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XIV

Esther und der Arzt

Esther hieß die kleine Perle an das Wasser hinablaufen und mit den Muscheln und Seepflanzen spielen, bis sie mit jenem Kräutersammler gesprochen hätte. Das Kind flog davon wie ein Vogel, entblößte seine weißen Füße und plätscherte in das seichte Wasser der See. Hier und da blieb sie stehen und schaute neugierig in eine Pfütze, welche die Ebbe beim Zurückweichen als Spiegel zurückgelassen hatte, damit Perle ihr Gesicht darin sehen könne. Aus der Pfütze blickte sie mit dunkeln, schimmernden Locken um den Kopf und einem Elfenlächeln in den Augen das Bild eines kleinen Mädchens an, welches Perle, da sie keinen andern Spielkameraden besaß, einlud, ihre Hand zu nehmen und mit ihr um die Wette zu laufen. Aber das andere kleine Mädchen winkte ihr ebenfalls, wie um zu sagen: dies ist ein besserer Ort! Komm du in die Pfütze! und Perle schritt bis an das Knie hinein und erblickte auf dem Grunde ihre eigenen weißen Füße, während aus einer noch größeren Tiefe der Schimmer einer Art von fragmentarischem Lächeln kam, welches in dem bewegten Wasser hin und her schwamm.

Unterdessen hatte ihre Mutter den Arzt angesprochen.

»Ich möchte ein Wort mit Euch sprechen – ein Wort, das uns beide gleich stark angeht.«

»Ah, hat Frau Esther ein Wort für den alten Roger Chillingworth?« sagte er, indem er sich aus seiner gebückten Stellung erhob. »Von Herzen gern! Ich höre von allen Seiten Gutes über Euch! Erst gestern abend noch sprach eine Magistratsperson, ein weiser und frommer Mann, von Euern Angelegenheiten, Frau Esther, und flüsterte mir zu, daß von Euch die Rede im Rate gewesen sei. Es war besprochen worden, ob Euch der Scharlachbuchstabe mit Sicherheit für das Gemeinwohl von der Brust genommen werden könne oder nicht. Ich gebe Euch mein Wort, Esther, daß ich den Ehrenmann bat, es sofort geschehen zu lassen.«

»Es liegt nicht in dem Belieben des Magistrats, dieses Zeichen abzunehmen«, antwortete Esther ruhig. »Wenn ich verdiente, seiner entledigt zu werden, so würde es von selbst abfallen oder in einen Gegenstand von einer anderen Bedeutung umgewandelt werden.«

»Nun, wenn es Euch besser zusagt, so tragt den Buchstaben nur fort«, entgegnete er. »Ein Frauenzimmer muß bei der Ausschmückung seiner Person seinem eigenen Geschmacke folgen. Der Buchstabe ist hübsch gestickt und sieht auf Euerm Busen ganz vortrefflich aus.«

Während dieses Gespräches hatte Esther den alten Mann unverwandt betrachtet und war entsetzt und von Verwunderung ergriffen, als sie entdeckte, welche Veränderung die letzten sieben Jahre bei ihm hervorgebracht hatten. Es war weniger das, daß er älter geworden wäre, denn wiewohl die Spuren des vorrückenden Lebens sichtbar waren, trug er doch sein Alter gut und schien eine sehnige Kraft und Rüstigkeit zu bewahren. Aber der frühere Ausdruck eines ruhigen, stillen Forschers im Geiste, dessen sie sich bei ihm am besten erinnerte, war völlig verschwunden und durch einen unsteten, einbohrenden, fast wilden und doch sorgfältig verdeckten Blick ersetzt worden. Es schien sein Wunsch und seine Absicht zu sein, diesen Ausdruck durch ein Lächeln zu maskieren, aber dieses wurde ihm untreu und zuckte so höhnisch über sein Gesicht, daß der Beschauer eben dadurch seine Schwärze nur um so besser sehen konnte. Dann und wann kam aus seinen Augen eine rote Glut, als ob die Seele des alten Mannes brenne und dumpf in seiner Brust glimme, bis sie durch einen vorübergehenden Windstoß der Leidenschaft zu einer momentanen Flamme angefacht wurde. Diese drückte er aber so schnell wie möglich wieder zurück und bemühte sich auszusehen, als ob nichts Derartiges vorgefallen sei.

