Adolf Hausrath
Elfriede
Adolf Hausrath

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Neunzehntes Kapitel

Es war ein glückliches Erwachen, als die Baronin schon in der Frühe mit der Kunde begrüßt wurde, daß Nik in dieser Nacht durch Elfriedens Verdienst von allem Verdachte gereinigt worden sei, und der wirklich Schuldige bereits hinter Schloß und Riegel sitze. Ihr Jubel war grenzenlos, und sie ließ es sich nicht nehmen, sofort selbst hinüberzufahren in die Stadt, um ihren Sohn heimzuholen in das Schloß, das nun das seine war.

Elfriede hatte auf Wunsch der Mutter sich wieder niederlegen müssen, um auszuruhen von den Anstrengungen der Nacht. Doch die goldene Oktobersonne schien zu hell und warm in ihr Stübchen, und bald erschien die Blinde wieder bei den Ihren und sagte: »Ich bringe es nicht fertig zu schlafen, aber ich wüßte, was mich am besten erfrischen würde. Rudere mich hinaus, Fritz, in den Strom, ich will die milden Lüfte athmen und das Rauschen der Wellen hören, das besänftigt am besten das aufgeregte Blut. So bringen wir die Zeit fröhlich hin bis Nik zurückkehrt.« Fritz war gern bereit, Elfriedens Wunsch zu erfüllen, und auf den Bruder gestützt stieg die Blinde zum Strome hinab.

Während sie den dunkeln Gang vom Hause zum Ufer durchschritten, fuhr der Wagen der Baronin bereits am Thore an, und der alte Glimm sprang herzu, um die Thüre zu öffnen. Auf den Arm der Mutter gestützt stieg Nik aus und schritt mit niedergeschlagenen Augen an dem alten Gärtner vorüber. »Wie bleich und verstört er aussieht«, sagte der Kutscher, Nik nachschauend, der, von der Mutter geführt, die Treppe zum Schloßthor emporschwankte.

»Seine Augen gefallen mir nicht«, erwiderte der alte Glimm. »Er schaute über uns hin, als ob er uns gar nicht wahrnähme. Selbst den Granatbaum neben mir hat er aufmerksamer betrachtet als uns.«

»Aber die Baronin ist eine ganz andere Frau geworden seit dem Tode des Herrn«, erwiderte der Kutscher. »Haben Sie nicht gesehen, wie freundlich Sie Ihnen zunickte, als ob Sie ganz zur Familie zählten.«

»Ja, ja«, sagte Glimm, »das Unglück macht demüthig. Unser Einer thut aber doch besser, immer daran zu denken, daß es seine Herrschaft ist, die er vor sich hat.« Damit nahm Glimm seinen Rechen wieder auf, um die welken Blätter, mit denen der Herbst ihm Nacht für Nacht seine sauberen Wege überstreute, in große Haufen zu sammeln.

Nik war von seiner Mutter inzwischen nach seiner Stube geführt worden, wo sie sein Gesicht nochmals mit Küssen bedeckte. »Nie, nie«, sagte sie, »habe ich das Entsetzliche von Dir geglaubt.«

»Gute Mutter«, stammelte Nik, ihr mit matter Hand die Wange streichelnd.

»Oh, welch ein Trost mir in dieser schweren Zeit die Glimms gewesen sind«, sagte die Baronin unter Thränen. »Sie waren es allein, die mich aufrecht erhielten. Ja diese Klara und Friederike und Magdalene habe ich nun kennen lernen. Sie alle predigten mir, Du seist schuldig, und ich solle mich der Wahrheit nicht verschließen. Sie thaten gerade, als ob ich ein Verbrechen begehe, wenn ich an die Unschuld meines Kindes glaubte.«

Nik verzog verächtlich den Mund und ließ sich müde in seinen Lehnstuhl fallen.

