Moritz Heimann
Dr. Wislizenus
Moritz Heimann

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5

Er saß eine Viertelstunde in seinem Sessel, ohne sich zu rühren, und er bedurfte der äußersten Anstrengung, um sich zu erheben und an die Arbeit zu gehen, die ihm bevorstand. Seine Tat erregte ihm aller paar Minuten ein augenblickskurzes Erstarren; aber nur weil sie so vollkommen unwiderruflich war. Nur weil es ihm unverständlich war, war es ihm schauderhaft zu denken, daß, ein paar Stunden in seinem Leben zurückgerechnet, ein Motiv von Flaumfederleichtigkeit genügt hätte, etwas zu verhindern, worein keine Macht der Welt jetzt noch eine Änderung bringen konnte. Vor dieser Tatsache wurde sein Impuls zur Tat ihm noch geringer, als er ohnehin gewesen war. Sobald er aber wieder diesem Impuls nachdachte, korrigierte er seine ganze Gedankenkette, indem er, statt ein paar Stunden aus seinem Leben, jetzt ein paar Stunden im Leben überhaupt zurückrechnete; und nicht etwa nur im Leben seines Freundes, des Dichters, oder des toten Vagabunden. Denn nun sah er den Freund vom Wagen steigen, sah die vier Beine und den Leib des Pferdes im Nebellicht sich riesenhaft davonbewegen, und wußte nicht, wo er das Messer hätte einsetzen müssen, um das Stück dieser wenigen Stunden aus der Welt herauszuschneiden. Und unter der Verschnürung dieses Zwanges vermochte er nun auch den toten Vagabunden nicht so von allem Zusammenhange der Menschen loszulösen, daß ihn ein Zufall hier auf den Hof geblasen hätte. War es kein Zufall, so war es das Schicksal, – und plötzlich schien es dem verstrickt sinnenden Manne etwas tief und großartig Erregendes zu sein, sich vorzustellen, wie dem bärtigen Straßenläufer eine Parze den Faden zugesponnen habe, von der Wiege, vielleicht auf einem Weichselfloß, bis zu diesem abseitigen Hofe einer märkischen Kiefernebene. Da war einer jener Augenblicke der Erstarrung, und wie mit einem lautlosen kugelförmigen Brausen fühlte Wislizenus sein Haus von allen andern menschlichen Häusern abseits in einer Einöde liegen, wie kaum einer der Kontinente sie noch bergen mochte; der Vagabund aber wuchs ihm in diesem Zustand, der eine schwache, wankende Ähnlichkeit mit dem Alpdrücken seiner Kindheit hatte, zu etwas so irrsinnig Großem, als ob sein breiter Bart den ganzen Hof füllte.

Dennoch war in all diesem keine Spur von Angst. Die vollkommene Sicherheit, die Wislizenus wußte, schützte ihn vor jeder inneren Hast, sie glich etwa dem Zustande, wenn er am Morgen eine Belästigung durch einen zu schreibenden Brief fühlte und dann beschloß, die Arbeit bis zum nächsten Tage zu schieben, wo ihm dann der befreite Tag besonders lang und heiter vorkam.