In einem Wort, der alte Roger Chillingworth war ein auffallender Beweis der Fähigkeit des Menschen, sich in einen Teufel zu verwandeln, wenn er nur eine anständige Zeitlang das Amt des Teufels übernehmen will. Der Unglückliche hatte diese Verwandlung dadurch bewirkt, daß er sich sieben Jahre lang beständig der Analyse eines gequälten Herzens gewidmet und darin seinen Genuß gefunden und die glühenden Qualen, welche er analysierte und an denen er sich weidete, mit neuem Brennstoff versehen hatte.

Der Scharlachbuchstabe brannte auf Esther Prynnes Brust. Vor sich hatte sie einen weiteren Verfall, für den die Verantwortung zu einem Teil auf sie zurückfiel.

»Was seht Ihr in meinem Gesicht«, fragte der Arzt, »daß Ihr es so ernstlich anschaut?«

»Etwas, worüber ich weinte, wenn es Tränen gäbe, die bitter genug dafür wären«, antwortete sie. »Aber lassen wir das! Ich möchte mit Euch über jenen Unglücklichen sprechen.«

»Was ist mit ihm?« rief Roger Chillingworth begierig, als liebe er den Gegenstand und freue sich der Gelegenheit, mit der einzigen Person, die er darüber ins Vertrauen ziehen konnte, davon zu sprechen. »Die Wahrheit zu gestehen, Frau Esther, meine Gedanken beschäftigen sich gerade jetzt ebenfalls mit dem Herrn. Sprecht also ohne Rückhalt, ich werde Euch antworten.«

»Das letzte Mal, als wir zusammen redeten«, sagte Esther, »es sind jetzt sieben Jahre her – beliebte es Euch, mir ein Versprechen der Schweigsamkeit über das früher zwischen uns bestandene Verhältnis abzupressen. Da das Leben und der gute Ruf jenes Mannes in Euern Händen waren, schien ich keine andere Wahl zu haben, als Euerm Verlangen gemäß zu schweigen. Ich wurde jedoch von Ahndungen bedrückt, als ich mich so verbindlich machte, denn nachdem ich alle Pflichten gegen andere menschliche Wesen von mir geworfen, blieb immer noch eine Pflicht gegen ihn zurück, und etwas flüsterte mir zu, daß ich diese Pflicht verrate, indem ich mich verbindlich machte, Euer Geheimnis zu bewahren. Seit jenem Tage steht ihm kein Mensch so nahe wie Ihr. Ihr folgt ihm auf Schritt und Tritt. Ihr seid im Schlafe und im Wachen an seiner Seite. Ihr durchforscht seine Gedanken. Ihr wühlt Euch in seine Brust und nagt an seinem Herzen. Ihr habt sein Leben in Euern Krallen und laßt ihn täglich einen neuen Tod sterben, und dennoch kennt er Euch nicht. Ich habe, indem ich dies zugab, gegen den einzigen Mann, dem ich noch treu zu sein vermochte, eine falsche Rolle gespielt.«

»Welche Wahl hattet Ihr?« fragte Roger Chillingworth. »Hätte ich mit meinem Finger auf den Mann gedeutet, so würde ich ihn von seiner Kanzel in einen Kerker geschleudert und von dort vielleicht sogar an den Galgen gebracht haben.«

»Das wäre besser gewesen«, sagte Esther Prynne.

»Was habe ich dem Manne Übels getan?« fragte Roger Chillingworth noch einmal. »Ich sage dir, Esther Prynne, daß der reichste Lohn, welchen je ein Arzt von einem Herrscher erhalten hat, nicht die Fürsorge hätte erkaufen können, die ich an jenen erbärmlichen Priester verschwendet habe. Ohne meine Hilfe würde sein Leben in den ersten zwei Jahren nach seinem und deinem Verbrechen in Qualen verglüht sein. Seinem Geiste mangelte die Kraft, welche den deinen, Esther, unter einer Bürde wie die deines Scharlachbuchstabens aufrechterhalten hat. Oh, ich könnte ein herrliches Geheimnis enthüllen! Aber lassen wir's. Was die Kunst tun kann, habe ich an ihm erschöpft. Daß er jetzt noch atmet und auf Erden umherschleicht, verdankt er nur mir!«

»Besser, er wäre schnell gestorben«, sagte Esther Prynne.

