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Einundzwanzigstes Kapitel

Das Weihnachtsfest war programmäßig verlaufen. Lise hatte direkt wie der Weihnachtsengel selbst ausgesehen, als ihr Breuer den kostbaren Schal um die Schultern legte, und Mutter und Vater hatten unzähligemale beteuert, daß das alles viel, viel zu viel sei, was Herr Breuer für ihre Tochter tue, und wie denn sie überhaupt dazu komme, in solch geradezu fürstlicher Weise beschenkt zu werden.

Die Geschenke des Onkel Gustav, ein prachtvoller Truthahn und noch anderes Geflügel, hatten Thorns Herz sehr zur Milde gestimmt, und er sprach Breuer gegenüber mit höchst anerkennenden Worten von dem großartigen Geflügelhof seines Bruders.

Überglücklich war Eugen. Der Onkel hatte ihm einige hervorragende forstwirtschaftliche Werke und eine ziemlich umfassende Jagdausrüstung geschickt, Patronengürtel, Galgen für Rebhühner und andere höchst notwendige jagdsportliche Gegenstände. Am meisten freute ihn aber der prachtvolle Trieder, den ihm Herr Breuer zum Geschenk gemacht hatte. Eine Stunde lang stand er trotz der bitteren Kälte beim offenen Fenster und betrachtete mit Entzücken durch das scharfe Glas die Spitzen zweier Kirchtürme, die sich in der Ferne über das Häusermeer erhoben. Auf einmal erschien der Papa; er war noch in der Morgentoilette und rauchte eine der herrlichen Weihnachtszigarren. Mit Donnerstimme befahl er Eugen, sofort die Fenster zu schließen, und fragte ihn gleichzeitig, ob vielleicht er die sündteuren Kohlen bezahle. Er war gegen Kälte sehr empfindlich und schimpfte richtig so lange fort, bis Frau Charlotte erschien und dem bequemen Herrn Papa befahl, sich anzuziehen, wenn ihm in dieser nachlässigen Toilette zu kalt sei. Selbstverständlich bekam auch Eugen bei dieser Gelegenheit seinen Teil ab.

Das Abflauen irgendeiner Freude bedeutet immer einen Katzenjammer im Gemüt. Dieser Vormittag war grau in grau. Papa Thorn hatte einen sehr warmen Kopf und eine unstillbare Sehnsucht nach sauren Gurken.

»Meine Nerven sind sehr angegriffen«, sagte er und preßte mit beiden Händen sein schmerzendes Haupt zusammen.

»Nerven!« rief entrüstet Frau Charlotte aus, »hab ich keine Nerven ... mir ist elend, zum Umfallen schlecht, und muß mich von aller Früh an plagen. Wenn man niemand zur Hilfe hat – aber bei uns ist so 'was nicht möglich. Die Bedienerin ist natürlich auch nicht gekommen! ...«

»Ich sage immer, du solltest dir einen Dienstboten halten«, sagte Papa.

»Wovon sollen wir ihn bezahlen?« fragte entrüstet die Mama, »gibst du mir die Mittel dazu?«

Ganz so, wie die Mama die Sache darstellte, war es eigentlich nicht, Frau Charlotte hatte schon mehrere Male Dienstboten aufgenommen, aber ihr Aufenthalt in der Thornschen Familie hatte niemals länger als drei Tage gedauert, entweder hatte Frau Charlotte das dienende Mädchen hinausgeworfen oder der Dienstbote war selbst gegangen. Im letzteren Falle kam es meist zu einer hochdramatischen Szene, in der das scheidende Mädchen eine Rede hielt, in der sie mit dem Aufgebot aller Stimmittel ihre Ansicht über den Charakter der allzu strengen Herrin entwickelte. Frau Charlotte erwiderte, und ihr heller Sopran erfüllte bei solcher Gelegenheit das ganze Haus. Einmal artete der Abschied direkt in eine Schlacht aus. Das scheidende Mädchen hatte einen umfänglichen Topf ergriffen und ihn der Herrin so wuchtig auf den Kopf geschlagen, daß ihr das Blut über die schöne Stirne rann. Vater Thorn war der bedrängten Mama zur Hilfe gekommen, mußte aber selbst vor der streitbaren Magd die Flucht ergreifen. Im Schlafzimmer warteten die beiden, bis die Wütende das Haus verlassen haben werde.

