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Die fünf Erzählungen des Bonifaz


Der Schleier

Ich war siebzehn Jahre all und früh aufgeschossen, und ein nordischer Winter hatte mich arg ins Husten gebracht, als mich die Mutter im zeitigen Frühling bei ihrem Bruder versorgte, in einem winkligen Städtchen am See, vom Staub alter Speicher und Dufte junger Veilchen in jenen Tagen voll. Der Onkel war Junggeselle und hielt einen Eisenladen am Marktplatz, und kein lediges Frauenzimmer gab's zu jener Zeit im Lande, das nicht fürsorglich ein Verlangen nach einer neuen Pfanne, einer massenmörderischen Mausefalle oder dann, bescheidener, einem Päcklein Nägel nährte, um es in einer guten Stunde vor den lustigen Graubart zu tragen und so ein Recht zu haben, den durch die lieblichste Nähe daran zu erinnern, wie so ungezupft ein Röslein dahinblühe, vom Pflücken ganz zu geschweigen. Aber wollte diese Erinnerung übermächtig werden, dann schob sich der dünne Schatten Philomelens, der Wirtschafterin, vor den süß und bös Bedrängten und deckte ihn auch vor der weitläufigen Breitseite eines Weibleins, das vor Überfülle bei jeder Bewegung in den Nähten krachte. Denn diese Philomela hatte ein Näslein, spitz wie eine Nadel, und wen sie aufs Korn nahm, dem war, als stochere diese Sonde in den heimlichsten Winkeln seines Herzens herum. Dabei kam sie aber dem Onkel nur dann zu Hilfe, wenn dem selber darum zu tun war, ihm ein Scherz zu ernst gedeutet und der Weg ins Freie verstellt werden wollte. Dann war sie ungerufen da, Beistand und Retterin, eine Chronik aller Familien und aller Heimlichkeiten, die von jedem Menschen ein weniges mehr wußte als der selber. Und war der Sturm eines mannesbedürftigen Herzens abgeschlagen, dann war sie wieder das, als was sie von Berufes wegen Lob und Preis einzuheimsen liebte: eine fürtreffliche Wirtschafterin. Und nach solchen Siegen hauste im Herde ein wahres Freudenfeuer, und Philomele kochte, daß einem der gesegnete Tag unvergänglich in der Erinnerung fortlebte.

Diese tapfere Schafferin kurierte alles mit guter Kost, und ich, der ich für der Erholung bedürftig galt, ward mit leckeren Bissen vom frühen Morgen bis in die späte Nacht genudelt. Dazu konnte diese meine Pflegerin bei einem unveränderlich ernsten Gesichte die lustigsten Geschichtlein erzählen und wieder von Spukgestalten und Gespenstern mären, die sie selber schon gespürt, daß es einem heiß und kalt den Rücken herunterlief. Aber gegen alle geistlichen Nöte, wie sie solche Beklemmungen von Leib und Seele nannte, helfe Weihwasser. Drei Tropfen in den Mund genommen und dorthin gespeuzt, wo einem etwas Erschröckliches erschienen sei, ob vom Bösen oder Guten, das werde sich dann weisen. So habe sie sich einmal selber auf einem einsamen Kreuzweg geholfen, als vor ihrer Nase unversehns ein feiner Herr erstanden sei und sie gebeten habe, mit ihm zu kommen. Er wolle sie in einer silbernen Kutsche durchs Land führen, und Mägde solle sie so viel haben wie Tag im Jahr, und Kuchen solle sie essen dürfen wie ein Jahrmarktselefant Maiskolben. Und da hab sie sich aus dem heimlichen Schatze, den sie wider alle Nöte in einem goldenen Herzfläschlein ständig auf der bloßen Brust trage, versehn und sich nach ihrer Art gewehrt. Einen Knall hab's gegeben, daß ihr noch heut die Ohren klingen, wenn ein Mannsbild sie anders anschaue, und nichts mehr sei auf dem Wege gewesen denn Schwefelstank.

Die Philomele sang mit einer Trompetenstimme, die über alle andern wegschmetterte, als habe sie das Vorrecht, zuerst von den himmlischen Heerscharen vernommen zu werden. Und im Mai verging kein Abend, daß ich nicht mit ihr in die Andacht zog. Im Kirchlein mit den goldenen Sternen an der blauen Decke, den unter Blumen flimmernden Kerzen, den Flieder-, Lilien- und Weihrauchdüften war meine Seele hoch über der Erde. Aber die Englein, denen ich nahe war, erinnerten mich bisweilen doch arg an meine irdische Kläglichkeit. Denn das waren Mädchen, die als die schönsten lebendigen Frühlingsblumen wandelten und mich anlachten, daß ich vor Verlegenheit tief in den Boden sinken und dazu noch meine Augen hätte in die Tasche stecken mögen.

Es begab sich, als ich eines Abends mitten in den Schwarm der holden Maiensängerinnen geraten war und ungeschlacht und steif die Treppe hinunterstapfte, daß ich einem zarten goldhaarigen Kinde schier gewalttätig auf den Fuß trat und zu seinem ersten schwachen Aufschrei ein dumm-blödes Lächeln hatte, was es dann mit einer leisen Schelmerei in den großen blauen Augen vergalt. Und seitdem bedrängte mich immer wieder ein heimliches Verlangen nach der Nähe des Mädchens. In der Kirche hatte ich einen Winkel gefunden, wo ein Särglein stand, und dieses Dunkel suchte ich fortan an den Abenden der Andacht und war aller Freuden froh, konnte ich dorther Euphrosyne, so hieß das feine Kind, nach Herzenslust ausgiebig belauern.

Es begab sich, daß in einem Jahrmarktswagen eine Schauspielertruppe ins Städtlein kam, die sich der Gunst aller geistlichen Herren berühmen durfte. Denn sie spielte nur erbauliche Stücke nach schönen nutzbaren Erzählungen, und ihre Erfolge hatte sie vornehmlich mit einer Genoveva und zumal der schönen Szene, da der geprüften Dulderin in einer silbernen, von bengalischem Feuer rotumglühten Wolke die Mutter Gottes mit dem Jesuskinde selber auf dem Arm erschien. Das Weiblein, das die Mutter Gottes darzustellen hatte, war indes in jenen Tagen ins Kindbett gekommen und mußte länger liegen als üblich. Und die Stammutter der Schauspielerfamilie hatte sich in dieser Not hinter die Wirtschafterin des Pfarrers gemacht, daß ihr die beistehe, ein feines Mädchen zu finden, damit es für das lebende Bild sitze.

So konnte man denn an einem Abend, der das ganze Städtlein im Goldenen Sternen versammelte, Euphrosyne, ein Kindlein auf dem Arm – es war aber kein Knäblein, sondern das Töchterlein der fahrenden Kindbetterin –, in einer von einem Scheinwerfer silbern erhellten Dampfwolke sehen, umzittert von rotem bengalischem Licht, einen Mond mit gutmütigem Gesicht zu Häupten und die Füße in goldenen Pantöfflein auf dem Nordpol einer behäbigen Erdkugel, die auf einem noch feisteren, aus allen Fugen schnaubenden Drachen ruhte.

Die Schauspieler arbeiteten mit der rührenden Inbrunst von Handwerkern, die mit ihrem hergebrachten Gewerbe leben und sterben müssen, und nur von einem fühlte ich, so jung ich war, daß er nicht zu ihnen gehörte. Das war der Darsteller des Herzogs, der sein Gemahl verstößt: ein geschmeidiger Bursch mit unruhigem Gesicht, hin und her zuckenden Lippen und begehrlich flackernden Augen.

Bei dem klangen die geschraubten Sätze kalt und falsch. Und während man allen andern anmerkte, daß sie glaubten, ein teures Gut zu meistern, einen kostbaren Besitz, ihre ängstliche Mühe gerührt empfand, ihn alle Tage neu zu erwerben, und ihre stolze Freude spürte, zu solchen Sachwaltern berufen zu sein, ahnte man bei ihm Mißachtung und Gleichgültigkeit. Auch gehörte er nicht ständig zur Truppe. Ein geschriebener Theaterzettel, auf die Fenster der Wirtschaft mit vier Oblaten gepappt, nannte ihn den fürstlich Lichtensteinschen Hofschauspieler Kurt von der Knacke als Gast. Den Weiblein gefiel er, wenn er, weit ausholend, mit geschienter Faust dem Golo wider den pappendeckelnen Bauch fuhr und so eine Strafe vollzog, die ihm von Rechts wegen zuvor selber gebührt hätte. Nur Philomela war kritisch und meinte, in ihrer Jugend habe sie einen Herzog gesehn, der habe noch ganz anders die Eisenschienen schüttern lassen können. Beim Anblick der Euphrosyne indes mußte ihr Mitgefühl alle Wälle, die ihr kritischer Geist aufzurichten beflissen gewesen war, durchbrochen haben – sie hatte sich geschneuzt, als habe sich eine Brummfliege in ihre Nase verirrt, und bange geseufzt: »Wenn's nur gut geht, wenn's nur gut geht …«

Ich hatte mich im Gedränge abseits gemacht und ließ verstockt Philomela suchen, bis sie des Nachforschens überdrüssig ward und mit Nachbarn den Heimweg antrat. Denn ein Verlangen trieb mich, Euphrosyne nach ihrem Bühnendasein als Muttergötteschen wieder so zu sehen, wie ich sie kannte, mir, die mir schon km Alltage so ferne schien, doch wieder um einige Erdlängen näher. Und so wartete ich im Dunkel eines Torweges zwischen Fässern und Bottichen auf die Schauspieler. Sie kamen; Euphrosyne brachte das Kindlein sorglich zum Wagen der Gesellschaft, und dann mußte ich schaun, wie der fremde Komödiant das Mädchen heimgeleitete. Ich schlich dem Paare nach, vernahm, wie der Schauspieler sich höflich verabschiedete und blieb auf seiner Spur. In einem Garten wußte ich einen Komposthaufen voll alter Kohlstrünke. Damit rüstete ich mich aus und warf sie dem vor sich Hinträllernden nach. Ich hörte ihn fluchen und schimpfen, lag reglos hinter meiner Hecke und kam erst hervor, als keine Schritte mehr die Stille der Nacht störten, Philomelen, die mich mit Besorgnis empfing, erzählte ich eines jener Geschichtlern zum Gruseln, ob welchen sie alles andere zu vergessen pflegte. Ich habe vergebens auf sie gewartet und sei dann als letzter beim Kirchlein vorbeigekommen, und da habe ich auf dem Gottesacker ein Lichtlein wandern sehen. So verwendete ich zu meinem Bericht die Schilderung eines Begebnisses aus den unheimlichen Erzählungen Philomelens selber.

»Dann wird bald einer sterben, an den du heute viel gedacht hast; die Seele sucht ihr Grab!« deutete sie mein Gesicht, worauf ich, von meiner eigenen Ausflucht erschreckt, abwehrte: an wen ich, der ich doch hier zu Besuch weile, so unaufhörlich hätte denken können; meine Gedanken seien bei denen zu Hause, und von ihnen werde doch keiner hier begraben.

In der Nacht indes träumte mir, ich sehe wirklich ein Lichtlein in der Finsternis über dem Friedhof wandeln, und dann war es Euphrosynens weißes trauriges Gesichtlein, das leuchtete. Des Dunkels ungeachtet, sah ich auch den Schauspieler, wie er hinter der Hecke stand und mit glühenden Augen herüberschaute, und sein unsteter Mund war von einem boshaften Lächeln verzerrt. Und meine Wut gegen diesen Menschen, in dem ich eine Gefahr für meine junge Liebe ahnte und haßte, nahm ich aus dem Traum mit in den Tag.

Am übernächsten Abend sollte ›Genoveva‹ wieder gegeben werden, und dafür hatte ich mich vorgesehn und mich mit einem Fläschlein des gesegneten Wassers gerüstet. Früh war ich auf meine Kammer gegangen und dann heimlich aus dem Fenster in den Garten niedergestiegen und über etliche Hecken weg dem Goldenen Stern zugeschlichen. In der milden Nacht strich ich durch etliche Gäßlein, wartete, bis sich die Heimkehrenden verlaufen hatten, und spürte Euphrosynen nach, wie sie auch heute das Kindlein zum Wagen der Truppe brachte. Und wiederum geleitete sie der fremde Schauspieler, und als sie vom Wagen weg den Weg zu des Mädchens Wohnung antraten, hatte er ihr den Arm geboten.

Auf einem Mauerstück vor der Kirche brannte ein Lichtlein, und als das Paar in dessen goldigen Dunst trat, stand ich dem Schauspieler auf dem Weg. Den Mund hatte ich voll Weihwasser, und damit spie ich ihn dreimal an. »Bist du verrückt, Bursch?« schnaubte er, hatte den Arm des Mädchens fahren lassen und hob die Faust wider mich. Ich sah nur seine breite, zu großen Schleifen geschlungene Halsbinde, packte die, riß sie unter seinen wütenden Püffen ab, biß, stieß und trat und stand dann keuchend unter den Hieben des dreinschlagenden Gegners hart an der Mauer. Aus einem blutigen Schleier heraus sah ich da Euphrosyne, wie über ihr bleiches, von Angst und Scham verstörtes Gesicht die Tränen liefen. Da heulte ich auf, daß der Schauspieler vor Schrecken zurückwich, und mit diesem greulichen Geheul rannte ich durch die Gassen und läutete so, Geschrei hinter mir her, an der Ladenglocke.

Der Onkel saß noch irgendwo beim Abendschoppen, und mir öffnete Philomele, die noch spät in einem Buche von der schönen Bernauerin und ihrem elenden Tod in der Donau gelesen hatte. Sie verschwieg jedes Erstaunen, als sie mich, den sie im Bette glaubte, zerbeult und zerschunden von einer nächtlichen Irrfahrt, vor sich sah, fragte nicht, wusch und salbte meine Wunden und brachte mich zu Bett. Darin ließ sie mich auch am nächsten Tag, kam zeitig mit der Morgensuppe und tröstete, sie habe dem Onkel schon gesagt, ich sei gestern abend auf das Gartenhaus einer dort rastenden fremden Taube nachgestiegen und dabei heruntergefallen in die Hecke und dann auf den Kies. In einer Rocktasche indes habe sie ein leeres Weihwasserfläschlein gefunden, und sie denke, daß ich den Teufel getroffen und bespien habe, und so werde ihr die Notlüge wohl verziehen werden. Glaube doch der Onkel nicht an diesen Teufel in einer Person – hier auf dieser Erde sei der eine des andern Teufel, und so gebe es, meine er, ungezählte. Mein Teufel habe eine bunt flatternde Halsbinde angehabt, knurrte ich. Und die hab sie auch in meiner Tasche gefunden, berichtete Philomele, und sie werde sich das fremde Volk, das hier im Städtlein vagiere, darauf ansehn, wer solche Schleifen zur Schau trage. Und ihrer unternehmend bebenden Nase sah ich's an, daß sie schon dem Richtigen auf der Spur war.

Mit einem Tag Bettruhe war es nicht gut. Am Abend hatte ich ein Gallenfieber, und eine Woche ging darüber hin, ehe ich mich ans Fenster wagen konnte. Der Kalender hatte eine Sonnenfinsternis angesagt, und mich trieb die Neugier zu der Nachmittagsstunde, da sie erwartet wurde, vom Lager zum Fenster. Der Himmel war stahlgrau geworden; in den Wäldern, auf den Hügeln lagen fahle Schatten, die jungen Gründe waren glanzlos und kalt, und das Stück See, das mir sonst zwischen Häusern und Gärten entgegenleuchtete, schien wie ein schwarzer Weg, der ins Endlose führte. Und während ich diese Landschaft schaute, wie geschieden von der gewohnten Welt, in einem Zwischenreiche, kam eine traurige Musik durch die Gassen geschwommen, tiefe, dunkle Töne, über denen eine Melodie auf müden Flügeln aufstieg und immer wieder leidvoll niedersank. Und dann bogen die Musikanten in den Marktplatz ein, einem Wagen mit vier Schimmeln vorauf, die von jungen Burschen in einer altertümlichen Pagentracht geführt wurden. Ein Sarg stand erhöht auf dem Plan, in Buchs und Blumen gebettet und mit einem Myrtenkranze gekrönt, von dem ein langer, lichter Schleier niederfiel. Weiße Mädchen mit Kerzen und Lilien folgten ihm, und in dem fahlgrauen Dämmer dieser Tagesstunde schienen die Flämmlein über dem Wachse seltsam langgezogen, wie glühende Pfeile, und ein goldener Nebel floß daran herunter, und wo der eine Lilie traf, spielte die bläuliche Funken.

Ein mit einem Trauerwimpel überflortes Banner ward ihnen nachgetragen, von blauer Seide mit dem silbergestickten Wappen des Städtleins, einem springenden Einhorn auf smaragdenem Grund. Eine Bruderschaft junger Burschen mit einem schwarzen Umhange, auf dem vorn und hinten ein Schädel mit Totengebein weiß gemalt war, mit Pechfackeln in den Händen, zog der Fahne nach, und in dem Rauch, der hinter ihnen blieb, gingen die Leidtragenden. Ich nahm das schwarze Glas vors Auge, das mir Philomele, wenn ich die verfinsterte Sonne schauen wolle, vorsorglich aufs Bett gelegt hatte, und sah dadurch die Lichter der Kerzen und die Flammen der Fackeln, wie Blutsfunken in einer grauen Öde. Und dann bedrängte mich eine Ahnung. Ich fühlte keine Schwäche, keine Mattigkeit mehr, war in das Sonntagsgewand gefahren und zur Hintertür hinaus. Durch den Garten weg rannte ich auf die Gasse, der Kirche zu, wo ein schwarzbehängtes Gerüst aufgeschlagen stand, und in einem Winkel wartete ich, bis der Sarg hereingetragen und gesegnet worden war. Unter den Leidtragenden, die den Umgang um die Bahre machten, noch einmal das Gesicht der Dahingegangenen zu schaun, bevor die Scheibe zu Häupten für immer geschlossen wurde, war auch ich. Und ich sah das Haupt Euphrosynens, in goldene Locken weich gebettet, das Gesicht zart überhaucht, den Mund einer Blüte gleich, die sich dem nächsten Morgen erschließen möchte.