»Ja, Weib, du sprichst die Wahrheit!« rief der alte Roger Chillingworth, und das düstere Feuer seines Herzens loderte vor ihren Augen; »ja besser wäre er schnell gestorben! Noch nie hat ein Sterblicher gelitten wie dieser Mann, und immer vor den Augen seines schlimmsten Feindes! Er hat geahnt, er hat gefühlt, daß beständig ein Einfluß über ihm hing wie ein Fluch. Er wußte durch ein geistiges Gefühl – denn der Schöpfer hat nie einem Wesen ein reizbareres Empfindungsvermögen verliehen als ihm –, er wußte, daß keine freundliche Hand an den Fasern seines Herzens zog und daß ein Auge, das nur Böses suchte und es fand, aufmerksam in sein Inneres blickte. Aber er wußte nicht, daß das Auge und die Hand die meinen waren! Mit dem seiner Bruderschaft eigenen Aberglauben bildete er sich ein, daß er einem Teufel überliefert sei, der ihn mit furchtbaren Träumen und verzweifelten Gedanken, dem Stachel der Reue und der Verzweiflung an der Verzeihung foltere, um ihm einen Vorgeschmack von dem zu geben, was ihn jenseits des Grabes erwartet. Aber es war der stete Schatten meiner Gegenwart – die nächste Nähe des Mannes, dem er schmähliches Unrecht zugefügt und der am Ende nur noch von diesem ewigen Gifte der grausamsten Rache existierte! Wahrhaftig, er irrte nicht! An seiner Seite stand ein Teufel! Ein sterblicher Mensch mit einst menschlichem Herzen ist, nur um ihn zu quälen, zu einem Teufel geworden.«

Der unglückliche Arzt erhob bei diesen Worten seine Hände mit einem Blick des Entsetzens, als ob er im Spiegel gesehen hätte, wie eine furchtbare Gestalt, die er nicht wiederzuerkennen vermochte, seine Stelle eingenommen habe. Es war einer von den Augenblicken, die nur zuweilen in jahrelangen Zwischenräumen wiederkehren, wenn das moralische Aussehen des Menschen sich seinem geistigen Auge treu widerspiegelt. Vielleicht hatte er sich noch nie so wie jetzt gesehen. »Hast du ihn noch nicht genug gequält?« sagte Esther, die den Blick des Alten bemerkt hatte; »hat er dir noch nicht genug bezahlt?«

»Nein! Er hat die Schuld nur vergrößert!« antwortete der Arzt, dessen Wesen jetzt seine Wildheit verlor und in Trübsinn fiel. »Erinnerst du dich meiner, Esther, wie ich vor neun Jahren war? Schon damals stand ich im Herbst meiner Tage, und es war nicht der Frühherbst, aber mein ganzes Leben hatte aus fleißigen, eifrig forschenden, gedankenvollen, stillen Jahren bestanden, die ich getreulich zur Vergrößerung meines Wissens und ebenso getreulich, wiewohl der letztere Zweck nur nebenbei mit dem andern zusammenhing, zur Beförderung der menschlichen Wohlfahrt angewendet hatte. Kein Leben war friedlicher und unschuldiger als das meine, wenige Leben so reich an erwiesenen Wohltaten gewesen. Erinnerst du dich meiner? War ich nicht, wenn du mich auch für kalt halten mochtest, dennoch ein Mann, der für andere vorsorglich, für sich nur weniges bedürfend, gütig, wahrhaft, gerecht und von beständiger, wo nicht warmer Zuneigung war? War ich nicht all dies, Esther?«

»All dies und mehr«, sagte Esther.

»Und was bin ich jetzt?« fragte er, indem er in ihr Gesicht blickte und alles Böse seines Innern auf seine Züge heraustreten ließ. »Ich habe dir bereits gesagt, was ich bin – ein Teufel! Wer hat mich dazu gemacht?«

»Ich war es«, rief Esther schaudernd; »ich war es nicht weniger als er. Warum hast du dich nicht an mir gerächt?«

»Ich habe dich dem Scharlachbuchstaben überlassen«, antwortete Roger Chillingworth, »wenn der mich nicht gerächt hat, so kann ich weiter nichts tun.«

Er legte seine Finger darauf und lächelte.

