Heinrich Heine
Vermischte Schriften
Heinrich Heine

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Eingangsworte zur Übersetzung eines lappländischen Gedichts

Lappland bildet die äußerste Spitze der russischen Besitzungen im Norden, und die vornehmen oder wohlhabenden Lappländer, welche an der Schwindsucht leiden, pflegen nach St. Petersburg zu reisen, um hier die Annehmlichkeiten eines südlichen Klimas zu genießen. Bei manchen dieser kranken Exilanten gesellen sich dann zu dem physischen Siechtum auch wohl die moralischen Krankheiten der europäischen Zivilisation, mit welcher sie in Kontakt kommen. Sie beschäftigten sich jetzt mit Politik und Religion. Die Lektüre der »Soirées de St. Petersbourg«, die sie für ein nützliches Handbuch hielten für einen Guide dieser Hauptstadt, belehrte sie, daß der Stützpunkt der bürgerlichen Gesellschaft der Henker sei; doch die Reaktion bleibt nicht aus, und von de Bourreaukratie des de Maistre springen sie über zum herbsten Kommunismus, sie erklären alle Rentiere und Seehunde als Staatseigentum, sie lesen Hegel und werden Atheisten; doch bei zunehmender Rückgratschwindsucht lenken sie wieder gelinde ein und schlagen über in weinerlichen Pietismus, werden Mucker, wo nicht gar Anhänger der Sionsmutter. – Dem französischen Leser sind diese zwei Religionssekten vielleicht wenig bekannt; in Deutschland sind sie es leider desto mehr, in Deutschland, ihrer eigentlichen Heimat. Die Mucker herrschen vorzüglich in den östlichen Provinzen der preußischen Monarchie, wo die höchsten Beamten zu ihnen gehörten. Sie huldigen der Lehre, daß es nicht hinreichend sei, sein Leben ohne Sünde zu verbringen, sondern daß man auch mit der Sünde gekämpft und ihr widerstanden habe müsse; der Sieger, und sei er auch mit Sündenwunden bedeckt, wäre gottgefälliger als der unverwundete Rekrut der Tugend, der nie in der Schlacht gewesen. Deshalb in ihren Zusammenkünften, oder auch in einem Tête-à-tête von Personen beider Geschlechter, suchen sie sich wechselseitig durch wollüstige Betastung zur Sünde zu reizen, doch sie widerstehen allen Anfechtungen der Sünde – ist es nicht der Fall, je nun, so werden ein andermal die Angriffe, das ganze Manöver, wiederholt.

Die Sekte von der Sionsmutter hatte ihren Hauptsitz in einer westpreußischen Provinz, nämlich im Wuppertale des Großherzogentums Berg, und das Prinzip ihrer Lehre hat eine gewisse Hegel'sche Färbung. Es beruht auf der Idee: nicht der einzelne Mensch, sondern die ganze Menschheit sei Gott; der Sohn Gottes, der erwartete Heiland unserer Zeit, der sogenannte Sion, könne daher nicht von einem einzelnen Menschen, sondern er könne nur von der ganzen Menschheit gezeugt werden, und seine Gebärerin, die Sionsmutter, müsse daher nicht von einem einzelnen Menschen, sondern von der Gesamtheit der Menschen, von der Menschheit, befruchtet werden. Diese Idee einer Befruchtung durch die Gesamtheit der Menschen suchte nun die Sionsmutter so nahe als möglich zu verwirklichen, sie substituierte ihr die Vielheit der Menschen und es entstand eine mystische Polyandrie, welcher die preußische Regierung durch Gendarmen ein Ende machte. Die Sionsmutter im Wuppertale war eine vierzigjährige, bläßliche und krankhafte Person. Sie verschwand vom Schauplatz, und ihre Mission ist gewiß auf eine andere übergegangen. – Wer weiß, die Sionsmutter lebt vielleicht hier unter uns zu Paris, und wir, die wir ihre heilige Aufgabe nicht kennen, verlästern sie und ihren Eifer für das Heil der Menschheit.

Unter die Krankheiten, denen die Lappländer ausgesetzt sind, welche nach Petersburg kommen, um die Milde eines südlichen Klimas zu genießen, gehört auch die Poesie. Einer solchen Kontagion verdanken wir das nachstehende Gedicht, dessen Verfasser ein junger Lappländer ist, der wegen Rückenmarkschwindsucht nach Petersburg emigrierte und dort vor geraumer Zeit gestorben ist. Er hatte viel Talent, war befreundet mit den ausgezeichnetsten Geistern der Hauptstadt, und beschäftigte sich viel mit deutscher Philosophie, die ihn bis an den Rand des Atheismus brachte. Durch die besondere Gnade des Himmels ward er aber noch zeitig aus dieser Seelengefahr gerettet, er kam noch vor seinem Tode zur Erkenntnis Gottes, was seine Unglaubensgenossen sehr skandalisierte: der ganze hohe Klerus des Atheismus schrie Anathem über den Renegaten der Gottlosigkeit. Unterdessen aber nahmen seine körperlichen Leiden zu, seine Finanzen nahmen ab, und die wenigen Rentiere, welche sein Vermögen ausmachten, waren bald bis zum letzten aufgegessen. Im Hospitale, dem letzten Asyl der Poeten, sprach er zu einem der zwei Freunde, die ihm treu geblieben: »Leb wohl! Ich verlasse diese Erde, wo das Geld und die Intrige zur Alleinherrschaft gelangt – nur eins tat mir weh: ich sah, daß man durch Geld und Intrige auch den Ruhm eines Genies erlangen, als solches gefeiert werden kann, nicht bloß von einer kleinen Anzahl Unmündiger, sondern von den Begabtesten, von der ganzen Zeitgenossenschaft und bis zum äußersten Winkel der Welt.« In diesem Augenblicke klang unter den Fenstern des Hospitals ein Leierkasten, dudelnd: »Das Geld ist nur Chimäre«, die berühmte Melodie von Meyerbeer – Der Kranke lächelte, verhüllte das Haupt und starb.


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