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III.
Adjunkt Möbius tut eine Reise und könnte was erzählen

Der Sommerhimmel wölbte sich wie ein blauweißer Sonnenschirm über Roskilde, und der Adjunkt Möbius stand vor der berühmten Domkirche der Stadt und sah sie an, während er an alles andre dachte.

Warum befand sich Adjunkt Möbius in Roskilde?

Als er die Nimbsche Terrasse verlassen hatte, war es, um allein zu sein und nachzudenken. Er fühlte, daß er das nötig hatte. Er hatte geglaubt, er würde durch Quillanders Hilfe das wirkliche Leben kennenlernen; er begann einzusehen, daß das naiv gewesen war. Zweifellos konnte man das wirkliche Leben in Kopenhagen kennenlernen, es war wahrscheinlich an keinen bestimmten Ort gebunden; aber auf jeden Fall lernte man es nicht mit Quillander oder irgendeinem andern als Führer kennen. Nein, es gab wohl kein Cook-Bureau, das es übernehmen konnte, das wirkliche Leben zu zeigen. Da mußte man auf eigene Faust Einblick gewinnen. Man mußte »gefährlich leben«. Solange man auf seinen Namen Geld bekam und es zu Abend- und Mittagessen verwendete, ließ sich kaum sagen, daß man gefährlich lebte. Leben ist Handeln, und Handeln ist Wählen. Die einzige Wahl, die er bisher auf der Reise zu treffen gehabt hatte, war gewesen, ob das Mittagessen bei Wivel oder im Palasthotel eingenommen werden sollte.

Möbius strich sein Spitzbärtchen und sah die Domkirche vor sich an. Sie war häßlich. Er konnte sich nicht dazu aufraffen, sie zu bewundern. Sie war aus roten Ziegeln erbaut, in einem Stil, der weder romanisch noch gotisch war. Die Fenster waren hoch und schmal und saßen zwischen Vorsprüngen und Seitengebäuden eingeklemmt. Das Tor der Sakristei vor ihm war in jener schmutzig-braunen Farbe gestrichen, die ihm schon seit seiner Ankunft in Dänemark ausgefallen war. Er hatte sie an Möbeln gesehen, an Wänden, an Banknoten, überall.

... Nein, man lebte nicht gefährlich nach der Tagesordnung, die Quillander entworfen hatte. Man aß, man trank; man fuhr Auto; alles war für einen zurechtgelegt; man lernte das Leben nicht kennen, nicht einmal die Stadt, in der man sich befand. Möglicherweise konnte man es Erfahrungen sammeln nennen, wenn einem die Brieftasche gestohlen wurde, aber nicht gefährlich leben, nein, das Leben mußte wohl größere Triumphe und größere Enttäuschungen in Bereitschaft haben. Die junge Dänin, die ihn mit ihrem klaren Blick angesehen, hatte ihm blitzartig eine Ahnung von unbekannten Ländern gegeben, in die man auf eigene Gefahr eindringen, die man selbst erforschen mußte. Wenn er nur Mut gehabt hätte – Mut, sich in etwas hineinzustürzen, was immer, aber etwas Gefährliches, etwas, wo der eigene Wert auf die Probe gestellt wurde, wo man gezwungen war, zu wählen, zu handeln …

Offenbar war diese Domkirche in mehreren Reprisen entstanden; eine Kapelle sprang hier vor, eine dort, ganz bizarr. Aber das Bizarrste waren die Türme, zwei viereckige Ziegelblöcke, von denen sich zwei schmale Turmspitzen aus Kupfer erhoben. Sie waren von der bösartigsten grünen Farbe und glichen aufs I-Tüpfelchen zwei rostigen Kindertrompeten, deren Spitzen gen Himmel wiesen. Es mußten die inneren Werte sein, die die Roskilder Domkirche berühmt gemacht hatten.

