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Julia saß neben dem Fahrstuhl der Tante Riekchen unter dem Nußbaum im Garten. Die alte Dame schaute träumerisch vor sich hin, während Julia ihr die Zeitung vorlas. Die Rätin schnitzte Bohnen, ohne dabei den Blick von dem Kinderwagen zu lassen, der im Nebengang an der Mauer von Frau Doris hin und her geschoben wurde. Die kreischende Stimme der Alten, die mit dem kleinen Bübchen in allerhand unverständlichen Zärtlichkeitsausdrücken sprach, scholl bis hier herüber.

Das Gesicht der Rätin drückte Mißvergnügen und Argwohn aus; das der alten Wärterin glich dem einer gereizten Löwin, der man das Junge nehmen will. Frau Therese hatte gestern ihre Reise angetreten, und schon heute früh waren Großmutter und Doris am Bette des schlummernden kleinen Weltwunders aufeinandergeplatzt, und der Doktor hatte kaum vermocht, die empörten Gemüter zu besänftigen.

Die tiefe wohlklingende Stimme Julias ward plötzlich unterbrochen durch den schrillen Ruf der Rätin: »Fahren Sie auf der Stelle aus dem grellen Sonnenschein da fort! Das Würmchen soll wohl den Hitzschlag kriegen?«

Die Wärterin that, als habe sie nichts gehört, und schwatzte ruhig weiter mit dem Pflegebefohlenen: »Gelt, mein Herzchen, gelt, du hast sie lieb, die Sonne? Ei, et, die gute schöne Sonne!«

»Das Frauenzimmer muß aus dem Hause, oder ich krieg' den Schlagfluß!« stammelte die alte Dame.

Julia hatte das Blatt sinken lassen, solange der Zwischenfall dauerte, und las nun weiter den Schluß einer Gerichtsverhandlung.

»Sieh doch erst einmal, ob etwas aus Afrika drin steht!« bat Fräulein Riekchen.

»Ich sah schon nach, Tante; ich fand aber nichts,« antwortete das junge Mädchen.

»Auch nicht unter den Depeschen?«

Julia suchte nach den Depeschen – Paris – London – Madrid. »Sansibar,« murmelte sie. Auf einmal hob sie das große Zeitungsblatt dicht vor ihr Gesicht, und das Papier bebte in ihrer Hand.

»Warum zitterst du?« fragte die alte Dame.

Langsam sank das Blatt; die blassen aber unbewegten Züge des Mädchens wurden wieder sichtbar. »Zitterte ich?« fragte sie. »Es ist nichts drin von Afrika.«

In diesem Augenblick lief die Rätin im vollsten Zorne hinüber, um der verhaßten Kinderfrau aus nächster Nähe ihre Meinung ins Gesicht zu schleudern.

Tante Riekchen blickte starr ihre Pflegetochter an.

»Soll ich weiter lesen?« fragte Julia – ein seltsam veränderter Tonfall war in ihrer Stimme.

»Steht wirklich nichts Neues von Afrika drin?«

Julia schüttelte den Kopf und sah dem Doktor entgegen, der von seinen Berufswegen in der glühenden Augustsonne zurückkehrte, im leichten grauen Sommeranzug, den Strohhut in der Hand und seine Stirn mit dem Taschentuch trocknend. Sie machte sich etwas hinter dem Stuhle der alten Dame zu schaffen, sah den Näherkommenden an und legte den Finger auf die Lippen.

Der Doktor trat ruhig herzu, setzte sich hin und begann von diesem und jenem zu erzählen. Julia schritt den Weg hinauf der Rätin entgegen, die im Gefühl ihrer Ueberlegenheit als Siegerin und als Großmutter mit hoch erhobenem Kopfe zurückkam.

»Ich möchte dir etwas mitteilen, Tante; bitte, geh einen Augenblick mit hier hinunter,« sagte Julia. »Ich las eben in der Zeitung, daß Frieder in einem Gefecht mit den Eingeborenen verwundet worden ist; Tante Riekchen darf es nicht erfahren.«

Die alte Dame schlug die Hände zusammen. »Schwer verwundet natürlich!« rief sie. »Und das steht wohl auch nur so da, er ist am Ende schon tot. Großer Gott!«

Julia schwieg.

