Hans Freiherrn von Hammerstein
Mangold von Eberstein
Hans Freiherrn von Hammerstein

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Sankt Wendel

Franz von Sickingen, umgeben von einer stattlichen Ritterschar, überblickte auf einem Hügel haltend die Schlacht. Der Qualm der Geschütze umwölkte Sankt Wendel, die feste Stadt in den kahlen Höhen des Hundsrück. Gelbrote Flammenwirbel brachen aus den Dächern, schwarzer Rauch bäumte sich in den Abendhimmel des Septembertages. Der größte Teil des Ortes war erstürmt. Noch auf dem befestigten Kirchhof hielt sich, von einigen tapferen Edelleuten befehligt, der Rest der kurtrierischen Truppen. Die Stücke krachten, die schweren Steinkugeln heulten und summten in hohen Bogen, schlugen prasselnd ins steile Schieferdach der Kirche, in die Mauern des hochgelegenen Friedhofs. Trompeten schmetterten zum Sturm. Mit brausendem Geschrei liefen die Sickingschen Landsknechte Rotte auf Rotte vor. Die zerfetzten Fahnen schlugen lohende Wirbel in Rauch und Staub. Büchsen und Feldschlangen knatterten vom Kirchhof zutal. Der Glockenstuhl, von einem Sprenggeschoß getroffen, stürzte donnernd herab, eine hohe Staubsäule stieg in die Luft. Männer fielen, Reiter rasten über sie hinweg. Leitern hefteten sich an die Breschen in der zerschossenen Umwehrung. Rotte auf Rotte stürmte vor. Mit dumpfem Trommelschlag folgten die nachrückenden Haufen. Auf den Mauern, vom ziehenden Qualm umdunkelt, wankte und brüllte der Kampf. Und jetzt wurde es still. Noch dort und da fiel ein Schuß, scholl ein Ruf, stieg ein Geschrei. Flammen und Funkengarben stoben aus stürzendem Gebälk, der Rauch zog um Stadt und Hügel ins Tal hinaus, in die Gebirge hinauf.

Sickingen wandte das bartlose Römerantlitz im offenen Helm. Die großen, gewölbten Stieraugen von grauer Farbe 468 blickten ruhevoll. »Mich daucht, es ist getan,« sprach er zu den Junkern. »Laßt uns hinabreiten.«

Er steckte dem schwergepanzerten Hengst die Sporen und ritt langsam voraus. Der schwarzweißrote Straußfedernschmuck seiner Eisenhaube hob sich wallend in der Luft. Klirrend und rasselnd bewegte sich der Reitertrupp hinab, an Geschützstellungen durch verziehenden Pulverdampf, an Troßkarren und rastender Reiterei vorüber. Im Tal grinsten die Brandstätten einzelner Gehöfte und Mühlen mit schwarzen Fensterhöhlen und nackten Schornsteinen aus feuerwelken Baumwipfeln. Längs der Straße stand Fähnlein an Fähnlein Fußvolk, das nicht mehr in den Kampf eingegriffen hatte. »Heil und Sieg!« brauste es in den lanzenstarrenden Scharen. »Heil Franz – Heil Kaiser Franz!« donnerte es den Rittern entgegen. Unbewegten Gesichts ritt Sickingen an der Spitze des Trupps dem erstürmten Kirchhof zu. Tote lagen still am Weg, Verwundete wurden zurückgetragen. An einer Stelle hatte der letzte Schuß des Feindes, die vierzigpfündige Steinkugel eines Mörsers, mitten in einen dichten Haufen geschlagen und war in Stücke zersprungen. Grauenvoll Verstümmelte lagen blutend und jammernd umher. Ein Feldscher mit etlichen Gehilfen und Landsknechten war um sie bemüht. Sickingen hielt und sah ihnen zu. Indem kam ein Reiter herangesprengt und rief, der Feldscher solle schleunig zu dem kleinen Häuschen unterhalb der Kirchhofmauer kommen, dort läge ein Rittersmann hart verwundet. »Wer ist's?« fragte Sickingen. »Herr Mangold von Eberstein,« erwiderte der Reiter. »Er hat den Sturm angeführt und ward von einer Stückkugel schwer in die Seite getroffen.« Sickingen trieb sein Roß an und ritt eilig der bezeichneten Stelle zu.