Seine Mutter aber trat näher an ihn heran, sie wußte ein Mittel, ihn wieder zu beleben. »Weißt Du, Nik«, flüsterte sie leise, als fürchte sie doch, daß jemand es hören könnte, »ich wäre ganz einverstanden, wenn Du Elfrieden heirathen wolltest. Zwar gehört sie nicht in unsere Kreise, aber eine Blinde würde ja ohnehin nicht zur Gesellschaft zählen und compromittirte uns nicht. Sie könnte hie und da auf ihrer Harfe spielen, oh sie spielte am Abend oft so wunderschön, und Deine Gäste könnte ja ich und Tante Klara empfangen und Dir auch Deine Kinder erziehen. Wir haben Dich ja auch erzogen!«

»Und wie!« dachte Nik bei diesen Worten.

»Es bliebe dann Alles beim Alten, und wir brauchten uns nicht mit Valentinen zu quälen. Die habe ich auch kennen lernen, das boshafte Geschöpf.« So vertiefte sich die gute Baronin, die Hand ihres Kindes in der ihren haltend, in die Zukunftspläne, die sie während Nik's Gefangenschaft sich ausgedacht hatte. Nik ließ das Alles über sich ergehn; als aber die Baronin in ihrem Eifer ihn geradezu fragte, ob sie mit den alten Gärtnersleuten reden solle, schüttelte er traurig den Kopf.

»Das Alles ist vorbei«, sagte er mit abgewandtem Angesichte. »Es ist in diesen Tagen etwas in mir entzwei gegangen, ich weiß nicht, ist es hier oder hier«, und er fuhr mit der Hand vom Kopfe zum Herzen. »Lasse uns Zeit. Ich glaube gar nicht, daß Elfriede mich jemals heirathen wollte, und jetzt will sie es sicher nicht mehr.«

Die Baronin verzog ihr kleines Gesichtchen zu einem pfiffigen Lächeln. Ihr war so wohl wie einem Kanarienvogel, seit ihr Ehevogt todt und ihr Nik frei war. »Da bist Du aber sehr im Irrthum«, sagte sie. »Du hättest nur ihre verweinten Augen und ihre bleichen Wangen sehen sollen während dieser Zeit, und den Jubel der ganzen Familie, als durch ihre Klugheit die Wahrheit an's Licht kam. Denke Dir, das blinde Kind sieht ohne Augen mehr als wir alle. Ich glaube sie sieht mit ihren kleinen Ohren. Sie erkennt in finstrer Nacht den schlechten Menschen an seinem Schritte, sie hört, daß er die Gartenfigur herabnimmt, sie erräth gleich, daß er an jenem schrecklichen Abende das Geld dort versteckte, und rasch in den Schatten getreten war, als er Dich kommen hörte, so daß Du glaubtest, die Psyche sei von selbst von ihrer Säule gehüpft. – Das war doch eine recht tolle Idee von Dir, Nik! – Sie läuft in die Gärtnerwohnung und weckt Vater und Bruder, sie schickt ihre Mutter aus, um den Kutscher und den Lakaien zu rufen, sie unterrichtet selbst den Schutzmann und geht in tiefer Nacht – ich begreife nicht, wo sie den Muth hernahm – nach dem Polizeibureau und bringt die ganze Polizei auf die Beine.«

Nik hatte sich bei dieser Erzählung höher aufgerichtet. Zum ersten Male schien er lebendigeren Antheil zu nehmen an dem, was die Mutter sprach. In diesem Augenblick aber meldete der Diener Besuch an, und müde fiel Nik wieder in seinen Stuhl zurück. Die Frage der Mutter, ob er Tante Klara sehen wolle, erwiderte er nur mit einer Geberde des Abscheus, worauf die Mutter sich rasch entfernte und ihn allein ließ.

Fremd und theilnahmlos ließ er sein Auge in dem Raume umhergehen, den er so viele Jahre bewohnt hatte. Da hingen noch die Kaulbach'schen Goethebilder an den Wänden, da stand noch die schlanke Hebe auf dem Ofen mit dem Kruge und den steifen, fliegenden Falten, und hier war sein schwedisches Bauerntischchen mit Bibel und Gesangbuch. Die gute Mutter hatte es sich Mühe kosten lassen, Alles wieder herzustellen, wie es damals war.

