Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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XXIX

Als ich von Abigail und ihrem Grabe Abschied nahm, war ich überwältigt vom Leid der Liebe.

Auf meinen Fahrten durch die Welt blickte ich stets aufmerksamer in das Spiel der menschlichen Leidenschaften, ihrer Verirrungen, der Schuld und ihrer Schmerzen. War, was Big an Duglore verbrochen hatte, so unerhört? Nein, nur ein Alltagstück des Lebens, das sich unter tausendmal tausend Formen die Weite des Erdballs dahin wieder ereignet. Wie viele entledigen sich, wenn sie nur den Schein der äußeren Ehre behalten, leicht und spielend der schweren Verschuldungen ihres Blutes und haben keinen Blick für das Opfer, das todwund am Wege hinter ihnen liegen bleibt! Abigail aber, die, von der Leidenschaft dunkler Tage verwirrt, den Maßstab der Lebenswerte verlor, die böse Tat beging und vor sich selber stürzte, marterte sich über ihrer Schuld in unsäglichen Qualen der Seele. So leidet nur ein vornehmes Weib um die glückbetrogene mißhandelte Schwester! Über dieser Erkenntnis fand ich die sanfte Versöhnung mit der Schuld ihres Lebens und mit ihrem frühen freiwilligen Tod.

Ich war mißtrauisch gegen mein heißes Naturell geworden, ich dachte, ich würde in meinem Leben kein Weib mehr berühren, war aber doch noch zu jung, um in der Fülle des Lebens den guten Vorsatz zu halten. Glück oder Unglück, ein Liebling der Frauen zu sein, blieb mir auch nach dem Tode meines Weibes treu. Woran es wohl lag? Der schön gebauten eleganten Männer, die sich in der großen Gesellschaft zu bewegen wußten und jedem eine passende Antwort hatten, gab es ja in den Großstadtzirkeln, in denen ich verkehrte, noch genug. Vielleicht trug mein Beruf die Schuld. Die Frauen sind empfänglich für das Außerordentliche; ihre Herzen stiegen dem Mut des Mannes zu, selbst wenn es nur ein physischer Mut ist. Wenn ich mich nicht um sie kümmerte, so kümmerten sie sich um mich: wenn sie mich sahen, erröteten oder erblaßten sie. Jede hatte für mich ein gütiges Lächeln, ein aufleuchtendes Augenpaar; jede schmeichelte mir, ich sei ein seltsam anziehender Mann, und die es mir nicht sagten, schrieben es mir in kleinen duftigen Briefen. »Adler!« begannen die Briefchen. Am liebsten glaubte ich jenen, die mir beichteten, nicht mein starker Wille, der Blitz meiner Augen, mein zurückhaltender Stolz habe sie zu mir gezogen, sondern die leise Träumerei, die sich um meine Stirne spinne, wenn ich mich unbeobachtet glaube. Darin liege die magnetische Kraft, welche die Blicke und die Wünsche der Frauen an mich fessele. Es ging auch eine Sage durch die Menschen, ich hätte ein wunderschönes Weib besessen, selber sprach ich nie darüber und ließ meine Vergangenheit im Dunkeln bleiben. Soviel ich an Frauenliebe aus vollen Kelchen trank, verlor ich mich nie. Ich baute mir Schranken um und um, dachte an Duglore und zog mir die kleine Augenblicksverwirrung einer ehrbaren Frau nie zu nutze, dachte an das Kind, das mir im fernen Alpental blühte, und habe Unschuld mit keinem Wort und keiner Gebärde beleidigt. Darüber bin ich jetzt froh.

Im stillen hoffte ich, unter den vielen Frauen eine zu finden, die so süß zu mir wäre wie Abigail, nein, die mit der Zärtlichkeit der Liebe die hohe Schwungkraft ihrer Seele verbände, denn Liebe ist ein armselig Ding, wenn sich über dem, was daran sinnlich ist, nicht die Geister küssen. Ich fand keine Abigail mehr; ich begann, den Frauen, die mich liebten, heftig und launisch zu begegnen, und es tat mir selber leid um die Enttäuschten. Das war die Übersättigung der Welt. Ich widmete mich während des Winters stillen Studien und geriet in den Bannkreis der Idee des lenkbaren Luftschiffes. Sie bewies mir die Begrenzung meiner Kraft. Nachdem ich einen Teil meines Vermögens daran geopfert hatte, ließ ich sie. Ich kam zur Einsicht, daß die Erfindung des lenkbaren Flugschiffes für die Menschheit eine kleine Angelegenheit ist gegen die ernste Frage: Wo liegt die größte Summe menschlicher innerer Vollendungs- und Glücksfähigkeit? Wie erreichen wir sie?

