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Siebzehntes Kapitel

Sechs Wochen lang war er krank. Seine sämtlichen Leiden überfielen ihn auf einmal, als wenn sie dieses zähe Leben mit vereinter Kraft besiegen wollten. Das Gelenkleiden kehrte wieder, seine Hand und sein Fuß schwollen an, jede Bewegung bereitete ihm namenlose Schmerzen. Die Nieren funktionierten nicht, das Herz begann abwechselnd auszusetzen und dann wieder heftig zu schlagen. In der Stadt verbreitete sich die Kunde, daß es dem Ende zugehe. Der großherzogliche Hof erkundigte sich regelmäßig. Einige Tage darauf erschien Fanano, der Oberinquisitor. Er erkundigte sich nach dem Befinden des Kranken und fragte, ob er ihm nicht einen Wunsch erfüllen könne. Galilei schüttelte das Haupt:

»Jetzt habe ich keine Bitte mehr!«

Fanano ging. Torricelli und Viviani wichen nicht vom Krankenlager. Auch in die Nachtwachen teilten sie sich. Seine Schlaflosigkeit nahm dermaßen überhand, daß er im Verlaufe von sechs Wochen kaum einige Stunden Ruhe fand. Der Arzt meinte, ein ähnliches Beispiel noch nie erlebt zu haben. Jetzt kam auch Nencio wieder öfter. Jede Sekunde konnte der Greis sterben, aber jener göttliche Funke seines Lebens hielt zäh an seiner irdischen Hülle fest.

Auch jetzt war er noch klar bei Verstand. Da er nicht schlafen konnte, arbeitete sein angespanntes Gehirn ohne Unterbrechung. Er begann, sich mit ganz sonderbaren Gedanken zu befassen. Er fragte seine Pfleger zum Beispiel, ob unter den bronzenen Ornamenten des großen eisernen Domtores sich nicht noch ein Ornament befände und welche Zeichnung jenes Ornament unten abschließe. Niemand konnte ihm diese Frage beantworten. Nencio mußte eigens zum Dom gehen, um nachzusehen.

»Drei Engel befinden sich dort«, erzählte er, als er wieder zurück war, »gleich einer Vignette unter einer biblischen Zeichnung.«

»Ja, ja«, erwiderte lebhaft der blinde Greis, »jetzt sehe ich es wieder. Das hat mir in der Struktur gefehlt.«

Dann ließ er sich eines Morgens, ganz frühzeitig, von Viviani aus seinen sorgfältig gebündelten Schriften die ältesten heraussuchen. Die Aufzeichnungen aus seiner Jugend. Daraus ließ er sich stundenlang vorlesen. Auch Gedichte befanden sich darin. Gedichte aus seiner Kindheit. Sie gefielen ihm, und er lobte sie. Am anderen Tage grübelte er wieder darüber nach, wie eigentlich der junge Mann geheißen habe, der aus Siebenbürgen gekommen und in Padua während seiner Professur gestorben war. Torricelli hatte stundenlang in den Paduaner Aufzeichnungen gesucht, aber keinerlei Vermerk gefunden. Schon hatte er sich entschlossen, an den Bo zu schreiben und um dringende Nachricht zu bitten, als dem Kranken der Name von selbst einfiel: Giorgio Korniß. Dann erinnerte er sich, daß er in seiner Jugend einmal ein Schauspiel zu schreiben angefangen hatte. Jetzt bat er, ihm auch dieses hervorzusuchen. Sie fanden es und lasen es ihm vor. Zufrieden nickte er.

Je weiter es dem Ende zuging, um so mehr dachte er nach und sprach um so weniger. Nur ganz selten sagte er noch hin und wieder einen Satz.

»Sonderbar: der Kronleuchter in Pisa und die Pendeluhr. Ich habe mit dem Pendel begonnen und beende mein Werk mit dem Pendel.«

Ein anderes Mal sagte er:

»Der große Krieg dauert schon seit sechzehnhundertachtzehn. Vierundzwanzig Jahre! Ob das Christus gefällt?«

Und wieder ein anderes Mal:

»Ich bin geboren, als Michelangelo starb. Ich bin achtundsiebzig Jahre alt. Wer wird wohl zur Welt kommen, wenn ich sterbe?«

Am achten Januar untersuchte ihn der Arzt und riet, einen Geistlichen zu rufen. Ihn, den Arzt, habe man hier nicht mehr nötig. Gefaßt nahm der Kranke dies zur Kenntnis. Er bat Viviani, einen Geistlichen zu holen. Nencio schickte sofort den kleinen Diener Gepe in die Stadt: seine Frau möge gleich kommen. Bald darauf trat der Plebanus von Arcetri ein. Alle anderen gingen aus dem Zimmer. Der Sterbende beichtete. Er gestand, daß er seit acht Jahren, also seit seinem Prozeß, in Sünden gelebt habe; denn er habe seine wiederholten Eidbrüche niemals gebeichtet und trotzdem kommuniziert.