»Damals!« sagte er leise und warf einen ängstlichen Blick im Zimmer umher. Alles schaute ihn so gespenstisch an. Dort war das Fenster, durch das die weiße Frau hereingesehen; das war keine Täuschung, kein Mißverständniß, wie jenes mit der Psyche. Dort war die Thüre, zu der der Vater todtwund sich geschleppt hatte. Auch das war kein Traum einer überreizten Einbildungskraft. Er hörte noch den schleifenden Tritt, das gespenstische Geräusch. Mit Zusammennahme aller Kräfte sprang er auf und ging zur Thüre; er wollte sie öffnen, wollte durch diese Zimmer gehen, um den Zauber zu brechen, aber als er die Klinke in der Hand hatte, schauderte er zurück. Er konnte den Fleck nicht sehen, wo sein Vater im Blute gelegen. Er war ja doch schuldig, er hatte ja selbst dem Mörder den Schlüssel ausgeliefert. Die Klinke in der Hand stand er da. Ihm war, als ob er wieder den schleppenden Schritt höre, das Stöhnen, das Rufen des Gemordeten. Kraftlos fiel ihm die Hand herab, und ohne die Thüre geöffnet zu haben, kehrte er nach seinem Sitze zurück und stützte das heiße Haupt in beide Hände. Wie sollte er diese Erinnerung ertragen, sein ganzes Leben lang! Dazu die Ungewißheit über den weiteren Verlauf des Processes! Wenn nur ein gnädiges Geschick ihn heute abberufen wollte! Heute glaubten sie noch Alle an seine Unschuld, schon morgen mußte er ihnen wieder der verabscheuungswürdige Helfer des Mörders seines Vaters sein. Er wußte ja, er würde in Müller's Proceß als Zeuge vorgeladen, er würde beeidigt werden. Er konnte doch nicht meineidig die Wahrheit verschweigen, und wenn er es thäte, was könnte es ihm helfen, da Müller ja doch gegen ihn aussagen würde. Frei war er freilich, aber war seine Lage darum im Geringsten besser? Klar, als ob er es schon erlebt hätte, stand ihm das Kommende vor Augen. Die Bewillkommnungsbesuche der nächsten Tage, die befangene Freundlichkeit der Intimen seiner Mutter, die ihn für schuldig gehalten, und die eigene Seelenpein, alle die Reden über seine Unschuld anhören zu müssen, bei dem entsetzlichen Gefühle der Schuld. Wie sollte er es ertragen, von Elfrieden als gereinigt von jedem Vorwurfe begrüßt zu werden, den Tod im Herzen. Und dann würde der Tag kommen, der allem diesem Lug und Trug ein Ende machen mußte. Er würde mit den Freunden und Hausgenossen in dem Zeugenzimmer sitzen. Einer nach dem Anderen würde hineingehen in den Gerichtssaal, um dem rothen Müller gegenübergestellt zu werden. Mit der Klarheit eines Hellsehers stand ihm der ganze Vorgang vor Augen. Jetzt wird auch er aufgerufen – sein Herz klopft bei diesem Gedanken, als ob er sofort vor die Richter treten solle. – Der Saal ist gedrängt voll Menschen. Sie alle starren ihn an. Sie bemitleiden ihn, der so unschuldig geduldet. Die Damen trocknen sich die Augen. Nur Müller sieht ihn boshaft an, und seine grünen, tiefliegenden Augen funkeln vor Freude. Nun muß er schwören, nichts zu verheimlichen. »So wahr mir Gott helfe«, bebt es von seinen Lippen. Wie es still wird im Saale, als er seine Geschichte erzählt, wie die Nächsten von ihm weg rücken, wie ein Laut der Entrüstung durch die Menge geht, als sie hören, daß der Sohn es war, der dem Mörder den Schlüssel zum Zimmer des Vaters gab! Auch in das Zeugenzimmer dringt alsbald die unerhörte Kunde, und entsetzt ziehen sich die Hausgenossen von ihm zurück, als er wieder eintritt. Warum reicht ihm denn keiner die Hand, warum sagt ihm keiner ein Wort? Es schaudert ihnen, Dich zu berühren. Und verzweifelt drückt er beide Hände vor sein Angesicht, und ein Seufzer dringt aus seiner Brust, wie das Stöhnen eines sterbenden Thieres, das im Waldesdickicht, in tiefer Einsamkeit, nur von Gott gesehen, verendet.