Endlich verkündete ein donnerähnlicher Krach, daß das Mädchen sich entfernt habe, und mit erleichterten Herzen verließen die beiden ihre Zufluchtsstätte.

Unter solchen Umständen mußte man es ganz natürlich finden, daß Frau Charlotte auf jegliche fremde Mithilfe in ihrem Haushalt verzichtete.

Lise mußte nun mithelfen, aber auch ihr waren keine angenehmen Stunden damit bereitet, denn es gab Tage, wo nicht einmal ein direkt vom Himmel bezogener Engel es hätte Frau Charlotte recht machen können.

Gegen zehn Uhr gingen beide Kinder zur Kirche. Vater Thorn blieb daheim, um sein Leiden gründlich zu behandeln.

Charlotte war etwas ruhiger geworden. Als sie sah, wie schwer ihr Mann litt, kochte sie ihm russischen Tee zum Gabelfrühstück und stellte ihm sogar die Kognakflasche zur Verfügung.

Denn auch Charlotte hatte eine hohe Anschauung von der Heilkraft des russischen Tees' mit Kognak, und sie setzte sich zu dem kranken Mann ins Speisezimmer, um selbst die gleiche Kur zu gebrauchen. Und die Kur tat Wunder. In die Herzen der beiden zog holder Friede ein im Bunde mit stiller Freude.

»Wir sind eigentlich doch glücklich!« sagte Thorn, »wir haben vieles Schwere durchgemacht im Leben – aber jetzt fängt unser Lebensweg an, sich mählich zu ebnen.«

»Wenn nur Lise nicht später Dummheiten macht«, gab Frau Charlotte zu bedenken, »ein solches Glück begegnet ihr kein zweites Mal im Leben!«

»Sie ist ein vernünftiges Mädchen«, sagte der Vater.

»Sie wird ein Leben haben, herrlich und in Freuden, er wird sie auf den Händen tragen und ihr alles bieten, was ihr Herz verlangt.«

»Der Schal ist prachtvoll«, sagte schwärmerisch Frau Charlotte, »ich hab in meinem Leben – selbst wie ich schon Braut war – nie ein solch wertvolles Geschenk erhalten!«

Das war ein Hieb auf Vater Thorn. Frau Charlotte konnte es nicht unterlassen, ihren Reden behufs größerer Wirkung solche spitzige Bemerkungen beizumengen.

Thorn schwieg wie immer bei solchen Gelegenheiten.

Schließlich ward Frau Charlotte so von der Bewunderung dieses herrlichen Weihnachtsgeschenkes überwältigt, daß sie nicht umhin konnte, den Schal aus Lises Kasten herauszunehmen und ihn auf der Bettdecke auszubreiten. Die Silberplättchen glitzerten und funkelten auf dem feinen Gewebe. Das Herz mit tiefer Bewunderung erfüllt, standen beide vor dem herrlichen Schmuckstück.

»Sie wird sehr glücklich werden«, sagte Thorn, »sie wird einst ein ruhiges, schönes Leben führen, wie es dir, du meine arme Charlotte, nicht beschieden war!«

Er drückte das teure Weib an sich und wischte sich dabei eine Träne aus dem Auge.

»Auch unser Lebensabend wird ein glücklicher werden – Eugen als Forstrat – Lise als die Gattin eines immens reichen – edlen Menschen, es kommt das Glück! Es kommt spät, seien wir froh, daß es überhaupt kommt!«

Der Tee mit dem guten Kognak hatte die. bittere Morgenstimmung in den beiden edlen Herzen verscheucht, sie waren wieder froheren Regungen zugänglich geworden.

Frau Charlotte faltete den Schleier, wie Thorn poetisch den arabischen Schal nannte, sorgfältig zusammen, hüllte ihn gewissenhaft in das Seidenpapier und legte ihn wieder in den Kasten zurück.

»Ich will nicht, daß sie es kennt, daß wir in ihrem Kasten herumgestöbert haben«, sagte sie in einer unübertrefflich zarten Weise, die ihr sonst absolut nicht zu eigen war.