Niemand achtete meiner besonders, und so merkte ich, daß mein Überfall nicht bekannt geworden war. Und die Selbstsucht des Mannes, der begehrt, daß auch kein anderer einem Wesen naht, das er nicht besitzen darf, frohlockte früh in dem Knaben. Im Gefühl, das Mädchen sei doch nie für mich bestimmt gewesen, freute ich mich, daß es auch keinem andern je zu eigen werden würde.

Unter einem Rosenbusch, der übersät von kleinen lackglänzenden Sternen stand, war ein Grab bereitet. Dort hinein senkten sie das Mädchen, und als die Schollen, von liebenden Händen auf den Sarg geworfen, aufschlugen, war ein Fink wieder froh geworden und schmetterte als erster der von der Sonnenfinsternis erschreckt und verstummt gewesenen Vögel sein Lied. Und dann, als Erd und Himmel wieder zu leuchten begonnen hatten, war ein Jauchzen in den Lüften, wie in der Frühlingsfrühe nach dem Scheiden der Nacht, und eine Flut von Jubel brach über das Grab der so jung Vollendeten herein.

Aufrecht kehrte ich heim und gestand der verblüfften Philomele, daß ich der Musik nachgezogen sei und geschaut habe, wie Euphrosyne ins Grab gelegt worden. Und ihre Sorge ließ ich mich nicht anfechten, legte mich nicht wieder, sondern bezeugte vielmehr einen Hunger nach allen Heimlichkeiten ihrer wohlgerüsteten Küche. Und dieser Zustand beschwichtigte und beruhigte die Gute. Am Abend mußte ich sie an den Arm nehmen und noch einmal zum Kirchlein hinaus, wo ein neues Krönlein zwischen pausbackigen Tubenbläsern hing: aus Gold- und Silberdraht geflochten und von buntseidenen Schleifen durchwirkt, zum Andenken an die jungfräulich Gestorbene. Von verdämmernden Bänken her glommen etliche Wachsstöcke, und auch Philomele zündele einen an und murmelte bei dem Lichtlein drei Vaterunser und ein Gebet für eine in ihrem Magdtum Dahingegangene, indes mich heimtückisch der Gedanke anfiel, daß das Mädchen doch für Zeit und Ewigkeit auch aus meinem Leben gegangen sei, und mein Herz wund machte, bis mir die Augen brannten. Und elend wie ich war, mußte ich dann Philomele das Grab weisen, wo schon ein schwarzes Holzkreuz auf dem frischen Hügel stand. Daran war der Schleier gebunden, und der Wind, der mit der jungen Nacht aufgestiegen war, hob sacht das silberne Gewebe, und von dem Rosenstrauch verfingen sich die weichen Flocken in dem Netz wie glimmendes Gold.

Am nächsten Tag hatte ich zu packen. Durch meine Krankheit war ich schon über die Zeit geblieben. Und als alles verstaut war – Philomele hatte von Eingemachtem und Gedörrtem aus Kammer, Keller und Rauchfang herbeigeschleppt, was sie tragen konnte, damit mich die Mutter zu Hause noch in die Nachkur nehme –, war es spät geworden. Mir aber war's nicht ums Schlafen. Aus dem Schweigen des Hauses machte ich mich heimlich auf und suchte noch einmal den Friedhof.

Eine Eule ging vor mir auf, lautlos, strich über meinen Weg dahin und war versunken. An einer Thujahecke entlang schlich ein Kätzlein, und seine Augen waren zwei Irrlichter über verfallenen Gräbern. Mit plötzlichem Geschrei zeterte eine gestörte Amsel aus einem Busche auf, fiel ein, und wieder war nichts zu vernehmen als der Nachtwind und ein feines Knistern des Schleiers, der, ein Silberwölklein, über Euphrosynens Hügel schwamm. Und dann beging ich den Frevel: löste vorsichtig das schimmernde Gewebe, streifte von den Rosenblüten hinein, was ich greifen konnte, und brachte ungestört und ungesehn meine Beute heim. Und es kränkte mich nicht, daß Philomele, als ich wieder zu Hause war, einen langen Brief schrieb, worin auch berichtet war, daß der Schleier auf Euphrosynens Grab schon nach der ersten Nacht spurlos verschwunden gewesen sei, und daß man sich darüber seine Gedanken mache. Denn es sei doch, für und wider betrachtet, ein Wagnis, von der Eitelkeit dieser Welt eingegeben, die heilige Mutter Gottes selber darstellen zu wollen, und gar mit einem lebendigen Kindlein, und dazu noch dem einer Fahrenden. Auch wolle man die Verstorbene eines Abends mit einem der Schauspieler Arm in Arm gesehn haben. Und seitdem sei sie krank gewesen und nicht mehr aufgestanden. Man solle zwar von den Toten nichts Übles sagen, sondern für sie beten, und in Euphrosynens Familie sei in jedem Geschlechte ein Mädchen in der Jungfräulichkeit plötzlich gestorben, als habe der Himmel so ein schönes, unberührtes Menschenkind zur besondern Freude seiner selbst erhöhen wollen. Wohl hätte ich der Nachrede den bösen Mund stopfen können; aber ich schwieg und fühlte darob keine Reue.

Ich war Student geworden, und es begab sich an einem Abend im jungen Sommer, daß ich zu zwei Genossen geladen war, die es liebten, sich weltbürgerlich zu gebärden, und mit denen ich gleicher Meinung war, daß alles umgerissen werden müsse, bevor es sich verlohne, etwas Neues zu bauen. Voll Hochmut staken wir bis zum Hals, lächelten über alles, was in Kampf und Not natürlich gewachsen war, und hätten von heute auf morgen die Welt besser und schöner aus dem Nichts geschaffen, wenn uns nicht die alte gar so schwerfällig im Weg gestanden hätte. Über die Ehe hatten wir alles zusammengetragen, was je dawider geredet und geschrieben worden war, und an jenem Abend hatte sich der weitest Fortgeschrittene von uns dreien – ein strohblonder langer kühler Bursche aus der Enge eines kleinstädtischen Kramladens – drei russische Studentinnen eingeladen, mit denen er im Seminar bekannt geworden war und deren Neigungen samt und sonders darauf aus waren, eines gegen alle überbrachte Ordnung zu begründen: die Notwendigkeit von der Freiheit aller Triebe.

Dieses Dreigespann plauderte, lachte, rauchte und trank, und es dauerte nicht lange, daß jeder sein Weiblein auf dem Schoße hatte. Und ausgelassen, wie die sich gaben, wollten sie wetteifernd zeigen, daß sie auch die letzte Scheu zu überwinden vermöchten. Meine Genossin, die von heimischen Schleierreigen auf der Steppe in warmen Nächten erzählt hatte, meinte, indem sie ihre schwarzbrennenden Augen zusammenkniff, daß sie ihr wie zwei Wollraupen im bleichen Gesicht stunden, es bedürfe nur eines ausreichenden Schleiers, und sie sei bereit, zu dieser Stunde den in der Heimat geübten Tanz zu zeigen.

In meinem Koffer war der Schleier mit den welken Rosenblättern von Euphrosynens Grab, den ich, weil ich nicht recht wußte, wo ich ihn lassen sollte, und weil ich doch wieder Scheu trug, ihn zu vernichten, als eine verstaubte Erinnerung mit auf meine Fahrten genommen. Daran dachte ich, als ich das begehrliche Weib nahe fühlte. Und es gab ein wildes Hallo, als ich beteuerte, einen solchen Schleier werde ich in weniger als einer Viertelstunde beigebracht haben, und davonrannte.

Im Zwielichte meines Zimmers hatte ich das Gewebe bald gefunden, und als ich mich anschickte, es zu fallen, stäubten die dürren Blütenflocken davon, und um mich war die Nacht mit dem Rosenstrauch über dem Grabe. Ein Schlag erschütterte mich; ich fühlte alle Niedertracht jener Weisheit, die sich der Mensch zurechtmacht, als ein böses Tier hausen zu dürfen, fiel in die Kissen und schluchzte: »Euphrosyne!« Und eine heiße Sehnsucht trieb mich auf: um Mitternacht ging ein schneller Zug einem Flecken am See zu, wo ein Dampfer wartete, Reisende ans jenseitige Ufer zu bringen. Von der Haltestelle der Bahn aus führte ein Weg durch Wiese und Wald, und der brachte einen in einer halben Stunde dorthin, wo das Kirchlein ragte, das auch des Mädchens Totenkrönlein hütete.

Mit meinem Schleier kam ich noch zeitig zum Bahnhof, und die Sterne standen noch hoch und hell, als ich Euphrosynens Grab gefunden. Auf einem Kreuz von Arvenholz las ich, weiß geschrieben, ihren Namen und darunter den fremden Trost: »Früh sterben ist das Beste.« Den Schleier band ich an das Kreuz, der Nachtwind hob ihn sanft und zart, und wie am ersten Tag schmückte der Strauch zu Häupten das Gewebe mit goldenen Röslein. Auch in die Kirche wagte ich mich, wo das ewige Licht über den Schatten stand und verirrte Leuchtkäfer in einem Winkel aufglühten. Aus Euphrosynens Mädchenkrone hingen Fäden und Halme, und als ich auf die Kanzel kletterte, sie nahe zu schaun, und deswegen einen vergessenen Wachsstock entzündete und daranhielt, gewahrte ich ein Nest mit einem Rotbrüstchen und fünf flüggen Jungen, die mich aus schwarzen Äugelein regungslos belauerten.

Nochmals stand ich vor dem Grabe meiner Knabenliebe. Und als ich davongegangen war, hinter mir das Pförtlein zuklinkte und noch einmal zurückschaute, sah ich den Schleier wehn, und kein Kreuz war darunter, sondern ein verklärtes Mädchen, und das lächelte mir nach. So ging ich in der Nacht durch das Städtlein, wo ich geweilt, da man das Kind zu Grabe getragen. Der Sommerwind seufzte durch die Gassen unter einer Last von süßen Düften aus all den blühenden Gärten, und da war kein Torweg, keine Tür, kein Fenster, wo er nicht zu verweilen und von seiner Bürde abzuladen trachtete. Ich stand vor dem Hause, wo Philomele zur Stunde vielleicht von einem blassen Knaben träumte, den sie so wacker wieder zu Kräften gefüttert hatte.

Und weiter wandelte ich, lauschte, wo ein ruheloser Brunnen in das Dunkel sang, vernahm die tausendfältigen Stimmen der Nacht, die mich lockten, ich weiß nicht wohin, und rastete unter einer alten Linde, die von Honig träufte und von Sternen silbern durchblüht war. Irgendwo glomm ein Lichtlein, und der Schatten einer schlanken Frau bewegte einen zarten Vorhang über den blühenden Blumen eines goldschimmernden Fensters.

Und dann ging ich dem See nach, dem Bahnhof zu, und war in der Morgenfrühe dort, wo ich zur Mitternacht ausgezogen. Die Ferien waren nahe, und so ließ ich mir am nächsten Tag ein Abgangszeugnis geben, und die Genossen jener Zeit habe ich nicht wieder gesehn.

 

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Ich war ein Student im letzten Semester geworden und hatte mich aufgemacht, noch einmal Ferien in meinem Heimatsdorfe zu verleben. Nach guter Gewohnheit begrüßte ich den geistlichen Herrn und ging auch nicht an dessen Hausbesorgerin Babette vorüber, die mich bei ihrer zunehmenden Weitsichtigkeit mit ausgestreckten Armen von sich abhielt, um mich eindringlich zu betrachten und mir ihre Meinung vom Einflusse des Lebens in der Stadt auf die Veränderung von Leib und Seele nicht vorzuenthalten. Nach einer solchen geistlichen Spende pflegte sie mich auch nicht ohne eine solche für die irdischen Nöte ziehen zu lassen; heuer bekam ich von ihren Vorräten, aus dem Pfarrgarten geerntet, einen Topf Honig, ein Glas eingemachter Sauerkirschen, ein Körblein früher Spaliertrauben und Pfirsiche und zu alledem noch für das Herz aus den Schätzen des Pfarrherrn, der mit Vorliebe alten Stichen nachging, ein Heiligenbildlein, wie sie, schön von Hand bemalt, in seiner Truhe gesammelt lagen. Beim Heiligenbildchen indes hatte sich meine Spenderin versehen. Denn das Blättchen war dreifach gefaltet zu einem Brieflein und zeigte auf der Vorderseite fünf Herzen, ein größeres flammendes, das auf einem grünen Anger stand und das Sprüchlein umrahmte:

»Keiner anderen sag ich zu,
Daß ich ihr mein Herz auftu,
Dich allein laß ich hinein,
Dich alleine nenn ich mein.«

Dieses Herz konnte man bis zur Flamme aufklappen, und darunter fand man dann ein leeres Herz von gleicher Größe, aus dem dieselbe Flamme aufstieg. Zu jeder Seite des Herzens in der Mitte standen zwei kleine Herzlein, von zärtlichen Versicherungen der Liebe und Treue bis zum Rand voll, aus denen ein Röslein und zwei Vergißmeinnicht zierlich aufwuchsen. Faltete man das Brieflein auseinander, so sah man oben wieder zwei größere Herzen nebeneinander auf einem grünen Anger mit einem kleinen blauen Tännlein dazwischen, ebenso unten zwei, während das mittlere Feld einen von einer bunten Ranke von Rosen, Tulpen und Sternblumen umwundenen Spruch trug:

Hier reicht, Herzliebste, Dir
Dies mein getreue Hand,
Daß es Dir ewig bleib,
Zu ein Verbündniß Pfand,
Zum Zeichen alles des,
Was Mund und Hand versprochen.
Zu halten heiliglich
Ganz steiff und ungebrochen,
Zu tragen wahre Lieb,
Zu dulden Freud und Leid,
Wie es der Himmel füget in der Beständigkeit.
Der Höchste wolle uns den reichen Segen geben,
Beysammen lange Jahr in Fried und Ruh zu leben.

Unten am Blumengewinde hing ein kleines Herzlein mit der Mahnung »Vergiß nicht mein!« Und die vier Herzen oben und unten waren wieder von Rosen und Vergißmeinnicht gekrönte Behälter für die zärtlichsten Beteuerungen, daß die Liebe stärker sei denn der Tod, daß, wenn alles dahingehe, die Treue von Mensch zu Mensch doch unwandelbar bleibe und sich dereinst aus verklärten Seelen als der seligste Gewinn und Besitz auch in der Geisterwelt offenbare.

Vor hundert und mehr Jahren hatte ein verliebter Knabe seinem Mädchen dieses zärtlich Brieflein zugesteckt, und die Farben leuchteten, und die Sprüchlein standen so glänzend schwarz da, als habe der Bursch erst gestern sein artiges Werk vollendet gehabt. Nur durch das Herz auf der Innenseite links unten war der Wurm gegangen und hatte Löcher und Gräben herausgefressen. Und dieses Zeichen nur erinnerte daran, wie all diese innigen Geständnisse zwei Wesen verbunden hatten, denen Jugend und Alter, Freud und Leid dieser Erde zu eigen gewesen und die dahingegangen waren, wie alles hienieden: müde und welk. Ein Nachklang nur ihres Gefühls war geblieben, lange verstummt, bis zu dieser Stunde, da ich, ein einziger an dieser Stätte der Vergänglichkeit, ihn wieder vernahm, als eine süße Melodie aus vergessenen und versunkenen Fernen her. Und die mahnte lieblich wehmütig: Mach dich auf und nütze den Tag. Herren der Erde sind jene, die auf ihr wandeln. Bald aber welkt, was heute blüht, und der König muß hinunter wie der Knecht, und alle haben sie diesen einen Frühling auf Erden, und es ist an jedem, ihn hold und herrlich zu leben.

Der Tau war reich wie ein Reif gefallen, die Wiesen funkelten weiß in der Morgensonne, und auf den grünen Wegen, die ich ritt, lagen naß und glänzend ungezählte Birnen und Apfel. Dem Schimmel aus meines Vaters Stall hatte ich einen Kranz von roten, gelben und weißen Rosen auf Ahornlaub um den Hals gehängt, und ein Goldherzlein aus der Schatztruhe meiner Mutter klingelte vom Stirnband. In der Ferne, wo die Hügel niederstiegen und die Obstbäume zu einem Walde gedrängt standen, schimmerte es blau vom See. Dorthin ließ ich das Rößlein ziehn. Wo ein schönes Mädchen in Gottes Garten blühte, sollte es das Brieflein lesen, und welches die Werbung annahm als sich zugeeignet, das sollte die Schönste sein und bleiben.

Der Schimmel schnaubte in den leuchtenden Morgen, der voll war von einem leisen Gedröhn Tausender kleiner Flügel, die das überreife Obst umschwirrten. Die Bauerngärten lagen in Honigdüften, Astern säumten schmale Pfade, und Georginen glänzten in feurigem Samt. Zärtlichen Abenteuern schlug mein junges Herz entgegen.