Der Zeiger der Uhr neben der Thüre hat nur wenige Minutenstriche auf seinem Zifferblatte zurückgelegt, seit die Baronin durch diese Thüre hinausgegangen ist, aber in dieser kurzen Spanne Zeit liegt für Nik seine ganze Zukunft. »Ich kann das nicht ertragen«, stöhnt er. Eine Weile sieht er starr vor sich hin, er versucht es, den furchtbaren Druck, die entsetzliche Angst abzuschütteln, die auf ihm liegt. »Gott, wie wird das Alles enden«, fragt er.

In dieser Noth und Beklemmung des Herzens fällt sein Auge auf die Bibel, die die Mutter sorglich auf sein Tischchen gelegt hat. Er greift mechanisch nach ihr, wie er es im Gefängniß so oft gethan. Vielleicht weiß dies schwarze Buch eine Antwort, einen Trost. Es ist ja nicht bloß für Fritz geschrieben, sondern für jede gequälte Menschenseele. Noch halb träumend nimmt er von dem Nadelkissen auf dem Tische eine Nadel, läßt die Blätter des Buches auseinander fallen und sticht auf das Gerathewohl hinein. Die erste Losung gilt nicht, denn er hat die Bibel verkehrt aufgeschlagen, die Zeilen stehen auf dem Kopfe. Er dreht das Buch um und fragt auf's neue. Dann liest er die Worte, die er getroffen. Sie lauten: » so sollst Du des Todes sterben

»Oh, wenn das Gottes Wille wäre«, seufzte er, »wie gerne, wie gerne.« Aber seine Beklemmung nimmt nur zu, er zittert. Ein banges Gefühl zieht ihm durch das Herz, daß jetzt wohl der Gedanke, mit dem er gespielt, zum Ernste werden könnte. Freilich hatte ihn Elfriede gewarnt, sich von einer bekannten Welt in eine unbekannte zu stürzen, wo vielleicht noch schlimmere Strafen auf ihn warteten, aber wenn ein gütiges Geschick ihn befreite von der Last dieses Lebens, wie dankbar wollte er sein. »Des Todes sollst Du sterben!« Leise zittert von seinen bleichen Lippen die Frage: »Wie lange noch, wie lange muß ich es tragen?« Und er wiederholt seine Stichfrage in dem heiligen Buche. Fiebernden Auges sucht er die Antwort, und liest: »Heute noch wirst Du mit mir im Paradiese sein.« Sein Athem stand still. Mit irren Blicken schaute er um sich, und ein kaltes Frösteln schlich ihm über den Rücken, wie damals, als ihm das Gespenst nach seinem Nacken griff. »Wird sie mich erwürgen?« dachte er. »Oder steht noch ein Mörder bereit, der das Herz des Sohnes trifft, wie jener das Leben des Vaters getroffen?« Er warf einen scheuen Blick nach dem Fenster. Draußen erhob sich vielleicht die weiße Frau. Dann gingen seine irren Augen nach der Thüre, hinter der am Ende der blutige Geist seines Vaters lauerte. »Wie soll ich sterben, heute noch sterben«, stammelte er, »durch wen?« Und mit zitternder Hand versuchte er zum dritten Male sein Glück. » Und mich mit eigener Hand erlöset habe«, sprach dieses Mal das Orakel.

Nik legte sein Haupt auf das Buch. So saß er lang, eine lange gottverlassene Stunde. Oft schien es ihm, als ob hinter der Thüre sein Vater nach ihm rufe, dann schrak er wieder auf, wenn der Ostwind des hellen Herbstmorgens gegen sein Fenster stieß. Endlich erhob er sich. »Der Rath ist gut«, flüsterte er leise vor sich hin. »Wozu immer warten und warten. Und mich mit eigener Hand erlöset habe – erlöset!« Er trat zum Spiegel. Sein bleiches, verstörtes Antlitz schaute ihn fremd an. Kein Zug war übrig von dem fröhlichen Nik von ehedem. Ja, er wollte ein Ende machen, statt in das leere, öde Leben wieder einzutreten, das ihn doch nur, er fühlte es, dem Laster wieder zuführen würde.