Das Leben ist eine scharfe Schule, und in der Luftschifferei erfuhr ich neben den leichtsinnigen Abenteuern, die ich jedesmal bereute, manche schwere Stunde! Es ist nicht leicht, Hans, wenn du mit einem Passagier hoch über die Wolken steigst, wenn der Passagier an der obersten Grenze der Lüfte ein Streichhölzchen entflammt und den Ballon zur Explosion bringen will, wenn du erkennst, daß du einen verbrecherischen Wahnsinnigen führst, wenn er über den mißlungenen Anschlag den Revolver zieht, du selber unbewaffnet bist und nun mit dem Mann im Korb auf Leben und Tod ringen mußt. Selbst wenn du ihn gefesselt zur Erde bringst und heil geblieben bist, bebt dir die Stunde im mutigen Herzen nach. Ich habe als Luftschiffer dem Tode stets ins Auge gesehen, aber das Opfer eines Irrsinnigen zu werden, hatte ich keine Lust. An dem Tag des unfreiwilligen Zweikampfes in hohen Lüften fing ich mich zu erinnern an, daß ich doch mehr aus Liebe zu Abigail und aus dem Bedürfnis, die Erinnerung an Duglore zu betäuben, denn aus innerer Berufung Luftschiffer geworden war. Überlegungen kamen, ob ein Bauer wie Hangsteiner, der ein Stück verwüsteter Erde der Kultur zurückgiebt, nicht einen würdigeren Lebenszweck erfülle, als der bewunderte Aeronaut; ein stilles Heimweh nach Bürgerlichkeit und Unbekanntsein überschlich mich und jener Gabriel Letzberger, der als einsamer Wetterwart auf dem Feuerstein saß, schien mir kein ganzer Narr zu sein.

Allmählich hatte ich nur noch ein halbes Ohr für die süßen Torheiten der Frauen, die um den »Kondor« und seinen Kapitän flirteten; dafür liebte ich es, in die neugierigen, warmen Augen der Kinder zu blicken, und das geschah nie ohne die emporquellende Sehnsucht, mein Kind fern in den Bergen zu sehen. Gleicht es mehr mir oder der herzgütigen Duglore? Lebt Wildblutglanz in seinen Augen? Kann ich ihm denn aus wallendem Vatergefühl nicht eine einzige Tat der Liebe erweisen? So träumte ich manchmal bei den Vorbereitungen der Aufstiege, an den Korb des »Kondors« gelehnt, mitten im Gewühl der Zuschauerschaft der fremden Städte.

Ich stand im sechsunddreißigsten Lebensjahr und spürte, wie die Weltfeuer in meiner Seele verglommen. Über Paris, wo ich den Winter verbracht hatte, segelten schon wieder die weißen Wolken des Vorfrühlings. Einem linden Zug des Heimwehs gehorchend, plante ich eine Tournee durch die Niederlande und die Städte am deutschen Rhein bis gegen das Hochland, in dem mein Jugendgedenken lag. Im Herbst wollte ich dann als fremder Wandersmann über die Scholle meiner Sehnsucht wandern, wie ein Schelm die Gelegenheit erspähen, mein Kind zu grüßen, und wenn ich ihm in die Augen geblickt, von fern vielleicht auch Duglore noch einmal gesehen hatte, sollte es keinen Luftschiffer Leo Quifort mehr geben. Da die Heimat um Duglores willen keinen Raum für mich hatte, wollte ich mich über das Meer zurück nach Marfil wenden, wo ein paar Menschen meiner noch freundlich gedachten, und mein weiteres Leben in einer bürgerlichen Stellung verbringen.