Vater Thorn öffnete weit die Kastentür. Dabei fiel ein Brief aus einem Fach heraus.

Während die Mutter den »Schleier« mit großer Aufmerksamkeit in dem Kasten unterbrachte, studierte Thorn mit ungeheurem Interesse die Aufschrift des Briefes;

»Ihrer Hochwohlgeboren Fräulein Elise Thorn, Wien, 1. Bezirk, Bankgasse.«

»Da sieh, Mutter«, sagte Thorn, »da ist ein Brief herausgefallen. Er ist an Lise gerichtet und augenscheinlich von Männerhand. Von Breuer ist er nicht – dessen Handschrift kenne ich.« Er drehte den Brief kopfschüttelnd hin und her, wie es so viele machen, denen ein Brief mit unbekannter Handschrift in die Hände kommt.

»So mach ihn auf!«

»Aber er ist ja an Lise gerichtet – das Staatsgrundgesetz verbietet ...«

»Red' nicht so geschwollen daher – gib mir den Brief!«

Zögernd reichte Thorn der teuren Gattin den Brief hin. Rasch entschlossen zog sie das Schreiben aus der Hülle. Sie hatte kaum einige Zeilen gelesen, als sie mit einem markerschütternden Aufschrei in einen Sessel sank.

»Was ist's – um Gotteswillen, was ist's denn?« fragte zu Tode erschrocken der Gatte.

Charlotte reichte ihm den Brief hin.

»Da ließ – alles ist aus!«

Und Thorn las. Es war ein Brief des Herrn Ulrich Kirchmaier, in welchem der Absender Fräulein Elise Thorn in den süßesten und innigsten Ausdrücken beschwor, ihn gewiß nach Schluß der Bureaustunden bei der Kunsthandlung Neumann am Kohlmarkt zu erwarten.

»Schrecklich – schrecklich ...!« stöhnte Thorn.

»Was sagst du nun?«

»Ich bin einfach fassungslos!« jammerte der unglückliche Vater.

»Wenn das Breuer erfährt, dann ist alles aus«, schluchzte die Mutter.

»Wir haben uns zu früh gefreut. Wer hätte das gedacht ... Lise, das reine, unschuldsvolle Mädchen, hat einen Verehrer!«

»Da mußt du Ordnung machen!« schrie Charlotte.

»Das werde ich! Mit der Hundspeitsche in der Hand werde ich diesen Menschen aufsuchen. Und dann, wenn ich ihn gefunden habe ... dann ...!«

Er machte eine furchtbar drohende Gebärde.

Der Jammer der unglücklichen Eltern war erbarmungswürdig. Mutter Charlotte heulte, daß man es bis auf den Gang hinaus hörte. Vater Thorn ging wieder mit starken Schritten händeringend im Zimmer auf und ab, unablässig tiefschmerzliche Blicke zum Himmel sendend.

Da läutete die Klingel der Wohnungstür. Gleich einem Satan fuhr Frau Charlotte in das Vorzimmer hinaus. Richtig, draußen auf dem Gang standen die beiden Kinder.

»Du ... du, komm nur herein da ...!« rief Frau Charlotte mit zornfunkelnden Augen, ergriff Lise beim Arm und riß sie zur Tür herein.

»Nun ... was ist's denn?« fragte sie erschrocken.

»Da komm nur, du Mißratene!« schrie der empörte Vater.

Eugen glaubte, seine Erzeuger seien beide verrückt geworden.

Als Lise, halb gestoßen, halb gezerrt, im Schlafzimmer ankam, zeigte ihr Thorn mit der furchtbaren Miene eines Rächers der Familienehre den unglückseligen Brief.

»Kennst du diesen Brief?« schrie er mit furchtbarer Stimme und gab ihr das Schreiben.

Lise erbleichte. Es war Ulrichs letzter Brief; der Briefträger hatte ihn ihr im Hausflur des Bankgebäudes übergeben, und so hatte sie ihn unglückseligerweise mit nach Hause gebracht.

»Natürlich kenne ich ihn«, sagte sie trotzig.