Der Weg ging durch einen Hügel, öffnete sich wieder an einer Kehre und wandte sich zwischen einem hablichen Hause und dessen Nebengebäude hindurch. Und da stand auf einem kurzrasigen Anger, der von ungezählten Marienblumen rosig schimmerte, ein stattliches Mädchen mit schweren, sorglich aufgesteckten hellblonden Flechten, beugte sich über einen großen Korb, worin Wäsche aufgetürmt war, und hängte die Stücke an die Sonne.

Die Schöne sah mich von der Seite an, als ich hielt, und grüßte, ohne sich in ihrem Werk stören zu lassen. Und als ich mein Brieflein hervorzog und es ihr bot, nahm sie es verwundert, doch ohne Hast zwischen zwei Finger und las:

»Keiner anderen sag ich zu,
Daß ich ihr mein Herz auftu,
Dich allein laß ich hinein,
Dich alleine nenn ich mein.«

Ein Hündlein kläffte erbost, ein Hahn kollerte, und Hennen gackerten erschreckt durcheinander. »Da sind die Scharrbeine wieder über die Saalbeete geraten,« entschuldigte sich das Mädchen, indem es mir mit bekümmertem Gesicht hastig meine Botschaft zurückgab. »Fido, Fido!« Und ich sah die Schöne, der ein schwarzer Spitzer voransprang, an der Gartenhecke, wo sie mit einem Bohnenstecken fuchtelte und hinter einer Hühnerschar her war, die mit bangem Gegacker über den Hag flüchtete. Und wieder war alles still. Das Mädchen kam hervor, strich sich eine vorgefallene Haarsträhne zurecht und begann aufs neue, Wäsche aufzuhängen. »Man muß einen Sonntag zu solchen Scherzen brauchen!« meinte es dann und warf mir, dem Tagediebe, aus der Selbstgerechtigkeit des in aller Ordnung Hausenden einen schier verächtlichen und doch wieder bedauernden Blick zu, als es mich warten sah. »Dünkt Euch heute nicht Sonntag, Jungfer, da einer geritten kommt, das Rößlein mit Rosen geziert, und Euch kündet, wie sein Herz noch so frei, dann werdet Ihr keinen erleben! Behüt Euch Gott!«

»Behüt Gott!« dankte die Schöne kühl, beugte sich aufs neue zum Wäschekorb und ließ mich ziehn. Und nur der kläffende Spitz blieb mir nah, so lange nah, bis sie ihn zurückrief: »Fido, Fido!«

An einem Waldrand warf ich mich ins Gras, nachdem ich den Schimmel an einen Hag gebunden, wo er die Nase in hohem Hafer hatte. Wölklein hingen, zarte, duftige Schleier, silbern in der Bläue, und so tief war der Himmel über mir, daß ich mich an einem Strauche hielt, nicht hinabzustürzen in diesen unermessenen Abgrund. Wie weit war doch diese Welt, um Träume auszusenden nach allen vier Winden, in alle Höhen und Abgründe! Wo war jenes Sonntagskind, das eins mit mir sein wollte, heute sei Feierstund, Augenblick und Ewigkeit über alle Tage des Jahres?

Während ich so sann, kam ein weißer Esel über einen Feldweg getrottet, und man sah vor dem hohen Gras nur den gedankenschwer getragenen Kopf und das Spiel der Ohren. Ein Mädchen ritt ihn, in einem breitrandigen Strohhut, der nach allen Seiten abfiel und mit einem feuerfarbenen, in eine große Schleife auslaufenden Band geschmückt war. Zwei gelbe Schmetterlinge gaukelten darauf zu und vergingen wieder im Blau. Als der Esel meinen Schimmel gewahrte, stutzte er und schrie über die Wiese hin, und mein Gaul stieg wiehernd auf, und ich mußte aufspringen und ihm den Hals klopfen, daß er sich beruhige.

Das Mädchen war abgestiegen, hatte mit dem Sattel eine Staffelei und einen Feldstuhl gelöst, Palette und Malkasten hervorgezogen und dann dem Esel einen Klaps gegeben, worauf der sich hinwarf, durchs Gras wälzte, gemächlich wieder aufstand und wählerisch zu werden begann. Und als ich näher trat, hatte die Malerin schon das angefangene Bild auf der Staffelei: einen Durchblick durch den Wald zum fern schimmernden See und einem in der Sonne weiß blühenden Städtchen am Wasser. Den Hut hatte sie an die Staffelei gehängt, und ich sah unter schwarzem Haar ein feines weißes Gesicht mit forschenden dunklen Augen und einem Mund, der leuchtete wie ein Büschel Beeren an der Eberesche, unter der ich in der Sonne gelegen.

Ich hatte leicht eine Hand zum Gruß erhoben, und sie hatte kühl genickt. Und dann, als sie ihre Farben auf die Palette gebracht hatte und nach dem Pinsel greifen wollte, hielt ich ihr mein Brieflein hin.

Sie nahm es mit der Rechten und las:

»Keiner anderen sag ich zu,
Daß ich ihr mein Herz auftu.
Dich allein laß ich hinein,
Dich alleine nenn ich mein!«

»Wie viele haben das schon gelesen?« erkundigte sie sich kalt, indem sie mir den Brief langsam zurückreichte und den Pinsel in die Hand nahm.

»Wie viele?« rechtfertigte ich mich. »Und haben's in hundert und mehr Jahren hundert und tausend erfahren – wem es gilt, der vernimmt es mit offenem Herzen, und der bangt nicht davor, ob er's so vernimmt wie Geschlechter vor ihm. Er vernimmt's, und wie er es vernimmt, einmal und nicht wieder, so ist und bleibt es sein Gewinn, wirklich, wahrhaft lebendig über Welken und Sterben. Und neu und vertraut bleibt es ihm, wie es ihm die Sterne bleiben, Sonn und Mond und Erde, Tag für Tag, Nacht für Nacht, immer dieselben und doch ewig jung und ewig schön.«

»Daher kommen die Tränen,« wehrte die blasse Schöne. »Was man immer besitzen will, einmal muß man's besessen haben – als es auch uns besaß.«

Eine Flut heißen Feuers brach aus dem Dunkel ihrer Augen über mich herein, und dann prüften die wieder kühl und forschend Farbe und Licht. »Wenn Sie noch eine Weile warten wollen – in dieser Stunde hab ich die beste Beleuchtung für mein Bild. Und zum Dank für Ihre Geduld mit einem widerborstigen Frauenzimmer zeichne ich Sie dann schnell, wie Sie auf dem Schimmel ausziehn, das Brieflein im Gurt, aller Weisheit Ihres verlangenden jungen Herzens froh, und hinter sich lassen, was Sie suchen. Diese kurze Viertelstunde nur möchte ich von Ihnen dreingegeben wissen, der Sie doch tun, als hätten Sie ein ganzes Leben zu verschenken. Und mit Ihnen hab ich dann eine Erinnerung gemein.«

Ob der bittersüßen Art des Mädchens ward ich unsicher und zögerte. Und so geschah's, daß ich ihm noch zuschaute, als es daranging, Bild und Malzeug wieder zu versorgen. »Jetzt sind Sie lang genug auf der Erde und mir nah gewesen,« mahnte die Schöne, »ich zeichne Sie im Sattel!«

Ich zog den Schimmel auf den Weg, schwang mich in die Bügel, und die Malerin strichelte eifrig in einem Skizzenbuch. Und es dauerte kaum eine Viertelstunde, daß sie das Blatt herausriß, auf den Hag stieg, an dem ich hielt, und mir so, in einer Höhe mit mir, ihre Zeichnung bot. Darauf prangte ein großes Herz, wodurch ich, deutlich zu kennen, wie durch ein Tor ritt.

»Sie wissen nichts von mir,« wandte ich ein, »und schildern mich so …«

»Von einem weiß ich, und das ist genug,« belehrte mich das Mädchen leidenschaftlich. »Er küßt eine andere – nach der Weisheit dieser Welt sollt ich da wohl ein Gleiches tun! Bist zwar ein schmuckes Bürschlein, aber bist der eine nicht! Wie heißt es gleich? ›Keinem anderen sag ich zu, daß ich ihm mein Herz auftu …‹ Und wenn ich's aufsperrte für Hansdampf in allen Gassen, ein Thrönlein ist dort aufgerichtet, und das ist noch von frischem Blute naß. Ich will zu den Kapuzinern gehn; da soll einer drunter sein, der den Teufel austreiben könne. Und wenn du dann wiederkommen willst … Aber bis dahin haben wir uns beide siebenmalsiebenmal vergessen. Nein, warte nicht, wir wären alt geworden, eh wir heiraten könnten, und müßten wie die Nachteulen das Dunkel suchen, um zu wissen, wie schön diese Welt ist. Fahr hin, du Tor, der du meinst, ein Mädchen müß irgendwo sein Haar flechten und dabei von dir träumen und auf dich warten, dich, den es nie geschaut, indes ihm ein anderer und besserer Knab die Schuh bindet! Fahr hin und sorg, daß du weise geworden, bevor du dich ins Grab legst. Wie kurz ist der Tag, wenn eins blühen möchte! Das kann nicht warten – will welken, du! Mag sein, daß wir uns für ein Stündlein aneinander erinnern – ich will dir nicht dawider sein –, aber säume nicht, du Tor, wo kein Warten hilft! Fahr hin und schüttle die Sterne durcheinander und hoff, o du Märchenprinz, daß besser Wetter über der Erde wird, wenn Sonn und Mond miteinander leuchten. Fahr hin!«

Das Mädchen hatte mich herübergerissen, geküßt und wieder zurückgestoßen. Und als der Schimmel unruhig tat, war's mit einem Satze vom Hag weg in den Klee gesprungen, und ich sah ein bleiches, wildes Gesicht und darin zwei dunkel lodernde Augen. Fahr hin!

Einem Waldweg zog ich nach, und in dem warmen Dämmer unter den Büschen kam mich eine leise Besorgnis an, als üb ich ein Unrecht an einem längst Verstorbenen, der ich sein Gefühl brauchte, um meines Herzens Verlangen zu künden. Sein Schatten war vor meinen Augen, und ich atmete auf, als der Schimmel hinaustrat auf einen samtnen Wiesenpfad, der neben einem Bächlein herlief, und froh trank ich das Licht. Ein schmaler Fahrweg schimmerte auf, und eine Schenke an einem Rebenhange winkte mit einem schön geschmiedeten Schiff unter goldleuchtenden Segeln. Dort stellte ich den Gaul ein und ließ mir unter einem Nußbaum eine Mahlzeit richten. Ein Alter mit rosigem Gesicht scheuchte einige zudringliche Hühner, brannte sein Pfeifchen an und meinte dann, als ich mein Glas gegen ihn erhob, es müsse wieder einmal Krieg geben, wenn die Rebe so einen Tropfen schaffen solle, wie ich ihn da im Glase habe. Im Wein sei Wahrheit, heiße es seit Jahrhunderten. Aber das gelte nicht nur deshalb, weil er die Zunge löse und den Menschen Damm und Wall vergessen lasse, die er aus Vorsicht und Berechnung gegenüber dem Nebenmenschen aufgerichtet. Der Wein sei die Wahrheit, und wie es Tausende und Abertausende von Wahrheiten gebe, die edelsten und köstlichsten, landläufige und alltägliche, süße, sanfte, herbe und rauhe, und jede wieder anders nach dem Gemüte, das sie aufbringe und besitze, so spenden nicht zwei Hänge genau den gleichen Wein. Ein jeder hab seine eigene Art, unverkennbar, einzig und allein. Und es komme vor, daß ein Boden irgendwie versage und der Wein kümmere, wie irgendeine Wahrheit in der Welt mißachtet werde und sieche. Und Zeiten geb's, da woll der Wein nirgend und nirgendwo mehr recht gedeihn. Da sei die Welt voll von Falschheit und Hinterlist. Aber die Erde müsse bestehn, und da nur Wahrheit ihr Gefüge zusammenhalte, so seien die Stürme in der Geisterwelt Kriege auf Erden, die wieder irgendwo Boden für die Wahrheit aufackern. Und wieder tragen die Reben. »Forscht in der Geschichte der guten Jahre nach,« schloß mein Gastgeber; »in Zeiten herum sind sie gewesen, daß eine Erneuerung in den Gemütern war. Erinnert Euch immer daran, junger Herr – Ihr habt noch schön die Zeit dafür – wie alles in der Natur so den Menschen spiegelt. Wir, wie wir sind, machen wir helle und dunkle Tage, Jahre und Zeiten.«

Der Alte saß mir gegenüber, und mich wandelte, indes er mir so predigte, Fürwitzigkeit an, und ich fragte, weshalb denn ein Glas über den Durst so verhängnisvoll zu wirken vermöge, weshalb Leiden und Krankheiten, Zerrüttung und Verwüstung dem Wein zur Last fallen und weshalb viele Menschen sich weit besser bei völliger Enthaltsamkeit befinden.

»Ihr wißt das alles, junger Herr«, lächelte der Alte, »und trinkt doch Euer Gläslein als eine Gabe Gottes. Wahrheiten können nicht nur beschützen, sie können auch töten. Wir sind nicht danach geartet, hier auf Erden zu wissen, sondern zu ahnen, und wir müssen Ehrfurcht vor diesen unsern Ahnungen aufbringen können, wollen wir einmal zur Weisheit eingehn. Ja, junger Freund, es gibt starke und schwache, gesunde und kranke, unverdorbene und entartete Gemüter. Und es gibt reine und verfälschte Weine, wie es reine und verfälschte Wahrheiten gibt. Auch kann ein ganzes Geschlecht krank sein, entartet im Gemüte, und das vermag keine Wahrheit ungemischt zu vertragen, es müßte toben und sich ein Leids antun. Und in solchen Zeiten ist es für viele gut, wenn sie sich auch des reinen Weines ganz enthalten. Aber ich sehe, daß Euch die Wahrheit, wie ich sie da auftische, müde macht …«

»Und das Schöpplein Wein dazu und der Ritt in den Tag hinein und vielleicht ein Verlangen nach einem Traum, weil ich zu tief in die Sonne geschaut …« entschuldigte ich mich.

»Wir haben frisches Haferstroh aufgeschüttet. Da schläft sich's wie auf einer warmen Waldwiese,« verhieß mein Wirt. »Es ist ein schönes Alter, da man so recht von Herzen müde sein und doch die Augen voll Licht mit in den Schlaf nehmen kann. Da ist es wie eine Verheißung an das Leben: Wann ich wache, bin ich noch stärker geworden, dich zu besitzen.«

Ich lag kaum in dem duftenden Stroh, das in der Wärme knisterte und von verlorenem Licht wie heimliches Gold flimmerte, als mir auch die Augen zufielen. Und als ich erwachte, wurden schon die Kühe von der Nachmittagsweide heimgetrieben. Ich zog meinen Schimmel aus dem Stall, zahlte eine bescheidene Rechnung, winkte dem Alten zu, der mit einem Viehkäufer verhandelte, und war wieder auf einem bewachsenen Nebenpfad, der sanft durch obstreiches Gelände niederstieg. Bald schimmerte der See herauf, bald wandte sich das Weglein eigenwillig seitwärts, um unversehns wieder hinter einem Hang weg die Ferne zu spenden. Rot, braun und grün begann der See zu schimmern, aus Gold und Purpur schichtete sich eine Wand am Himmelssaum auf, und ein zartes einsames Wölklein hoch, hoch über mir geriet ins Glühn.

Sanfte Hügel umwand der Weg, und dann stieg er in einem Wald von Obstbäumen zum See nieder. Zu einem der letzten Hänge führte ein Pfädlein empor; eine alte Thujahecke glänzte silbern von Herbstfäden, und dahinter stieg ein Giebel auf, von Bäumen überragt, die schon Geschlechter geschaut haben mochten. Eine Laube öffnete sich auf die Hecke, und auf einer Bank saß ein weißes Mädchen, die Arme über der Lehne hinter sich, und schaute aus dem grünen Dämmer, den ein hundertjähriger blühender Efeu wob, in die leuchtende Weite.

Ich lenkte den Schimmel den Pfad hinan, band ihn an eine Pappel am Wegrand und strich dann an der Hecke entlang zur Laube. Das Mädchen wandte mir ein blasses Gesicht mit großen blauen Augen zu, und in seinem Haar, das in Locken fiel, nisteten und sprühten goldene Fünklein. Ich reichte ihm, das mich unverwandt, doch ohne Unruh betrachtete, das Brieflein, und es las:

»Keiner anderen sag ich zu,
Daß ich ihr mein Herz auftu,
Dich allein laß ich hinein,
Dich alleine nenn ich mein!«

Die Schöne schaute von dem Brieflein auf, und ihr Blick spürte tief und fand mein Herz. Da lächelte sie und meinte, wenn einem allein ein Pförtlein offen stünde, so möchte man schon hineingehn und sich umschaun, was einem dahinter für Herrlichkeiten blühn. Aber es könnte auch geschehn, daß man müde wär und für seinen Tag nach nichts mehr Verlangen trüge. »Susanne heiße ich, Suse, liebe Suse!« belehrte sie mich dann lustig, aus dem schwermütigen Zweifel heraus. »Ich will das Brieflein zu Ende lesen. Vorher aber mußt du tun, wie Adam tat, als er um seiner Eva willen alle Schrecken des Himmels und der Hölle mißachtete.«

Auf der Bank lagen etliche erlesene goldfarbene Apfel und durchdufteten die Laube. Suse nahm einen, brach ihn mit kräftigen Händen auseinander und reichte mir eine Hälfte. Und als wir die Frucht verzehrt hatten, war sie aufgestanden, und ihr Mund war mir nahe, und wir küßten uns. Und dann saßen wir selbander auf dem Bänklein, und Suse las alle die Sprüchlein auf den acht Herzen und dann auch das Versprechen in dem Kränzlein. Und vom letzten Herzlein, das an der Ranke hing, vernahm sie: »Vergiß nicht mein!« und beteuerte: »Nein, das wird wohl nie geschehn. Aber du hättest kommen sollen, da ich, da alles hier herum noch jung war …«

Das Mädchen hatte mich hinter die Laube auf einen Platz vor das Haus geführt. Das lag still und verlassen da, ungepflegt und verfallen und doch vornehm und stolz, und der Garten war eine duftgrüne Wildnis, wo ein Springbrunnen klang und Eichhörnchen sich jagten. Oleanderbäume standen in großen Kübeln vor dem Hause und waren mit Blüten überschüttet. In eine Baumgruppe fiel ein Drosselzug ein; rote Beeren von Ebereschen und Stechpalmen stäubten vor eifrigen Schnäbeln, eine Taube lockte und gurrte, und wieder war alle Bewegung erloschen.