Das war aber alles noch im Erwägen, im Gären und Treiben. Da überraschte mich ein Brief aus St. Jakob. Einer jener Landsleute, die ich in Rom kennen gelernt hatte, erinnerte sich meiner. Im Namen des leitenden Ausschusses einer großen Gewerbeausstellung, die in St. Jakob vorbereitet wurde, fragte er mich an, unter welchen Bedingungen ich während des Sommers meinen Ballon als Fesselluftschiff auf dem Ausstellungsplatz würde steigen lassen. Freiluftschiffer sind keine Freunde des Fesselballons; ich fügte es meinem schönen »Kondor« nicht leicht zu, ihn an ein Tau zu legen; aber der Zug der Heimat war stärker als die Bedenken. Ich beschränkte die anderen Pläne, schloß mit St. Jakob den Vertrag, zog im Mai als Luftschiffer Leo Quifort aus Mexiko ins Vaterland und hatte Zeit genug, meine Einrichtungen gemächlich zu treffen.

Für das Volk ein Fremder, ließ ich mich doch mit einer Wonne bis zum Herzpochen vom Wesen und Leben des Heimatlandes umspielen. Dieses Wesen mag herb sein; ich empfand es wie ein lang entbehrtes, weiches, Lied aus fernen Jugendtagen. Was an mir Jost Wildi war, erwachte in strömender Seligkeit. Und doch war St. Jakob nicht meine eigentliche Heimat. Das war nur das Selmatter Tal! Ich stand die Stunden über an den Ufern des Sees, schaute über sein lichtes Blau nach dem Süden, grüßte mit Herz und Hand in wallendem Gefühl den Berg meiner Vorfahren, die freie Zinne des Feuersteins und hinter ihm die unendlich schönen lieben Berge mit den Kronen ewigen Schnees und dem überirdischen Licht der Gipfel. In der Brust erklang es mir von schmeichelnden Stimmen und heiligen Liedern. Am stärksten den dritten Abend vor der Eröffnung der Ausstellung beim Sonnenglühen der Berge. Stadt und See lagen schon in blauen Dämmerschatten, der Feuerstein aber lohte wie in Flammen. Aus der Glut der Felsen trat ein Punkt, der schimmerte mit! Das Observatorium! Da übernahm's mich wie den Schweizer zu Straßburg beim Alphornklang. Wozu den Herbst abwarten?

Nein, ich mußte vor der Eröffnung der Ausstellung auf den Feuerstein steigen. Morgen! Der Gedanke ergriff mich aufs heftigste. Vor sehnsüchtiger Wonne verbrachte ich die Nacht schlaflos und stand schon eine Stunde vor Abgang des Frühschiffes am perlmuttern erglänzenden See. Heimat, Heimat! Ich würde jetzt über den See fahren, nach Tuffwald gehen, dort spätes Frühstück halten, den Feuerstein erwandern, eine Stunde im Observatorium rasten, auf den Abend zum Einbruch der Dämmerung in Selmatt sein, heimlich in die lichterfüllten Fenster der Wohnung Hangsteiners spähen, den Feierabendfrieden der Familie, Gesicht und Augen meines Kindes in meine Seele prägen, und den frommen Nachtgesang Duglores und Gottlobes hören. Dann würde ich mit einem Segensgruß still scheiden, durch die Nacht bis nach Zweibrücken gehen, am Morgen den Zug besteigen und am folgenden Tag meine Arbeit auf der Ausstellung beginnen.

Der Morgen war unheimlich lind und warm. »Die Berge waren gestern abend zu schön,« unterhielten sich die Leute auf dem Dampfer, »das Wetter schlägt um«. Ja, das wußte ich als Luftschiffer auch. Ein Gewitterabend war aber gerade meinen Plänen in Selmatt günstig. Als Luftschiffer hatte ich schon anderes erfahren denn ein bißchen Blitz und Donnerwetter. Es lebte in mir nichts mehr als ein ungestümer Vorwärtsdrang. Am Abend, am Abend! pochte das Blut. Ich war von Tuffwald um die Mittagszeit schon über die Hälfte des Feuersteins, schon über die Bergwälder und die vom Vieh belebten Alpen hinangestiegen. Um die Felsen stockte die Lust, beklommen von der Schwüle sah ich mich nach dem Wetter um. Teufel, das wuchs wilder heran, als ich erwartet hatte. Die Berge standen wie bleiern in einem wilden, falschen Licht, im jähen Trieb nach der Heimat aber vergaß ich jede Vorsicht! Schon winkte die Schutzhütte des Observatoriums. Ich stieg.