»Und du schämst dich nicht – du – du –«, schrie heulend die Mutter.

»Also, das hast du uns angetan? Du Elende – du Schande der Familie –!« schrie der Vater.

»Also ein solches Kind habe ich unter meinem Herzen getragen? Einen solchen Schandfleck habe ich mir aufgezogen?« fragte mit tränennassen Blicken die Mutter.

Lise stand trotzig in der Fensterecke und gab auf all diese rhetorischen Fragen keine Antwort.

»Nein, ein solcher Spektakel, schämen muß man sich«,, sagte Eugen.

»Hinaus, du Lotterbube!« schrie wieder Thorn.

»O ja«, sagte Eugen, »mich freut's ohnehin nicht da,, bei einem solchen Skandal ...«

Drohend erhob Thorn die Faust gegen den Sohn. Der aber blieb mutig vor ihm stehen und sah ihm unsäglich. frech ins Gesicht.

»Schlag nur her!«

Da Vater Thorn nicht ganz sicher war, wie die Sache ausgehen werde, so wendete er sich wieder an die Tochter und verlangte von ihr mit furchtbaren Worten, sie solle sich sofort niedersetzen, und diesem Menschen, diesen elenden Feigling, diesem Ulrich Kirchmaier, einen für alle Zeiten gültigen Abschiedsbrief schreiben.

»Das tue ich nicht – und dazu könnt's Ihr mich nicht zwingen«, sagte mit einer seltsamen Ruhe Lise.

Da brauste Mutter Charlotte auf.

»Was, wir können dich nicht dazu zwingen? Du, das werd' ich dir zeigen, ich!« schrie sie mit gellender Stimme.

Lise gab keine Antwort.

»Da wirst dich sofort niedersetzen und an diesem Lotterbuben den Brief schreiben! Oder –« schrie Thorn.

»Er ist kein Lotterbube«, brauste nun Lise auf.

Sie trat aus ihrer Ecke hervor und stand nun mit blitzenden Augen vor ihren Eltern.

»Mich könnt's ihr schimpfen wie ihr wollt – den aber laß ich nicht beschimpfen!« rief sie. Das war für Frau Charlotte zu viel; wütend fuhr sie der mißratenen Tochter in die Haare, aber die Schwester bekam unerwarteterweise vom Bruder Hilfe.

»Lise hat nichts getan, Mutter!« rief er und packte beide Hände der Erbosten. »Laß sie geh'n, sag ich dir.«

Es war ein eiserner Griff, mit dem der Jüngling die Arme der Mutter, umfaßte. Frau Charlotte mußte von dem geplanten Attentat ablassen. Mit geballter Faust stand nun Vater Thorn vor dem Sohne.

»Ich schlag dich nieder ...!« rief er aus.

Eugen sah mit einem sonderbaren Blick auf den Vater. Aus diesem Bück sprühte alle Verachtung, die sich im Laufe der Jahre gegen seinen Erzeuger in seinem Herzen angesammelt hatte. Herr Johann Thorn war ein Kind geblieben, während sein Sohn mählich zum Jüngling herangereift war, der mit hellen Augen in die Welt sah.

Mama Charlotte lag in einem Sessel und stöhnte und schluchzte.

»Hinaus ... du Elende!« rief der Vater Lise zu. »Hinaus ... sofort, auf der Stelle! Im Vaterhause ist kein Platz mehr für dich!«

Lise ging; Eugen folgte ihr nach.

»O ja – ich gehe«, sagte sie, als beide drüben im Zimmer angelangt waren.

»Hast recht, Lise«, sagte Eugen, »geh nur zu Onkel Gustav. Wenn du Geld brauchst – ich hab noch zehn Kronen, die kann ich dir leihen. Geh aber gleich – ich verrat' dich nicht. Ich vergönn's den beiden.«

Er gab Lise das Geld.

»Aber schick' mir's bald – ich hab nur drei Kronen. Du weißt ja, die Alten geben nichts her.«

Lise nahm das Geld und küßte den Bruder. Dann ging sie.

»Mach' die Tür leise zu, daß sie dich nicht hören«, empfahl der vorsichtige Bruder; »wisch dir das Gesicht ab, du siehst ganz verweint aus.«

Lise ging.