Er horchte zur Treppe hinauf, und als ob ihn das versichert hätte, daß der Dichter schliefe, richtete er sich besonnen auf sein Geschäft ein. Er ging in die Küche, die neben dem Hausflur lag und ein Fenster nach Stall und Garten hin hatte, und schloß vorsichtig die Läden fester. Dann öffnete er, nachdem er seine elektrische Taschenlampe zu sich gesteckt hatte, die Haustür ohne Geräusch und ging auf den Hof. Die Nebelschicht war gewaltig in die Höhe gewachsen, die Sterne waren verschwunden, und eine zarte, zähe Feuchtigkeit schlug sich nach allen Seiten hin nieder. Er näherte sich, die Füße über den Erdboden schiebend, der Stelle, wo er den Toten vermutete, blieb nach ungefährer Schätzung stehen und ließ jetzt erst den scharfen Stich seiner Taschenlampe vor sich im Dunkel suchen. Sobald er gefunden hatte, was er suchte, ließ er den dünnen Stich des Lichtes auf dem dunklen Körper mehrmals auf und ab zucken, und zu seiner, ihn wunderte selbst wie ungeheuern Erleichterung sah er den Toten auf dem Rücken, mit dem Kopf zum innern Teil des Hofes nach dem Stalle zu liegen. Er prägte sich die Lage des Körpers genau ein, stellte das Licht seiner Laterne ab und steckte sie in die Tasche. Dann schritt er zum Stalle, die Schritte zählend, es waren sechzehn, sperrte die Stalltür auf und ging wieder die sechzehn Schritte zurück. Er hatte sie aber in der Sorgfalt seines Zählens etwas kürzer genommen als vorhin, und als er sich bückte, faßten seine Hände in das kalte, feuchte Gesicht des Toten. Einen Bruchteil einer Sekunde zitterte sein Bewußtsein so genau im Gleichgewicht, daß es um ein Haar in ein fassungsloses Entsetzen hätte umschlagen können. Aber er hielt sich und nahm mit voller Kraft, wobei nur eine Hitzewelle über seinen Körper ihm zeigte, wie kalt er eben gewesen war, den Toten über den Arm, zog ihn zu seinem Leibe empor und schleppte ihn rückwärts in den Stall. Hier ließ er ihn sachte nieder, legte seine wieder angezündete Taschenlaterne auf den Holzklotz und sah sich genau um. Der Stall enthielt nichts als sauber aufgeschichtetes buchenes Brennholz, ein paar alte, zum Zerschlagen hineingestellte Kisten, Axt und Säge und anderes Handwerkszeug, wie es in einem gut gehaltenen Hause gebraucht wird. Er bettete den Leichnam an der dunkleren Wand des Stalles und stellte die Kisten davor. Dann nahm er einen Arm voll der Buchenscheite, soviel ungefähr am nächsten Morgen zum Heizen des Küchenherdes und eines Ofens nötig schien, und wollte den Stall verlassen; aber zwei-, drei-, viermal schien es ihm an Holz zu wenig, und er packte sich jedesmal noch einen Griff davon auf den Arm. Und so, eine lächerliche Last von Holz in der Beuge des linken Arms an sich pressend, und ein paar Stücke in der rechten Hand neben sich schleppend, schlich er sich hinaus und in die Küche, wobei er die Tür mit dem Ellenbogen herunterdrücken mußte, und hob seine Last in den Kasten, in welchem, wie er mit Befriedigung feststellte, noch Holz war, so daß die Magd am nächsten Morgen nicht notwendigerweise die ihr abgenommene Arbeit bemerken mußte. Dann ging er sachte zurück, schloß die Stalltür und steckte den Schlüssel zu sich. Und mehrmals ging er vom Stall gemessen sechzehn Schritte hin und wieder, mit den Füßen breit über den weichen Erdboden wischend. Der Nebel brodelte in dem schwachen Licht vom Flur dick und troff wie Regen. Wislizenus war höchlichst damit zufrieden und sagte sich, kaltmütig vor lauter Erschöpfung: gäbe es einen Verdacht, so fände der Dümmste soviel Spuren wie nötig. Es gibt aber keinen Verdacht, und so verraten auch die deutlichsten Spuren nichts. Eben, während er diesen Gedanken hatte, trat sein Fuß einen harten Gegenstand in den Sand, er hob ihn auf, es war ein knotenreicher Stock aus Wacholder ohne Krücke. Das Hauptindizium, dachte er, und nahm den Stock ins Haus mit. Er stellte ihn in eine Ecke des Hausflurs, löschte die kleine Lampe und ging in sein Zimmer nach oben, zu schlafen.

Wirklich verfiel er, kaum daß er sich im Bette ausgestreckt hatte, in Schlummer; und als er aufwachte, war er sogleich so überwach und übermunter, daß er glaubte, es sei schon Morgen und Zeit, der Magd das Haus aufzuschließen, wie er täglich zu tun hatte. Er machte Licht, es war halb drei Uhr. Rechnete er nach, so konnte er nicht länger als anderthalb Stunden geschlafen haben. Er löschte das Licht wieder und sah so angestrengt in das überströmende Dunkel des Zimmers, als ob er beobachtet würde. Er sah sich mit einer Last von an der Schnittfläche ziegelroten Buchenscheiten aus dem Holzstall über den Hof gehen, im vollständigen Dunkel der Nacht. Wie konnte er sich sehen, wenn es doch dunkel war? und doch sah er so bestimmt, daß er die scharfe Keilform der harten Buchenstücke so genau wie ihre Farbe bemerkte.