Das Häuschen lag so dicht unter dem Kirchenhügel und der Friedhofsmauer, daß es von den Geschossen verschont geblieben war. Sickingen, davor angelangt, saß ab. Mehrere der Edelleute folgten. Wie er unter ihnen stand, war er der Kleinste, das Fränzche, wie ihn die Pfälzer nannten, und doch in der Haltung seines gedrungenen Körpers, in Miene, Blick und Schritt ein gewaltiger Mann. 469

Er trat in das Haus. In der dämmerigen Stube, die allerlei Hausrat, von den Bewohnern in eiliger Flucht durcheinander geworfen; füllte, lag Mangold von Eberstein auf einer Bettstatt. Einige Knechte, darunter der Hans Schau, umgaben ihn und mühten sich, mit Tüchern und Wasser das Blut zu stillen und den Verwundeten von der Rüstung zu befreien. Das aber schien ohne Hilfe eines Arztes nicht möglich. Denn die Kugel hatte an der linken Seite Harnisch und Hüftplatten zerschmettert und die verbogenen Stücke dem Junker in Bauch und Rippen geschlagen. Er lag still mit schmerzvoll zusammengepreßten Lippen und geschlossenen Augen.

»Laßt ab!« stöhnte er eben, als Sickingen eintrat. »Laßt mich in Ruh. Es ist ohnedem vorbei.«

Der Feldhauptmann trat an das Lager. Mangold schlug die Augen auf und sah ihn groß und seltsam an.

»Franz,« flüsterte er mühsam »es ist gut, das du kommst. Mit mir geht's zum End – und schnell – das spür ich. Schick die weg. Ich möcht mit dir reden – allein . . .«

Sickingen kehrte sich und winkte. Alle verließen die Stube. Er nahm Mangolds Rechte, die sich fest um seinen Eisenhandschuh schloß. »Der Feldscher wird gleich da sein,« sagte er.

Mangold bewegte abwehrend den Kopf. »Er braucht nit kommen,« sprach er leise. »Wozu noch die Pein? Da hilft nichts mehr – du siehst es. Laßt mich sterben – in Frieden.«

Sickingen: »So laß ich dir den Pfaffen holen.«

Mangold: »Was soll mir der Pfaff? – Hab keinen Pfaffen gefragt, wie ich leben soll – was soll ich ihn fragen, wie ich sterben muß? – Mag mich der Herrgott, mein oberster Herr und König, richten in Gnaden als den, zu dem er mich gemacht hat – und der ich hab sein wollen – treu und fest mein Leben lang – Mangold von Eberstein . . .«

Fritz von Thüngen trat eilig ein. Sickingen hatte sich schnell mit finsterer Stirne gewendet. Nun, als er ihn erkannte, winkte er ihn herbei.

Fritz stand vor dem Bett und sah schweigend auf Mangold, der die Augen wieder geschlossen hatte und sehr bleich geworden war. Unaufhörlich tropfte das Blut durch die Lagerstätte auf den Lehmboden herab. 470

»Mangold,« begann Fritz »hörst du mich?«

Er öffnete müd die Lider.

Fritz fuhr fort: »Mangold, ich bring eine Kunde, die dich freuen mag zu guterletzt. Der Heinz Kottwitz, der ist gestern aus Franken kommen und hat sie gebracht. Dein Vetter Jörg hat den Grafen von Wertheim bei Hanau niedergeworfen und gefangen. Itzt teidigen sie mit dem Reichsregiment. Der Brandenstein muß dir wieder werden und mir mein Schloß Zeitlofs.«

Mangold nickte. »Ich hab nichts mehr davon,« flüsterte er, »aber es tut mir wohl, solches zu hören. – Fritz – wann du heim kommst – grüß mir den Jörg – ich laß ihm danken für seine Treu – grüß mein Weib – und auch die – –«

Fritz: »Ich versteh's und will's sagen, so Gott mir Heimkehr gibt.«

Mangold: »Und meine Schwester. – Den Ulrich – den säh ich noch gern – er war gestern bei mir . . .«

Sickingen zum Thüngen: »Hol ihn herbei, er kann nit weit sein. Er ist vorhin von mir weg zur Stadt geritten.«

Fritz ging hinaus.