Eugen machte. das Fenster auf und sah mit seinem Trieder gemütlich der dem Vaterhaus entfliehenden Schwester vom geöffneten Fenster aus nach.

Auf einmal ward die Tür aufgerissen. Vater Thorn trat ein. Erstaunt sah er, daß Eugen allein im Zimmer war.

»Wo ist Lise?« fragte er.

»Weiß nicht – sie ist fortgegangen!« antwortete prompt der brave Sohn.

»Wohin?«

»Weiß ich auch nicht!«

»Mach das Fenster zu. Warum hast du das Fenster aufgerissen?«

»Weil mir warm war. Da soll einem nicht warm werden bei einem solchen Skandal!«

Auch Mutter Charlotte kam herein.

»Wo ist sie?« schrie sie mit gellender Stimme.

»Sie ist fort!« antwortete Thorn.

»Eugen – wo ist sie hin?«

»Weiß nicht – sie hat mir's nicht gesagt! Sie hat so geweint, ich hab sie gar nicht verstanden!« antwortete Eugen.

Verzweiflungsvoll schrie die Mutter auf und rang die Hände. Eine fürchterliche Ahnung stieg in ihr auf. Unzähligemale hätte sie in den Zeitungen von Selbstmorden unglücklicher Liebenden gelesen. Infolge ihrer hochgradigen Nervosität vermutete sie sofort das Schlimmste.

Sie wendete sich an Eugen.

»Eugen, du mußt wissen, wohin sie gegangen ist!« schrie sie den Sohn an.

»Ich hab sie nicht verstanden, weil sie so furchtbar geweint hat. Sie geht fort – hat sie gesagt.«

»Warum geht sie fort?« fragte der naive Vater.

»Nun, du hast sie ja doch hinausgeworfen, du hast zu ihr gesagt, im Vaterhause ist kein Platz mehr für sie!«

Dabei ahmte er in trefflicher Weise das Pathos seines Vaters nach.

Nun wendete sich die unglückliche Mutter gegen den Vater.

»Du – du hast sie hinausgeworfen ... Du hast sie in den Tod getrieben – hole mir mein Kind – ich will mein Kind von dir haben, du Mörder!«

Thorn stand fassungslos da.

»Ich werde sie suchen ... Ich werde sofort auf die Polizei gehen – in alle Redaktionen – ich muß sie finden, ich werde mein Kind wieder ins Vaterhaus zurückbringen – ich versprech' dir's Mutter.«

»Du mußt sie auch bringen!« sagte schreiend die Mutter. »Komm' mir ja nicht ohne Elise nach Hause!«

Thorn warf sich sofort in sein Staatsgewand. Diese Aufregung war dem bequemen Herrn ein Greuel. Statt bequem daheim beim warmen Öfen zu sitzen, die Zeitung zu lesen und behaglich dazu eine der Weihnachtszigarren zu rauchen, mußte er nun hinaus in die bittere Kälte, um ohne Rast und Ruh nach der verlorenen Tochter zu suchen.

Er verwünschte sich unzählige Male, daß er die Sache so scharf angegangen habe, und zehntausendmal hieß er sich einen Esel, weil er Muttern den verhängnisvollen Brief gezeigt hatte.

Es nützte aber nichts – er mußte hinaus. Zuerst ging er auf das Polizeikommissariat und meldete, daß seine Tochter abgängig sei. Als der journalführende Beamte hörte, daß sich die Affäre vor kaum drei Viertelstunden abgespielt habe, lächelte er und tröstete den betrübten Vater.

»Sie wird schon wieder kommen«, sagte er; »sie ist wahrscheinlich in der ersten Aufregung fortgelaufen. Wenn sie zwei bis drei Stunden herumgegangen sein wird, wird sie schon wieder zurückkommen. Dann müssen Sie halt recht vorsichtig mit ihr sein!«

Leichten Herzens verließ der Vater das düstere Gebäude und begab sich in ein Restaurant, um seine aufgeregten Geister mit einem Beinfleisch, welche Speise er abgöttisch verzehrte, und einigen Krügeln Pilsner wieder in den normalen Zustand zurückzuführen.