»Gelt, es ist schön hier?« meinte Suse. »Um hundert und tausend Jahre alt zu werden und ein Liebesbrieflein nach fünfzig Frühlingen noch so zu lesen, wie man es vordem empfangen. Aber mein Vater ist arm geworden – ich weiß nicht warum – und Haus und Garten auf dem Hügel sind verkauft, und eine Fabrik soll hier lärmen, und ich soll in die Stadt. Ich … Doch komm: vor der Laube ist's noch warm und hell!«

Und wieder saßen wir auf dem Bänklein, und die Wolke hoch über uns glühte wie ein Beet roter Rosen. Dunkelblau und schwarz wurde die Wiese, bang und zag blühten die ersten Sterne, und unversehns war der ganze Himmel von goldenen Blumen durchwirkt.

»Keiner anderen sag ich zu,
Daß ich ihr mein Herz auftu,
Dich allein laß ich hinein,
Dich alleine nenn ich mein!«

las Suse langsam. »Morgen wird mir sein, ich habe vor hundert Jahren einmal gelebt und gestern sei ich für einen Tag auferstanden, jung, wie ich ins Grab gegangen, und mein Liebster mit mir. Und auf dieser Bank hier haben wir gesessen und uns geherzt, als geb es nicht Gruft und Grab, kein Sterben und kein Scheiden. Morgen wird mir so sein, da ich wieder im Grabe liege. Ja, Liebster, vor hundert und aberhundert Jahren haben wir gelebt, und wie wir jetzt hier sitzen, sind wir für eine Stunde auferstanden durch unsere Sehnsucht. Weißt du noch …«

Ein blaues Feuer war im Westen aufgeflammt, eine leuchtende Kugel überstrahlte alle Sterne, und dumpf dröhnte es aus der Ferne herüber. Und dann war das Dunkel da, tiefer, und Susens Gesicht leuchtete weiß aus den Schatten. »Leb wohl,« flüsterte das Mädchen und hielt mich in den Armen. »Das Brieflein nehm ich wieder mit ins Grab. Leb wohl bis zum jüngsten Tag!«

Noch einmal küßten wir uns, und dann ging ich über die Wiese, löste den Schimmel und schwang mich in den Bügel. In meiner Rocktasche fühlte ich etliche Apfel. An der Wegkehre wandte ich mich im Sattel und ahnte das Mädchen, wie ich es zuerst erschaut: auf dem Bänklein, die Arme hinter sich über der Lehne. »Suse, liebe Suse!«' rief ich noch einmal hinüber und sah sie doch nimmer.

Ach, ich hatte getrunken von dem Weine, der müde macht. Wissend war ich geworden, daß alle Sehnsucht ein holdes Spiel ist und eine grimme Not, daß Menschen zusammengehören und sich verlieren, da sie sich finden, daß wir die Welt dann schauen, wie sie ist, wann wir im Grabe liegen und für eine Stunde auferstehen dürfen. Und den Tod rühmen wir als das Leben und nennen das Leben Tod und belügen unser Herz, das – so beschwichtigen wir unser Gewissen – vergehen müßt ohne diesen bittern Trug.

Aus der Schenke am Rebenhange glomm ein Licht. Der Alte saß am Fenster, vor sich einen schweren Folianten, und sein Haupt trug einen Glorienschein. Auch ihn hatte seine Weisheit Wunden gekostet – kein Wasser fließt klar und ruhig, das nicht Stürme gepflügt. Doch meine Jugend rebellte: Tut's not, um solchen Gewinnes willen alt zu werden und nichts zu haben als die Ruhe der Entsagung, den Trost ferner Sterne …

Als ich später einmal desselben Weges kam, da war die Stille auf dem Hügel nicht mehr. Die Hecke war gefallen, das Bänklein auf der Höhe geschwunden, und eine Fabrik lärmte dort, wo das Haus unter den alten Bäumen verlassen gelegen. Und mir war, als ich das sah, es sei lange her, vor hundert und mehr Jahren sei's gewesen, daß ich ein Mädchen geküßt und ihm gestanden:

»Keiner anderen sag ich zu,
Daß ich ihr mein Herz auftu,
Dich allein laß ich hinein,
Dich alleine nenn ich mein!«

 

Die Liebeslast

Es war in einem Sommer voll leuchtender Tage, daß ich ein freies Vierteljahr in einem stillen Dörflein verlebte, inmitten von Wiesen und Wäldern über einem fern verblauenden See. Unweit dieser Siedelung lag auf einem weit schauenden Hügel ein verlassener Herrensitz in einem verwilderten Park, und einen alten Knecht, der das Anwesen schlecht und recht betreute, hatte ich durch einige Pfeifen Tabak gewonnen, daß ich mich in dem Garten nach Herzenslust ergehen konnte. Der war voll von fremd blühenden Sträuchern und Bäumen, Vögel jagten sich darin, wie man sie sonst nicht sah, Rebhühner brüteten im hohen Gras nahe den Hecken, wo Erdbeeren zu Hunderten leuchteten und Tausendschönchen und Nelken von einst gepflegten Beeten her gewandert gekommen waren und in einer lieblichen Einsiedelei dufteten. Hasen gingen vor mir auf, wo ich dem Waldsaum nachstrich, und Eichhörnchen schossen als flinke Schatten über die Wege, die, von Brombeeren, Hagrosen und Geißblatt überwuchert, das Gehölz querten. Wildtauben kamen hoch geflogen, fielen tief ein und stiegen vor einer schönen Eiche auf einem Vorsprung des Hügels wieder zu Nest.

Doch eines Morgens, als ich wieder meine geliebte Wildnis suchte, fand ich mich nicht mehr allein. Das alte Haus hatte seine Läden aufgetan, Mägde lachten und lärmten, ein Springbrunnen, wo eine moosbewachsene Nymphe eine Schale hielt, in der ungestört die Hauswurz geblüht hatte, war gesäubert worden und plätscherte laut in den jungen Tag. Auf einer Bank unter einem weitschattenden Ahorn saßen fünf weiß gekleidete Mädchen. Während viere davon meinen Gruß mit einem leichten Lächeln erwiderten, betrachtete mich eines, wie mich dünkte, mit hochmütigen Augen, und ich zögerte nicht, ihm diesen Blick mit gleicher Miene heimzuzahlen, der ich ohnedies die ganze Gesellschaft, die mich um meine schöne Einsamkeit brachte, ins Pfefferland wünschte. Unter der Stalltüre hatte sich der alte Knecht mit einem verschmitzten Gesicht zu schaffen gemacht, und ich tat, als hab ich ihm etwas auszurichten.

Das Haus sei für den Sommer an einen Bankier Heilmann aus der nahen Stadt vermietet. Ob ich die Töchter genau gemustert habe? Davon sei jede ein guter Bissen, und wenn er noch einmal jung werde, so werde er das seinige tun, die Juden auszurotten, indem er vom Fleck weg eine Tochter Israels heirate. Da sei in seiner Blustzeit die einzige Erbin eines Viehhändlers gewesen; die sei zu jedem Tanz aufs Dorf hinaus gekommen, und die im Arme hab er sich manche Stiefelsohle abgeschleift. Hätt er sie gefragt, sie hätt ihn genommen, und er könnt heute auch im Wägelchen über Land fahren und handeln. Das sag sie ihm immer wieder, wann er sie besuche, was öfters gescheh, denn sie hab geheiratet und einen Laden in der Stadt, wo man alles haben könne, was man zum Gewand brauche, von den Schuhen angefangen bis zum Nastuch. Sie sei immer ein völliges Frauenzimmer gewesen; aber gedicket habe sie seither, ein Metzger müsse seine Freude dran haben. Wenn er dran denke, um wieviel Pfund Fleisch er so gekommen sei, möcht er den Mond anbellen. Aber geschehn sei geschehn, und nur deswegen laufe mancher an einem Röslein vorüber, damit sich's ein anderer ins Knopfloch stecke. Wär er jung wie ich – ums Christentum hätt er sich verdient gemacht und eine von den fünf Schönen, die da draußen auf der Bank hocken, um Vater und Mutter gebracht, bevor man noch einen neuen Monat im Kalender anstreichen müsse.

Während mich der Alte so aus seiner Erfahrung beriet, waren die Mädchen, eins nach dem andern, an der Scheune vorbeigestrichen. Und schließlich standen sie alle, die Hochmütige im Hintergrund, unter der Einfahrt und machten sich mit Fragen an den Knecht, wobei mich mancher Seitenblick neugierig streifte. Eine Wolke starken Wohlgeruchs mischte sich mit dem Stalldunst. Ich zwang ein spöttisches Lächeln hervor, indes ich aufdringlich einen weißen Schuh mit Goldspangen über durchbrochenem Strumpf musterte, den die Hochmütige, wohl die Älteste der Schwestern, einen Fuß auf eine niedrige Kiste gesetzt, wies. Und dann machte ich mich, kaum grüßend, davon, ergrimmt über den Verlust meines Gartens, traurig über die gestörte Stille und Einsamkeit und doch von einem verhaltenen Verlangen beunruhigt, etwas von der Seele jenes Mädchens zu wissen, das mir mit kühl abwehrenden Augen beim ersten Blick verkündet hatte, wir beide seien Menschen verschiedener Welt und haben nichts miteinander gemein.

Ich war auf dem Heimweg von einer Streife durch Wies und Wald und hatte zur Rast einen Baumstumpf erkoren, einen Teppich von Waldmeister zu Füßen. Durch die Stauden hindurch ging mein Blick auf eine kleine Lichtung, die, von der Abendsonne getränkt, glühte. Zarte Schatten huschten darüber hin: Rudel von Mäusen jagten sich ausgelassen über dem warmen Grund. Und dann schob sich ein wie Bronze glimmender Kopf mit glühenden Lichtern aus dichtem Buschwerk vor, ein Fuchs stand auf der Waldblöße, schnappte mit der Schnauze und stieß mit dem Lauf nach Maus und Maus, lautlos in aller Gier, und wollte nicht satt werden. Doch mitten in seiner Jagd warf er plötzlich die Nase hoch, fauchte und war verschwunden.

Ich hörte ein Knacken im Unterholz, sah ein helles Kleid schimmern, war aufgefahren und stand meiner kühlen Schönen gegenüber. »Fräulein Isa?« fragte ich und gebrauchte so in der ersten Überraschung den Namen, den die Schwestern an jenem Morgen, da ich die Schöne zum ersten Male gesehn, gebraucht hatten.

Das Mädchen war leicht zusammengefahren. Als ich es jedoch bei Namen nannte, stieg eine feine Röte in dem blassen Gesicht auf, die dunklen Augen glänzten, und ein Lächeln blühte um den üppigen Mund. »Haben Sie den Fuchs auch beobachtet?« forschte es. »Das alles hier ist mir so neu. Ich glaube, es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich so mutterseelenallein umherstreife. Angst habe ich darüber ein wenig bekommen, und ich bin froh, daß ich jetzt, da der Dämmer kommt, einen Begleiter für den Heimweg habe. Sie brauche ich doch nicht zu fürchten?«

»Und ich, hab ich nichts zu fürchten?« drängte sich mir die Frage auf die Lippen, von einer Ahnung eingegeben. Fast wie eine Drohung klang diese Antwort auf den mutwilligen Scherz des Mädchens, und eine Weile war Schweigen zwischen uns, während wir über einen schmalen Weg Seite an Seite dahinschritten, dessen weicher Grasgrund den Schall unserer Tritte aufsog, so daß ich mein Herz klopfen zu hören vermeinte.

Die Dämmerung war genaht; jene Stunde, da ein Vorhang den andern zu bergen scheint, hinter dem wir es dann eher wagen, unser Gefühl zu Wort kommen zu lassen. »Von mir haben Sie nichts zu fürchten,« sprach Isa in die Schatten. »Ich bin eine Jüdin – das trennt.« – »Und ein Stück Weges gehen wir dennoch gemeinsam,« versuchte ich zu scherzen. »Vielleicht, wenn es Sie freut: Ich weiß da einen Hang über einem Bach, der voll ist von Dachs- und Fuchshöhlen. Wenn wir uns ruhig halten, können wir das Jungzeug belauschen, wie es vor dem Bau in der Sonne spielt. Und einem Iltis hab ich da schon aufgelauert, der Fröschen nachging, einem Rabenpaar, das krebste, und ein Nest von Wildtauben hoch in einer Buche muß in diesen Tagen flügge werden. Auch stehen Rehe im Grunde.«

»Das alles sähe ich gar gerne,« beteuerte das Mädchen. »Meine Schwestern wollen morgen nachmittag eine Ausfahrt machen, und ich habe schon darauf verzichtet, mitzutun.«

»So erwarte ich Sie nach Mittag hier am Ausgang des Wäldchens,« entschied ich.

Wir standen vor dem Park, wo das Gehölz durch eine sperrige Hecke von einem Feldwege geschieden war. Ich klinkte das Pförtlein auf, bot Isa meine Hand und führte sie durch finstere Schatten dorthin, wo der Weg aus dem Dickicht in den lichteren Garten mündete. Dort hielt ich die Hand noch und riet der Schönen: »Noch eines, Fräulein! Ohne derbes Schuhzeug dürften Sie morgen nichts unternehmen können. Und dann – was anderswo anziehend machen kann – ein starkes Parfüm wittert alles Getier draußen und scheut davor, und deshalb müssen Sie sich vorsehn.«

Das Mädchen hatte mir mit einem Ruck die Hand entzogen, und seine Augen blitzten mich an. Dann lächelte es spöttisch: »Sie sind aufrichtiger als andere Ihres Alters. Ich werde mich vorsehn. Gute Nacht!«

Ich sah die Gestalt, wie sie an der Hecke entlang dem Hause zuschritt, in den Lichtschein der Fenster trat, hell und hoch aufglänzte und verschwand. Und von dem Bilde der Schönen voll, die Spur ihres Atems noch um mich, suchte ich mein Lager.

Und so geschah es, daß wir Gefährten wurden und den Tag für verloren achteten, da wir nicht miteinander grüne Wege gingen. Isa halte sich erinnert, daß sie Malstunden genossen, und Skizzenbuch und Farbstifte hervorgezogen, um einen Vorwand für einsame Spaziergänge zu haben. Und so durchstreiften wir das Land, Wald- und Wiesenwegen nach. Weiße Wolken gingen über uns dahin, goldene Ringel tanzten dem Mädchen über das dunkle Haar, indes wir in Kraut und Blumen rasteten. Isa hatte immer wohlbehütet gelebt, war gepflegte Wege gegangen und gefahren, und so brachte ihr jeder Schritt in unserer grünen Einsamkeit neue Wunder. In ihrer schönsten Jugend ward ihr die holdeste Zier dieser Erde erschlossen, und so konnte sie bisweilen an einem Hange rasten, mitten in der Sonne, den Mund durstig geöffnet und tief atmend, als könne sie nicht genug von dem warmen Harzdufte trinken, der von rotleuchtenden Stämmen träufelte.

Es begab sich, daß ich eines Morgens im Dorf einer lauten Gesellschaft begegnete, Isa mit ihren Schwestern und einer Zahl anderer junger Leute ihres Alters. Und als ich grüßte und zu meiner Bekannten hinüberschaute, auf die ein mit vorzeitigem Fett behafteter Jüngling einsprach, dessen Kopf mit dem scharf geschnittenen und doch ausdruckslosen Gesichte dem Laden eines Haarkünstlers wohl angestanden hätte, dankten mir ein paar kühl abwehrende hochmütige Augen. Das Blut strömte mir zu Herzen ob dieser Beleidigung, die Hände wurden mir kalt, und Wut und Scham peinigten mich, daß ich meinen Willen nicht meistern konnte und als Verlust den Nichtbesitz dessen empfand, was nie mein eigen gewesen war.

