe, stopfte ein Stück Papier in das Schlüsselloch und machte sich sogleich an die Arbeit. Ein Schauer überlief ihn, als er das Eisen zwischen zwei Steine klemmte, und sein Gewissen rief ihm zu: »Wolfgang, du brichst in jemandes Eigentum ein!« Da ließ er das Eisen sinken und hielt inne, aber die Lust, hinter jene Mauer zu kommen, wurde mit jedem Augenblicke größer. Wieder begann er, das Eisen einzuklemmen. Lange bewegte er es auf und nieder, bis ein Stück des roten Ziegelsteines abbrach. Dem ersten Stücke folgte bald ein zweites und ein drittes, bis zuletzt der ganze Stein in kleinen Brocken im Kleiderkasten lag. Es war damit aber wenig erreicht, denn hinter dem Steine lag ein zweiter, und die Öffnung war so klein, daß das Eisen in der Entfernung keine Macht hatte. Er mußte sich also entschließen, den darüberliegenden anzugreifen, was schon weniger Arbeit machte. Damit der fallende Stein kein Getöse verursache, breitete er die Matratze seines Bettes unter. Nach vieler Mühe gelang es ihm endlich, einen Stein in das Innere des anderen Hauses, des Kometen, zu stoßen. Er vernahm sein dumpfes Rollen. »Wenn es gehört worden ist,« dachte er, »so wird es morgen heißen, der Graf Feilenhauer treibe wieder sein Wesen.«

Durch die Öffnung kam zwar kein heller Tagesschimmer, aber doch ein schleierhafter Schein, so daß er fast laut aufgejubelt hätte. Das Brecheisen noch weiter durchschiebend, fand er Widerstand an einem Gegenstande, der dem Druck des Eisens nachgab. Mit einem heftigen Stoße durchbohrte er ihn. Ein Lichtstrahl schoß durch die Öffnung in sein Zimmer, aber er konnte nicht erkennen, was sich in dem Raume befand. Angestrengt arbeitete er weiter, aber es ging nur langsam, weil das ausgebrochene Material immer wieder beiseitegeschafft werden mußte.

Wolfgangs Neugierde wuchs mit jeder Stunde. In der Nacht, als keine menschliche Seele mehr im Hause wachte, erhob er sich, zündete eine Kerze an und ging von neuem an die Öffnung, zwängte seinen Körper hindurch und fand, daß er die Schutzwand zu einem Bilde in schwerem Goldrähmen durchstoßen hatte. »Das ist ein glücklicher Zufall,« dachte er. »Nun wird man im Kometen so leicht nicht bemerken, welche Freveltat hier begangen worden ist.«

Das Bild beiseiteschiebend, befand sich Wolfgang auf einer Galerie. Der Saal war von einer bedeutenden Ausdehnung und Höhe. Die schwachen Lichtstrahlen seiner Kerze, die nicht imstande waren, den ganzen Raum zu erleuchten, dehnten ihn ins Unendliche. Der ganze Raum war von unten bis oben mit Büchern bedeckt. Staunend blieb Wolfgang stehen und starrte den Reichtum an.

In fieberhafter Aufregung wanderte Wolfgang durch den hohen Saal. Immer neue Werke traten in seinen Gesichtskreis, immer weiter dehnte sich das Feld seiner Forschung. Eine Stunde war vergangen, als er endlich wieder an seinem Ausgangspunkte ankam. Den Rest seiner Kerze hochhaltend und das Bild beleuchtend, fand er das Bild eines Ritters in voller Rüstung. Nur das Gesicht war durch das offene Visier zu erkennen. Unten stand in den Rahmen eingeschnitten der Name »Wyrich von Feilenhauer«. Also derselbe Mann, den er im Sarge gesehen. Merkwürdig, alles, was ihm entgegentrat, deutete immer wieder auf jenen Zeitraum und einen Zusammenhang hin zwischen dem Geschlechte derer von Feilenhauer und von Cedernstein.

Der Tag graute bereits, als Wolfgang sein Lager aufsuchte.

»Haben Sie heute nacht keinen auffallenden Rumor gehört?« fragte die Wirtin am Morgen.

»Nein,« gab Wolfgang etwas befangen zur Antwort.