»Er hat dich gerächt!« antwortete Esther Prynne.

»Ich hatte nicht weniger erwartet«, sagte der Arzt. »Und nun, was verlangst du von mir in bezug auf jenen Mann?«

»Ich muß das Geheimnis enthüllen«, antwortete Esther fest; »er muß dich in deinem wahren Charakter erblicken: was die Folgen sein mögen, weiß ich nicht, aber diese lange Schuld des Vertrauens, die ihm, dessen Fluch und Verderben ich gewesen bin, von mir gebührt, soll endlich bezahlt werden. Soweit es den Umsturz oder die Bewahrung seines guten Rufes und irdischen Standes und vielleicht auch sein Leben betrifft, ist er in deinen Händen, und ich, die der Scharlachbuchstabe zur Wahrheit erzogen hat, wenn es auch die Wahrheit des in die Seele dringenden, rotglühenden Eisens ist – ich sehe keinen so großen Vorteil für ihn in einem längeren Leben gespenstischer Leere, daß ich mich erniedrigen sollte, dich um Gnade anzuflehen. Tu mit ihm, was du willst! Es ist für ihn nichts Gutes zu hoffen – nichts Gutes für mich –, nichts Gutes für dich! Da ist nichts Gutes für die kleine Perle. Es gibt keinen Pfad, der uns aus diesem finsteren Labyrinthe führen könnte.«

»Weib, fast möchte ich dich bemitleiden«, sagte Roger Chillingworth, der ein Gefühl von Bewunderung nicht unterdrücken konnte; denn die Verzweiflung, der sie Ausdruck verlieh, hatte etwas Majestätisches an sich. »Du hast große Eigenschaften gehabt. Vielleicht wäre dieses Übel nicht geschehen, wenn du früher auf eine bessere Liebe als die meine gestoßen wärest. Ich bemitleide dich um des Guten willen, das in deiner Natur vergeudet worden ist.«

»Und ich dich«, antwortete Esther Prynne, »wegen des Hasses, der einen weisen und gerechten Mann in einen Teufel verwandelt hat. Willst du ihn von dir austreiben und wieder ein Mensch werden? Wenn auch nicht um meinetwillen, doch doppelt wegen deiner selbst! Verzeih und überlaß die weitere Vergeltung der Macht, welche sie für sich in Anspruch nimmt. Ich habe gesagt, daß nichts Gutes für ihn oder dich oder mich vorhanden sei, die wir hier zusammen in diesem düstern Labyrinth des Übels wandern und bei jedem Schritte über die Schuld straucheln, womit wir unsern Pfad angefüllt haben. Es ist nicht so! Es könnte etwas Gutes für dich, für dich allein geben, da du tief gekränkt worden bist und es dir freisteht zu verzeihen. Willst du dieses einzige Vorrecht aufgeben? Willst du diese unschätzbare Wohltat von dir stoßen?«

»Laß ab, Esther, laß ab!« erwiderte der alte Mann mit trüber Strenge; »es ist mir nicht gegeben zu verzeihen. Ich besitze nicht die Macht, von der du zu mir sprichst. Mein alter, lange vergessener Glaube stellt sich ein und erklärt alles, was wir tun und alles, was wir leiden. Du hast durch deinen ersten Schritt auf den Irrweg das Samenkorn des Bösen gepflanzt, von jenem Augenblicke an aber ist alles düstere Notwendigkeit gewesen. Ihr, die ihr mir Unrecht zugefügt habt, seid nur in einer Art von typischer Illusion sündig, und ich, der ich dem Satan sein Amt aus den Händen gerissen habe, bin ebensowenig ein Teufel. Es ist unser Schicksal. Laßt die schwarze Blume des Bösen blühen wie sie mag. Jetzt geh deines Weges und verfahre mit jenem Manne, wie du willst.«

Er winkte ihr mit der Hand, hinwegzugehen, und bückte sich wieder zu den Kräutern am Boden.


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