Mangold, immer Sickingens Hand haltend, bewegte die Lippen, brachte aber keinen Laut hervor. Seine Blicke wurden starr und glasig. Sickingen beugte sich nah über ihn herab. Mit großer Anstrengung sprach der Sterbende: »Leb wohl, Franz – es ist am End – laß Trier – kehr um – keine Zwietracht– im Reich – laß Gott– die Fürsten – strafen –«

Franz schüttelte das Haupt.

Mangold mit weitgespanntem Blick: »Franz – dir wirds gehn – wie mir – ich seh's – die Stadt – war mir zu stark – die Fürsten – sind's dir –«

Sickingen: »Ja, Städt und Fürsten, die wollen den Adel abtun und das Reich verkaufen. Und der Kaiser, der ist ein Fremder.«

Mangold mit eisernem Druck seine eiserne Hand umspannend: »Gott – schütz – das Reich – Franz – laß ihn – walten – tu was – der Kaiser sagt – der die Kron trägt – Franz – der ist kein Fremder mehr –«.

Seine Augen groß aufgetan begannen sonderbar zu leuchten. 471 Mit letzter Kraft stieß er hervor: »Franz – die Dunklen stehn auf, sie langen nach der Kron. Keine Zwietracht mehr! – Gott schütz – Deutschland – Deutschland . . .«

Es bog ihn im Kreuz auf. Ein furchtbarer Schmerz verzerrte seine blutleeren Lippen. Jetzt sank er mit einem tiefen Seufzer zurück. Die Augen gingen ihm langsam zu.

Lange stand Sickingen über ihn gebeugt und sah ihm ins Antlitz, das allmählich ein Ausdruck ruhigen Schlafes überkam.

»Leb wohl,« sprach er leise. »Leb wohl, treuer, fester, adliger Mann. Gott sei deiner ritterlichen Seel ein gnädiger Richter.«

Nach einer Weile richtete er sich auf. Er wollte Mangolds Hand lassen. Aber sie ließ die seine nicht. Wie Stein umkrampften die schlanken, nervigen Finger den Handschuh. Er versuchte, sie mit der Linken zu öffnen. Die eigene Hand in dem groben Leder und dem Gefüge der Eisenplättchen erwies sich kraftlos wider den strengen Druck des Toten. Franz von Sickingen erschrak. Er überlegte, horchte hinaus. Dann nestelte er hastig die Riemen los, mit denen der Eisenstulp an der Armschiene befestigt war, zog die Rechte heraus und überließ den Handschuh der Leiche. Rasch trat er vor die Tür und riß sie auf. Sein Gesicht war etwas verstört und blaß.

»Es ist vorbei,« sprach er zu den vor dem Hause wartenden Edelleuten und Knechten. »Wir wollen beten.«

Er kehrte sich und ging in die Stube zurück. Alle folgten ihm. Die enge Kammer und der Vorraum füllte sich mit Kriegern. Sie knieten nieder.

»Vater unser!« scholl es in rauhem Chor drinnen und draußen, wo sich eine große Menge von Kriegsleuten zu Roß und zu Fuß angesammelt hatte.

Ulrich von Hutten und Fritz von Thüngen drängten sich durch die Betenden. Ulrich eilte stürmisch zum Sterbelager, fiel auf die Knie und barg die Stirn an der Hand des Toten. Nach und nach verließen alle die Stube. Nur Sickingen, Fritz und der Hans Schau blieben zurück. Verspätet trat noch Zeisolf von Rosenberg zu ihnen. Ulrich erhob sich und 472 starrte mit großem, ernstem Blick lange auf den friedlich hingestreckten Oheim. Die Männer regten sich nicht.

Plötzlich wandte sich Ulrich. »Warum hält er den Handschuh?« sagte er.