»Und du,« ereifert sich die Rätin, »du stehst da und sagst kein Wort? Was bist du für ein Mädchen! Es ist doch dein leiblicher Bruder, den's betrifft. Ich habe den Windbeutel nie leiden mögen, aber 's geht doch ans Herz, wenn er so gestraft wird, wenn er da draußen so elendig umkommen muß unter den Wilden, ohne eine Seele, die zu ihm gehört.«

Julia antwortete nicht auf den Vorwurf. »Bitte, beunruhige nur Tante nicht,« bat sie. »Geh jetzt lieber nicht zu ihr, sie ist so aufmerksam und so mißtrauisch, sie würde dir gleich anmerken, daß etwas geschehen ist.«

»So schlau bin ich auch,« gab die alte Dame zurück, »ich mag das arme Tierchen auch gar nicht sehen. Geh, hole die Zeitung und bringe sie mir in die Küche, ich will's lesen.«

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»Ja, ja,« sagte sie für sich im Weiterschreiten, »entweder stirbt er, oder er kommt invalid wieder und liegt uns auf der Tasche. Gott im Himmel vergeb es mir – ich wollte, er wäre gleich tot gewesen!«

Nach Tisch, als das alte Fräulein ahnungslos im kühlen Zimmer schlief, saß Julia in ihrer Kammer am Fenster, regungslos die Hände im Schoß und das Zeitungsblatt vor sich, das die kurze bedeutungsvolle Nachricht enthielt. Auch jetzt hatte sich kein Zug des Gesichtes verändert, nur der kleine Mund war noch fester als sonst zusammengepreßt. Das war nun einmal so. Julia hatte längst erkannt, daß kein Jammern und Ringen einen Schicksalsschlag abzuwenden vermag, und über ihr persönliches Empfinden war eine Art Erstarrung gekommen; sie fühlte nur noch in der Seele andrer.

So dachte sie auch jetzt lediglich daran, daß die Nachricht von der Verwundung oder gar dem Tode des Lieblings die alte Frau nebenan wie ein Dolchstich treffen würde, dem sie erliegen mußte; sie dachte, daß Frieder vielleicht den Tod gesucht habe, weil er Therese nicht vergessen konnte, und daß sie ganz einsam sein werde, wenn sie nun auch keinen Bruder mehr habe. Denn wie fremd stand sie inmitten dieser Menschen, in deren Gemeinschaft sie gleichwohl ihr Leben verbracht hatte! Selbst an die Kranke fesselte sie nur die Pflicht, die Pietät; sie dankte durch die Pflege, die sie der Alternden angedeihen ließ, für die Pflege, die diese ihrer verlassenen Jugend gewidmet. Aber ein wärmeres Gefühl hatte sie nie für die alte Dame zu fassen vermocht.

Und der Fritz?

Ihm gegenüber hatte sie ja mit aller Kraft ihr Herz zum Schweigen gebracht, ihm gegenüber war sie gleichgültig und kalt, und nur ein ohnmächtiger Zorn loderte immer wieder in ihr auf, wenn er sie bemitleiden wollte. Aber auch diesen hielt sie verborgen. Aeußerlich zuckte es nur schier verächtlich um den Mund, wenn Fritz, besonders im Anfang seiner Ehe, bemüht war, seine Zärtlichkeit, sein Glück in ihrer Gegenwart zu verbergen; wenn er bei ihrem Hinzutreten die Hand der jungen Frau fallen ließ, die er eben noch an seinen Mund gepreßt hatte, oder wenn er mühsam seine Augen von dem rosigen Antlitz derselben loszureißen versuchte.

Sie lächelte dann mit dem herben Zucken um die Mundwinkel, und sie lächelte ebenso, als er seine Sorge um das Leben der geliebten Frau vor ihr verbergen wollte, zu jener Zeit, als der Bube erwartet wurde. Aber sein blasses, mit Schweißtropfen bedecktes Gesicht in jenen Stunden, die dem Erscheinen des Kleinen vorausgingen, war ihr gewesen wie eine Offenbarung. Wie mußte diese Frau geliebt sein! Und die Thränen an seinen Wimpern, mit denen er endlich das wichtige Ereignis dem alten Fräulein meldete, diese zitternde Freude, dieser dankbare Jubel erweckten wieder den einen Gedanken in ihr: wie geliebt mußte diese Frau sein!

»Zeige mir dein Kind, Fritz!« hatte sie damals gefordert und war mit ihm hinaufgestiegen in die eleganten Räume, und er hatte das Bündel mit dem Neugeborenen herausgeholt und sie das kleine Geschöpf betrachten lassen. Über dem Köpfchen des Kleinen hatten sich ihre Blicke getroffen.