Ich wartete nicht mehr nahe dem Pfädlein, das aus dem Wäldchen des Parkes hinausführte und das für mich ein goldenes Tor geworden war, aus dem ein schönes Märchen hervorging, für etliche Stunden wirklich zu sein. Dafür las ich auf meinen einsamen Wegen in einer alten Ausgabe des Hohen Liedes, von dem Übersetzer in der glücklichsten Einfalt und der stärksten Heimatszugehörigkeit in die Landschaft versetzt, wo er gelebt hatte und wo ich jetzt weilte. Und so hatte ich auch die gelben Blätter mit dem tiefschwarzen Druck und den so frisch leuchtenden roten Zierbuchstaben neben mir im Grase liegen, dort am Hange, wo ich mit Isa auf unserer ersten Streife die jungen Füchslein belauert, als ein Schatten auf das Heft fiel und das Mädchen vor mir stand. Ich hatte das Buch zurückgeschoben und war aufgesprungen, als wollt ich Isa vorbeilassen. Ihre Augen flirrten, suchten mich und flüchteten wieder. Und dann traf mich ein Blick, demütig und verlangend zugleich … Die Lande um mich her waren die des Hohen Liedes, meine Geliebte war über die Hügel gekommen, mich zu suchen, goldene Glöcklein klirrten an ihren Knöcheln, und meine Seele war trunken von ihres Atems Süßigkeit. Ihre Arme umstrickten mich, die Glut des Körpers war um mich als eine schmeichelnde Flamme, ihr Haar hatte sich gelöst, und der duftende Schatten ihrer Locken lag auf meinem Gesicht, indes wir uns küßten.

Die Tage kamen und gingen, kürzer wurden die Abende, und bunter wurde der Wald. Keine Stunde verbrachten wir fern voneinander, da wir uns nah sein konnten, und Isa brauchte ein Skizzenbuch nach dem andern, das wir gemeinsam füllten, um Eltern und Geschwister im Glauben zu halten, der Malerei wegen suche die eifrige Künstlerin abgelegene Wege. Wenn ich sie milde mahnte, das könne nicht so bleiben, einmal müsse unser Einverständnis an den Tag kommen, es sei besser, wir vertrauen uns endlich den Eltern an, dann bat sie unter den zärtlichsten Küssen: »Ach, das ist schwerer, als du glaubst! Laß uns die schönen Tage, die wir noch miteinander verleben können, nicht kürzen! Kommt einmal die Zeit, dann ist es immer noch früh genug. Ich bin eine Jüdin – das trennt.« – »Wen?« fragte ich wohl. – »Nicht unsere Herzen, das weiß ich!« beteuerte sie. »Aber wir wollen die Kämpfe nicht suchen, sondern an uns herankommen lassen. Sie werden nicht auf sich warten lassen und uns früh genug plagen, glaube mir!«

Und ich war in ihrer süßen Gewalt und tat, wie sie wollte.

Das Obst war schon von den Bäumen, und vor den Nebeln, die früh aufstiegen, suchten wir gern in irgendeiner abgelegenen Bauernschenke Zuflucht und freuten uns bei neuem Most und neuen Nüssen unserer Heimlichkeit. Und als wir uns eines Abends, nachdem wir draußen durch eine schwere graue Wolke gewandert waren, feucht und kalt an einem Glühwein und einem warmen Essen gelabt hatten, kamen wir erst auf den Heimweg, als schon die Dunkelheit auf den Wiesen lag. Im Winkel hinter dem Kachelofen hatten wir gesessen, den die Wirtin früh zum Bohnendörren geheizt, Isa auf meinem Schoß, und sie hatte mich mit Küssen bedrängt, daß ich sie hatte mahnen müssen, wir seien zwar allein, aber die Türe könne sich jeden Augenblick auftun und einen Drachen in das Paradies einlassen. Aber selber hatte ich gezaudert, aufzubrechen und die süße Stunde zu kürzen, neigte sich der Sommer auf dem Lande doch dem Ende zu.

»Isa, sei vernünftig!« bat ich vor dem Parkpförtlein. »Ihr werdet bald wieder in die Stadt ziehn; wir dürfen nicht länger zögern und müssen uns deinen Eltern anvertraun. Ich hab ein Ämtlein in Aussicht. Im Dorf will der Gemeindeschreiber, mein Vetter dritten Grades, warten, bis ich soweit bin, und sich dann zur Ruhe sehen. Und wir beide brauchen doch nicht viel!«

»Nur uns!« beteuerte das Mädchen und fiel mir um den Hals, und in dem Dunkel glänzten seine Augen. »Frau Gemeindeschreiber!« lachte es dann lustig. »Und du, wirst du mich zeitlebens auf Händen tragen? Ich glaube, du bringst es nicht einmal fertig diesen Gartenweg hinauf bis zum Haus!«

Der heiße Wein hatte mein Liebchen übermütig gemacht, und ich hatte seine Neckerei kaum vernommen, als ich es auch schon mit aller Kraft der Jugend gepackt und vom Boden emporgehoben hielt. Mit einem Schrei hatte Isa die Arme um meinen Hals geschlungen, und so trug ich sie, und zu lieblichem Rasten zwang mich das Mädchen, indem es mich wieder und wieder mit heißen Küssen überfiel.

Unfern vom Hause hörten wir eine Stimme besorgt rufen: »Isa!« Eine Reihe von Lampen an den Wegen gingen auf, und wir standen hell beleuchtet. »Um Himmels willen – du hast mich halb ohnmächtig gefunden!« bat Isa, und ich hielt auch eine vor Angst schier in diesen Zustand Geratene, als eine der Schwestern herzugelaufen kam und scheu vor uns verharrte.

»Dem Fräulein ist nicht ganz wohl,« stammelte ich. »Ich habe geglaubt, sie ein Stück tragen zu müssen …«

Isa war an mir heruntergeglitten und hatte den Arm der Schwester genommen. »Es ist nichts Gefährliches, ich muß mir den Fuß vertreten haben, bin dennoch weitergegangen und konnte dann plötzlich nicht mehr … Und der Herr dort war so gütig …«

Isa hatte sich auch in meinen Arm gehängt, und so gab sie sich Mühe, zwischen der Schwester und mir ins Haus zu humpeln, wo alles zusammenlief, um die schöne Verunglückte zu bedauern. Man brachte sie in ihre Kammer, Vater und Mutter und alle vier Schwestern. Für eine Viertelstunde saß ich, von einer Magd, die ab und zu ging und einen Tisch ordnete, verstohlen beäugelt, allein in einem Vorraum und hatte Muße zu merken, daß ein Reichtum mich umgab, der beachtet sein wollte. Jene Stille, die alter Besitz gibt, rastete hier nicht. Man merkte nichts von einem liebevoll Gewordenen; alles war neu und prunkte. Und, so teuer es schien, nichts fügte sich in das alte Haus, und trotz aller Bequemlichkeit der Seiden- und Ledersessel erschienen die alten Kachelöfen mit ihren eingebauten Sitzen wie Inseln der Behaglichkeit in einem reichen Zigeunerlager. Und plötzlich begriff ich die Unsinnigkeit, ein Mädchen aus dieser Welt in eng umfriedete Stille verpflanzen zu wollen. Die Gewißheit, daß die Tage unserer jungen Liebe gezählt waren, fiel wie eine schwere dunkle Wolke über mich her, und ich stöhnte und fühlte im selben Augenblick, daß mich jemand beobachtete. Eine stattliche Frau war unter einem Vorhang weg in das Zimmer getreten, lorgnettierte mich und forschte dann: »Sie sind es, der sich meiner Tochter angenommen hat?«

»Es geht ihr gut?« fragte ich, statt einer Antwort, und konnte meine Trostlosigkeit nicht verbergen, denn Isas Mutter war nähergetreten und meinte teilnehmend: »Sie sind selber nicht wohl! Sie frieren …«

»Darf ich Sie bitten, Ihrem Fräulein Tochter meine besten Wünsche auszurichten?«

Ich wollte mich verabschieden, als die Schwester, die uns gefunden, erschien, gefolgt vom Vater, einem langen hagern Herrn mit dem an einen Prediger und einen Schauspieler zugleich erinnernden Gesicht eines hervorragenden Bürgers der Vereinigten Staaten.

Ich mußte mir danken lassen, beschämt und vom Verlangen bedrängt, wegzukommen. Und als es soweit war, daß ich endlich Lebewohl sagen durfte, kam eine Magd gelaufen: Fräulein Isa wolle mir noch persönlich danken.

Die Schwester führte mich auch in das Schlafzimmer. Isa lag, ein rotseidenes, goldgesticktes Häubchen auf den schwarzen Locken, in Spitzen gebettet, und begrüßte mich mit einem halb verlegenen, halb spitzbübischen Lächeln. »Wir haben Umschläge mit Kölnischem Wasser gemacht,« berichtete sie. »Ich danke Ihnen, daß Sie sich meiner so liebenswürdig angenommen haben … Ach, diesen schönen, schönen Sommer schon, Tag für Tag, du mein Liebster, Liebster!« flüsterte sie zärtlich, da sich die Schwester am Waschtisch zu tun gemacht und uns den Rücken zugekehrt hatte. Und mit einem Arm zog sie mich zu sich nieder, und wir küßten uns.

Ein Schrei ließ uns auffahren. Die Schwester mußte uns km Spiegel geschaut haben. Bleich und zitternd starrte sie uns an. Ich war auf sie zugetreten, die mich indes nicht zu Worte kommen ließ, sondern abwehrend eine Tür aufsperrte, wartete, daß ich hinausging und dann hinter mir her auf den Flur trat, wo sie auch die Haustür aufriß. »Gehen Sie, gehen Sie … Isa ist längst verlobt und versprochen!« drängte das Mädchen. Und ich ging.

»Verlobt und versprochen!« Immer wieder vernahm ich die Anklage der Schwester, und Scham und Wut trieben mich umher, vom Morgen bis in die Nacht. Weite Wege ging ich, und als ich auf einem solchen in einer Schloßschenke am See rastete, begab es sich, daß einem Wagen Isa und jener Besucher vom Sommer her entstiegen, den ich schon einmal mit ihr gesehn. Auch heute bemühte er sich um sie in jener gelassenen Vertraulichkeit, die Besitz gewährt. Die Schwester begleitete das Paar und erbleichte bis in die Lippen, als sie mich in dem Garten sitzen sah, während Isa wieder jenen hochmütig abweisenden Blick hatte, als störe sie der Anblick irgendeines Unbekannten. Mährend die Schwester meinte, es sei doch wohl zu kühl, im Garten zu sitzen, warf sie ihre Jacke über einen Stuhl und wehrte lachend, ihr sei's heiß geworden, um nichts sei ihr die sanfte Kühle, die vom Wasser her wehe, feil, und machte sich's an einem Tisch in meiner Nähe bequem.

Ich war nicht mehr Herr meines Blutes, hatte die Flasche vor mir gepackt und sie an einen Baum geschlagen, daß die Scherben davonsprangen und die Splitter an dem Stamm herunterrieselten. Die Schwester hatte einen Schrei ausgestoßen, und Isas Augen hatten ein flirrendes, flackerndes Licht.

Ich war an ihren Tisch getreten, hatte mich vor der Schwester verneigt und sie gebeten: »Sie entschuldigen mich, daß ich Sie erschrecken mußte. Ich sah da plötzlich ein widriges Insekt und mußte es totschlagen!« So drohte ich und starrte Isa an, einen Augenblick nur, aber lange genug, um ihr alle Verachtung ins Gesicht zu speien.

»Sie sind gefährlich, mein Herr!« versuchte sie spöttisch zu scherzen; aber ihre Stimme war heiser und rauh.

Der Wirt war gekommen, und ich mußte mich ihm zuwenden und versuchen, die Scherben zu erklären. Und dann war ich auf dem Heimweg, einem Pfad an einem Flüßlein entlang, das zwischen buntem Gehölz den See suchte. Eilige Schritte hinter mir ließen mich aus meinem Zorn und Groll erwachen – ein Mädchen winkte mir und kam auf mich zu. Es war Isas Schwester.

»Ich kann Sie verstehn,« brachte sie schwer atmend hervor. »Isa ist schuldig an Ihnen und an sich selbst. Wenn Sie wüßten, wie sie geweint hat …«

»Die und weinen!« schrie ich. »Worüber weinen? Daß sie nicht zwei und mehr Liebhaber zur selben Stunde haben darf?«

Ich hatte vor dem Mädchen auf den Weg gespien und wartete, daß es umkehre. Aber das mußte sich zitternd an eine Weide lehnen. Und in seiner Schwäche lächelte es traurig. »Vielleicht, weil sie nicht einen haben darf … Aber wir sind danach geartet, unserer Tränen bald Herr zu werden und uns mit dem Leben, wie es ist, abzufinden!«

»Wie es ist!« höhnte ich. »Und wie es sein könnte?«

»Wenn zweimal zwei nicht vier wäre, glauben Sie,« wehrte das Mädchen schmerzlich. »Träumer und Toren tun der Erde gut, sie braucht und verbraucht sie. Wir aber, die wir lange genug gehungert und gedürstet haben, jahrhundertelang, wir wollen essen und trinken!«

»Denn morgen sind wir tot,« vollendete ich.«.Heute schon!« schrie ich dann und trat mit dem Fuß nach einem Kiesel, daß der Sand aufsprühte und der Stein das Laub zerriß und in den Fluß klatschte.

»Sie mögen recht haben,« gab das Mädchen leise zu. »Ruhe den Toten. Morgen hat unser Sommer ein Ende. Wir ziehen wieder in die Stadt. Vergessen Sie und leben Sie wohl!«

Eine Welle warmer Luft hatte rot und gelb leuchtende Blätter gelöst, ihr bunter Regen rieselte an uns nieder, und wir schwiegen und lauschten, bis auch das letzte zur Ruh gekommen war. In dem blassen Gesichte des Mädchens waren die Augen groß und flammten mich an, und dahinter stand doch das Weinen. Trauer, Mitleid, Wut und Sehnsucht bedrängten mein Herz.

»Grüßen Sie Isa noch einmal, zum letztenmal von mir!« bat ich und hatte des Mädchens Hände ergriffen, die es mir ließ, um in Tränen auszubrechen. Und dann hielt ich die Schwester in den Armen. »Küsse Isa von mir – ich kann nicht vergessen. Leb wohl!«

Ich hatte das Mädchen fahren lassen, daß es taumelte. Und ich sah ihm nach, wie es gebückt dahinschlich, als fürchte es einen Schlag. Längst war es hinter den gelichteten Büschen verschwunden, als ich noch so stand und starrte. Und oft noch ist mir, ich steh auf einem verlorenen Wege, und das Laub fällt, und die Wasser ziehen dahin, und ich schau einer blassen Botin nach, die den letzten Gruß einer Gestorbenen gebracht. Ruhe den Toten …

 

Die Sterbekerze

Auf einem Dorfe, abgelegen und überlieferten Bräuchen treu, lebte uns ein verwandter Arzt. Der hatte ein einziges Töchterlein, Isabella, und als das sechzehn Jahre alt werden wollte, da waren wir, meine Mutter und ich, Gäste im Hause, den Tag mitzufeiern, da Bellchen, so ward das schöne Kind genannt, zum erstenmal zum Tisch des Herrn gehen sollte. Ich war wenige Jahre älter als das Bäschen, und wenn ich bei Mädchen noch scheu und blöde tat, so war ich doch mit ihm bald vertraut. Es hatte mich gleich bei der Hand genommen und mir sein Reich gezeigt, den Schimmel im Stall, zwei goldbraune Kühe mit einem hellen Strich auf dem Rücken, einen Stamm bronzefarbener Hühner, einen Flug von blauen Feldtauben, den sorglich bestellten Garten, Spitz und Kätzlein, und dann in einer von einem Vorhang verhüllten Nische auf der Diele einen Altar, auf dem ein altes weißes Linnen lag, worin Adam und Eva unter einem Apfelbaum eingewebt waren, indes eine blonde Muttergottes mit dem Jesukindlein, eine Tulpe in der Hand, das Werk eines Meisters aus einem vergangenen Jahrhundert, aus einem Goldrahmen herniederschaute.

Der Frühling war in den Lüften; Schneeglöckchen und Krokus hatten geblüht; Veilchen hausten in den Hecken, und die letzten Hyazinthen dufteten durch das Haus, als wir zu Besuch gekommen waren. Und dann ging ein heller Tag dem andern nach, da ich mit Bellchen alle schönen Wege ging, die es kannte, und es waren deren ungezählte. Und überall waren Heiligenhäuschen, wo es fromm sein Haupt beugte, daß ihm die braunen, goldflimmernden Locken über die Schultern fielen. Die Augen leuchteten von inniger Zärtlichkeit, und wann es gebetet und einen guten Tod und selige Urständ erfleht hatte, dann lachten mich diese Sterne wieder an und strahlten in einem süßen Feuer, und ich hatte wohl ein dumpfes Gefühl des Neides, als werde die Liebe dieses in junger Fülle knospenden Mädchens von den Himmlischen bald herniederwandern und einen Gesegneten dieser Erde mit den holdesten Gaben überschütten, und ich werde abseits stehn und meinen eigenen Weg ohne dieses schöne Kind gehn müssen.