Langsam und sorgfältig kleidete er sich an. Als er den Hut bereits aufgesetzt hatte, und schon unter der Thüre stand, kehrte er nochmals zu dem schwarzen Buche zurück. Nochmals befragte er es. Vielleicht widerrief es seine dunkle Losung. Aber mit einem Fluche schleuderte er es alsbald an die Erde. » Wer mit Dieben Theil hat, der hasset sein Leben«, hatte er gelesen.

Mit großen Schritten durchmaß er den Vorplatz. Er hörte in den Gemächern der Mutter die Stimmen der Tanten und Freundinnen. »Das wäre mein Loos für die Zukunft, dieses Gewäsche anzuhören Tag für Tag«, sagte er mit grimmigem Hohne. »Nein, wer weise ist, erlöset sich selbst ... ›und mich mit eigener Hand erlöset habe!‹«?

Dennoch schwankte er noch einen Augenblick. Selbst die Versuchung kam ihm, die Niedergeschlagenheit, die sich seiner bemächtigt hatte, mit der im Gefängniß neu gewonnenen Uebung im Trinken zu bekämpfen. Aber mit einer Geberde des Ekels wies er die gemeine Lockung von sich. Ohne Jemanden zu beachten, zu begrüßen, zu sehen, mit nach innen gewandten Augen suchte er den Weg nach dem Flusse. Durch den Obstgarten, der schon halb entlaubt stand, betrat er die dunkle Grotte, die zum Ankerplatze der Schiffe führte. Die gegenüberliegende Thüre stand heute offen, und ließ einen hellen Strahl des bläulichen Oktoberlichtes durch den unterirdischen Gang streifen, und an der gewölbten Decke zitterten die Reflexe des Wassers. Sein Entschluß war gefaßt; er wollte hinausfahren in den Strom und dort Erlösung suchen, sei es, daß er an irgend einer gefährlichen Stelle in seine Wirbel sprang, sei es, daß er unter einen der großen Dampfer steuerte, und so zu Grunde ging. Hastig schritt er die schmale Treppe nach dem Ufer hinab, wo die Kähne im Schatten einer alten Weide lagen.

»Bist Du es, Fritz?« hörte er nun von unten eine süße, wohlbekannte Stimme fragen.

Nik schrak zusammen. Sein Fuß zögerte, ja er wendete sich rückwärts. Plötzlich aber war es, als ob ein Blitz in ihn einschlage. »Sie soll mich begleiten in jene Welt!« dachte er: »Mit ihr zusammen ist es leicht zu sterben, und ich will sie nicht zurücklassen, wenn ich gehe. Wir gehören einander.« Er bog die Zweige zurück, und sah Elfrieden in dem Boote sitzen, das er ihr einst hatte bauen lassen. Die Kette war um den Baum geschlungen, damit die Strömung die Blinde nicht mit sich ziehe. Die grellen Farben des Schiffchens waren matter geworden, aber noch immer trug es deutlich den Namen Elfriedens. Sie sonnte ihr blondes Köpfchen, das sie in die Hände stützte, und lauschte auf das träumerische Geplätscher der Wellen, die am Strande sich brachen, und gurgelnd zurückrollten. Fritz war nach dem Schlosse gegangen, um ein Segel zu holen, und zugleich zu fragen, wann Nik wohl zu erwarten sei, bis dahin wollten die Zwillinge auf dem Strome weilen, der Elfriedens müdem Kopfe Kühlung zuwehte. Als Nik das junge Mädchen so sorglos in dem leichten Boote sitzen sah, hielt er einen Augenblick inne. Aber der Dämon in seiner Brust stieß ihn vorwärts. Allein hätte er vielleicht nicht zu sterben gewußt, aber indem er sein Liebstes zugleich vernichtete, schien der Tod ihm leichter. Mit hastiger Hand löste er die Kette des Schiffchens und sprang in das Boot.