»Sie kommen an einem äußerst gefährlichen Tag,« grüßte mich der überraschte Wetterwart Gabriel Letzberger. »In einer Stunde werden wir das furchtbarste Hochgewitter haben, das seit vielen Jahren in diesen Bergen erlebt worden ist. Die Instrumente schwanken wie Vögel in der Luft und stehen auf Erdbeben.« Der Wetterwart war im Gesicht entstellt, wie es die Blätter gemeldet hatten, aber ein kluger, gebildeter Mann, und als ich ihm gesagt hatte, daß ich der Luftschiffer Leo Quifort sei, unterhielten wir uns vortrefflich. »Nun, dann hat die Atmosphäre für Sie keine Geheimnisse mehr,« lächelte der Bescheidene, »ich habe immer gerne von Ihnen gelesen.« »Und ich von Ihnen,« erwiderte ich. »Was sagen Sie dazu, ich würde heute noch gern bis nach Selmatt hinuntersteigen?«

Ich ruhte vom Weg erschöpft, es war aber zur Unterhaltung bald keine Zeit mehr. Das Gewitter knäuelte sich erschreckend schnell, die Westwelt lag rabenschwarz, nur im fernen Osten war noch Helle. Das geängstigte Spiel der Instrumente fesselte unsere ganze Aufmerksamkeit. Die Elektrizität strömte durch das Observatorium, sie knisterte im Boden und auf dem Dach, wir spürten sie wie Ameisenkrabbeln über den Leib laufen, ich sah ihr Sprühfeuer an Letzbergers stark entwickelten Zähnen, die Apparate klapperten und schlugen Flammen. Erblassend fragte ich: »Wie sind die Blitzableiter?« »Gut,« erwiderte er ebenso schreckensbleich, »auf die Probe aber wie heute sind sie noch nie gestellt worden. Um Gottes willen, Herr Quifort, gehen Sie, wir sind in höchster Gefahr!«

In diesem Augenblick erfüllte sich das Observatorium mit einer tödlichen Helle von Licht. Der Blitz kugelte am Boden; ich hatte das Gefühl, als würden mir die Haut vom Rücken und die Finger aus der Hand gerissen, das Gesicht mit glühenden Zangen gesengt. Ich stand aber und verlor die Besinnung nicht. Nun war die Erscheinung vorüber und hatte nicht einmal die Wände des Observatoriums entzündet, Metallteile der Instrumente aber waren geschmolzen und ein erstickender Schwefelgeruch zurückgeblieben. Letzberger lag in die Knie gesunken. Als ich ihm zu Hilfe eilte, quoll aus einer ganz kleinen Brandwunde an der Schläfe ein Tropfen Blut. Er atmete noch, aber die Züge gingen schwächer. Die Sprache fand er nicht mehr; ich sah in brechende Augen.

Ich weiß nicht, wollte ich in Selmatt Anzeige von dem Unglücksfall machen, oder war es mir nur darum zu tun, dem von Blitzschlangen umzuckten, von Flammenscheinen eingehüllten, elektrisch geladenen Gipfel zu entrinnen. Ich ließ den Toten, ich eilte abwärts, geriet an den Felsen des Bösen Trittes in einen die Luft verfinsternden Schneesturm, trat, vom Schreck verwirrt und vom Blitz geblendet, fehl, glitschte auf dem Schnee, stürzte, hielt mich, ohne doch wieder sicheren Boden gewinnen zu können, mit den Händen an einer Felsenkante, mußte mich ins Ungewisse ergeben, rutschte, fiel, stürzte über die vom Unwetter umdunkelten Felsen und erwachte, nachdem ich Stunden in Ohnmacht gelegen hatte, unter einer leichten Hülle frischen Schnees. Ich war überall am Leib verletzt; vor allem merkte ich aus meinen Höllenschmerzen, daß mein linkes Bein zersplittert war. Bald besinnungslos, bald bei wachem Verstande verbrachte ich in Qualen die Nacht, in der sich das Gewitter verrollte. Allerlei lief mir durch die Gedanken. Ich, der den Stürmen des Himmels getrotzt, war gefallen am Alpenweg der Heimat, der sonst nicht gerade als gefährlich galt. Der Heimat! Aus mystischen Tiefen des Gemüts quoll der Gedanke: Das sind die rächenden Geister der Vorfahren, denen du in Mexiko abtrünnig geworden bist. Tröstlich aber empfand ich: Es ist der Boden Selmatts, auf dem du leidest! – Lebe wohl, Luftschifferei. Den Fesselballon in St. Jakob mag führen wer will!