Die Dorfkirche besuchten wir täglich: frühe, wann Bellchen noch einen Wachsstock brauchte, um im Gebetbüchlein lesen zu können, und abends, wann der Dämmer in den Winkeln nistete. Ward auch keine Beichte gehalten, so suchte doch das Bäschen jeden Abend den Beichtstuhl und flüsterte vor sich hin, was es den Tag über Arges getan. Und als ich es einmal geneckt hatte, es müsse wohl schwer in Gedanken sündigen, weil kein Tag vergehe, ohne daß es zu bekennen habe, da hatte es mit einem stillen Gesichte leise geseufzt und gemeint, sein Gewissen könne man nicht oft genug erforschen. Dann aber war es wieder die Lust zu lachen angekommen, und gelacht hatte es auch, als ich einmal heimlich links in den Beichtstuhl gestiegen war und gelauscht hatte, was es rechts hinüberflüsterte: alles Klagen, daß es an jenem Tage nicht lieb genug gegen Vater und Verwandte, Tante und Vetter, Gesinde und Getier gewesen sei. Und hatte wohl keines von einer Einbuße an jener Zärtlichkeit etwas gespürt gehabt, womit Bellchen alles umspann, daß es in einem weichen warmen Schleier zu wandeln glaubte. Ich zwar hatte ihm recht gegeben, daß es sich angeklagt habe, zu mir, dem Vetter, sei es nicht gar gut gewesen. Bestürzt war es auf dem Wege stehngeblieben, und da hatte ich gespottet, ich habe auch mein Gewissen erforschen wollen und sei in den Beichtstuhl gestiegen. Da habe aber schon jemand von der andern Seite her seine Sünden bekannt, und ich habe nicht zu stören gewagt und geschwiegen, damit der Himmel nicht zu arg auf einmal bestürmt werde. Das Mädchen hatte erst den Mund verzogen. Aber es lachte gar gerne und konnte sich eine lustige Sache noch lustiger vorstellen. So geschah es, daß wir plötzlich miteinander in ein helles Gelächter ausbrachen und uns gegenseitig zureden und bestärken mußten, zu Hause allen Ernst zu wahren, damit dort niemand von dem losen Streich erfahre. Aber über dem Essen geschah es doch, als wir uns, die wir vorsichtig die Augen im Teller und nicht darüber hinaus wandern ließen, unversehns anschauten, daß wir beide im selben Augenblick einen argen Hustenanfall erlitten, der sich zum Befremden der Tischgenossen schlimm genug verstärkte, um uns hinaus in die Küche zu treiben, wo wir auf ein Bänklein sanken, unbändig von unserer Lachlust geschüttelt

Ostern fiel in jenem Jahre sehr spät, und der Weiße Sonntag, an dem Bellchen zum ersten Male das heilige Geheimnis der Vereinigung mit dem Heilande feiern sollte, war schon ein Maitag. Der Flieder blühte früh, und der Hausaltar ward jeden Morgen mit frischen Sträußen geschmückt, und die Krone über dem Muttergottesbilde trug ein Kränzlein von Apfelblust. Von einer Waldwiese, die sich zu einem Bächlein neigte, trugen wir dicke Büschel von Trollblumen heim, und auch ihr Gold leuchtete in dem Lichte der Kerzen, die morgens und abends, wann das Zwielicht umging, vor der Madonna brannten. Und Bellchen selbst war eine wandelnde weiße Flamme. Ein himmlisches Feuer leuchtete aus dem Mädchen, und wann es in den Glanz der Kerzen trat, funkelten seine braunen Locken, und es trug einen holden Heiligenschein und war doch mit seiner Lieblichkeit auf dieser Erde. Aber ich konnte dann fürchten, es möchte sich so weit wegbegeben, daß es hienieden nicht mehr heimisch sei, und ich spürte mit Eifersucht die Nähe des Himmels und war so bisweilen knurrig und trotzig. Dann war mein Bäslein unruhig und besorgt und hatte ein Tränleln in den strahlenden Augen, und mit liebenswürdigen und zärtlichen Vorwürfen suchte es mich auszuforschen, wodurch es mich erzürnt habe. Es ging nicht auf sein Kämmerlein, bevor ich mich wieder versöhnt zeigte, und ich hatte gemach eine heimliche Freude daran, es so zu plagen und großmütig zu verzeihn, wo ich selber der einzig Schuldige war.

In den Heiligenlegenden, die es gerne las, stand viel geschrieben vom gottseligen Sterben schöner Töchter vornehmer, stolzer Herren, die alle Lust der Welt gern für einen frühen Tod in der Jungfräulichkeit dahingegeben hatten. Ein unerfahrenes Bürschleln, das ich war, hatte ich doch einmal dagegen gemeutert und fürwitzig gemeint, der liebe Gott setze niemand auf diese Erde, damit er sich abstrampele, möglichst bald wieder davon wegzukommen. Nein: je länger ein Leben währe, um so reicher könne es geben, und dieser Gabe der Liebe seien wir alle hienieden so bedürftig. Gewiß sei doch auch der Beruf eines Arztes ein gottgefälliger, und ein solcher sei, wie das der Onkel täglich bezeuge, vor allem darauf aus, die Kranken zu heilen und so ihr Leben noch für die Erde zu bewahren. Worauf Bellchen zugegeben hatte, das alles könne man gelten lassen. Aber es seien so viele Menschen auf Erden, daß es getrost Auserwählte geben dürfe, die dartun, wie über alle Lust des Zeitlichen das Ewige nicht vergessen werden möge. Ich antwortete, indem ich mich als Gymnasiast auf etliche alte Schriftsteller berief, welche Heiden schon von der Lust der Welt gar gering gedacht, so daß es kaum ein sonderliches Verdienst sei, ihr einen frühen Tod vorzuziehn. Und dann, murrte ich, sei es geistiger Hochmut, zu denken, man sei vor andern auserwählt, und ein solcher Hochmut sei eine Todsünde. Das Mädchen hatte leicht gelächelt und gemeint, vor Gott könne sich wohl nur der auserwählt fühlen, wer auch wirklich auserwählt sei. So oft es auch um einen seligen Tod bitte, so fühle es sich doch nicht würdig, Gott um die Gnade eines frühen Absterbens zu bitten. Aber es wolle doch nie vergessen, daß es einmal sterben müsse, und danach leben.

Während das Mädchen solche und ähnliche fromme Weisheit verkündete, war alles an ihm das süßeste irdische Leben. Das Haus wußte es, früh um die Mutter beraubt, zu schmücken, daß einen Festtag dünkte, wenn man über die Schwelle trat. In Küche und Keller kannte es sich aus, und wann der Vater für einen Kranken ein sonderlich kräftiges Süpplein brauchte, dann ward Bellchen an den Herd befohlen. Auch die Arzneien, die er verschrieb und aus Mangel an einem Apotheker in der Nähe selber abgab, bereitete es mit kundiger Hand, kochte, mörserte, mischte, wog Pulver ab, destillierte, beschrieb goldgerandete Schildlein schön und deutlich, pappte sie Flaschen und Schachteln auf und brachte auch, wo es sich gab, selber den Patienten die ersehnte Medizin. Auf solchen Gängen begleitete ich das Bäschen gerne, und es begab sich so, daß wir einmal in einem stattlichen, einsam gelegenen Bauernhause einkehrten, wo ein junges Mädchen von siebzehn Jahren auf den Tod lag. Der Onkel hatte über dem Mittagessen erzählt, daß dort seit langer Zett ein wurzelstarker, wetterfester Bauernstamm mit jedem Geschlecht eine gar feine Blüte treibe, zu zart für diese Erde. Die welke plötzlich hin, man wisse nicht wie. Über Nacht befalle so ein Mädchen in der schönsten Jugend eine Schwäche, daß es sich legen müsse, und es magere ab und schwinde hin, indes das Gesicht kaum eine andere Veränderung zeige, als daß es vergeistigt und verklärt leuchte. Sein, des Onkels, Vater habe schon zwei Fälle dieser Art auf dem Hofe behandelt, und jetzt habe auch er den zweiten Fall, und alle seien sie gleich und für den Arzt ein Rätsel, da kein Organ besonders betroffen erscheine. Er gebe eine stärkende Essenz; ob sie aber das Leben des Mädchens um nur eine Stunde zurückzuhalten vermöge, das wisse er nicht.

Bellchen hatte die Kranke noch von der Schule her gekannt, und deren Bruder, der Besitzer des Hofes, ein stattlicher, aufrechter Bursch, führte uns die Stiege hinauf zur Kammer, daß wir eintreten. Denn die Schwester habe gerne für eine Stunde Besuch.

Aus hochgetürmten Kissen lachte uns ein rosiges Gesicht entgegen, etwas klein unter den schweren, sauber aufgesteckten blonden Flechten. In den großen grauen Augen glomm es von goldigen Fünklein, und wäre nicht eine durchsichtige wachsbleiche Hand gewesen, zart wie ein Blumenblatt, die sich uns zum Gruße bot – man hätte an ein Mädchen denken können, das, müde vom Tanze, für ein Stündlein seine Kammer gesucht und doch nicht schlafen mag und der Melodie des Reigens, dem Glanze der Kerzen und der leisen Musik flüchtiger Liebesworte nachträumt. Es sah Bellchen und dann mich schelmisch an, schaute zu einem von Perlen, Spruchbändern und kleinen Reliquiensplittern eingefaßten Bildlein seiner Patronin, der heiligen Agnes, auf und meinte mit einem leisen Stimmlein lustig, wenn der Rechte zur rechten Zeit gekommen wär, dann hätte wohl manche geheiratet, von der heute die Legende als von einer seligen Jungfrau zu erzählen wisse. Es rate Bellchen, hübsch auf der Erde zu bleiben, so lang als die Erde es besitzen wolle, und nicht nach dem Ruhm eines frühen Todes in der Jungfrauschaft zu begehren, am hellen Tag nicht nach den Sternen suchen, sondern auf den Weg zu Füßen zu achten, ob den nicht einer gegangen komme, den es so recht von Herzen liebhaben möchte, so, daß es für ein langes gottseliges Leben ausreiche und darüber hinaus in alle Ewigkeit. Ein schönes, gutes Mädchen bringe immer einen um sein Glück, wenn's sich abkehre und hinwegwende, bevor der ihm sagen gekonnt, daß er ihm allezeit zu eigen sein möge.

Bellchen hatte die Kranke, die so lebensfrohe Weisheit zu künden trachtete, geküßt, und dann standen wir draußen, wo der junge Abend über den Wiesen und Wäldern brannte und blaßblaue Nebel in den Gründen wuchsen. Die Augen des Mädchens suchten mich verstohlen und irrten immer wieder weg, und in mir war die junge Liebe wach, und ich sah das Bäschen, wie ich es noch nie gesehn, in einer fremden und doch all meinen Träumen vertrauten Schönheit.

Auf dem Hofe, wo man daran war, die Scheune umzubauen, rüsteten sich die Arbeiter zur Heimkehr. Der Bauer war genaht, um uns zu danken und gute Nacht zu wünschen.

»Werden die Totenbretter auch wieder angenagelt?« befragte ihn Bellchen. Auf abgelegenen Höfen wurde noch der Brauch geübt, daß jenes Brett, worauf ein Verstorbener gelegen, bevor man ihn in den Sarg gehoben, mit einem Gedenkspruch und einem frommen Wunsche für die heimgegangene Seele bemalt, an die Scheunenwand gehängt wurde.

Nein, das werde er nicht zulassen, antwortete der Bauer. Seine Schwester, die jetzt dahinsterbe, sei durch diese Bretter immer wieder an das Geschick so manch einer Jungfrau aus der Verwandtschaft erinnert worden, die auf diesem Hofe früh gestorben sei, und habe sich so in den Kopf gesetzt, daß auch sie jung dahingehen müsse. Ihr fehle gewiß nichts als der Mut und der Wille, zu leben.

»Das ist es nicht …« widersprach Bellchen. Und ich pflichtete bei: Nein, wer andern so gut zu einem langen Leben raten könne, der möchte auch selber gern alt werden. Und dann sei's doch ein schöner alter Brauch, diese Totenbretter da …

Er werde sie verbrennen, fuhr der Bauer auf. Mit eigenen Augen habe er oft genug schauen müssen, wie seine Schwester davorgestanden und in ihrer schönsten Blüte dem erbärmlichen Hinsterben da nachgesonnen. Heute noch müssen sie ins Feuer.

»Das nicht!« bat Bellchen und hatte Tränen in den Augen. »Das wär, als wollte man die letzte Erinnerung an geliebte Menschen morden. Und könnt Ihr sie nimmer sehn, gebt uns die Stücke, die an die früh vollendeten Jungfrauen erinnern!«

»Es sind noch fünf davon da,« erwiderte der Bauer heiser. »In der Scheune stehen sie. Wollt Ihr sie mitnehmen, gut; sonst werden grade die heute abend noch zerscheitet.«

Wir fanden die fünf Bretter unter einem sorglich geschichteten Haufen, und der Dämmer lag auf dem Wege, als wir mit unserer Last feldein zogen. Einen wenig begangenen Fußpfad schlugen wir ein, zwischen einem hohen Bahndamme und einem weiten Walde von roten Tannen und silbernen Buchen, mit einzelnen knorrigen Eichen am Rande. Unter einer solchen stellten wir unsere Last im Unterholze ab und rasteten nebeneinander auf einem Baumstumpfe, indes etliche Mäuslein sich zu unsern Füßen im Liebesspiele jagten.

Da hatte Bellchen meine Hand zärtlich genommen und geflüstert: »Weißt du, wir lassen die Bretter hier, und nach dem Nachtmahl verschwinden wir mit Hammer, Säge, Nägeln und was wir sonst noch brauchen, und du schreinerst mir daraus einen Sarg zurecht.« Und als ich auffahren wollte, beschwichtigte das Bäschen: »Du hast doch Handfertigkeitsunterricht gehabt, und dir fällt's gewiß nicht schwer. Den Sarg bringen wir dann heimlich auf das Kämmerlein unter dem Taubenschlag, wo die Äpfel und Birnen vom Spalier und die Welschnüsse und die schönen roten Haseln gespeichert sind. Dort kommt kaum ein anderer hin als ich, und wann ich dann für Sonn- und Feiertag und für liebe Gäste von dem Obst hole, lege ich mich drei Vaterunser lang hinein und denk an meinen Tod, auf daß ich nicht zu lustig sei. Ja,« wehrte es, als es meine ablehnende Miene sah, »ein Mädchen ist leicht zu lustig, und gar ich möchte mir die Sternlein vom Himmel herunterlachen.« Und dabei sah es zum Abendstern auf, der in holdem Feuer aus einer dunklen Tiefe jenseits des Bahndammes aufgestiegen war, und lachte leise, und dann lachten wir beide, wie ausgelassene Kinder, und waren plötzlich still, als der Widerhall durch den Wald ging und eine fremde Stimme unserer Lust zu spotten schien. »Hörst du …« mahnte Bellchen und lauschte. »Da ist immer einer, der darauf wartet, daß wir lachen, und uns dann nachäfft.«

»Nein, es ist unsere eigene Stimme,« belehrte ich meine Gefährtin aus meiner Gymnasiastenweisheit heraus. »Hör nur!« Und »Juhu!« jauchzte ich in den Wald hinein, und »Juh!« klang es vielfach wider, und eine große Eule kam lautlosen Fluges gestrichen und war für einen Augenblick ein Schatten vor dem Abendstern.

»Hast keine Angst, gelt?« spottete Bellchen, als ich zusammengefahren war. »Soll sich nur keiner zu laut freuen – es hört immer einer, der's ihm mißgönnt.«

Es traf sich, daß der Hausherr noch spät zu einem Kranken gerufen wurde. Und da meine Mutter es liebte, zeitig zu Bett zu gehn, so konnten wir uns, ausgerüstet mit Holz und Handwerkszeug, unbemerkt auf den Weg machen. Unter der Eiche, wo wir gerastet, fügte ich die fünf Totenbretter zu einem Sarge, so, daß die Aufschrift des Bodenbrettes nach innen kam, während die Sprüche der andern vier außen zu lesen waren. Kopf und Fußstück hatte ich aus einer alten bemalten Bettwand herausgesägt, die wir aufgestöbert und mitgeschleppt hatten, und jedes zeigte ein rosenumwundenes Herz und darin eine weiße Frau, die vor einem Dreifuße stand und schaute, wie aus der Opferschale gelbrote Flämmlein aufzüngelten. Einen Deckel brauche der Sarg noch nicht zu haben, hatte Bellchen gemeint; solang als es noch mit irdischem Leibe daraus auferstehn möchte, und das werde es noch lange so mögen. Über meiner Arbeit hatte es vor mir gestanden und mit beiden Händen sein Kleid vor mich hingehalten, daß der Schall gedämpft werde. Und ich hatte wild darauflosgesägt und genagelt, damit der Lärm den unheimlichen Widerhall übertöne.

Der volle Mond schwamm über dem Walde, und unter einer nahen Tanne duftete ein ganzer Rasen von Waldmeister. Mit zarter, liebkosender Hand war das Mädchen über den weichen Teppich hingefahren und hatte leise vor sich hingesungen:

»Kommt der Tau, wird alles grün,
Werden die kleinen Jungfern schön.«

Und dann pflückten wir, was wir zu greifen vermochten und polsterten damit den Sarg aus.

»Schau nach dem Abendstern, so lang bis ich drei gezählt hab!« befahl mir Bellchen. »Eins, zwei, drei!«

Und als ich mich umwandte, lag es im Sarge, lachte mir mit großen leuchtenden Augen zu, streckte die Arme nach mir aus und dankte: »Bist doch ein lieber Bub! Wenn ich einmal heirate, dann sollen sieben goldne Ritter ihre Lanzen unter meinem Balkone brechen, und du wirst der erste sein und mich küssen dürfen und kein anderer. Und wenn du gleich mein Vetter bist – bist eigentlich doch nur ein halber, und der heilige Vater wird uns gerne Dispens geben und uns zusammentun, daß wir als christliche Eheleut hausen dürfen, wenn ich hingehe und ihm ein paar mit eigener Hand gestickte neue Pantoffeln darbringe, da die alten doch längst abgeküßt sein müssen. O du mein lieber Bub du!«

Ich lag im Grase neben dem Sarge und fühlte die Arme des Mädchens um meinen Nacken, und wir küßten uns, und mein junges Blut war ein Sturz von roten Strömen und meine Seele doch traumstill. Der Waldmeister duftete, das Mondlicht träufte von den Stämmen, eine Wildtaube war über uns wach geworden und lockte und gurrte und fand zärtliche Antwort. Und dann hatte sich Bellchen aufgerichtet, und beide schauten wir den Abendstern, und sein Glanz war gewachsen und wuchs immer noch, und sein holdes Widerspiel waren des Mädchens Augen.