Es fiel ihm ein, daß in den Erzählungen russischer Dichter die Mörder immer in einen so tiefen Schlaf, wie der seinige gewesen war, verfielen, und immer, wie er, mit plötzlicher Überwachheit daraus aufjagten. Aber was sie auftrieb, war immer das Gewissen, die beginnende Neugeburt ihrer Menschlichkeit. Er jedoch, Dr. Wislizenus, lag da, hörte ein leises Graben und Schaben des Wurms im Holz, hörte von den Treppenstufen die Geräusche, die unschuldigen, die doch nichts weiter waren als ein über ein paar hundert Jahre hingezogenes Erdbebenkrachen des versinkenden Hauses, all das leise Knacken und winzige Splittern, das vom Quillen der Feuchtigkeit, vom Nachzittern der Tritte, von der bloßen Schwere der Lasten stammte, und wußte nichts vom Gewissen – so wie er nichts vom Strich des Horizonts mit dem Mond darüber wußte, von Wald, Wasser und Luft nichts wußte; und sogleich wies er es mit Geisteskraft triumphierend zurück, daß in dieser Form, in diesem Vergleich das Gewissen sich einschleichen könnte. Es schien ihm sicher, daß das Gewissen nur aus der Furcht vor den Folgen der Tat entstünde. In Salas y Gomez gäbe es kein Gewissen, und ich bin in Salas y Gomez. Salas y Gomez raget aus den Fluten – zu denken die Nacht des Weltmeers, die eine unbewohnte Insel umfängt! Wenn ich jetzt schliefe, würden auch nur Träume dieses Salas y Gomez hier bevölkern, ungehört würde es im Gebälk ticken! Könnte sein, daß ich eine unsterbliche Seele habe, die einmal Rechenschaft ablegen muß. Gut, so werde ich bis dahin warten. Ja, wenn die Wahrscheinlichkeit davon wie tausend zu eins wäre, so würde ich mich um einen Vorteil betrügen, wenn ich auch nur eine Stunde früher als nötig Qualen wegen einer Tat erleiden wollte. Das wäre so sinnlos, wie es ehemals sinnlos war, daß ich über die Tötung eines Käfers Qual empfand.

Während Wislizenus diesen und ähnlichen Gedanken nachging, konnte er nicht verhindern, daß er, ohne jeden Zusammenhang, sich selbst wieder mit dem Arm voll Holz aus dem Stall schreiten sah. Er schüttelte seinen Kopf gegen das Bild wie gegen Kopfschmerzen, aber es blieb, ging und kam wieder, unabhängig von seinem Willen. Wie lächerlich dieser Magddienst an ihm! Das stumme, aufdringliche Bild flüsterte ihm etwas in die Seele: etwas von der ungeheuern, nie zu fassenden Sinnlosigkeit und Nutzlosigkeit seiner Tat.

Wislizenus richtete sich auf. Das Bewußtsein von der Sinnlosigkeit der Tat fing an ihn zu quälen und zu zerfleischen. Er erinnerte sich, daß er an seinem Freunde, dem Dichter, etwas hatte strafen wollen mit seiner Tat. Aber in seinen überheblichen Gedanken über den Dichter, über die Dichtung, über das tote, affektierte Gerede des Verses gewahrte er jetzt seine eigene, unfaßbar große Lebensschwäche.

Wen der Schein und das Gleichnis, der Selbstbetrug des Weisen und der kindliche Hochmut des Dichters bis zur Ratlosigkeit, bis zum Gelüst, sie zu verhöhnen und zu strafen, empören kann, der steht unsicher in seinen Schuhen, und daß er immer recht hat, ist nur sein lügenvollstes Anrecht, nichts Besseres. Wislizenus hatte die Stadt und ein in Jahrzehnten aufgebautes Leben verlassen, weil er glaubte, die Wirklichkeit so hüllenlos entdeckt zu haben, daß jede Form menschlicher Gemeinsamkeit davor zu einer Nichtigkeit wurde. Ein Mensch, der seine Notdurft verrichtet, erregt das Lachen oder den Ekel – denk ihn nicht obenhin, denk ihn wirklich, und er erregt weder Lachen noch Ekel. Eine nackte Frau im Bett, von ungefähr vorgestellt, macht wollüstig, aber stell' sie dir nicht von ungefähr vor, stell' sie dir wirklich, ja in der Wollust selbst vor, und dir macht sie keine. Ein Geschwür, eine Wunde, eine Verkrüppelung so schaudervoll, daß sie nicht das Mitleid, sondern die Mordlust wecken, sie sind nicht schaudervoll, wenn du sie wirklich betrachtest, Linie an Linie, Farbe neben Farbe.

Aber Wislizenus ließ diese Gedanken nur wie Hunde an sich emporspringen, wehrte ihnen nur mit den Händen und schenkte ihnen keinen Blick; sein Blick suchte über die Meute hinweg den Jäger. Und plötzlich fühlte er einen schweren Schlag: Es ist! Die Welt ist! In diesem Augenblick ist sie, zum erstenmal. Der ganze Verlauf bis hierher hat den Sinn, diesen Augenblick geschaffen zu haben. Bis hierher war alles Traum, Schauspiel und Wahn – jetzt aber ist die Welt! Sie ist – und nun erst ist sie auf ewig unverständlich.

Weiter versuchte er in die Nacht nicht vorzudringen, weiter wäre er freilich auch nicht gekommen. Er ließ sich in das Bett zurückfallen, stopfte sich die Kissen unter jede Höhlung des Körpers und verbrachte, ohne sich zu regen und ohne zu schlafen, die langsamen Stunden; bis endlich die ersten Sperlinge schlugen und das Haus und der Stall und der Garten wieder aus der Nacht in das Licht emporgehoben wurden.


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