Sickingen darauf: »Es ist der meine. Er wollt ihn nimmer hergeben.«

Fritz trat zur Leiche. Nun ließen sich die Finger leicht lösen. Er nahm den Handschuh heraus und reichte ihn Sickingen. Der wehrte ab. »Mag er ihn behalten,« sagte er. »Trüg ich ihn weiter, mir wär's ein übles Zeichen. Aber des edlen, tapferen Mangold gedenkend, der mir den ersten Sieg in dieser Handlung erfochten, will ich weiter siegen mit bloßer Hand. Auf, liebe Schwäger. Es ist nit Sattelhenkens. Die Toten dem Grab, die Lebenden dem Kampf. Trier muß genommen sein je eher, je leichter. Du Fritz, bleib da bis morgen früh mit deinen Reutern und den Fähnlein, die heut gestürmt haben, auf daß sie ausruhen. Begrabt ihn, als es einem Ritter und Hauptmann ziemt. Dann der da, das war ein großer Rittersmann.«

»Der letzten einer,« sprach Ulrich von Hutten dumpf. »Die neue Zeit ist angebrochen, blutig ihr Morgenrot im Schlachtgewölk. Noch viele, viele müssen fallen, bis die Sonne strahlt über Deutschlands Einheit und Freiheit. Laßt uns vom deutschen Adel unter den Ersten sein.«

Sickingen: »Vorwärts dann, Ihr Herren, zum Kampf für ein heiliges deutsches Reich, einen deutschen Kaiser und ein deutsches Evangelium.«

Jeder trat noch einmal zum Toten und drückte ihm die Hand. Ulrich sagte: »Franz, ich will auch bleiben und ihm Wache halten bis zum Morgen. Dann reit ich euch eilends nach.«

»Du darfst nit, Ulrich,« erwiderte Sickingen. »Ich brauch dich Stund für Stund. Es wird einen harten Strauß geben vor Trier und, mag sein, eine lange Belagerung. Du mußt mir die Leut anfeuern mit deinem starken Wort und des Bischofs Volk aufrühren mit Brieflein, die wir hineinschießen wollen in die Stadt, daß es des Greiffenclau wälschen Betrug und Verrat erkenne und ihn verlasse. Gott gab mir das 473 Schwert, die Rede hat er mir versagt. Darum vereint müssen wir dem Worte Gottes die Tür öffnen.«

Sie gingen. Der Schau allein blieb bei seinem abgeschiedenen Herrn.

Sickingen stieg zu Pferde. Die Landsknechte zu Tausenden marschierten wuchtigen Trittes an ihm vorüber mit Fahnenschwenken und donnerndem Zuruf, die eisernen Reiter, von fränkischen, rheinischen, schwäbischen, elsässischen und pfälzischen Edelleuten geführt, folgten klirrend und blinkend in wehenden Staubwolken, und hinterher rollte und polterte von starken Rossen vier-, sechs- und achtspännig gezogen das Geschütz aller Art, die ungefügen Dreißigpfünder auf klobigen, schwerbeschlagenen Rädern, die klafterlangen Büchsen auf niederen Lafetten, die plumpen, kurzen Mörser mit den breit in die Luft starrenden Mäulern. Stumpf drohend rollten die erzenen Rohre auf der zerfahrenen Straße an stummen Toten, an klagenden Verwundeten vorbei. Mit Trommelschlag und Pfeifengeschrei, mit Fahnengeflatter und rauhem Gesang kroch der lange, dunkle Heerwurm talein in den trübglühenden Abend nordwestwärts gegen Trier. Und hinten blieb das zerschossene, rauchende Städtlein.

Sickingen mit eisernem Antlitz und großem, ruhigem Blick hatte die Vorüberziehenden gemustert. Jetzt wandte er das Pferd und ritt mit seinem Gefolge einem Haufen von Gefangenen zu, die vom Kirchhof herabgeführt und am Weg aufgestellt worden waren.

Fritz von Thüngen ließ Mangolds Leiche in die Kirche hinauftragen und vor dem Altar aufbahren.