»Nun, da haben Sie wahrhaftig einen gesegneten Schlaf. Ich konnte bis an den Morgen kein Auge zumachen und war im Begriffe, Sie herauszutrommeln. Es war ein Gepolter, als ob die Geister der Hölle in Ihrem Zimmer ihr Wesen trieben. Bald donnerte etwas zu Boden, bald hörte ich schwere Tritte, bald wollte mich's bedünken, als töne unterdrücktes Geschrei in meine Ohren.«

»Auch Geschrei?« fragte Wolfgang überrascht.

»Ei, freilich, ich komme jetzt auf den Grund. Der Nachtwächter hat Licht im Kometen gesehen. Also geht der Graf mit zerschmettertem Schädel wieder um. Da wird es also einen Todesfall oder sonst ein Unglück in der Cedernsteinschen Familie geben.«

Wolfgang lächelte.

»Lachen Sie nicht, junger Herr,« sprach die Wirtin etwas beleidigt. »Wenn der Graf umgeht, so steht ein Unglück bevor. So ist es immer gewesen, und es gibt noch alte Leute in der Stadt, die davon zu erzählen wissen.«

Wolfgang fühlte sich nicht veranlaßt, jemanden von diesem Aberglauben zurückzubringen. Er nahm sich indes vor, den Büchersaal nicht mehr in der Nacht zu besuchen. Das Licht hätte die Leute ja leicht zu Nachforschungen veranlassen können.

Bald hernach befand Wolfgang sich wieder im »Kometen«.

Von der Galerie niedersteigend, gelangte er auf eine zweite und dann auf den Fußboden, wo er von neuem seine Forschung begann, aber zu keinem Ziele kam.

Alle diese Bücher zu untersuchen, ja nur die Titel zu lesen, das erforderte eine lange Zeit, vor der ihm ordentlich graute, und doch mußte er es tun oder unverrichteter Dinge nach Kesselsheim zurückkehren. »Nein,« rief er lauter, als es seine Absicht war, »nein, ich gebe meinen Plan nicht auf. Ich muß hinter die Geheimnisse schauen und erfahren, was sie verbergen!«

Seine Stimme hallte von den Wänden des Büchersaales zu ihm zurück, und es klang so hohl und dumpf, daß er sich fast fürchtete. Unwillkürlich mußte er seine Blicke auf den geharnischten Mann richten, dessen Augen ihm entgegenleuchteten. Er hatte schon oft die Bemerkung gemacht, daß gewisse Bilder den Beschauer immer ansehen, welchen Standpunkt dieser auch einnehme. Auch Wyrich von Feilenhauer folgte ihm überall mit den Augen, aber diese kamen ihm so belebt und vergeistigt vor, als ob der Besitzer noch lebe und einen besonderen Anteil an seiner Anwesenheit nehme.

»Gib mir einen Fingerzeig, wo ich Deinen zerrissenen Stammbaum finde!« lispelte Wolfgang zu dem Bilde hinauf.

Wyrich von Feilenhauer schien bei diesen Worten in seiner ungelenken Rüstung sich zu regen und aus dem schweren Goldrahmen des Bildes niedersteigen zu wollen. Es war wohl nur ein eindringender Luftzug, der die Leinwand in Bewegung setzte.

Wolfgang schritt durch den wirbelnden Staub einer Türe zu, die in einen kleinen Saal führte. Hier hingen große, mit dicken Staubschichten bedeckte Ahnenbilder, aber nur wenige, mit Glastüren versehene Bücherschränke standen an den Wänden. Er öffnete einen derselben und fand hier zu seinem freudigen Erstaunen die Urkunden, nach denen er suchte. Gleich der erste Band, den er in die Hand nahm, enthielt das Geschlechtsregister. Was er geahnt hatte, das bestätigte sich vollkommen. Die Cedernstein waren die Nachfolger des Kuno von Feilenhauer. Sie halten sich den neuen Namen nur beigelegt, um ungestörter im Besitze des geraubten Gutes fortleben zu können.