Es überkam ihn eine angenehme Ruhe, als er das zweite Krügel getrunken hatte, und nach dem dritten fand er sogar den Mut, zu Frau Charlotte zurückzukehren.

Er machte ein tiefbetrübtes, sorgenvolles Gesicht, als er die Tür öffnete.

»Wo ist Lise?,– Hast du sie nicht?« fragte mit weinenden Augen die Mutter.

»Ich bin vergebens in den Straßen umhergeirrt – ich sah sie nirgends. Der Beamte auf dem Kommissariat hat mir gesagt, solche Fälle kommen sehr häufig vor und die betreffenden kommen gewöhnlich nach einem zwei- bis dreistündigen Spaziergang, der sie sehr beruhigt, wieder zurück.«

Aber die Mutter ließ sich mit solchen Argumenten nicht trösten, sie ging händeringend im Zimmer herum, warf sich aufs Bett, verbarg das Gesicht in den Händen und stöhnte und schluchzte.

Thorn konnte diesen Jammer nicht mehr länger ansehen und ging in die Küche hinaus.

Dort ward ihm eine neue unangenehme Überraschung zuteil, der Herd war kalt, und betrübt sah er ein, daß das heutige Mittagmahl sehr frugal ausfallen werde. Er verwünschte sich aufs neue, daß er den Brief Lisens so indiskret behandelt hatte.

Der Nachmittag verging sehr unangenehm. Die Mutter sah geradezu erbarmungswürdig aus. Unablässig horchte sie auf jeden Schritt, der auf dem Gang ertönte, hoffend, jetzt und jetzt werde sich die Tür öffnen und das verlorene Kind eintreten.

Vater Thorn verlebte schreckliche Stunden, er wurde mit Vorwürfen überhäuft, und alle Bemühungen, die Teure zu besänftigen, blieben vollständig erfolglos.

Nicht viel weniger hatte Eugen zu leiden. Man machte ihm den Vorwurf, die Eltern nicht rechtzeitig von der Flucht der Tochter in Kenntnis gesetzt zu haben.

»Ich hab nicht zu euch hinübergehen mögen«, sagte er ganz unverfroren, »diese Streiterei und Schimpfereien sind mir ganz zuwider. Ihr reißt's einem den Kopf zuerst ab, und dann wollt's ihr ihn wieder aufsetzen.«

Diese ziemlich zutreffende Schilderung der mildelosen Gebarung der beiden Eltern versetzte Thorn in eine derartige Wut, daß er Eugen eine schallende Ohrfeige verabreichte.

Bleich vor Zorn stand der Junge da. Keine Träne netzte seine Augen.

»Ich kann ja auch fortgehen –«, sagte er mit einer für sein Alter bewunderungswürdigen Ruhe.

Als Mutter Charlotte diese Worte hörte, kreischte sie auf, stürzte in die Küche hinaus und zog den Schlüssel ab.

»Du elender Kerl«, wendete sie sich an den Gemahl; »willst du mich um alle meine Kinder bringen?«

Sie war gefährlich anzuschauen, der Skalp des Familienvaters und seine geistvollen Züge standen in großer Gefahr, gründlichst verändert zu werden.

Eugen ging hinüber in sein Zimmer. Er war furchtbar erregt.

Plötzlich fiel ihm Lise ein. Welch glückliche Tage wird die jetzt bei Onkel Gustav verleben! Er beneidete sie, und doch gönnte er es der Schwester von ganzem Herzen, daß sie nun auf einige Tage Ruhe und Frieden bei den beiden lieben Alten finden werde. Aber das nahm er sich vor: kein Wort vom Aufenthalt der Schwester zu verraten. Es war, als ob er an der Folie des stillen, friedlichen Glückes, das im Hause seines Onkels wohnte, plötzlich erkannt habe, wieviel ihm in den Tagen seiner Jugend daheim verloren gegangen war.

»Vielleicht wirkt die Angst Gutes!« dachte er sich.

Höchst dramatisch gestaltete sich die Szene, als gegen sechs Uhr abends Breuer bei der Familie Thorn zu Besuch erschien.