Möbius sah auf die Uhr. Es war nach halb fünf. Was würden Quillander und Schorn zu ihm sagen? Sie hatten ja keine Ahnung, daß er von einem plötzlichen Impuls auf den Bahnhof getrieben worden war, in einen Zug, gleichviel welcher, wenn er nur für ein paar Stunden von Kopenhagen wegführte. Nun, er traf sie ja, wann er wollte. Spätestens morgen. Ihr Programm wich wohl nicht wesentlich von dem gestrigen ab; versäumte er es heute, so konnte er es morgen einbringen. Sollte er länger in Roskilde bleiben oder nach Kopenhagen zurückfahren?

In diesem Augenblick kam ein kurzbeiniger Alter mit weißem Haar über den Platz gegangen, wo Möbius stand. Der Alte hatte einen Schlüsselbund in der Hand und eine Gesellschaft von acht oder zehn Personen hinter sich. Die Gesellschaft sah nach Provinzlern aus. Der Alte rasselte mit seinem Schlüsselbund und sprach unaufhörlich wie ein Zauberkünstler, der das Publikum aufzuhalten sucht, bis die »Nummer« kommt.

Eine der ältesten Kirchen von Dänemark, nur Viborg, Maribo und Ribbe können sich an Alter mit ihr messen. Saxo Grammaticus war der Dompropst der Kirche und hat ein Denkmal mit lateinischer Inschrift, 1728 renoviert, im Nordchor. Christian der Elfte und alle folgenden dänischen Könige haben ihre Grabstätten in der Kirche.

Jetzt war er zu einem kleinen Pförtchen an der Seite des Turmes gekommen. Er öffnete es und machte eine einladende Bewegung nach der Gesellschaft hin.

»Bitte sehr, meine Herrschaften, bitte sehr, treten Sie ein. Es kostet nur 50 Oere pro Person.« Er legte sein Gesicht in pfiffige Falten, um anzudeuten, daß Ueberzahlungen Aussicht hatten, angenommen zu werden. »Bitte sehr!«

Dann überflog er die Gesellschaft mit den Blicken. Sie suchten in ihren Geldbörsen, ebenfalls mit pfiffigen Falten im Gesicht. Er sah es, und es erfüllte ihn mit Kummer. Er wußte, was das bedeutete. Plötzlich fiel sein Auge auf Möbius, der graugekleidet und still die Szene beobachtete.

»Wünscht der Herr die Kirche zu besichtigen? Es kostet fünfzig Oere.« Eine letzte Falte legte sich zu den vorhergehenden. »Die andern Herrschaften gestatten, nicht wahr?«

Möbius zuckte zusammen. Natürlich mußte er die Kirche besichtigen, wenn er nun schon in Roskilde war. Das war klar. Er steckte die Hand in die Westentasche, wo er sein Kleingeld zu verwahren pflegte. Er zog sie zurück und errötete leicht.

»Danke, ich …«

Er machte kehrt und ging, ohne den Satz abzuschließen. Der Domkirchendiener starrte ihm nach; die Falten seines Gesichtes gingen zu einer Grimasse über. Mit einem erstickten Seufzer wandte er sich der Provinzgesellschaft zu.

Möbius hatte eben eine furchtbare Entdeckung gemacht; er hatte gerade fünfundzwanzig Oere in der Tasche. Er wußte nicht, ob er etwas in der Brieftasche hatte. Hatte er auch da nichts, dann wollte er wenigstens allein sein, wenn er es entdeckte.

Er ging um die Ecke und zog die Brieftasche heraus. Leere, schwarze Leere gähnte ihm entgegen. Quillander hatte ja die Kasse übernommen, freilich hatte er Möbius versprochen, daß er Geld haben könne, wenn er welches brauchte; aber das half im Augenblick nicht viel. Fieberhaft durchsuchte er seine andern Taschen. Die Rocktasche: nichts; die Westentasche: nichts; die Hosentaschen: ebensowenig – nein! in der rechten fand er noch ein Fünfundzwanzig-Oere-Stück. Fünfundzwanzig und fünfundzwanzig macht fünfzig. Fünfzig Oere! Eine leichte Kasse. Eine wirklich sehr leichte Kasse. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, wenn er Geburtstag hatte. Da pflegte er diesen Betrag zu bekommen, um dafür ins Museum zu gehen. Fünfzig …

Ein tröstender Gedanke kam ihm: er hatte ein Retourbillett gekauft. Wenigstens brauchte er nicht zu Fuß nach Kopenhagen zurückzugehen. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit einer solchen Befriedigung, daß er mechanisch zum Kircheneingang zurückkehrte. Vielleicht trug die Erinnerung an die Kindheit und die Museumsbesuche der Geburtstage dazu bei, seine Schritte hinzulenken. Plötzlich stand er an der Tür zur kleinen Wappenhalle, seine zwei Fünfundzwanzig-Oere-Stücke hin- und herdrehend. Sollte er sie opfern? Sollte er hineingehen?