Der Stammbaum, der von der Hand eines Cedernsteinschen Burgkaplans herrührte, enthielt nur die Bemerkung:

 

»Graf Kuno hat seinen Kindern den Namen Cedernstein beigelegt. Kurt ist auf der Heimreise aus dem Gelobten Lande gestorben, und erst seine Urenkel fanden wieder den Weg nach Kesselsheim. Sein Geschlecht ist verarmt und hat den verlorenen Gütern auch den Adelstitel nachgeworfen.«

 

Wolfgang studierte in den aufgestapelten Büchern weiter. Jede neue Schrift bestätigte seine Ansicht. Von den Nachfolgern des Wyrich und der Agnes fand er jedoch nichts, bis er plötzlich auf einen zusammengerollten Pergamentbrief stieß, der die Unterschrift eines Cedernstein trug. Dieser Brief enthielt den Auftrag, dem armen Feilenhauer ein gewisses Büchlein zu entwenden, in dem sich Mitteilungen befänden, die für die Cedernstein belastend seien. Am Fuße des Pergamentes stand von einer anderen Hand geschrieben:

 

»Das Buch liegt bei. Es war nicht leicht zu bekommen.«

 

Wolfgang fühlte, daß er der Entscheidung nahe sei. Fand sich das Büchlein vor, so mußte das Dunkel gelichtet sein. Lag nicht die Vermutung nahe, daß sich das Büchlein, wenn es nicht vernichtet worden sei, im Archiv finden werde. Richtig, es steckte in dem zweiten Kasten, und gab für eine Reihe von Jahren vollkommenen Aufschluß über die Feilenhauer. Es war in der Art eines Tagesbuches geführt. Kurt, Wyrichs Sohn, beschrieb darin seine sämtlichen Fahrten im Oriente. Er hatte auch nicht vergessen, zu erwähnen, daß er sich in Jerusalem mit Judith Morten, der Tochter eines tapferen deutschen Ritters, vermählt habe.

Plötzlich folgte eine andere Handschrift, die also begann:

 

»Judith Morten, die Gemahlin des erschlagenen Kurt von Feilenhauer, schreibt hier die Geschichte ihrer Familie weiter. Es ist kein Zweifel, daß die vermummten Mörder meines Gatten Abgesandte Kunos waren. Ich werde es ihnen beweisen, wenn ich nach Kesselsheim komme. Noch sind meine Söhne jung und nicht stark genug, das Schwert zu führen. Es wird jedoch eine Zeit kommen, wo sie den Harnisch tragen können. Dann wehe Dir, Kuno! – –

Ach, wie arm ist eine hilflose Witwe! Zehn Jahre sind vergangen, und ich irre mit meinem Kinde unstät in der Welt umher. Nur der eine Sohn lebt mir noch, die beiden anderen sind den Sendboten des greulichen Schwagers zum Opfer gefallen, und auch den dritten hätte ihr Schwert getroffen, hätte ich sein Leben nicht auf fremder Erde in Sicherheit gebracht. Wann wird endlich die Stunde der Wiedervergeltung schlagen?


Mein Sohn, ich muß in der Fremde sterben und Dich als Bettler zurücklassen. Wenn Du meine Leiche zur Erde bestattet hast, dann reise nach Kesselsheim und nimm Besitz von Deinen Gütern. Du brauchst jetzt für Dein Leben nicht mehr zu fürchten, denn jener grausame Kuno soll gestorben sein.«

Abermals folgte eine andere Handschrift:

»Ich bin Deinem Befehle nachgekommen, Mutter, und stehe jetzt auf den Ruinen des väterlichen Schlosses. Nur die Gewölbe sind übriggeblieben, und einige Mauerstücke ragen noch in die Luft. Ich werde sie niederreißen und den Raum mit Grund anfüllen. An die Wiedererlangung der Güter ist nicht zu denken, denn überall wütet Krieg, und jedes Ohr ist der Klage der Mißhandelten verschlossen.


Auf den Trümmern meiner väterlichen Burg, dicht unter der Linde mit dem Muttergottesbilde, habe ich meine Hütte errichtet. Darin will ich wohnen und von dem Ertrage meines Fleißes mein Leben fristen.