Frau Thorn war nahe daran, dem Erschrockenen an die Brust zu fallen. Der Vater warf stumme, tränennasse Blicke zum Himmel empor.

»Ja, was ist denn geschehen?« rief er aus, als er die tränenfeuchte Szene erblickte.

Er erhielt lange keine Antwort. Wie sollten sie es ihm, auf dem die Hoffnung, auf dem alle Glücksträume der Familie beruhten, mitteilen, daß Lise aus einem solchen Grunde das Haus verlassen habe.

Breuer war so bestürzt, daß er beim Eintreten fast vergaß, zu grüßen.

»Ja, wo ist denn Fräulein Lise?« fragte er.

Frau Charlotte hob jammernd die Hände zum Himmel empor und Vater Thorn schluchzte, daß es klang wie das dumpfe Brüllen eines schwer verwundeten Stieres.

»Sie ist fort!« schrie die Mutter

»Sie hat sich selbst vom Herzen ihres Vaters losgerissen!« wimmerte Vater Thorn.

Stockend, von häufigem Schluchzen unterbrochen, erzählte Thorn so verschleiert als möglich die Unglücksgeschichte.

»Es war nur ein kleiner Disput – wie solche ja in allen Familien vorkommen – ich und die Mutter machten ihr einige Vorwürfe wegen – wegen –¦ Gott – die Sache ist mir in meinem Schmerz ganz entfallen ...« begann er, »sie ging in das Zimmer hinüber, und als wir später nach ihr sehen wollten, war sie verschwunden.«

Breuer war's zumute, als müßte sich der Boden unter ihm auftun.

»Und sie hat keine Zeile zurückgelassen? Kein Wort des Abschiedes?« fragte er.

»Nein ... kein Wort ... nichts ... gar nichts; sie ging ganz wortlos aus dem Elternhause weg«, stöhnte Thorn.

»O, ich weiß ... sie ist längst tot ... sie hat sich in die Donau gestürzt!« wimmerte die Mutter.

Breuer saß wortlos da. Da fiel sein Blick auf Eugen, der mit sonderbarem, halb trotzigem, halb boshaftem Ausdruck in dem hübschen Jünglingsgesicht, in der Ecke stand.

»Und weißt du auch nicht, Eugen, wohin sie gegangen ist?«

Der Junge zuckte die Achseln.

»Mit ihm war sie zuletzt beisammen«, erklärte Vater Thorn.

»Eugen, um des Himmels willen, sag es, wenn du es weißt, wohin sie ist!« bat die Mutter.

Er tat wie vorher. Die ungerechten Beschimpfungen, die Ohrfeige seitens des Vaters, überhaupt all die häßlichen Szenen vom Vormittag, hatten ihn so verbittert, daß er, unbekümmert um den furchtbaren Kummer seiner Eltern, auch weiterhin verschwieg, daß höchstwahrscheinlich die Schwester zu Onkel Gustav gefahren sei.

Breuer hatte während des Verhörs mit ängstlicher Aufmerksamkeit in das Gesicht des Jungen gesehen, und es drängte sich ihm die Ahnung auf, daß Eugen doch etwas wissen könne, das er aus Trotz gegen die Eltern verschweige.

»Ich werde mich bei der Polizei erkundigen, ob noch keine Nachricht vorliegt«, sagte er und stand auf.

Die Eltern dankten ihm unter Tränen.

»Eugen – geh mit! Der Junge ist ganz furchtbar erregt; es wird ihm gut tun, wenn er auf eine Stunde ins Freie kommt«, sagte er.

Eugen war vergnügt wie ein Schneekönig, als ihm die Aussicht winkte, dieses tränenreiche Jammertal wenigstens auf eine Stunde verlassen zu können.

Mutter Charlotte war eifrigst bestrebt, ihrem Sohne bei der Toilette zu helfen.

»Daß du ihm ja nichts von dem Briefe sagst«, flüsterte sie ihm zu, »oder der Vater ... du kennst ihn!«

Das war gerade die richtige Art und Weise, Eugen von irgend etwas abzuhalten.