Es ist bekannt, daß verbotene Früchte am besten schmecken. Zunächst im Wohlgeschmack kommen die Früchte, die wir uns, streng genommen, nicht gönnen sollten. Jetzt, wo Möbius sein ganzes Vermögen auf fünfzig Oere reduziert fand, packte ihn die Begierde, diese Domkirche zu sehen, die ihn früher so ziemlich gleichgültig gelassen hatte. Sollte er sein letztes Geld opfern? Er sollte nicht … Er stand wie Jeppe an der Tür Jakobs des Schusters, die Kehle sagte nein, denn die hatte begonnen, an Kaffee zu denken, das Auge, das auf die Eingangstüre starrte, sagte ja; die Begierde der Augen siegte. Mit seinen zwei Fünfundzwanzig-Oere-Stücken in der Hand öffnete er die Tür.

Die Wappenhalle war leer. Keine Spur von dem alten Kirchendiener oder der Touristengesellschaft. Als er dies sah – nicht früher – kam Möbius der Gedanke an eine neue Möglichkeit: man konnte die Kirche besichtigen und nichtsdestoweniger sein Geld behalten.

Er verjagte diesen Gedanken sofort. Pfui, wie gemein! Davon konnte nicht die Rede sein. Er wollte die Kirche sehen, dazu hatte er sich nun entschlossen; der Diener war offenbar in der Kirche, und wenn er ihn dort traf, würde er ihm das Geld geben. Mit festen Schritten ging er durch die Wappenhalle. Ehe er noch die Kirche betreten hatte, war der verjagte Gedanke wiedergekehrt. Wenn der Diener zum Beispiel nicht gerade hinter der Tür stand, was dann? Dann konnte er einen kurzen Blick auf die Kirche werfen und gehen. Das war, streng genommen, kein Unrecht. Stand der Diener bei der Tür, dann mußte er natürlich sein Geld bekommen. Wenn nicht, so … Er dachte den Gedanken nicht zu Ende. Er schob die Tür mit unbewußter Vorsicht auf und sah hinein. Der Diener stand nicht gerade dahinter. Er war überhaupt nicht zu sehen. Der Raum unter den hohen Wölbungen schien leer. Möbius trat durch die Tür ein und sah sich um.

Das Innere der Kirche war verlockend, wenn auch das Aeußere es nicht gewesen war. Er sah Gedenktafeln, Wappen, ein Chor mit Holzschnitzereien, eine prachtvolle alte Kanzel, gemalte Fenster, Fresken. Plötzlich hörte er Stimmen. Sie kamen aus dem rechten Seitenschiff, wahrscheinlich aus einer der Kapellen, denn kein Mensch war zu sehen. Selbst aus dieser Entfernung erkannte er die Stimme des Kirchendieners. Wie ein Echo erweckte es die Stimme des Gewissens in ihm selbst. Er beschloß, den Mann sofort aufzusuchen und zu bezahlen. Er ging das Seitenschiff entlang. Ganz richtig, die Stimme kam aus einer der vorgebauten Kapellen. Einige Stufen führten hinauf; eine Gittertür aus Stahl stand offen. Er brauchte nur die Stufen hinauf und durch das Gitter hinein zu gehen, um zu bezahlen. Als er dies sah, verschwand seine Entschlossenheit in unerklärlicher Weise. Er blieb unterhalb der Stufen stehen, neben einer breiten Säule, und hörte zerstreut der Stimme des Dieners zu:

»König Friedrichs des Fünften und König Christians des Sechsten Kapellen, errichtet in den Jahren 1774 bis 1779 nach Harsdorfs Zeichnungen, aber erst 1825 vollendet von dem Konferenzrat Hansen. Ursprünglich hätten nur fünf Marmorsärge hier stehen sollen, aber die Kapellen mußten auch alle späteren königlichen Särge aufnehmen. Mitten im Hintergrund erhebt sich König Friedrichs des Fünften Marmorsarkophag, ausgeführt vom Bildhauer Wiedefelt, in italienischem Marmor. Rechts …« Es kam Name auf Name, Königin Luise, König Christian der Siebente, König Friedrich der Sechste, Königin Amalie, König Christian der Achte. Möbius lauschte und versuchte einen Blick auf die Kapelle zu erhaschen. Seine Gedanken glitten in andre Bahnen. Ein Kollege von mir, dachte er, ein wirklicher Pädagoge. Genau wie ich geht er herum und zeigt tote Dinge, zählt Namen und Jahreszahlen vor Personen auf, die sofort alles vergessen, was er gesagt hat.

» Last not least, bitte ich die Herrschaften, die außerordentlich künstlerischen und wertvollen Goldkränze zu beachten, die sämtliche Särge zum Zeichen der Trauer der Ueberlebenden bedecken. Die Kränze sind sehr wertvoll, teilweise mit Edelsteinen besetzt. Namentlich die, welche König Christian des Neunten und König Friedrich des Achten Särge bedecken, sind überaus kostbar …«

Die meisten Situationen von entscheidender Bedeutung treffen unerwartet ein, und in den meisten handelt man instinktiv. Es war Möbius' Absicht gewesen, den Kirchendiener aufzusuchen, und die fünfzig Oere zu bezahlen. Jetzt geschah etwas Unerwartetes. Die Gesellschaft strömte plötzlich aus der Kapelle Friedrich des Fünften. Möbius zuckte zusammen, wie ein ertappter Dieb, und ohne zu überlegen, verschwand er hinter der Säule, an der er stand. Glücklich geschützt wollte er wieder hervortreten. Das war nicht recht! Er hatte ja fünfzig Oere und konnte bezahlen. Eine Stimme flüsterte in ihm: aber die Lächerlichkeit? Wie sieht es aus, wenn du jetzt hervortrittst? Er blieb stehen. Er sah den Domkirchendiener die Gittertür der Kapelle versperren und die Gesellschaft mit einer Geste zum Chor verweisen. Einen Augenblick sah er nach der Säule, hinter der Möbius stand. Möbius' Gewissen schlug Alarm: er wollte die Füße heben, um vorzutreten, aber sie waren wie an den Boden gekettet. Der Blick glitt vorbei, ohne ihn zu sehen, die Gesellschaft ging; er stand da mit seinen fünfzig Oere und ertappte sich selbst darauf, eine innerliche Befriedigung zu empfinden. Während die Gesellschaft ging, rückte er so, daß die Säule ihn deckte. Plötzlich kam ihm ein Gedanke.

Das war das erstemal in seinem Leben, daß er vor einer Wahl stand! Zum erstenmal galt es für ihn, sich ohne Hilfe eines Schemas zu entschließen. Der Konflikt, vor den er gestellt war, konnte unbedeutend erscheinen, da er sich um fünfzig Oere drehte, aber fünfzig Oere war alles, was er im Augenblick hatte, und es war fraglich, ob er Quillander oder Schorn traf, wenn er nach Kopenhagen kam. Er stand vor der Wahl zwischen einer sittlichen Forderung (dem moralischen Anspruch des Dieners auf die fünfzig Oere) und einem praktischen Vorteil, das Geld für seinen eigenen Gebrauch übrig zu haben. Dieser Konflikt kehrt in allen Konflikten wieder. Was sollte er wählen? Es durfte doch nur eine Wahl geben. Und trotzdem stand er da, ohne diese Wahl zu treffen.