Heute habe ich ein braves Weib in meine Hütte geführt. Wir sind zufrieden. Wenn es uns schlecht geht, werden wir unter der Linde beten und getröstet werden. Alle stolzen Gedanken sind begraben. Die Linde, die früher den Schloßhof und jetzt die Hütte beschattet, ist unser Wald, das umliegende Feld unsere Herrschaft. Wir werden das Wenige zusammenhalten und sorgen, daß es von Kind auf Kindeskind vererbt wird. Vielleicht kommt einmal eine Zeit, wo wir unsere Ansprüche mit größerem Nachdrucke erheben können. Wie Gott will!« – – –

Noch mehrere Feilenhauer hatten in das Buch geschrieben, jeder sorgfältig darauf bedacht, den Stammbaum weiterzuführen. Selbst die Veränderungen und Ausbesserungen, die im Laufe der Zeit mit der Hütte vorgenommen worden, waren nicht vergessen. Endlich brach das Buch ganz ab. Seit zweihundert Jahren, also wohl seit der Zeit, wo es den Feilenhauer entwendet worden, waren keine Notizen mehr geführt.

Wolfgang starrte das Buch an, wie einen Geist, der ihm die Rätsel der Vergangenheit erschlossen hatte. »So wahr ein Gott im Himmel ist,« rief er aus, »ich bin der Nachfolger jenes Wyrich, dessen Augen mich unablässig anschauen. Nur noch das Dunkel von zwei Jahrhunderten muß durchdrungen werden, dann kann ich diesem Wallram gegenübertreten und ihm sagen: Ich bin der echte Sproß jenes alten Stammes, nicht Du!«

Die beiden Schränke, die er mit bebenden Händen weiter durchsuchte, enthielten nur noch Verzeichnisse über den Cedernsteinschen Besitz und sonstige Familienpapiere. Über sein eigenes Geschlecht gaben sie keinen ferneren Aufschluß. So natürlich dies auch war, da es ja nicht in der Absicht der Cedernstein liegen konnte, die Feilenhauer auf die Nachwelt zu bringen, so konnte Wolfgang sich doch noch nicht entschließen, den Kometen zu verlassen. Von Zimmer zu Zimmer ging er weiter, überall von Staub und Schweigen umgeben. Da gelangte er in ein Gemach mit den deutlichsten Spuren dafür, daß hier noch vor kurzem ein Mensch gewaltet haben müßte. Auf dem Boden lagen Papierschnitzel, die Wände waren mit Skizzen und Zeichnungen bedeckt.

Wolfgang hob einen der Papierschnitzel, der zu einer Kugel zusammengeballt, in der Ecke lag, auf und rollte ihn auseinander. Da kam etwas zum Vorscheine, was ihm einen lauten Ruf des Staunens entlockte. Es war zwar nur ein Name, aber dieser Name hieß Helferich. Wolfgang beschaute ihn wohl zwanzigmal. »Da ist kein Zweifel,« sprach er zu sich selber, »das hat der alte Helferich, mein Freund und Wohltäter, geschrieben. Um's Himmels willen, wie ist der in den Kometen gekommen?«

Noch mehrere Papierschnitzel zeigten denselben Namen, aber nicht in jener Vollkommenheit, wie der erste. Dem bestürzten Wolfgang fiel jener Kaufakt ein, durch den Helferich dem Cedernstein seinen Buchenwald abgetreten hatte. Starr, wie eine Bildsäule, blieb Wolfgang stehen und sprach zu sich selber: »Nein, das kann nicht sein! Pfui, daß du eines solchen Gedankens fähig bist!«

Lange stand Wolfgang unbeweglich. Dann steckte er die Papierschnitzel in die Tasche und bückte sich unter den Tisch, wo eine Anzahl von Steinen aufeinanderlagen, wie die Steindrucker sie zu ihren feinen Schriften gebrauchen. Die Steine wieder an ihren Ort bringend, verließ Wolfgang den »Kometen« und kehrte in sein Zimmer zurück, wo er lange gedankenvoll umherwanderte.

Die Wirtin war eine von jenen Personen, die eine starke Neigung zum Wunderbaren haben. Sie brachte deshalb gleich wieder das Gespräch auf den spukenden Grafen. Wolfgang hörte geduldig zu und lenkte die Unterhaltung unmerklich auf den jungen Menschen, der nach ihrer Aussage zuweilen im Kometen gewesen. »Wer war es denn?« fragte er.

»Sehen Sie,« antwortete die Wirtin, »es war mir auffallend, wenn ich den jungen Menschen mit dem Grafen von Cedernstein« – –

»Der Graf von Cedernstein?« fragte Wolfgang.