Ich hatte kunstvoll einen Strick um den Sarg geschlungen, so daß jedes in eine Schlaufe fassen konnte, und so trugen wir ihn heim und brachten ihn ungesehn auf das Kämmerlein. Vorsicht mußten wir üben, denn im Zimmer des Gärtners Franz, der auch den Stall betreute, war noch Licht. Spätes Edelobst duftete dort oben, sorglich verlesen und in goldbesterntes Seidenpapier gepackt. Zwei der schönsten Birnen suchte Bellchen hervor, und die tupften wir widereinander, wie zwei ausgepichte Zecher ihr Gläschen: Zur Gesundheit! und schlürften die süße Frucht, bis nur noch der Stiel geblieben war. Und als wir den auf das Fensterbrett legten, vernahmen wir einen schweren, vorsichtig verhaltenen Schritt vom Zimmer des Gärtners her, ein unterdrücktes Lachen, hörten die Treppe knarren, eine Tür ins Schloß schlüpfen, und sahen dann den Burschen unter der Einfahrt, wie er ein Mädchen auf dem Arme trug, dem das Haar halb gelöst um den Kopf hing, und es heimlich auf die Fahrstraße brachte. Ein Tuch war dem Frauenzimmer von den nackten Schultern geglitten, als der Träger es niedersetzte, und die küßte der und wehrte dem Weiblein, sich die Hülle wieder umzuschlagen, und verschämt lachend litt es das und zeigte keine Eile.

Da war Bellchens Faust in das Fenster gefahren, eine Scheibe klirrte, und Scherben rieselten nieder. Mit einem Schrei hatte das Mädchen auf der Straße das Tuch an sich gerissen und war davon, indes der Gärtner geduckt in die Einfahrt gesprungen war, die Treppe in großen Sätzen hinaufgeflüchtet kam, in sein Zimmer hastete und bang die Türe hinter sich verriegelte.

Im Stall klirrte eine Kette, der Hahn krähte, irgendwo ward ihm Antwort, und alles war still. Ich sah Bellchens Gesicht im Mondenlichte, weiß wie ein Linnen, verzerrt, die Augen klein und glühend von verhaltenen Tränen. »Du blutest?« flüsterte ich besorgt und wollte die Rechte des Mädchens fassen. »Laß mich!« wehrte es rauh und wich zurück. »Geh! So geh doch – wenn uns einer so zusammen fände! Geh, geh!«

Ich schlich hinunter und durch eine Hintertür ins Herrenhaus und fand ungesehn meine Kammer. Dort vernahm ich noch, wie der Arzt heimkehrte und Bellchen zärtlich ausschalt, daß es so lange aufgeblieben sei, um seiner, wie immer, mit einem Becher Glühweins und einem frischgestopften Pfeiflein zu warten.

In den nächsten Tagen sah ich mein Bäslein kaum einen Augenblick allein. Verwandte waren zu seinem Feste gekommen, luftige Vettern und Basen darunter, und das Haus war voll von Gästen. Und war Bellchen nicht um die, so war es in der Kirche. Mich mied es scheu. Seine Augen suchten mich nimmer, und nur einmal noch hatten sie bei mir verweilt, flüchtig, flehend und doch vorwurfsvoll, als der Arzt über dem Mittagessen gescherzt hatte, seine getreue Hausmeisterin, die sonst alles und noch mehr schaue, sein sorgsames Töchterlein habe nicht bemerkt, daß schon seit Tagen eine Scheibe am Fenster der Obstkammer traurig zerscherbt sei. Daran habe wohl ein frecher Bub seine Schleuder probiert. Und da nur Bellchen und sonst keiner den Schlüssel zu diesem gesegneten Kämmerlein führe und ihn eifersüchtig hüte, so wolle er es an seine hausfrauliche Pflicht erinnert haben, den Schaden heilen zu lassen.

Der Weiße Sonntag war gekommen, und Bellchen im langen lichten Kleide, einen Kranz von Rosen in den braunen, goldschimmernden Locken, erschien mir wie ein Königskind, über Nacht zum Thron berufen, so ernst und stolz und schön. Am Abend vorher hatte es mich bei der Mutter gefunden und mir die Hand geboten und mich scheu gebeten: »Vergib mir alles, was ich dir Böses getan habe!« und dann laut aufgeweint. Und als die Mutter es an sich gezogen und getröstet hatte: »Wie könntest du jemandem etwas Böses tun!« da hatte es so wild geschluchzt, daß mir selber Tränen kommen wollten, Tränen der Wut, ich wußte nicht worüber, und ich war davongeschlichen.

Die Gärten hatten ihre schönsten Blumen für die Dorfkirche hergeben müssen, Orgel und Sänger waren des Feiertags wohl eingedenk, und der Pfarrer hatte in seiner milden Würde ergreifende Worte für die Schar der Erstkommunikanten, denen an diesem Tage das heilige Brot gebrochen ward. Eine mit goldenen Blümlein gezierte brennende Kerze trug ein jedes, und als die ausgelöscht ward und die Feier zu Ende ging, da erinnerte der Pfarrer seine Kindlein daran, daß ihre Sterbekerze gebrannt habe. So sei's alter Brauch, daß diese Kerze erst wieder in der Stunde ihres Todes angezündet werde, und er bitte Gott, daß er seine geliebten Pfarrkinder bewahren und behüten möge, auf daß sie dereinst die brennende Kerze so finde wie heute: innig vereint mit ihrem Herrn und Heilande.

Es war Sitte, daß die Kommunikanten einzeln, ohne Begleitung, in einem offenen Wagen zur Kirche gebracht und so wieder heimgeholt wurden. In letzter Stunde hatte Bellchen gefordert, da Franz, der Gärtner, zum Ausschmücken des Hauses, beim Zurichten der Festtafel und all den andern Vorbereitungen unentbehrlich sei, so möge Samuel es fahren. Das war ein dürrer, alter Junggeselle, der bisweilen in Haus und Garten aushalf, Körbe flocht, Stühle flickte und den Totenwagen des Dörfleins besorgte und ihn zu putzen und zu schmücken pflegte, als habe er die lustigste Hochzeitsgesellschaft ins Himmelreich zu kutschieren. So sah man den vertrockneten Alten mit seinem bartlosen, hagern Gesichte, in dem sich alle Knochen abzeichneten, einen viel zu weiten Zylinder mit einer großen weißen Seidenschleife bis auf die Ohren über den Kopf gestülpt, auf dem Bock, während Bellchen in seiner überirdischen Schönheit im Wagen lehnte.

»Als fahre der Tod eine Prinzessin!« war meiner Mutter der Vergleich entfahren, und der Arzt hatte ein Achselzucken gehabt. Das Kind sei ohnedies aufgeregt genug in diesen Tagen, und hätte er ihm sein Verlangen abgeschlagen, so wären Tränen geflossen. So hold es blühe – er müsse doch einmal davon sprechen – so zart sei es und leide am Herzen. Das könne mit den Jahren verwachsen und vergehn; aber heute noch sei es durch jede Aufregung gefährdet, und man müsse dem Mädchen den Willen lassen, welche Freiheit es übrigens niemals mißbrauche.

Bellchen hatte den alten Samuel an der Hand genommen und verlangt, daß er ihm auch über Tische aufwarte. Und der wahrte sich eifersüchtig sein Recht, stand mit Rosen in allen Knopflöchern seines verschabten langschößigen Rockes hinter des Mädchens Stuhl und sorgte, daß ihm von allem zuerst gereicht wurde. Und dann erst durfte der in einer grünen Livrei mit Silberknöpfen prangende Franz die Schüssel weitergeben. Eine lustige Gesellschaft von Vettern und Basen saß an einem Nebentische, und darunter auch ich, und bewältigte Berge guter Sachen. Als der Champagner herumgereicht worden war, versank auch das hochmütigste Näschen an unserer jugendlichen Tafelrunde so ungestüm, daß es mit einem Schaumflöckchen wieder aus der Tiefe auftauchte. Und eines sah es am andern, und des Lachens und Lärmens wollte kein Ende nehmen, während in mir eine dumpfe Traurigkeit wühlte. Ich sah Bellchen unter den Erwachsenen, und das Mädchen schien mir so fern, als sei ich ihm nur im Traume einmal nahe gewesen und niemand dürfe darum wissen und auch es selber nie und nimmer. Und um mich herum vernahm ich die Lust der andern, wollte es ihnen gleichtun und trank des süßen Weines mehr in mich hinein, als mir gut tat.

Eine Tasse starken Kaffees wurde geboten, und dann setzte sich Bellchen nach altem Brauche unter den brennenden Leuchter mitten im Saale, und die Verwandten zogen an ihm vorüber und boten dem Mädchen einen Kuß. Auch wir kamen daran, und die jungen Bäslein hatten alle Herzwasser und schluchzten zum Sterben, als sie der Gefährtin nahten, während von den Vettern etliche eine spitzbübische Miene aufgesteckt hatten und andere ihre Verlegenheit unter einem bärbeißigen Gesichte zu verhehlen trachteten. Ich blieb der letzte in der Reihe, und als ich vor Bellchen stand, war die Frühlingsnacht um mich, und ich flüsterte:

»Kommt der Tau, wird alles grün,
Werden die kleinen Jungfern schön.«

Das Mädchen hatte mir, als ich nahte, zuzulächeln versucht, indes seine Augen unruhig umherirrten. Bei meinem Sprüchlein aber hatte es sich bleich zurückgelehnt, und als ich mich über das scheue Kind neigen und es küssen wollte, da war es heftig aufgefahren, hatte mich zurückgestoßen und war aufschluchzend in die Arme des Vaters geflüchtet. Bestürzt umdrängten die Gäste den Arzt, der beschwichtigte, das Kind sei überreizt, es bedürfe nur für einige Stunden der Ruhe, und sein Töchterlein hinaustrug und bald wieder erschien, um zu künden, es schlafe schon. Man möge sich keinen Zwang auferlegen und froh sein wie bisher. Den jungen Herrn, der um den Kuß der Festkönigin gekommen, mögen die schmucken schönen Jüngferlein in seiner Nähe sein gutes Recht werden lassen und ihn ausgiebig entschädigen.

Dieser Scherz des Gastgebers beschwichtigte die letzte Besorgnis, und an unserm Tische, wo mich fragende und vorwurfsvolle Blicke getroffen hatten, als Bellchen mich zurückgestoßen, gab es ein übermütiges Hallo, als gelte es, einen Strauch mit süßen Beeren zu rupfen, und ich hatte meine Küsse dahin, bevor ich den lustigen und, ach, so lästigen Ring durchbrochen. Und dann stand ich draußen allein, Tränen der Wut in den heißen Augen, und stahl mich in meine Kammer.

Am Nachmittag unternahm die Gesellschaft einen kleinen Spaziergang, und Bellchen war wieder frisch und rosig unter ihnen. Ich, der ich heimlich fernblieb, empfand doch die tiefe Stille nach all dem lustigen Lärm, von dem ich mich selber geschieden, wie ein Verachteter und Verfemter. Aus der Küche her, wo die Mägde Geschirr aufwuschen, klang ein Volkslied vom Scheiden und Meiden, von hellen und dunklen Stimmen schwermütig gesungen, Tauben flogen zum Brunnen, tranken, gurrten über den Hof, und Franz richtete etliche Tische im Garten für einen Tee zu, indes der alte Samuel aus einem klobigen Pfeiflein schmauchte und mit dem Rauche naschhafte Bienen scheuchte, die Schalen mit Fruchtsäften und Honig und die süßen Torten gewittert hatten.

Das Zwielicht kam, und mich litt es nicht in meiner Kammer, wo die Schatten wuchsen. Heimlich schlich ich die Treppe hinunter und war im Saal, wo wir getafelt hatten. Der Sessel Bellchens stand noch unter dem Leuchter, und auch die schweren Kerzen brannten noch, die zur Huldigung angezündet worden waren. Ein Luftzug kam mir nach, hob die Flämmlein, daß sie für einen Augenblick frei schwebten, und dann standen sie zitternd und wieder still über den Wachsstöcken. Ich sah das Spiel und sah den Sessel unter dem Leuchter und in dem Sessel ein Seidenpapier, und daraus schimmerte es weiß und goldig, und ich hatte Bellchens Sterbekerze in den Händen. Trunken vom Wein und meinen jungen Schmerzen, von Leid und Wut über meine Verlassenheit gepeinigt, hatte ich danach gegriffen, und ein wildes Frohlocken war in mir, während ich den Fund in meiner Tasche barg, als habe ich damit alle Gewalt über Leben und Tod des Mädchens an mich gerissen.

Ein Totenlämpchen aus den Katakomben, das der Arzt von einer Studienreise mit heimgebracht hatte, stand auf einem Tischchen mit allerlei Zierat, und das hatte eine runde Öffnung für das Öl, wo eine Kerze hineinpaßte. Ich nahm es hinzu, fand im Schränkchen auf der Diele den Schlüssel zur Obstkammer und stahl mich damit ungesehn ins Nebengebäude. Zu Häupten des Sarges stellte ich das Lämplein auf eine Bank, steckte ohne Mühe die Kerze hinein, zündete sie an und brachte den Schlüssel wieder heimlich an seinen Ort. Und dann setzte ich mich an einen der gedeckten Tische im Garten, so daß ich das Fenster zur Obstkammer im Auge hatte, und sah den blassen Schein, wie er mählich wuchs und tiefer ward und, da die Gäste von ihrem Spaziergang heimkehrten, als ein feiner goldener Nebel im Fenster stand. Bellchen ging am Arm eines Vetters inmitten einer Reihe von jungen Pärlein. Und als es mich sah, der ich mit heißen Augen das Mädchen schaute, ward es blaß und rot, zauderte hilflos, löste heftig den Arm aus dem des Gefährten und lief stracks auf mich zu:

»Ich bin dir noch etwas schuldig!« gestand es leise, und Tränen bedrängten seine Stimme.

»Mir?« forschte ich und tat, als wisse ich nicht, was es meine.

»Ich bin weggelaufen und habe dich vor aller Gesellschaft beschämt und will's jetzt vor aller Gesellschaft hier wieder gutmachen!« bat es und neigte sich mir zu.

Ich aber wehrte grausam: »Laß nur, du kannst mich nicht beschämen. Vor all den andern da hab ich dich zuerst küssen dürfen, und wenn's keiner gesehn hat, so wissen's doch der Mond und die Sterne. Mehr verlang ich nimmer, und du müßtest schon tot sein, sollt ich dich je wieder küssen!«

Vor meiner maßlosen Wut war das Mädchen zurückgefahren und starrte mich entsetzt an, der ich mit einem tückischen Lächeln seine Augen zwang, meinen Blicken zu folgen. Und da sah es den goldenen Lichtflor im Fenster zu der Kammer mit dem Sarge und den wilden Triumph in meinem Gesichte. »Was ist … was ist da …« forschte es furchtsam. »Geh und schau!« beschied ich das bange Kind, stand auf, wandte mich den nahenden Gästen zu und sah mich nicht um.

Da zitterte ein verhalten klagender Schrei durch das Zwielicht, und wieder einer. Ein Fenster ward aufgestoßen, Bellchens weißes Gesicht umfloß ein goldener Schimmer, man sah ein paar angstvoll gefaltete Hände, das leere, erleuchtete Fenster, vernahm noch einmal einen langgezogenen Schrei, der in einem Seufzer erstarb, und einen dumpfen, schweren Fall.

Der alte Samuel war mit wilden Sprüngen über den Hof gehastet, und dann sah man sein grausam verzerrtes Gesicht in dem Fenster zu der Obstkammer. »Bellchen, Bellchen …« schrie der Alte und winkte verzweifelt. Der Arzt und meine Mutter eilten herbei, ich hinterdrein, und angstvoll drängten die Gäste nach.

Auf der Bank neben der brennenden Kerze saß Samuel, hielt das leblose Mädchen in den Armen, schluchzte und hatte doch keine Tränen in den alten Augen. Der Vater hatte dem Kinde das Mieder aufgerissen, kniete vor ihm und hielt ihm die Hand aufs Herz, schüttelte den Kopf, stand auf und wankte, fiel meiner Mutter um den Hals und schrie immer wieder: »Tot – tot – tot!« Und sein Jammer übertönte alle Klagen der entsetzten Verwandten.

Ein Wagen war draußen vorgefahren, und man vernahm laute Rufe nach dem Arzte. Auch der hatte sie trotz seines Elends gehört, und die Gewohnheit, zu folgen, wo man nach ihm verlangte, war so stark in dem Manne, daß er sich zusammenzuraffen vermochte und, gestützt von meiner Mutter, inmitten der erschütterten Verwandtschaft die Kammer und sein totes Kind verließ. Der alte Samuel nur und ich waren zurückgeblieben. Ich stand am Fenster und sah im Lichte einer Wagenlaterne den jungen Bauern, dessen Schwester Bellchen und ich besucht, und ich hörte ihn, wie er drängte: »Meine Schwester will sterben!« – »Mein Kind wollte nicht sterben und ist gestorben!« schrie der Arzt auf und saß schon im Wagen. Der rollte davon, und die Schatten auf dem Hofe verliefen sich, und im Herrenhause blühte Licht um Licht auf, und gedämpftes Weinen war in der Frühlingsnacht, indes eine späte Amsel hoch von der Pappel her flötete, die mit ihrer Krone die schwindende Helle noch zu halten schien.