Der Gebirgsmorgen dämmerte empor. Ich kroch, das wunde Bein schleppend, auf den Händen an den Weg. Ob mich jemand finden würde? Gewiß! Wenn Letzberger keine Depeschen und keine Antwort mehr gab, mußte doch der Talwart von Selmatt auf dem Feuerstein Nachforschung nach ihm halten. Schrecklich langsame Stunden gingen. Endlich, gegen elf Uhr, hörte ich einen Hund bellen; ich richtete mich mühselig etwas empor. Unter der Führung deines Vorgängers, lieber Hans, der jetzt Lehrer in Gauenburg ist, kamen vier Männer heran, fanden mich, und als ich ihnen ihre Ahnung bestätigen konnte, daß der Wetterwart vom Blitz erschlagen im Observatorium liege, schafften sie zunächst mich, den noch Halblebendigen, ins Tal. »Gleich nach Zweibrücken,« bat ich, denn Duglore wollte ich verschonen, mich erkennen zu müssen. Die Männer kümmerten sich aber kaum um meine törichte Bitte; sie sprachen untereinander: »Wir bringen ihn zu Hangsteiner; es besitzt sonst niemand ein Gastbett in Selmatt!«

Da ich von einer Ohnmacht in die andere fiel, mußte ich willenlos mit mir geschehen lassen, was geschah, und lag wohl auch in Ohnmacht, als man mich in das Haus meines Erbfeindes trug. Ich erinnere mich des Augenblickes nicht.

Mit Rührung aber gedenke ich, bis dereinst mein Auge im Dämmer des Sterbens blöde wird, an das milde, friedenreiche Frauenantlitz, das unter der Tür einer einfachen, freundlichen Holzkammer erschien, an die schlichte Bäuerin, die behutsam an mein Lager trat, sich über mich neigte und in einer etwas gezwungenen Schriftsprache fragte: »Herr, darf ich Ihnen ein wenig Brühe zuträufeln?« Da begann der Löffel in ihrer Hand zu zittern. Wie von einem Wunder erfaßt, schrie sie leise: »Um des Himmels willen, du bist es, Jost – mein Jost!« Sie erhob das erblaßte Antlitz und die großen dunkeln Augen, als suche sie ihren Gott.

Duglore erlebte meinetwegen noch einmal aufregende Tage. In blinder Furcht vor mir grollte und gröhlte Hangsteiner gegen meinen Aufenthalt in seinem Haus. Ich war aber zu krank, als daß er mich hätte daraus werfen können. Wir sahen uns erst, als ich schon wieder an zwei Stöcken umherhumpelte. Da hatte die Barmherzigkeit und Liebe Duglores schon alles, was dunkel zwischen uns hätte sein können, geklärt. Wie mißtrauisch Hangsteiner gegen die Menschen war, an sein Weib glaubte er wie an eine Heilige. Welcher Mann hätte nicht an Duglore geglaubt? Du hast sie ja noch gekannt, Hans, und warst noch Zeuge der liebevollen Achtung und Verehrung, die sie in Selmatt genoß. Als ich die Märtyrin meines Weltdranges unter so eigenartigen Umständen wiedersah, da wob sich um das mütterlich treuherzige Antlitz noch ein feiner Liebreiz, wie letzter Gruß der Jugend, durch ihr rostbraunes Haar aber wanden sich die ersten Silberfäden. Wehmütig warf ich mir vor: dieses Silber kommt von mir! In den warmen Augen aber lag ein Friede, der sie hinaushob über die Kämpfe der Welt. Gottesfriede! Dieser Friede war mir heilig. Ich empfand für Duglore eine ehrfürchtige, reine Liebe wie niemals für ein Weib, und die einfache Bäuerin hat mir manches aus der Tiefe ihres frommen, lauteren Gemüts geschenkt, was mir die Frauen der großen Welt nicht haben geben können, und wenn ich auf dunkle Irrgänge der Vergangenheit zu sprechen kam, erkannte ich in Duglores Antworten stets die welt- und todüberwindende Macht einer Weibesseele, in der von Jugend auf ein lebendiger Gottesglaube wirkt.