Eine Stimme hatte ihm nämlich etwas zugeflüstert: Was geschieht, wenn du bezahlst? Du hast die ethische Forderung erfüllt; aber im selben Augenblick, in dem du das getan hast, ist es mit der einzigen Versuchung vorbei, die du in deinem Leben gehabt hast. Wer weiß, wann die nächste kommt? Vielleicht nie. Auf der einen Seite hast du die Möglichkeit, den kategorischen Imperativ durch die Bezahlung von fünfzig Oere zu befriedigen; auf der andern Seite hast du die Aussicht, dich vor eine Anzahl neuer Konflikte gestellt zu sehen. Was ist wertvoller? Bezahlst du den Mann, bist du wieder im alten Geleise. Bezahlst du ihn nicht, stürzest du dich in etwas Neues, etwas, das dich wer weiß wohin führen kann.

Der Domkirchendiener und seine Gesellschaft hatten das Chor mit seinen Holzschnitzereien besichtigt und gingen jetzt zum nördlichen Seitenschiff über. Man hörte die eintönige Stimme des Alten:

»Wir gehen jetzt daran, eine der größten Sehenswürdigkeiten der Kirche zu besichtigen. König Christians des Vierten Grabkapelle, errichtet in den Jahren 1615 bis 1620 von Steenwinkel, teilweise nach eigenen Entwürfen des Königs …«

Möbius raffte sich auf. Sein Gesicht hatte einen eigentümlichen Ausdruck, der Quillander vermutlich zum Lachen gereizt hätte. Er hatte seinen Entschluß gefaßt. Er würde die Kirche ansehen, ohne die fünfzig Oere zu bezahlen. Er würde kaltblütig sein Bestes tun, um den Alten zu prellen. Er würde freiwillig dieser unbedeutenden Versuchung erliegen und sehen, wie es weiterging. Er sah sich ein bißchen unsicher um. Wo sollte er anfangen?

Er stand noch immer vor den Kapellen Friedrichs des Fünften und Christians des Sechsten. Warum nicht mit ihrer Besichtigung anfangen? Er verließ die Säule, hinter der er versteckt gewesen war, und schlich mit einem spähenden Blick zur Kapelle hinüber. Er huschte die Stufen auf den Zehenspitzen hinauf. Die Gittertür war geschlossen, aber er konnte hineinsehen. In der Mitte stand ein Marmorkatafalk mit einer Statue darauf. Davor standen Särge aus Stein oder Holz, in vier Reihen geordnet. Auf diesen Särgen blinkten die Kränze, von denen der Diener gesprochen hatte. Goldkranz an Goldkranz. Möbius hatte noch nie so viel Gold gesehen. Er riß die Augen auf und preßte seine Fünfundzwanzig-Oere-Stücke zusammen. Er dachte: Wenn jetzt statt meiner ein Dieb hier stände? Das wäre ein Fressen für eine Diebsbande!

Schließlich verließ er die Kapelle, einen vorsichtigen Blick um sich werfend. Der alte Kirchendiener und die Gesellschaft waren noch immer in der Kapelle Christians des Vierten. Was sollte er sich jetzt ansehen? Er zögerte einen Augenblick, und plötzlich packte ihn ein Mut, den man schon Uebermut nennen mußte. Er beschloß, das sichere Seitenschiff zu verlassen und sich mitten in die Kirche hinauszuwagen. Er wollte sich das Chor und die Holzschnitzereien ansehen.

Er hatte das Gefühl, daß er die bisher mutigste Handlung seines Lebens vollbrachte, als er aus dem Clair-obscur des Seitenschiffes trat und dem Chor zuzuschreiten begann. Dies war offenkundige Gesetzesübertretung! Der Boden war mit einer groben Matte bedeckt, und er trat so leicht auf, als er konnte, aber ihm kam es doch vor, daß es klang, als ginge er mit Sporenstiefeln über Marmorplatten. Die Kirche wuchs zu den Dimensionen der Peterskirche; die Gewölbe erhoben sich zu schwindelnder Höhe; der Boden wurde eine unendlich große Fläche; das Chor lag hunderte Schritte weit weg. Er hatte Lust zu laufen. Sein Mut verschwand, und er dachte verwirrt, was er wohl tun würde, wenn der Diener gerade jetzt aus der Kapelle käme, die ganze Gesellschaft auf den Fersen. Ein Gesicht, das sich in so listige Falten legen konnte, konnte sicherlich auch andre Gefühle ausdrücken. Er würde bestimmt Lärm schlagen, die Gesellschaft würde ihm sekundieren. Kam er denn nie zum Chor? Er dehnte seine Schritte, so sehr es seine Beine gestatteten. Jetzt war er bei den Stufen angelangt, die zum Chor hinaufführten; jetzt war er endlich oben, relativ geschützt. Da waren hohe Chorbänke, hinter denen man sich verstecken konnte, wenn es notwendig wurde. Aber jetzt wollte er die Früchte seines Sieges genießen. Er tat es. Er sah sich die Folgen frommer Schnitzereien an den Chorbänken und dem Altarbild an; die ganze Zeit hörte er in einer Halluzination die schnarrende Stimme des verunrechteten Kirchendieners:

»Diese Schnitzereien, meine Herrschaften, gehören zu den schönsten im Norden. Nur fünfzig Oere, meine Herrschaften, die Besichtigung. Sie wurden in den Jahren 1450 bis 1458 verfertigt, teilweise nach Entwürfen König Christians des Vierten und des Konferenzrats Hansen. Nur fünfzig Oere, meine Herrschaften! Das Bild vor Ihnen stellt die Erschaffung des Adam, das nächste die Erschaffung der Eva dar, das nächste den Sündenfall …«

Möbius' Augen blieben an dem dritten Bilde hängen, und seine Gedanken begannen zu arbeiten, so daß er alles rings um sich vergaß. Den Sündenfall. Die Versuchung … Seine Versuchung war an diesem Nachmittag gekommen. Etwas hatte zu ihm gesprochen, wie zu Adam und Eva: Willst du wirklich nicht etwas Neues kennenlernen? Läßt du es bleiben, von dem Apfel zu essen, bezahlst du die fünfzig Oere, was dann? Dann bleibst du in den alten ethischen Geleisen, wo du dahinrollst wie eine Maschine. Issest du von dem Apfel, bezahlst du die fünfzig Oere nicht, dann bist du auf einmal in etwas Neuem, das dich wer weiß wohin führen kann. Es waren die Worte der Schlange, denen er vorhin gelauscht hatte; er war gefallen; unwillkürlich sah er an sich herab, um sich zu überzeugen, ob er nackt war, wie das erste gefallene Paar. War es nur das Abendlicht, das sich durch die Wölbungen ergoß? Er glaubte, allein und nackt in dem klaren Glanze eines richtenden Blickes zu stehen. Alles war so still, daß es war, als spräche die Stille selbst und sagte: »Wo bist du, Möbius? Und was hast du getan?«

Er zuckte zusammen. Ja, wo war er? Und was hatte er getan? Er hatte die Außenwelt beinahe vergessen. Als sie allmählich Gestalt für ihn annahm, fiel es ihm auf, daß alles wirklich sehr still war. In der Kirche war kein Laut zu hören, weder die schnarrende Stimme des Kirchendieners, noch das Trappeln der Touristenschuhe. Ein unaussprechlicher Friede lag unter den hohen Wölbungen; die Abendsonne strömte in breiten Lichtgürteln herein, die an sichtbare stumme Orgelakkorde denken ließen. Es war ein Friede wie im Lustgarten des Paradieses. Und, ganz wie dort, war es der gefallene Mensch, der ihn brach.

Ein entsetzlicher Gedanke durchzuckte Möbius. Waren die andern fortgegangen, ohne daß er es gemerkt hatte?

Er verließ das Chor und die Schnitzereien; er vergaß jeden Gedanken, sich zu verstecken; jeden Gedanken an seine fünfzig Oere. Er eilte durch das mattenbelegte Mittelschiff, ohne seine Schritte zu dämpfen. Er lief zur Wappenhalle, zitternd erfaßte er die Klinke der Tür, durch die er vor einer Weile hereingeschlichen war. Er rüttelte einmal ums andere daran und ließ schließlich die Klinke los.

Seine Ahnungen waren nur zu berechtigt gewesen. Die Tür war verriegelt. Wenn die ersten gefallenen Menschen nach ihrem Fall ausgeschlossen waren, so war Adjunkt Möbius eingeschlossen.


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