»Es schmerzt mich aus meinem ganzen, tiefsten Herzen, daß ich vor Gottes Antlitz in eine solche Lage gekommen bin.«

Der Plebanus erteilte ihm Absolution. Der Sterbende erhielt die letzte Ölung. Dann kamen auch die anderen wieder herein. Der Plebanus blieb, um zu trösten. Es war abends um zehn Uhr. Wenige Minuten nach zehn trat Pater Fanano, der Oberinquisitor, ein. Er erkundigte sich, ob der Kranke die letzten Sakramente schon erhalten habe. Als man ihm dies bejahte, trat er an das Lager des blinden Greises.

»Galileo Galilei, ich habe Vollmacht erhalten, Euch den Segen Seiner Heiligkeit, Unseres Herrn, des Papstes Urban VIII. zu übergeben.«

»Danke«, flüsterte er.

Die beiden Geistlichen der Inquisition blieben da. Sie nahmen Platz. Bald kam auch Sestilia. Schluchzend kniete sie neben dem Bett nieder und ergriff die Hand des Sterbenden. Sie küßte sie. Man beruhigte sie und geleitete sie zu einem Stuhl. Da war es elf Uhr.

»Was für ein Tag ist heute?« fragte der Kranke plötzlich.

»Mittwoch«, antworteten die anderen fast gleichzeitig.

»Geht morgen zu Angela. Sagt ihr, sie möge für mich beten.«

Später sagte er noch etwas, aber so leise, daß man es nicht mehr verstehen konnte. Keiner wich von seinem Krankenlager: Nencio, seine Frau, Torricelli, Viviani, der Plebanus. Und auch die beiden Inquisitoren nicht. Sie saßen schweigend da und warteten. Wahrscheinlich, um die Nachricht sofort an zuständiger Stelle zu melden. Im Vorzimmer warteten Porzia und die beiden Diener. Der Kranke hielt seine blinden Augen offen und atmete in kurzen, keuchenden Zügen. Außer diesem Atemzug und dem Knacken eines Stuhles konnte man keinen Ton weiter in dem Zimmer vernehmen. Das währte bis frühmorgens um vier Uhr.

Dann löste sich seine Seele, hob sich empor, und schneller denn der Lauf der Himmelskörper glitt sie in die Unendlichkeit. Er sah alles und wußte alles. Er wußte, daß sich in dieser Sekunde ein Teilchen seiner Unvergänglichkeit weit, weit entfernt in England auf einem einsamen Bauernhaus niederließ. Dort schenkte in dieser Sekunde eine Witwe einem Sohn das Leben. Der Vater war erst vor kurzem gestorben. Er hieß Newton. Diese Vision währte nur den Bruchteil einer Sekunde und war dann schon nicht mehr wesentlich. Die Unendlichkeit tat sich auf. Und an einem winzigen Punkt dieser Unendlichkeit glitt er zusammen mit dem Diamantstaub der sich um die kaum sichtbare, winzig kleine Sonne herumdrehenden Staubkörnchen als Nichts in die Ewigkeit und wurde eins mit Gott.

Dort unten lag ein alter, bärtiger Leichnam auf dem Bett, die zurückgelassene Hülle seiner Seele. Die Inquisitoren bekreuzigten sich und schritten in den frostigen Morgen hinaus, um zu melden: der Gefangene ist gestorben! Nencio tröstete Sestilia:

»Wir haben uns in Gottes Willen zu fügen. Legen wir uns jetzt zur Ruhe; denn morgen wird mit der Vorbereitung des Begräbnisses und mit der Aufnahme des Inventars sehr viel zu tun sein.«

Auch der Plebanus ging. Aber Viviani und Torricelli konnten sich nicht trennen. Sie sanken sich vor dem Sterbebett in die Arme und schluchzten, schwer nach Atem ringend.

 


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