Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Fünfzehntes Kapitel

Mein Vater war Jäger, hatte selbst eine Jagd gepachtet und wurde vielfach, so auch von der fürstlich-plessischen Jägerei, zu Jagden geladen. Seine Heldentaten, die ich ihn selbst nicht erzählen hörte, belebten immer aufs neue den Familienstolz. Eine Doublette in Hirschen, die er bei einet Verlappjagd in den Görbersdorfer Bergen, dem Revier Onkel Adolfs, im wahren Sinne des Wortes erzielt hatte, war der Höhepunkt. Dann kam ein erlegtes Hermelin, in der Nähe von Salzbrunn als Wunder empfunden. Mein Vater hatte geglaubt, ein Stück Papier zu sehen, das der Wind bald so, bald so hin und her bewegte. Eigentlich mehr aus Schießlust hielt er mit der Doppelflinte darauf, worauf der Papierfetzen seine Tänze einstellte. Was er aufnahm und als Trophäe heimbrachte, war, wie gesagt, ein Hermelin.

Zufällig eines Nachts war ich wach, als mein Vater sich für den Pirschgang zurechtmachte. Als er mit seinen Verrichtungen fertig war, zog es ihn in seiner vollen winterlichen Vermummung zum Abschied noch einmal an mein Bett, und er wollte mir zärtlich mit den Fingern durchs Haar fahren. Beim Dämmer des Nachtlichtchens aber geriet unversehens ein Finger mit heftigem Stoß in mein linkes Auge. Die Funken stoben aus meinen Wimpern.

Ich habe meinen Vater kaum je lieber gehabt als in diesem Augenblick. Noch größeren Schmerz hätte ich auf mich genommen, wenn ich den seinen und seinen Schreck damit hätte zu mildern vermocht. Er legte sogleich alle Jagdutensilien ab, und er und die Mutter machten mir nasse Umschläge. Erst als der Schmerz sich beruhigte und mein Auge sich als unbeschädigt erwiesen hatte, trat er, und zwar nur auf Zureden meiner Mutter, den Pirschgang doch noch an.

Ein ähnlicher Vorfall hat, wie ich fürchte, eine kleine Folge zurückgelassen. Eines Tages im Herbst erlaubte mein Vater mir, ihn zu begleiten, als er mit der Flinte ein wenig das Gelände absuchen wollte. Ich war erstaunt, wie er ohne Weg und Steg in jeder gewünschten Richtung über die Felder von Hinz und Kunz mit mir stapfen durfte. Ein Dutzend Schritte abseits von ihm, hörte ich ihn dann das Kommando »Duck dich!« rufen. Ich tat es, wobei ich das rechte Ohr nach oben wendete. An diesem ging sein Schuß, der leider den Hasen, auf den er zielte, fehlte, ich weiß nicht in welcher Entfernung vorbei.

Ob ich glaubte, getroffen zu sein? Das Ohr war jedenfalls taub geworden. Mein Vater muß keinen geringen Schreck gehabt haben, denn meine Benommenheit, die man auf alle mögliche Weise deuten konnte, dauerte eine lange Zeit. Selbst die schlimmste Vermutung war nicht ganz von der Hand zu weisen, nämlich daß mir ein Schrotkorn irgendwo eingedrungen sei.

 

Ein Rätsel ist mir bis heut meines Vaters pädagogische Fähigkeit. Hätte er sie mir regelmäßig und dauernd zugewendet, die Anfangsgründe meiner Bildung wären solider ausgefallen. So lehrte er mich zum Beispiel durch eine kurze, einleuchtende Erörterung die Zeit von der Uhr ablesen, und so fort.

Eines Tages war ich verzweifelt, weil ich als der Kleinste eine Schlittenpartie zu Onkel Adolf nach Görbersdorf wieder einmal nicht mitmachen sollte. Ich ließ mich empört über diese Zurücksetzung und überhaupt meine Lage als Jüngster aus. »Gerhart«, sagte mein Vater, »sei ruhig, wir wollen uns schon amüsieren auf unsere Art!«

Worin bestand dieses Amüsement?

Wir saßen ein Stündchen in der Vier, und am Ende eines Geplauders, das mir Aufmerksamkeit und Spannung abnötigte, sagte ich Schillers Ballade »Der Taucher« von Anfang bis Ende her und habe sie bis heut im Kopfe behalten.

 

Mein Vater schätzte Freimut als eine hohe menschliche Eigenschaft. Wenn das Eingeständnis einer Verfehlung aus Liebe zur Wahrheit geschah, konnte es die Schuld in seinen Augen aufheben. Von Beispielen solcher Handlungen brachte er immer dieses oder jenes vor, wenn er im gleichen Sinn auf uns einwirken wollte.