Es war Nacht geworden. Dort und da in der Stadt glommen die Feuerstätten, züngelten noch die Flammen um schwelendes Gebälk. Ekler Brandgeruch durchzog die Luft. Traurige Menschen wühlten stumm im Schutt ihrer Häuser. Landsknechte wachehaltend standen in den Gassen, schritten truppweise umher. Nur eine geringe Besatzung blieb in der Stadt, da der Kurfürst alle ihm zu Gebote stehenden Kräfte um Trier zusammengezogen hatte und nicht zu befürchten stand, daß der Feind den Platz wieder nehmen würde.

Auf dem Kirchhof schaufelten sie bei Fackelschein ein weites 474 Grab für die Gefallenen, Freund und Feind, und ein einzelnes im Winkel an der Mauer. Sie trugen die Toten zusammen. Vor der dunklen Grube lagen sie reihenweis, hölzerne Gestalten in steifen Verrenkungen, blasse Gesichter in den schweifenden Scheinen aufleuchtend, manche mit entsetztem Ausdruck, wie vom Schreck des Todes plötzlich überkommen, manche blutig entstellt, bläulich aufgequollen, die meisten stumpf und wesenlos, als hätten sie nie gelebt.

Drinnen im Chor der Kirche zwischen sechs hohen Altarleuchtern mit dicken Wachskerzen lag Mangold von Eberstein im Harnisch auf einer Bahre, die mit eroberten kurtrierischen Fahnen bedeckt war. Die bleichen Hände auf der Brust gefaltet, umspannten das Schwert wie ein Kreuz, der Helm und Sickingens Handschuhe lagen zu seinen Füßen.

Ein schweres Geschoß hatte die Chorwölbung getroffen. Ziegeltrümmer, Mörtel und bunte Fensterscherben lagen über den Altar hingeschüttet. Oben zwischen den schlanken gotischen Bogen klaffte groß das eingerissene Loch in den Nachthimmel. Manchmal blickten die Sterne aus den ziehenden Gewölken herein.

Fritz von Thüngen saß in einem der geschnitzten Stühle an der Sakristeiwand und war von Müdigkeit übermannt eingeschlafen. Auch in den Bänken des dreiteiligen Schiffes, in den Beichtstühlen und dort und da auf den Fliesen in Mäntel gewickelt hockten oder lagen schlummernde Kriegsleute. Ein alter Feldwaibel mit einigen Mann saß wachehaltend unter einer Fackel im offenen Tor. Sie hatten eine Trommel zwischen sich und würfelten. Die Kerzen flackerten in der Zugluft. Die Heiligenbilder und die steinernen Grabmäler starrten aus dämmernden Wölbungen. Gegen Mitternacht ging ein Regenschauer über die Kirche hin. Es rauschte auf dem Dach, es prasselte und tropfte durch das klaffende Gewölb, die zersprungenen Fenster klirrten im Wind. Dann war es wieder still, und Sterne funkelten feuchtklar durch die Öffnung.