Schon in den ersten Tagen meines Schmerzenslagers hatte sie mir Gottlobe zugeführt, unser Kind! Das war nun ein verhalten feuriges, herbliebliches Lebensspiel mit dem Glanz des Wildblutes in den dunkeln Augen und jener wundersamen, ahnungstiefen Schönheit und Daseinsstärke, die nur über den Kindern der echtesten Liebe schweben. Was schüchtern, scheu und herb an unserer Alpenblume war, das löste sich über Nacht und Tag und Wochen in Schelmerei und in unbegrenzte Hingebung zu dem fremden, kranken Manne auf. Sie ließ ihr Augenpaar leuchten und sagte sehr ernst: »Ihr dürft nicht mehr fortgehen, Herr Quifort! Wolltet Ihr Selmatt wieder verlassen, so würde ich ein Seil über das Tal spannen. Dann könntet Ihr nicht hinübersteigen!« Bei ihrem süßen Geplauder und ihren vertrauenden Blicken vergaß ich meine grimmigen Schmerzen.

Hangsteiner aber geriet wegen der wachsenden Zuneigung des Kindes zu mir in Sorge und Eifersucht. Als ich schon wieder etwas gehen konnte, saß ich mit Duglore im Abendsonnenrot auf dem Bänkchen vor dem Hause und blickte in die anreifenden, kleinen Kornfelder der wieder erstandenen Heimat, in der nur noch das einsame hohe Grabkreuz an das untergegangene Dorf erinnerte. »Jost,« lächelte meine Freundin innig, »nun gib dir auf der Stätte unserer Jugend selber den Frieden!« Sie bat mich, daß ich, solange Hangsteiner lebe, keinen Zwiespalt in das Herz Gottlobes und keinen Unfrieden wegen des Kindes unter ihr Dach trage. Ich war Duglore heißen Dank schuldig; ihre Bitte war mir Gebot, ich legte das Gelübde des Schweigens in ihre Hand, und damit der Name Jost Wildi unter den wenigen Leuten, die noch darum wußten, keine Erinnerungen an unsere Jugendliebe weckte, blieb ich vor den Menschen des Gebirges Leo Quifort aus Mexiko.

In die Unrast der Welt hinaus mochte ich nicht mehr. Als sich niemand an die Stelle Gabriel Letzbergers, des erschlagenen ersten Wetterwarts, finden ließ, da stieg ich, Hinkebein, der zu anderem nicht mehr viel nütze war, mit der Zustimmung Duglores als Meteorologe auf den Berg der Väter. Ich tat es in wallender Dankbarkeit gegen die Güte Gottes, der mich die Versöhnung mit der Geliebten meiner Jugend hatte finden lassen, aus Herzensfreude an meinem lieblichen Kinde und aus Liebe zu dem Land, dessen Bürgerrecht ich leichtsinnig verscherzt hatte. Die Geister der Heimat zürnen mir wohl nicht mehr, auch du nicht, mein seliger Schulmeister Kaspar; meinem Volke aber bin ich der »Mexikaner«, der undurchdringlich Geheimnisvolle geblieben, und nun der Name Jost Wildi frei von jeder Pflicht noch einmal erklingen könnte, gelüstet es mich kaum mehr, den Schleier zu lüften. Der Name klänge wohl auch nicht mehr lange. Der Stich in der Brust! Meinem Hans hat Hangsteiner das Rätsel gelöst. Ich hoffe, daß auch du, Gottlobe, die Blätter meines Lebens lesen und mir dann verzeihen wirft, wie mir deine Mutter verziehen hat. Als reifes Weib sollst du sie lesen! Wenn ich von dir vorher nur noch das liebe Wort »Vater« hörte! –

Ich habe die Menschen der Tiefe ohne zu viel Kampf verlassen. Nach den Abenteuern und Stürmen des Lebens ist es etwas Reines und Erhabenes um die Einsamkeit. Nur einen Tag habe ich noch in schmerzlicher Bewegung verbracht. Das war, als ich meiner innigstgeliebten Duglore, die vor drei Jahren einer raschen Krankheit erlag, die letzte Ehre nicht geben konnte. Sie ist dennoch eine Selige geworden. Mir ist, das schmerzenreiche Duglörli sei den leichteren Pfad gegangen als meine blasse Abigail.