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Mamsell Unnütz wußte nicht, daß sie den Mann mit einem Ausdruck angesehen hatte, davor ihm das jubelnde Herz weh that. In diesem Augenblick war ihm das stille stolze Mädchen erschienen wie ein frierendes hungerndes Bettelkind, das mit fieberndem Verlangen in eine weihnachtshelle Stube schaut und über der Herrlichkeit, die es erblickt, vergißt, wie arm es ist. In den tiefen blauen Augen stand ein seliges Entzücken über das winzige schlummernde Geschöpf. »Ach, wie lieb!« flüsterte sie und streckte die Arme aus. Da rief Therese mit matter Stimme aus der Nebenstube, und Julias Arme sanken hernieder, die langen Wimpern legten sich noch tiefer über die Augen.

Man hatte ihm das Kind abgenommen; er begleitete Julia bis zur Thür, das Herz voll Seligkeit und voll Mitleid, und da hatte er dem Mädchen gegenüber eine Taktlosigkeit begangen. Er hatte ihr die Wange gestreichelt und gesprochen: »Wirst auch noch einmal glücklich, Unnütz!«

Der eisige Zug um ihren Mund, der rasche Schlag auf seine Hand und am meisten der verächtliche Blick machten, daß er jäh verstummte. Seither hatte sie weder nach dem Kinde gefragt, noch es jemals angesehen, wenn es an ihr vorübergebracht wurde.

Sie liebte das Kind nicht! So dachten wenigstens die Hausgenossen.

»Wer Kinder nicht leiden mag, hat kein Herz!« sagte die Rätin zu ihr und fügte verwundert hinzu: »Und der dumme kleine Bube lacht dich trotzdem an und ruft ›Ula!‹ – so eine Unschuld!«

Sie ahnten alle nicht, daß der Kleine und »Ula« heimliche Freundschaft geschlossen hatten, daß der alte Drache von Kinderfrau dem stillen schönen Mädchen ohne jeglichen Widerwillen das Kleinod anvertraute. Sie hatten förmlich ein feststehendes Stelldichein, die zwei; nämlich dann, wenn die junge Frau und die Rätin zum Kaffee oder Thee eingeladen waren, der Doktor auf Berufswegen wandelte und Tante Riekchen eingenickt war. Dann huschte Julia hinauf, kniete ans Bettchen und spielte mit dem Jungen und ließ sich geduldig von den ungeschickten dicken Händchen im Haar zausen. Sie lehrte ihn die ersten kleinen Kunststückchen, sie lehrte ihn »Papa« sagen. Und dann preßte sie den kleinen Körper mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an sich.

»O du,« flüsterte sie, »für dich könnte ich sterben!«

»Lassen Sie mir den Buben ganz!« schalt dann die Alte, die am Fenster zu sitzen pflegte und für den Kleinen Strümpfchen strickte, »und bleiben Sie lieber am Leben; der kann so eine gute Tante gebrauchen bei der Mutter.«

Frau Doris vermochte aus ihrer Abneigung gegen Mutter und Großmutter durchaus kein Hehl zu machen.

Julia antwortete nie auf dergleichen Ausfälle, und beim leisesten verdächtigen Geräusch verschwand sie aus der traulichen Kinderstube.

Einmal konnte sie nicht mehr entwischen und flüchtete sich klopfenden Herzens hinter den Vorhang, der bei Frau Doris die Stelle eines Kleiderschrankes vertrat; und da hatte sie mit geschlossenen Augen und zusammengepreßten Lippen alle die Zärtlichkeiten mit angehört, die der Vater seinem Liebling spendete. Wie klang seine Stimme so weich! Julia kannte diesen Tonfall, so hatte er vor langer Zeit auch zu ihr gesprochen! Und sie hatte gemeint, sie könne das nicht hören, sie müsse aufschreien vor Schmerz, wenn er nicht einhalte. – Gottlob, er ward abgerufen, und sie konnte entfliehen. – –

Plötzlich fuhr Julia aus ihren Gedanken empor – die Uhr im Nebenzimmer hatte die Stunde geschlagen, zu der sie ihre Besuche bei Frau Doris zu machen pflegte. Rasch erhob sie sich und huschte droben in das Kinderzimmer, aber Wärterin und Kind schliefen, die Alte auf dem Stuhle und der Kleine in der Wiege. Julia kniete vor dem Bettchen nieder und sah sich satt an dem fremden Glück. Auf einmal fuhr sie in die Höhe und suchte mit angstvollem Gesicht den Ausgang zu erreichen, aber diesmal gelang ihr die Flucht nicht. Der Doktor stand vor ihr und betrachtete sie mit erstaunten Augen.