»Das ist nicht Fritz!« rief die Blinde erschrocken, »um Gottes Willen, was soll das?«

Nik erwiderte nichts, sondern stieß mit einem Rucke vom Lande ab, und legte sich kräftig auf seine beiden Ruder. »Wer ist es?« rief die Blinde, indem ihre Augen in ihren Höhlen kreisten, während ihre Hand wie zum Schutze nach dem nächsten Ruder griff. »So sprecht doch! Wären Sie blind, Sie wüßten, wie Sie mich ängsten!«

»Ich bin es, Elfriede«, sagte jetzt Nik in traurigem Tone. Als sie den Laut dieser Stimme vernahm, schlug ihr die Röthe wie eine Flamme in ihr liebliches reines Kinderangesicht, und indem sie ihr Ruder aus der Hand legte, streckte sie ihm beide Hände entgegen, und rief: »Du böser Nik, wie konntest Du mich so erschrecken, weißt Du denn nicht, wie sehnlich wir Alle Deiner harrten«, und sie holte tiefen Athem, und preßte ihre kleinen weißen Kinderhände auf ihr Herz, als ob sie sich von der ausgestandenen Angst erholen wolle, aber in ihrem Antlitz lag bereits wieder die seligste, reinste Freude. Hätte sie die Augen ihres Steuermanns gesehen, sie hätte sich nicht gefreut, sie hätte um Hülfe gerufen. Es waren die Augen eines Irren. Ein seltsames Paar, das Mädchen mit dem Blicke der Blinden, der glänzend und dennoch leer war, in dem Auge des bleichen Jünglings aber flirrte der Wahnsinn. Beide wollten reden, konnten aber nicht, da die Thränen sie würgten; beide waren jetzt bleich und elend. »Du bist so seltsam, Nik«, sagte endlich Elfriede. »Warum sprichst Du nicht?« Er schaute sie düster an, zog beide Ruder ein, und ließ das Schiff mit der Strömung weiter treiben. Dann sprang er auf die nächste Bank, so daß das Schiff schwankte, und flüsterte leise: »Ich wollte ganz allein mit Dir reden, ohne Zeugen.«

Die Blinde hielt sich mit beiden Händen an dem schaukelnden Schiffchen und bog ihr Haupt zur Seite, da Nik's Wesen sie ängstete.

»Du hältst mich für unschuldig«, sagte er mit heiserer Stimme. Entsetzt fuhr Elfriede auf und streckte wie abwehrend ihre Hände gegen ihn aus. Er aber lachte und sagte: »Ein Dieb bin ich. Ich habe Müllern den Schlüssel gegeben, damit er sich das Geld stehle, das ich ihm nicht schaffen konnte, und so ist das Schreckliche geschehen. Begreifst Du nun, daß ich nicht mehr leben mag?«

Sie überhörte den Sinn dieser Frage. Konnte sie doch den Todesentschluß nicht sehen, der in seinen düster glühenden Augen zu lesen war. Sie faltete nur wie betend ihre kleinen Hände zusammen und sagte gramvoll: »Du armer, armer Mann!« Eine Weile schwiegen sie, während das Boot von der Fluth weiter gezogen in den Mühlgraben einlenkte, der an dieser Stelle vom Strome abzweigte.

»Würdest Du mich auch jetzt noch heirathen wollen«, nahm Nik wieder das Wort, »nachdem Du weißt, daß ich ein Dieb bin?«

»Wie Du redest«, sagte Elfriede unwillig. »Ich wollte Dich nie heirathen. Wie kann denn eine Blinde heirathen? Ich könnte ja nie Dein Hauswesen leiten, nie Kinder erziehen. Es wäre nur Selbstsucht, wenn ich es thäte. Deine Schwester wollte ich sein, Dir Deine Sorgen abnehmen, Dich warnen vor Deinen Schwächen und vor dem bösen Menschen, der all' dieses Leid über Dich gebracht hat.«

Nik lachte bitter vor sich hin. »Du thust wohl daran. Wer mit Dieben Theil hat, der hasset sein Leben.«

»Nik, rede nicht so«, sagte Elfriede, »es zerreißt mir das Herz.« Sie fing an zu weinen.

»Nicht wahr, nun begreifst Du, daß ich nicht mehr leben kann«, sagte Nik milder.