Groß war der Respekt, den mein Vater als Leiter des Gasthofs bei den Angestellten genoß, man darf sogar von der Furcht des Herrn reden, die überall von Kutscherstube zu Küche, von dort zu den Sälen und Zimmern vorhanden war. Hielt er seinen Nachmittagsschlaf, so trat eine Atempause ein. Aber alles war sogleich elektrisiert bei dem energischen Klingelzeichen aus seinem Zimmer, das sein Wiedererwachtsein ankündigte.

Seine Reserviertheit war den meisten Hotelgästen unheimlich. In der Tat besaß er nichts von der so vielen Gasthofbesitzern eigenen liebenswürdig-unterwürfigen Wesenheit, sondern trat selbst den Salzbrunn besuchenden hohen Persönlichkeiten nicht anders als gleich und gleich gegenüber.

Da mein Vater lange Zeit der einzige Sohn des Großvaters Hauptmann, eines vermögenden Mannes, gewesen ist, der mit Vorliebe alles an ihn wendete, ist er an eine gewisse Lebenshaltung gewöhnt worden. Niemals war er verschwenderisch, aber neben der Jagd, die er pachten durfte, billigte ihm der Vater ein Reitpferd zu und redete ihm ebensowenig drein, als er seine sportliche Liebhaberei mit Ein- und Zweispännern fortsetzte.

Alles dieses verbot sich eigentlich, als der Großvater nochmals heiratete und, im Alter schon über die Sechzig hinaus, den Segen eines Zuwachses von drei Töchtern und einem Sohn genoß. Es scheint jedoch, daß mein Vater sich von seinen noblen Passionen nicht sogleich trennen konnte. Er setzte sie sogar noch während meiner Kindheit fort und schob den ständigen Einspruch meiner sparsamen Mutter mit Achselzucken beiseite.

Unsere Pferde waren die schönsten im Ort. Der livrierte Kutscher und die modernen Wagen waren die Ursache, daß man den Vater hin und wieder bei Ausflügen mit »Herr Graf« oder wenigstens »Herr Baron« anredete. Die wunderliche Differenzierung meiner Wesenheit brachte es mit sich, daß mich, den leidenschaftlichen Straßenjungen, wenn wir in der Equipage saßen, ein Vornehmheitsdünkel überkam und ich den lauten Gesang der Geschwister, womit sie sich die Zeit vertrieben, mit Qualen verletzter Eitelkeit als unseren vornehmen Aufzug widerlegend und entlarvend empfand.

Wie ich richtig geahnt hatte, liebte Großvater Straehler meinen Vater nicht, und dieser, zurückhaltend von Natur, brauchte sich keine Mühe zu geben, gegenüber dem Schwiegervater den gleichen Mangel zu beschönigen. Und doch hatte mein Vater ein warmes Herz, was sich nicht nur uns Kindern gegenüber hie und da offenbarte, sondern vielfach an seinen Halbgeschwistern und neuerlich noch an Freunden erwies.

 

Seinen Freund Beninde, den er mit einem gewissen Enthusiasmus liebte, hatte er sich als Kurhausdirektor herangeholt, als er dieses Hotel durch Vermittlung des Schwiegervaters vom Fürsten gepachtet hatte. Von diesem Onkel Beninde, wie wir Kinder ihn nannten, mag hier kurz die Rede sein.

Es war tiefer Winter, als ich kleiner Junge unvermittelt Beninde in einem Zimmer des Kurhauses gegenüberstand. Das Hotel war geschlossen und bis auf die Zimmer Benindes unbewohnt. Wer diese aufräumte und seine Verpflegung in der Hand hatte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich einen schönen und vornehmen Mann wie ihn und Wohnräume wie die seinen nicht gekannt hatte. Vor allem aber setzte mich seine Beschäftigung in Verwunderung, da sie mir mit einem solchen Kavalier unvereinbar schien. Er stichelte nämlich an einer Stickerei, die mit schönen Farben und Bildern, soweit sie vollendet war, seine Knie bedeckend zur Erde fiel.

Die warmen Räume aber und zunächst der, in dem er saß, wurden von mir sofort in ihrer wohligen Eigenart und als Neuheit gefühlt. Der eigensinnig-feine Geschmack eines künstlerisch begabten und verwöhnten Junggesellen hatte sie eingerichtet. Den Boden bedeckten Teppiche, ausgesuchte orientalische Stücke, wie ich später erfuhr. Das Meublement vor den mit weinroten Brokaten verkleideten Wänden, Spiegel, Vitrinen, Tisch und Fauteuils, hatte ein Sammler und Kenner zusammengestimmt. Ich spürte genau, daß bei dem allem eine mir neue Fähigkeit im Spiele war und der Ausdruck besonderer Ansprüche.