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»Du hier?« fragte er. Und er dachte an die Aeußerung seiner Frau, daß Julia das Kind hasse.

»Verzeih!« sagte sie trotzig und wollte an ihm vorüber.

»Warte einen Augenblick!« sagte er ruhig, »ich suchte dich drunten – es ist eine Depesche vom Frieder da. Man hat ihn auf seinen Wunsch an Bord eines unsrer Kriegsschiffe gebracht, das nächstdem nach Deutschland zurückgeht. Das ist der lakonische Inhalt des Telegramms, das ich durch Vermittlung des Berliner Auswärtigen Amtes erhielt, Ueber sein Befinden ist nichts gesagt, aber da man den Transport gewagt hat, muß Hoffnung auf Genesung sein. – Er kommt also!«

Julia schoß eine Flut von Gedanken durch den Kopf. »Hierher?« stammelte sie.

»Wohin denn sonst? Er hat ja bei uns sein Heim!«

»Er soll aber nicht kommen!« sagte sie angstvoll.

»Wie?« fragte der Doktor, sich aus der gebückten Stellung aufrichtend. Er hatte das schlummernde Kind betrachtet.

»Nichts!« antwortete sie und ging hinaus.

Julia fand in dieser Nacht keinen Schlaf, sie sah immer wieder zwei jugendliche Gestalten, wie sie einander gegenüber im Nachen saßen und sich anschauten mit Liebesblicken – Frieder und Therese. Konnten sie, die sich so angesehen hatten, jemals einander vergessen?

Mit schmerzendem Kopfe stand sie wieder auf. »Er darf nicht kommen, er darf nicht!« sagte sie.

Und dann kam der alte Trotz. »Was geht's mich an!«

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»Und kurz und gut, liebe Schwägerin, der verwundete Weltfahrer wird bei mir wohnen,« sagte Herr Krautner, der längst wieder mit seiner Tochter aus Ostende heimgekehrt war, und dabei stieß er nachdrücklich mit dem Stock auf die Diele. »Hier in diesem Hause ist einfach kein Platz, und bei mir sind zwölf Zimmer unbewohnt. Sorgen Sie sich nicht, es wird ihm bei mir nichts abgehen, und sehen können Sie den Herrn Pflegesohn, so oft Sie wollen; die Thür in der Gartenmauer, die ich für meine Kinder hab' machen lassen, steht auch ihm offen. Also topp! Der Herr Premierlieutenant Adami nimmt sein Quartier bei mir!«

Tante Riekchen versuchte noch einige Einwendungen; es gehe ganz gut hier – er komme doch als Sohn zu seiner Mutter, sagte sie kläglich. Und die Julia könnte ins Dachstübchen hinauf – »ich würde ihr ein kleines Oefchen setzen lassen –«

»Vielleicht könnten Sie für das Mädchen auch den Kaninchenstall einrichten lassen,« rief der alte Herr böse. »Nichts da, der Lieutenant kommt zu mir – gelt, Töchterchen,« wandte er sich an das junge Mädchen, »so ist's am besten?«

»Ja!« sagte Julia und hob die Augen von ihrer Stickerei. »Ja! Jedenfalls gehe ich unter keinen Umständen in die kalte Dachstube.«

Tante Riekchen sah verwundert auf. Noch nie hatte das Mädchen sich gegen eine Anordnung, die ihre eigene Person betraf, aufgelehnt. Diese Unbescheidenheit rumorte der alten Dame in allen Nerven. »Nun, früher konnte man dich nie aus dieser Stube heraus bekommen,« bemerkte sie, »und jetzt willst du nicht hinein?«

»Nein, Tante!«

»Warum nicht?«

Sie zuckte die Schultern. »Weil mich friert da oben,« erwiderte sie kurz.

»Na, es ist abgemacht, der Lieutenant wohnt bei mir,« begann nochmals der alte Herr – dann eine Verbeugung und er ging.

Die Zurückbleibenden sprachen nicht miteinander. Fräulein Riekchen weinte leise; Julia bemerkte es nicht. Sie sah nur dann und wann einmal von ihrer Arbeit auf in das Flockengestöber des Dezemberschnees.