Der alte Samuel war aufgestanden und hatte das Mädchen sorglich in den Sarg gebettet. Die Kerze ging dem Ende zu, und ihr Licht war unruhig geworden, und der flackernde Schein irrte über dem Gesichte der Toten. »Lebst du noch, Bellchen?« flüsterte ich und lag neben dem Sarg auf dem Boden, und der Waldmeister duftete wie in der Nacht unter der Eiche. »Lebst du noch?« Und ich beugte mich über den Mund, der im Spiele des Lichtes zu lächeln schien, und küßte ihn. Und schamhaft zog ich das Kleid über der entblößten jungen Brust zu. Aufs neue küßte ich den Mund, indes die Flamme der Kerze noch einmal hell aufblühte und das weiße Gesicht mit einem goldenen Flor übergoß. Und dann war das Licht erloschen, grau und dunkel drohte das Antlitz des toten Mädchens, und ich schrie und wollte nicht schweigen, als ich längst meine Kammer gefunden.

Bellchen war in dem Sarge geblieben, den ich gezimmert, und Samuel hatte ihm aus einem mit einem Engelsreigen bemalten Brette von einem Altar den Deckel aufgenagelt. Ein offener, mit Maiengrün ausgeschlagener Wagen, von acht Schimmeln gezogen, brachte einen Sarg mit der toten Schwester des Bauern, der den Arzt in der Sterbestunde des eigenen Kindes gerufen, und der Sarg mit Bellchen ward hinzugehoben und ruhte mit dem der Gefährtin auf einem Bett von weißen Rosen. Auf dem Bocke thronte der alte Samuel, den Zylinder vom Feste her über den Ohren, ein Röslein im Munde, indes acht Bauernburschen in violetten Mänteln und Handschuhen die Schimmel führten.

So trugen sie meine junge Liebe zu Grabe, und zermartert und zerschlagen an Leib und Seele, starrte ich dem Zuge nach, wie er langsam meinen Augen entschwand. Der Mutter hatte ich gestanden, wie Bellchen zu dem Sarge gekommen, und mich angeklagt, daß ich ihn gezimmert. Und als ich nicht schweigen wollte mit dieser Klage, da hatte sie den Vater des Mädchens gerufen, und der Arzt mußte mich trösten, das Kind habe immer gern mit Dingen gespielt, die an den Tod erinnern. In einem solchen Spieltrieb habe es wohl auch die Sterbekerze angezündet und im Trubel des Festes über irgendeiner Zurüstung vergessen, sie zu löschen, und bei der Heimkehr vom Spaziergange hab es dann erschreckt bemerkt, daß sein Lebenslicht tief heruntergebrannt sei. Dazu all die Aufregungen des Tages und vorausgegangener Wochen, und das Herz habe nicht mehr widerstanden.

Ich wagte nicht zu widersprechen. Ein altes Lämpchen mit Wachstropfen von einer verblühten Kerze habe ich bis auf den heutigen Tag bewahrt, und das soll ein neues Kerzlein tragen und mir leuchten in der letzten Stunde, da Gott mir um meiner Reue willen den Frevel an einem jungen Leben verziehen hat.

 

Ein Bild

Ich war einsam in einer großen Stadt, und in dem Verlangen meiner Jugend nach Freundschaft und Liebe scheute ich doch vor Gelegenheiten, wo dafür ein billiger und doch so teurer Ersatz leicht zu haben war, und ging gern stille Wege. Da war ein Leinpfad am Flusse unter Brücken und Bogen durch, zu dem manch eine alte Gasse niederstieg, mit Häusern hinter hohen Mauern, die spärlich ein festgefügtes, schwerbeschlagenes Tor durchbrach. Und diese schmucklosen Tore hatten immer eine kunstvolle Krönung: eines zwei radschlagende Pfauen, ein anderes ein springendes Einhorn, ein drittes eines wilden Mannes Haupt, das an einem Ring in der Nase eine kleine Ampel trug – Zeugnisse eines auf Schönheit und Dauer bedacht gewesenen Fleißes. Und ich liebte es, diesen Gassen nachzugehn, wo der Schritt noch widerhallte und der Lärm des Marktes nur fern herüberbrandete, wo ich träumen konnte, daß andere Menschen hinter den Mauern lebten als jene, die mir fern und ferner schienen, in deren Mitte ich einsam war.

In einem Maimonde geschah's, an einem Abend im Münster, wo die Kerzen unserer Lieben Frauen zu Ehren inmitten der schönsten Blumen leuchteten, daß ich aus dem Schatten einer Säule heraus eine Stimme im Lied vernahm, wie sie dunkel aus der Tiefe aufstieg, von einer geheimnisvollen jungfräulichen Leidenschaft durchbebt, dahinschwebte und im Widerhall in Kuppeln und Bögen zart verging. Mir war, ich habe diese Stimme schon einmal in jener letzten Ferne vernommen, wohin mich die Erinnerung zurückzuführen vermochte. Und als ich mich nach der Sängerin umschaute, sah ich in einem Betstuhl ein großes Mädchen in einem weißen Spitzentuch, einen goldenen Pfeil mit einem rotleuchtenden Stein im hochgetürmten dunklen Haar, Bernsteinperlen um einen schlanken braunen Hals, mit Augen von einem sanft schimmernden Blau unter langen schwarzen Wimpern und einem kleinen Mund, der heiß aus einem zartgeformten und von einem feinen Bronzeton überhauchten Gesicht blühte. Aus dem bald bläulich, bald rosa schimmernden Kleid glommen kleine eingestickte Goldsternchen, und als die Schöne aufstand, ging ein Lächeln über mich weg, und ich vermeinte, es gelte einem hinter mir Stehenden. Ich trat einen Schritt zur Seite, dem so Gegrüßten aus dem Weg, und schaute mich, da er zögerte, um. Aber niemand trat hervor, und als ich den Blick wieder der Sängerin zuwandte, sah ich sie nicht mehr. Der Pfeil in ihrem Haar schien noch da und dort zu leuchten; aber hatte ich mich hinzugedrängt, war er nicht mehr, wo ich ihn zu finden geglaubt, und funkelte anderswo. Und so lange suchte ich, bis ich mit etlichen alten Weiblein allein in der Kirche war. Doch im Weihrauchduft, im Lichtnebel, der im Schiffe schwamm, sah ich die Schöne immer noch unwirklich und wieder bekannt und vertraut. Und dann, als ich durch die dämmernde Stadt einem Garten zuschritt, wo man bei einem mildduftenden Landwein für ein Bescheidenes zu Abend aß, stieg in dem Dämmer eine Erinnerung in mir auf, die mich drängte, bald meine Kammer zu suchen.

Ich hatte schon früh eine Liebe für jene zarten Bildlein gehabt, wie sie Kleinkünstler vergangener Zeit auf Elfenbein gemalt haben. Und bei dem schweigsamen, verdrossenen Händler meiner Heimat, der allerlei alten Kram aufgespeichert hielt, hatte ich einmal ein Stück gefunden, das es mir angetan hatte, als grüße mich daraus Bekanntes und Verwandtes. Das Bild war mit mir umhergezogen und lag in meinem Koffer wohlverwahrt. Und als ich es jetzt hervorsuchte und bei der Kerze betrachtete, deren Flämmlein von den Flügeln eines Nachtfalters schwankte, erkannte ich darin das Mädchen aus dem Münster. Das eigenartig getürmte Haar, mit dem von einem roten Stein flimmernden Goldpfeil, die sanften blauen Augen unter den nachtschwarzen Lidern, der gelbe Bernstein auf dem braunen Hals, das Kleid mit den eingewirkten Sternchen, alles das zierte in zarten Farben das Elfenbein. Vor anderthalb Jahrhunderten hatte es einen Maler gegeben, der eine gleiche Schöne geschaut hatte, wie sie heute mein Herz bestürmte. Die Natur hatte ihr eigenes Gesetz schmerzlich empfunden, das alles Lebendige altern und vergehen heißt, und in einem lieblichen und wieder grausamen Verlangen hatte sie ein schönes Gebilde, dahingegangen wie alles Zeitliche, aufs neue erstehn lassen. Und Gedanken und Gefühle mußten gleich sein an diesem Geschöpfe wie Tracht und Schmuck; das Geschick des Vorbildes mußte sich aufs neue an diesem Mädchen erfüllen. Und wie meine Gedanken um die Schöne von heute gingen, so waren voreinst die eines Fahrtgesellen, mir gleich, um die Verstorbene gewesen … Lebte ich nicht mit meiner Zeit, sondern mit jenem Wesen, das auch, lieblich erneut, nur in der Vergangenheit Heimat haben konnte, in einer versunkenen Ferne? War ich deshalb so weit weg von den Menschen, die ich Tag für Tag schaute, ein Verschlagener an einem fremden Gestade? Und die Welt um uns herum? War die Stadt nicht eine andere geworden, nicht mehr die, welche vor anderthalb Jahrhunderten unter anderer Herrschaft still abseits gelegen hatte?

So sann ich lang in die Nacht hinein. Der nächste Tag indes fand mich willens, Geheimnissen aus dem Wege zu gehn, und so wanderte ich vor das Tor, wo eine alte schöne Anlage mit fremden Bäumen durch Busch und Wald, stille Weiher mit Schwänen und Seerosen, heimliche Wege unter Rotdorn, Flieder und Rosen zu einem kostbaren Besitze der nahen Stadt ausgebaut worden war. Aber als ich durch das zarte Gespinst einer Birkengruppe den durchbrochenen Turm des Münsters in der Ferne sah, wie ein Flug weißer Wölklein mit rosigen Rändern hindurchzugleiten schien, da war die Schöne aus der Andacht vor meinen Augen. Ihrer Stimme Glockenklang war um mich her, und ich fühlte ihr Lächeln und deutete es als einen Gruß für meine Seele. Und als ich einen Nebenpfad einschlug, der zu einem Lusthäuschen über einem Weiher führte, hatte ich kein anderes Bewußtsein, als daß ich zu einem Stelldichein befohlen sei, und mein Mädchen warte schon irgendwo und schaue mich aus einem grünen Verstecke und flüchte frühlingstrunken dem Freunde zu.

Der Weiher hatte eine kleine Insel, wo Magnolien ihre großen weißen Flocken verstreuten. Dort stand ein Mädchen in einem losen, gelb leuchtenden Mantel und schaute zu einer Nachtigall auf, die in den blauen Tag sang, indes ein spielender Wind in einem fremden Nadelbaum am Ufer verharrte und eine goldene Fahne von Blütenstaub über dem Wasser entrollte. Die Schöne mußte meine Nähe fühlen – sie wandte mir ihr Gesicht zu und sah dabei, daß ihr Kahn von dem Inselchen abtrieb, dorthin, wo ich stand. Und ich packte die Ruder und war mit wenigen Schlägen am Gestade, wo mein Mädchen aus dem Münster wartete.

Ich weiß nicht, ob sie mir ihren Namen genannt hat; heute ist mir, als hätte ich ihn gekannt gehabt und sie begrüßt: »Anna Maria!« Ich sprach von keinem Bilde, nicht davon, daß ich sie gestern im Münster geschaut. Ein fremdes Bewußtsein, so will mich heute dünken, war zu jener Stunde in mir, das Gefühl vom Besitze einer anderen Vergangenheit, von der Vertrautheit mit einem schöneren, reicheren Leben. Wir gingen Hand in Hand Wege unter Flieder und Nachtigallen, landeten in einem Wirtshaus im Grünen und freuten uns unter einer weitkrönenden Linde an einer kräftigen Bauernmahlzeit mit dem besten Wein des gesegneten Gaues. Und nur dann war mir die Nähe dieses schönen Wesens für einen flüchtigen Augenblick geheimnisvoll und gespenstisch, wann ich den Turm des fernen Münsters irgendwo durch eine Lichtung herüberschimmern sah.

Der Abend kam und brachte mit Gold und Purpur die ersten Sterne. Arm in Arm gingen wir der Stadt zu, und mich wunderte es nicht, daß wir in eine jener Gassen einbogen, die vom Flusse her anstiegen, und gerade in jene, deren Verträumtheit mich zumeist gelockt hatte. Vor einem jener schmucklosen Tore, das mit zwei Schwänen gekrönt war, die mit geblähten Flügeln und schöngeschwungenem Hals aneinander aufstiegen, zog Anna Maria einen kunstvoll geschmiedeten Schlüssel hervor, und wir traten auf einen Weg mit rotem und blauem Kies, der durch einen grünen Vorplatz mit Rosen schnurgerade auf ein weißes, zierlich aufstrebendes und von Spalieren umblühtes Haus führte.

»Auf Wiedersehn,« lächelte das Mädchen. Ich schaute ihm noch einmal in die Augen, deren Bläue jetzt tief und dunkel und von Schwermut umschattet schien, und dann küßten wir uns. Und ich war wieder vor dem Tor, und mir war, ein Blütenblatt, aus der Fülle dieses Frühlings niedergeweht, habe meine Lippen gestreift und der leise Duft sei mein einziger Besitz an all der jungen Herrlichkeit der Welt.

In meiner Kammer sann ich über dem Elfenbeinbildchen, das so getreu mein Mädchen darstellte, jung und schön, wie ich es heute gewonnen, und das doch vor anderthalb Jahrhunderten gemalt worden war. Ein zartes Pergament deckte die Rückseite und hielt mit einem schmal übergreifenden Falze ein Glasschildchen, das vorne die Malerei schützte. Ein Sammler hatte eine Zahl auf dem Pergament hinterlassen, und die war verlaufen, und ein bläulicher Flecken schimmerte durch das Elfenbein hindurch und störte. So legte ich das Bildchen in eine Schale mit klarem Wasser. Und als ich am Morgen nachschaute, hatte sich das Pergament gelöst. Aber auch die Malerei war blasser geworden. Und als ich das Bild aus dem Wasser greifen wollte, glitt das Glas davon, und mein Finger wischte über das Gewand mit den Sternchen, und es war nicht mehr. Erschrocken ließ ich das Elfenbeinplättchen wieder fahren und sah, wie die zarte Malerei völlig vergehen wollte und das Gesicht nur noch als ein Hauch darauf hing. Und als ich das Plättlein besorgt aufs neue greifen wollte, wischte ich auch den hinweg.

Unruhe bedrängte mich, auch das Mädchen, das ich geküßt, möchte so geschwunden sein, und voll Ungeduld maß ich die Wege, die wir gestern vor dem Tore gegangen. Ein helles Kleid schimmerte durch blühende Zweige; ich eilte hinzu und fand doch Anna Maria nicht. Das Inselchen suchte ich, wo ich sie gestern gesehn; doch keine Stapfe kündete mehr von ihr. Und die Glut des Abends war schon verdämmert, fahl und grau stand der Himmel über der Stadt, als ich die Gasse anstieg, wo wir selbander gegangen. Doch umsonst suchte ich nach dem Tor mit dem Schwanenpaar. Da wußte ich, daß ich es auch vor dem vergangenen Abend nie gesehn. Grauen und Verlangen stritten in meinem Herzen. Der neue Tag sah mich wieder in der Gasse, und in seiner Helle prüfte ich Tor für Tor und fand auch dann nicht, was ich suchte.

Vergebens lauschte ich an den Andachten im Münster auf die geliebte Stimme; einsam blieb ich auf den Wegen, die ich an dem schönsten meiner Frühlingstage mit Anna Maria gezogen.

In den Jahren, die ich seither verlebt, ist mir oft das Gefühl genaht, jene Stunden seien nie wirklich, ihre Erscheinungen Gebilde eines Traumes von seltsamer Kraft und Stärke gewesen. Ein Elfenbeinplättchen unter allerlei Kram zwar erinnert mich daran, daß ich einmal ein Bild, wie ich es dann leibhaftig zu schauen geglaubt habe, besaß. Vielleicht auch ist dieses Leben, wie wir es hienieden verbringen, unwirklich, und daneben führen wir das eigentliche, wirkliche, uns unbewußt, im Traum, und erwachen dazu im Tode. Und inzwischen mag es Augenblicke geben, da die Gemeinschaft mit den vergänglichen Dingen um uns herum nur noch so lose ist, daß wir schon die wahre Wirklichkeit zu schauen vermögen.

Unter den Myriaden von Menschen, die über diese Erde gewandelt sind und noch wandeln sollen, werden immer zwei und nur diese zwei sein können, um in ihrer Vereinigung zu höchster Vollendung zu reifen. Und vielleicht hatte die Natur doch kein grausames Spiel getrieben und sich in einem schönen Gebilde wiederholt. Keiner war mir vorangegangen, der ein gleiches geliebt, und jene Anna Maria, die mir den süßen Frühlingstag geschenkt, deren Bild, vor anderthalb Jahrhunderten gemalt, mein Herz bestürmte, ist jenes Wesen, das mich besitzt, wie es kein anderes je vermag, und das mir zu schauen gegeben ward, an einem Tage, in einer Stunde, da meine Augen durch die Gewalt und Kraft meiner Sehnsucht für die wahre Wirklichkeit, für die der geistigen Welt, geöffnet waren.


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