»Du sollst aber leben«, rief Elfriede. »Jeder kann sich erheben, wie tief er gefallen sein mag, wenn er Gottes Hand nur ergreifen will. Du hast doch selbst in der Kirche gesprochen: ›Ich glaube an die Vergebung der Sünden.‹ So glaube auch, wie wir Alle es glauben und Alle es nöthig haben.«

»Es ist zu spät«, rief Nik. Die Blinde aber horchte in die Ferne. Beide hörten vom Ufer her Fritz rufen. Elfriede verstand nicht, was der Bruder wolle, aber das unklare Gefühl einer drohenden Gefahr hatte sich ihrer bemächtigt. Nik's Reden klangen so sonderbar, und der Mühlgraben wurde reißender. Selbst die Blinde fühlte, wie das Schiff pfeilschnell dahinschoß. Wieder hörte sie Fritz zornig vom Ufer her Nik zurufen: »So halte doch rechts, rechts steuern.« Aber die Mahnung erbitterte diesen nur. Statt aller Antwort warf er beide Ruder weit von sich in's Wasser. »Was thust du, Nik?« sagte die Blinde, sich ängstlich erhebend. Ihr scharfes Ohr vernahm bereits das Rauschen des Wehrs, dem sie mit jedem Augenblicke näher kamen, und sie fühlte, wie das steuerlose Boot sich um sich selbst drehte. Jetzt erst wurden ihr Nik's verworrene Reden klar, und Todesgrauen überrieselte sie. In dem gleichen Augenblicke hörte sie aber am Ufer einen Fall in's Wasser. Fritz hatte sich in die reißenden Wellen gestürzt und schwamm auf sie zu.

»Nik, bedenke Deine und meine Seele«, rief Elfriede in bleicher Verzweiflung. Er aber hatte seine Arme übereinandergeschlagen und starrte, den rührenden Anblick ihrer hülflosen Angst vermeidend, an ihr vorbei nach dem Wehr, über das das Schiffchen hinabschießen mußte unter die Mühlräder. Jeder Augenblick brachte sie dem tosenden Falle näher, während anderseits Elfriede durch das Brausen hindurch bereits Fritzens keuchend arbeitenden Athem vernahm, und hülfesuchend beugte sich die Blinde dem Bruder entgegen. Nik sah ein geröthetes Antlitz sich durch die Wellen drangen, während kräftige Arme die Fluth theilten. Bis dahin hatte er es mehr dem Zufall überlassen, wohin die Strömung den Nachen treiben werde, sie sollte entscheiden. Als aber Fritz dieser Entscheidung in den Arm fallen wollte, kochte sein Blut tückisch auf. Er rieß Elfriedens Ruder an sich und lenkte mit einem Schlage in die Mitte des Stroms. Im nächsten Momente erkrachten die dünnen Planken des Schiffchens, das auf dem Wehr aufgefahren war. Im selben Augenblicke hatte auch Fritz den Rand des Boots mit fester Hand erfaßt. »Hierher, Elfriede!« rief er der Blinden zu, sich mit seinem ganzen Gewichte an das Schiff klammernd, so daß es einen Augenblick über dem Wehre schwebte. Elfriede sprang auf, ihm entgegen. Noch erreichte sie seinen Arm. Aber indem Fritz mit der rechten Hand losließ, um die Schwester aufzunehmen, schoß der Nachen das Wehr hinab, ihn selbst mit sich ziehend. Einen Augenblick später schlug das Schiffchen um, und die drei Gestalten versanken in dem brausenden Gischt der gewaltigen Mühlräder.

In der Mühle wurden die Mühlknappen im gleichen Augenblicke gewahr, wie das Rad mit einem Hindernisse kämpfe und ungleich arbeite, bis es plötzlich ganz still stand. Der Müller selbst eilte hinaus, um zu sehen, was es gebe, aber bereits war es zu spät zur Hülfe. Er sah die Trümmer eines bunt bemalten Schiffchens in den Wellen treiben, während zwischen den Speichen des wieder in Gang gekommenen Mühlrads eine jugendliche Gestalt auf und ab geschleift wurde, in der er zu seinem Schrecken den jungen Gutsherrn erkannte.


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