»Du wirst ihn doch vom Bahnhof abholen,« begann endlich Tante Riekchen, »und ihm schonend mitteilen, daß im Hause seiner Pflegemutter kein Platz für ihn ist?«

»Ja!«

»Du hast dir so einen barschen Ton angewöhnt, Julia; man hat Angst, dich um etwas zu bitten,« klagte das alte Fräulein.

»O,« antwortete das Mädchen, »war ich früher anders?«

»Alle im Hause klagen,« fuhr Taute Riekchen fort. »Schrecklich ungefällig ist es doch von dir gewesen, daß du bei der Tanzgesellschaft oben nicht ein wenig helfen wolltest!«

»Ich verstehe ja dergleichen nicht – und dann … Therese kann mich nicht um sich leiden.«

In diesem Augenblick klopfte es, und Therese trat ein. Sie sei beim Weihnachtsmann gewesen, sagte sie lachend, und habe etwas mitgebracht. Und unter allerhand Scherzreden wickelte sie zwei kleine Pakete aus und reichte jeder der beiden Damen eins.

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Es war noch nie geschehen, daß Therese eine Aufmerksamkeit für Julia gehabt hatte. Diese blickte zuerst überrascht auf die elegante Frau in dem kostbaren Sammetmantel, auf dessen braunen Falten noch die Schneeflocken lagen.

»Für mich?« fragte sie, und in den Mundwinkeln erschien flüchtig das gewohnte Zucken.

»Ja gewiß!« lautete die Bestätigung; und dann eilte Therese schon wieder hinaus.

»Nun, da bist du mal wieder auf der Stelle überführt von der Unrichtigkeit deiner Behauptung, daß Thereschen dich nicht leiden kann,« sagte Fräulein Riekchen.

»Dadurch?« Julia nahm sich nicht einmal die Mühe, das Päckchen zu öffnen. Sie strickte weiter, während die Kranke mit den steifen Fingern ihr Geschenk mühsam aus der knisternden Hülle wickelte und sich über das elegante Büchschen freute, das herausfiel und in dem irgend eine Näscherei sein mochte. Das Geschenk Julias lag am Abend noch ebenso da, als schon das Mädchen hinausgewandert war, um den heimkehrenden Bruder am Bahnhof zu empfangen.

»Sie wird immer unleidlicher,« sagte die Rätin, als sie die Geschichte des unbeachteten Geschenks hörte. »Wenn du sie nicht so nötig brauchtest, Riekchen, du hättest sie längst gehen lassen müssen – aber das ist's ja eben!«

»Daß sie so lieblos wurde, ist mein größter Kummer,« gab Fräulein Riekchen zu, und dabei zitterte ihr altes Herz vor Freude, den geliebten Buben bald ans Herz schließen zu dürfen.

»Eine Mutter kann ihr eigenes Kind nicht ungeduldiger erwarten,« murmelte die Rätin und ging in ihre Stube zurück, um nicht die »Komödie« des Wiedersehens mit zu erleben.

Eine halbe Stunde später saß Tante Riekchen zwischen ihren beiden Pflegekindern beim Abendessen. Die alte Dame konnte vor Freude nichts genießen, sie betrachtete nur immer und immer wieder den schönen stattlichen Mann, dessen gebräuntem Antlitz man kaum mehr eine Spur des Leidens ansah, obgleich er noch immer den Arm in der Binde trug.

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Er gab freundlich und geduldig Antwort auf all die verwirrten Fragen der gealterten Frau, er erzählte zum viertenmal in dieser Stunde die Geschichte seiner Verwundung, er lobte die Karpfen und den Rheinwein und sagte der Schwester, er finde, sie sei schön geworden, groß und echt römisch. Er fand es » all right«, bei dem »alten Knopf« drüben zu wohnen, nachdem er sich besonnen, daß ja droben – richtig, droben – Fritz hause mit seiner jungen Frau, und hörte mit höflicher Teilnahme die begeisterte Schilderung über den »Buben« an, welche die Tante in ihrer Herzensfreude vortrug.

»Und überhaupt, Frieder,« schloß sie, »da droben wohnen glückliche Leute; so wie die zwei zusammenpassen, paßt selten ein Paar, und heute, wo sie fast drei Jahre verheiratet sind, schauen sie einander noch genau so verliebt an wie am Verlobungstag.«

Er nahm sich noch einmal Fisch. »Das freut mich herzlich,« meinte er trocken. Julia fand nicht den Mut, ihn dabei anzublicken.