»Freilich, ich habe ihn das letzte Mal genau erkannt, als sie am hellen Tage herauskamen. Also das war mir auffallend, und ich ging ihnen nach. Wohin glauben Sie nun, daß sie gingen, oder vielmehr der Junge, denn der Graf nahm einen anderen Weg.«

»Nun wohin?«

»Zu dem lahmen Fiedler, dem Maler. Ich wollte von seiner Haushälterin Näheres erfahren, aber das grobe Frauenzimmer schlug mir die Türe vor der Nase zu. Den Namen des Jungen erfuhr ich doch. Willibald Spalding hieß er und lernte bei Fiedler das Malen. Da wird ihm der Graf die Erlaubnis gegeben haben, die alten Bilder im Kometen nachzubilden.«

»So wird es wohl gewesen sein,« antwortete Wolfgang so gleichgültig als möglich. Er konnte die wenigen Worte kaum ohne Zittern vorbringen. Gleich nach Tische suchte er die Wohnung des Malers Fiedler auf und fand sie ohne Mühe.

Wolfgang Feilenhauer fragte, sobald Magdalena die Türe öffnete, ob Willibald Spalding zu Hause sei.

»O, der ist gar nicht mehr hier!«

»Nicht mehr hier? Wo ist er denn?«

»Ja, da müssen Sie den Herrn fragen, der ihn fortgebracht hat; von uns weiß es niemand.«

»Wer war dieser Herr?«

»Das wissen wir auch nicht!«

»Das ist sehr unangenehm! Ich möchte doch den Herrn Fiedler in dieser Angelegenheit sprechen.«

Fiedler, dem das Herz aufging, wenn nur Willibalds Name ausgesprochen wurde, ließ den Besucher in seine Stube treten. Er fügte dem Berichte seiner Haushälterin noch etwas Wichtiges hinzu. »Mein Herr,« sagte Fiedler, »ich habe meine Gründe zu vermuten, daß Sie von einem gewissen Manne abgeschickt sind, um meine Treue und Verschwiegenheit auf die Probe zu stellen. Sie können sich das sparen. Sagen Sie Ihrem Herrn, daß ich viel darum gäbe, den Jungen wieder zurückzuhaben. Seit er fort ist, fühle ich mich so einsam, daß ich lieber sterben, als leben möchte.«

Wolfgang horchte auf und sprach: »Ich komme allerdings von dem vermuteten Manne« – und er fügte eine genaue Beschreibung des Grafen bei – »aber nicht aus dem von Ihnen vermuteten Grunde. Wenn ich vorsichtig war, so liegt das in der Natur der Sache. Der Graf« – – –

»Graf?« unterbrach ihn Fiedler.

»Nun ja, der Graf glaubt, daß er gewisse Papiere zurückgelassen hat, und diese sollen Sie mir übergeben.«

»Als er die Bilder holen ließ,« antwortete der Maler, »sind auch alle Skizzen meines Willibald mitgenommen worden. Nichts ist zurückgeblieben, als eine gefährliche Spielerei, die ich sorgfältig in diesen Umschlag gesteckt und dann versiegelt habe. Ich gedachte sie dem Manne, den Sie einen Grafen nennen, einzuhändigen, sobald er sich wieder hier sehen läßt. Da nehmen Sie, mein Herr!«

Wolfgang steckte den Briefumschlag zu sich und verließ das Haus. In dem Briefe fand sich eine täuschend nachgemachte Banknote von hohem Betrage. Der Verfertiger mußte aber keine böse Absicht dabei verfolgt haben, denn in den vier Ecken befanden sich allerlei Fratzengesichter, die einander Grimassen schnitten.

Wolfgang legte keinen besonderen Wert auf die Spielerei, steckte sie aber doch in die Tasche und entschloß sich, in den nächsten Tagen nach Kesselsheim zurückzukehren. Wie vieles war in diesen ereignisreichen Tagen auf ihn eingestürmt. Er sehnte sich nach Ruhe.

Den Zugang zum Kometen wollte er sich erhalten, deshalb mietete er das Zimmer auf längere Zeit. Zur Wahrung seines Geheimnisses hielt Wolfgang es für notwendig, das Loch in der Mauer selbst zu schließen.

In Kesselsheim empfing ihn der Pfarrer mit der unangenehmen Nachricht, daß der Cedernsteiner nach Hinterlegung des Kaufpreises den Buchenwald in Besitz genommen habe.


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