»Der Vater?« fragte er fast höhnisch – »will er mir noch eine Ohrfeige geben?«

In diesem Moment dämmerte Frau Charlotte die Ahnung auf, wie verfehlt das von der Familie eingeschlagene Erziehungssystem war.

Es war rührend zu sehen, wie Vater und Mutter mit inbrünstigen Bitten beim Abschied Breuer bestürmten, ihnen ja gewiß ihr teures Kind wiederzubringen.

»Was war's eigentlich, Eugen?« fragte Breuer, als .sie auf der Gasse waren. »Warum ist Lise fortgegangen? Weißt du, wohin, sie ist? Mir kannst du es sagen, mein Junge, ich werde machen, daß alles wieder gut wird.«

Eugen sah Breuer ins Gesicht. Es war fast verzerrt vor Angst.

»Herr Breuer, Ihnen sag ich alles. Lise ist zu Onkel Gustav gefahren. Und sie hat ganz recht. gehabt. Ich hab ihr zehn Kronen geliehen. Am liebsten war ich mit ihr gefahren, denn daheim ist es wirklich nicht mehr auszuhalten.

»Komm, Eugen, mein Junge, wir gehen in dies Restaurant hinein, und du erzählst mir die ganze Geschichte.«

Eugen war mit dieser Wendung der Affäre äußerst zufrieden.

»Ich hab ohnehin fast den ganzen Tag nichts gegessen«, sagte er.

Im Restaurant ließ Breuer dem Jungen eine ausgiebige Portion Schinken geben.

»Also, was war's?« fragte er, als Eugen den Schinken fast bis auf die letzte Faser verzehrt hatte.

»Ich und Lise sind heut' mitsammen in der Kirche gewesen«, fing Eugen an. »Als wir heim kamen, ging der Spektakel los. Vater hat einen Brief des Herrn Ulrich gefunden und sagte zu Lise, daß für sie in seinem Hause kein Platz mehr sei. Und so ist sie fortgefahren.«

»Und warum sagst du das nicht deinen Eltern?«

»Der Vater hat mir eine Ohrfeige gegeben«, antwortete trotzig Eugen. »Wenn ich nicht Lise meine letzten Kronen gegeben hätte, so wäre ich ja selbst mitgefahren.«

»Und sie ist wirklich hingefahren?« fragte besorgt Breuer.

»O ja, ganz bestimmt«, antwortete Eugen.

Breuer saß lange schweigend am Tisch. Dann sagte er plötzlich:

»Eugen, morgen in aller Früh fahren wir zu Lise. Bist du's zufrieden?«

Natürlich war er es zufrieden.

Zum Onkel zu fahren – welches Glück! Und wenn Herr Breuer es befahl, dann wagten weder Vater noch Mutter ein Wort dagegen.

Als die beiden nach Hause kamen, wurden sie in gewohnter tränenreicher Weise begrüßt.

»Ist Lise da?« fragte die Mutter.

»Bringen Sie mir mein Kind?« fragte der pathetische Vater.

»Nein ...« antwortete Breuer; »aber ich habe bereits eine Spur von ihr.«

»Lebt sie?« fragten beide.

»Ich glaube!« sagte Breuer.

»O du himmlischer Gott!« rief Frau Charlotte aus und erhob die Hände zum Gebet gefaltet inbrünstig zum Himmel empor.

»Wo ist sie hin? Sagen Sie uns, Herr Breuer ... Lassen Sie mich mein Kind holen!« rief der pathetische Vater aus.

»Ruhe! ... Ruhe! ...« gebot Breuer. »Morgen in aller Frühe fahre ich mit Eugen in jenen Ort, wo ich Lise vermute. Bevor ich nicht vollständig Gewißheit habe, sage ich nichts! Eugen, punkt sechs Uhr heißt es parat sein! Sonst versäumen wir den Zug!«

Diese Wendung der Dinge kam Eugen höchst gelegen. Er jubelte in seinem Herzen auf vor Freude, auf so unerwartete Weise das geliebte St. Ruprecht wieder zu sehen.

Viel früher als gewöhnlich verließ diesmal Breuer die elterliche Wohnung. Eugen ging sofort zu Bette, konnte aber. infolge der freudigen Aufregung lange nicht einschlafen.


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