»Morgen wirst du wohl droben deine Aufwartung machen,« fuhr Tante Riekchen fort, »und auch bei Tante Minna drüben? Da kannst du es selbst sehen, wie Junges erblüht und Altes abstirbt. Ja, mein Bub', viel später hättest du nicht kommen dürfen, wolltest du mich überhaupt noch finden.« Und der alten Dame rannen die Thränen über die Wangen, die sie nicht zu trocknen vermochte mit den armen hilflosen Händen.

»Du mußt zu Bett gehen,« sagte endlich Julia leise.

»Ach, nicht so rasch, ich kann doch nicht schlafen,« bat die Tante. »Hol Aepfel und Nüsse, Julia, es ist dann wieder wie damals, als ihr Kinder waret.«

Gehorsam trug Julia das Verlangte herzu, und Frieder begann wieder zu plaudern. Dann verstummte er jäh, und eine dunkle Röte überzog sein Gesicht. Droben wurde Klavier gespielt.

»Es ist Thereschen,« sagte die alte Dame stolz, »es gilt dem Bub'.«

Julia hing mit angstvollen Blicken an seinen Zügen; von droben klangen schwermütige Melodien, es war eine Variation über das Lied »Ein Wanderbursch mit dem Stab in der Hand«.

»Es ist ein Lieblingsstück von Fritz,« bemerkte Julia laut und setzte geräuschvoll die Teller zusammen. Und die alte glückselige Frau sprach leise die Worte der Dichtung nach, während sie die Hand des Mannes streichelte:

»So sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
Das Mutteraug' hat ihn doch gleich erkannt.«

»Aber anders siehst du aus, als wie du fortgingst, Frieder; hübscher bist du geworden, so hübsch fast, wie dein Vater war.«

Er erhob sich plötzlich, denn von droben ertönte jetzt der Faustwalzer.

»Nun schlaft wohl,« sagte er, »wir sind alle müde. Auch bin ich noch nicht wieder so ganz auf der Höhe; morgen erzähle ich mehr. Hilf mir den Mantel umlegen, Julia, und dann, Gute Nacht! Den Weg weiß ich ja noch.«

»Nein, ich komme mit,« wehrte sie. Und zusammen schritten sie durch die verschneiten Gartenwege.

»Also eine Thür ist jetzt hier,« murmelte er. Und als wollte er gewaltsam alle Erinnerungen abschütteln, sprach er laut: »Die alte Frau ist recht hinfällig geworden, – Ach, grüß Gott – Herr Krautner! Freut mich, daß Sie mir gastlich Ihr Haus öffnen; wie ist's Ihnen gegangen?«

Julia, die bei der Begrüßung der beiden sofort umgekehrt war, hörte noch, wie der alte Herr sagte: »Willkommen, Herr Lieutenant! Nun, wie geht's, wie steht's? Haben Sie sich auch, wie ich Ihnen beim Abschied empfahl, ein paar solide Träger in Ihren lustigen Kopf eingezogen? Ja? Na, das soll mich freuen. Nun treten Sie ein und lassen Sie es sich wohlgehen bei mir!«

Als sie zurückkam, war die Musik droben verstummt. Sie traf im Flur den Doktor, der eben aus seinem Studierzimmer trat.

»Sag mal, Unnütz,« fragte er, »hab' ich mich geirrt oder spielte Therese wirklich?«

»Ja, sie spielte.«

»Wunderlich!« murmelte er. Dann wandte er sich noch einmal um. »Ist dein Bruder glücklich eingetroffen?«

»Ja!« erwiderte sie kurz und verschwand.

Oben im Boudoir fand der Doktor seine Frau aufgeregt hin und her gehend.

»Es ist gut, daß du kommst,« sagte sie, »ich habe so ein Angstgefühl, das muß wohl der Wind machen.«

»O du kleine Weisheit!« neckte er. »Draußen rührt sich kein Lüftchen; es schneit nur in großen dicken Flocken, damit du zu Weihnachten Schlitten fahren kannst. Uebrigens, hast du etwas gemerkt von dem Afrikaner?«

»Ich? Nein – was habe ich mit ihm zu thun?« erwiderte sie hastig.

»Nun, sei nur nicht böse, es liegt doch keine Beleidigung in meiner Frage, Schatz!«

»So hab' ich's auch nicht gemeint.«

»Na also! Aber es freut mich, daß du wieder einmal Klavier gespielt hast, liebes Herz.«

Sie antwortete nicht.

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