Da er Carls und meine Gesellschaft in seiner von ihm bevorzugten, fast völligen Zurückgezogenheit gelegentlich nicht als störend zu empfinden schien und sich manchmal mit uns befaßte, verdanken wir ihm allerlei Spielwerk, das, weil er es selbst ersann und auch herstellte, mit dem sonst üblichen nicht vergleichbar war. So schnitzte er uns einen Fitschepfeil, den wir mittels einer Art Peitsche in unendliche Höhe schießen konnten. Er fertigte kunstgerechte Wurfspieße, die einem Polynesier Ehre gemacht hätten. Und immer wieder von Zeit zu Zeit beschenkte uns unter dem Wohlklang seiner weichen, gutturalen Stimme des schönen Einsiedlers kunstreiche Hand.

Onkel Beninde schwand, wie er auftauchte. Der immerhin wohl kleine Sommerhotelbetrieb bedeutete für einen Mann seines Schlages keinen genügenden Wirkungskreis. Er wurde später bei dem großen Borsig Privatsekretär und ist es bis an sein Ende gewesen.

Die Vorstellung Benindes ist für mich mit den nackten, wintersturmbewegten Bäumen auf den Promenaden verknüpft, auf die man durch seine Fenster blickte. Seine Zimmer waren gleichsam der stille Sieg über Öde und Schnee. So ist mir dies Nest intimen Daseins, intimer Kunst eine Erinnerung.

 

Eines Tages wurde ein zweiter Onkel Gustav, der Halbbruder meines Vaters, unser Hausgenosse. Die Namen Gustav und Adolf, die wohl auf Gustav Adolf, König von Schweden, zurückgehen, waren damals unter den Protestanten besonders beliebt. Der neue Onkel – er zählte wohl schon über dreißig Jahr – wurde von seinem Bruder, meinem Vater, wie ein Angestellter behandelt, also mehr sachlich als brüderlich. Unser, der Kinder, Herzen flogen ihm zu.

Es hatte sich die Ansicht verbreitet, daß er ein schwacher Charakter sei. Seine Einstellung in den Hotelbetrieb war wiederum ein Versuch, ihn zu einem brauchbaren Menschen zu machen. Er war dicklich und trug sich gern in karierten Wollstoffen. Sein Auge, glaub' ich, war etwas fad. Rötliche Brauen und rötliches Haar machten ihn Onkel Gustav Schubert ähnlich, trotzdem eine Blutsverwandtschaft nicht bestand.

Unser Gustav war ein Stotterer. Seine Schwäche, die wir Kinder ihm mit Liebe vergalten, war unüberwindliche Gutmütigkeit. So konnte er seinerseits als Vizewirt und Personalchef sich nur schwer in Respekt setzen. Uns Kindern etwas abzuschlagen, was wir sehnlich begehrten, vermochte er nicht. Fünf Silbergroschen, zehn Silbergroschen, die er von ihm erhalten hatte, zeigte mir Carl aller Augenblicke.

Unser Vater war ihm weit mehr als irgend jemandem im Hotel Achtungsperson. Man kann wohl sagen, er fürchtete ihn und ging, wo er konnte, ihm aus dem Weg.

Er führte die Bücher, hatte die Lohnauszahlung und den Keller unter sich, ging gelegentlich mit dem Vater auf Jagd oder fuhr mit ihm, wohl auch allein, nach der Kreisstadt Waldenburg, um einzukaufen oder Lieferungsabkommen für den Gasthof zu treffen.

Daß er gern in den kleinen Bierstuben allzu seßhaft war, trug ihm Rüffel und manchmal die heftigsten Vorwürfe meines Vaters ein, der gelegentlich drohte, ihn vor die Tür zu setzen, wie es hieß, und sich nicht mehr um ihn zu kümmern.

Mein Vater liebte seinen Halbbruder und hatte sich löblicherweise in den Kopf gesetzt, ihn aus der Gefahrenzone des Verlodderns herauszureißen.

Eines Tages drückte mir Onkel Gustav, der mich Framper nannte, ein Fünfgroschenstück in die Hand, eine Summe, wie ich sie nie besessen hatte. Ich war völlig berauscht, als ich sie plötzlich in der Hand fühlte. Ich ließ sie mir fünf Minuten später im kleinen Kramladen der Witwe Müller, mit deren Sohn ich oft stundenlang Tüten klebte, in Kupferdreier umwechseln. Was zwanzig Stück dieser Geldsorte ausmachten! Nun erst war ich befriedigt mit meinem, wie ich glaubte, unerschöpflichen Reichtum in der Faust.

Eine Stunde später hatte ich Zeit und Veranlassung, über die Vergänglichkeit eines so ungeheuerlichen Schatzes nachzudenken. Ich hatte vor meinen Myrmidonen und Spielkameraden damit herumgeprahlt und mir schließlich Dreier für Dreier abbetteln lassen.

 


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