Darum will ich zu dir stehen, mein herzguter Kamerad, mein süßes Weib. Wie das Land der Ahnung beschaffen sein möge, das hinter den ernsten Pforten des Todes dämmert, ich stehe zu dir, liebe Abigail!

Das sind die Blätter meines Lebens! Amen – Amen – Amen.


Nein, noch ein letztes Blatt! Drei Tage sind vergangen. Unterdes ist das Dach über meinem Haupte ganz leck geworden, die Kälte gewachsen, das Holz auf die Neige geraten und hat sich zum Stich in der Brust ein heftiges Fieber gesellt. Hans telegraphierte mir, er würde mich am Samstag besuchen und bis zum Sonntagabend bei mir bleiben, die Schneeverhältnisse seien seinem Plane günstig. Da habe ich ihm als Antwort in bitterer Not bekannt, wie es um mich steht – und kapituliert. Hans wird heute mit einigen Männern heransteigen und mich zu Tale bringen. Ich war stets bereit, wie mein Vorgänger Gabriel Letzberger auf dem Posten zu sterben. Würdiger wär's, aber ehe ich die Augen schließe, möchte ich doch noch einmal meinem Kinde, meiner Gottlobe, in die ihrigen blicken. Schlägt mein letztes Stündlein, sollen Hans und sie mir die Lider schließen. Ihr steigt mit mir zu Tal, meine Tiere, ihr treuen Gefährten der einsamen Stunden, selbst du, meine Bergmaus, meine »Mi«. In meinem Testament seid ihr nicht vergessen. Ich habe vor dem Abschied meine sämtlichen Angelegenheiten geordnet, das Observatorium so gut als möglich in Stand gestellt, die langgehenden Uhrwerke der selbstaufschreibenden Instrumente aufgezogen und die meteorologische Landesanstalt in St. Jakob durch Hans unterrichten lassen, daß mein Dienst versagt! –

Nur eine Kleinigkeit noch. Ich weiß nicht, wer das Observatorium, das seinen bisherigen Hüter vielleicht für immer verliert, nach mir zunächst betritt. Da will ich kein Ärgernis hinterlassen und den Spruch eines altpersischen Weisen noch von der Wand oberhalb meines Bettes entfernen, ein Wort, das mich oft getröstet hat, ein junges Herz aber kränken könnte:

»Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen.
Sei nicht in Leid darüber, – es ist nichts;
Und hast du einer Welt Besitz gewonnen.
Sei nicht erfreut darüber, – es ist nichts.
Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen:
Geh an der Welt vorüber, – es ist nichts!«

Das ist der Spruch.

Das Leben ist gewiß nicht viel mehr als eine Fahrt mit dem »Saturn«. Ich danke dir aber, liebe Mutter, daß du es mir gegeben hast, mit ihm die Lust und das Leid der Liebe. Wenn einmal das Weltall untergeht, dann wird durch den leeren Raum doch noch eine Sage zittern: Es war einmal ein Wunder – das Weib! Des Weibes Geheimnisvollstes war die Liebe! Im Guten und im Bösen war sie das höchste Rätsel auf Erden und im Sternenraum!

Hans kommt! Ich freue mich unendlich auf Gottlobe, bis zu Tränen erschüttert aber scheide ich von dir, mein Observatorium, mein Feuerstein!

Jost Wildi, der Wetterwart.


Zu den Lebensblättern des Wetterwarts hat Hans Stünzi noch ein Blatt gefügt:

Wir haben den Todkranken geholt! Gottlobe, die vorbereitet war, neigte sich über den Sterbenden. »Vater,« flüsterte sie ihm zu, »Vater!« Ein verwirrtes Lächeln spielte um seine Lippen; er schlug die stets noch schönen, dunklen Augen auf und schlang die Arme um Gottlobe. »Kind!« erwiderte er selig. »Vater!« wiederholte Gottlobe. Verklärten Blickes ist er geschieden. Ihr Alpenblumen von Selmatt, blüht, blüht auf seinem Grab! Das Herz Jost Wildis zürnte wohl einmal der Heimat, aber unendlich größer als sein Zorn war seine Liebe.


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