Die Landsknechte am Tor saßen in das Spiel vertieft. Manchmal gähnte, manchmal fluchte einer oder trank aus den Kannen, die daneben auf dem Boden standen. Ab und 475 zu kam von draußen ein andrer, sah ihnen zu, ging umher und wieder hinaus, oder drinnen erwachte einer und verließ die Kirche. So achteten sie es nicht, als eine schmale Gestalt in einen Reitermantel gehüllt und das Gesicht von breitem Federhut beschattet hereinschlüpfte. Sie stand unten still und spähte zu den Lichtern vor dem Altar hinauf, schlich langsam ins dunkle Seitenschiff und an den Bänken entlang, stand wieder, spähte umher, näherte sich vom Seitenaltar her den Stufen, die zum Chor hinanführten, blieb noch einmal stehen und ging zögernd, schleppend Schritt vor Schritt zum Aufgebahrten hin. Dort stand sie wieder lange wie eine Säule. Im Kerzenschein zeigte sich unter dem Reiterhut ein wachsbleiches, zartes Frauenantlitz mit bläulichen Ringen um die großen Augen, die irr und wie in Fieberglut glänzten. Immer näher trat sie an die Bahre und das Haupt des Ruhenden heran. Ihre Blicke hefteten sich flackernd auf das Antlitz des Toten, das mit geschlossenen Augen und Lippen so streng und abweisend blickte, als wäre es aus weißem Stein. Jetzt begann sie zu murmeln, in abgehackten Sätzen zu reden. Sie streckte die Hände hervor und faltete sie. Der Mantel glitt ihr halb von den Schultern, die hager und entblößt aus einer zerlumpten, bunten Dirnentracht vortraten. »Du bists,« sprach sie. »Du bists nicht. Doch du bists. Ulrich, das ist deine Stirn, deine Stirn so klar und rein itzt, dein lieber Mund so still. Wo sind deine großen Augen, großer Mann? Du schläfst – still, still! – ich weck dich nicht. Du mußt schlafen, ruhen, ruhen. So klar und rein! Du hast Ruh. Schlaf, Liebster, schlaf! Du bist rein, du hast Ruh. Still! Ich bin krank, ich bin krank und elend für dich geworden, auf daß du rein und ruhig seist. Still! Weißt du noch, wie uns der Zauberer, der grause Alte die Rosen gab? Die falschen Rosen. Er hat große Macht. Weh, sie waren falsch, sie sind weg. Still! Schlaf, schlaf! Ich weck dich nimmer. Schlaf! Soll ich singen? Atme nicht, tu nicht die Augen auf! Rede nicht, weh! Schlaf, schlaf. Ich will tanzen, Schlaf tanzen, daß du tief, tief schlafen sollst. Ich bin krank und voll Sünde. Wie bist du rein und klar geworden! Ich war schön. Weh, die falschen Rosen! Still! Ich will tanzen leise, leise, 476 Schlaf tanzen, daß du nicht erwachst. Schlaf Liebster, schlaf . . .«

Sie hatte den Mantel abgeworfen und begann sich sacht hin und her zu wenden. Fritz von Thüngen war aufgewacht und starrte sie an wie ein Gespenst. Jetzt sprang er auf und polterte aus dem Chorstuhl. Das Weib mit schreckvoll aufgerissenen Augen sah ihn kommen, stieß einen gellenden Schrei aus und brach auf dem hingebreiteten Mantel zusammen. Die Landsknechte liefen herbei. Die ganze Kirche rührte sich. Verschlafene Gestalten tauchten in den Bänken auf. Der Junker und die Kriegsleute umstanden die liegende Frau. Sie wand sich wie in Krämpfen. Ein rauher Hustenanfall erschütterte ihre eingesunkene Brust. Blut in dünnen Fäden rieselte ihr aus den Mundwinkeln.

»Bringt sie hinaus!« befahl Fritz von Thüngen. »Schafft sie ins Siechenhaus der Stadt!«

Zwei Landsknechte hatten sie aufgehoben. Mit geschlossenen Lidern wie leblos hing sie schlaff in den derben Armen der Krieger.

Der eine sagte. »Wann sie die Franzosen nit so arg hätt, sie wär noch immer schön.«

Fritz blickte ihn seltsam an. Dann machte er dem Feldwaibel ein Zeichen mit abwärtsgekehrtem Daumen und wies zum Tor. Sie trugen das Weib, das hustend röchelte und nach Atem rang, hinaus. Fritz ging vor der Leiche auf und nieder. Nach einer Weile hörte man draußen in einem Krach ein paar Schüsse fallen. Dann kam der Feldwaibel wieder herein und sagte zum Ritter: »Die ist abgetan. Wir han sie zu den andern ins große Grab geworfen. Da wird keiner mehr krank von ihr.«

Fritz von Thüngen schritt fröstelnd auf und ab. Dann stand er wieder lange vor dem Toten und sah tief in Gedanken versunken auf das stumme, steinerne Antlitz mit den herb geschlossenen Lippen, der scharfen Nase, die mehr gebogen schien, und den gewölbten Lidern, die zart und bläulich waren, als leuchteten die Blicke groß in ewige Fernen gerichtet hindurch. Die hohe Stirn zeigte keine Falte mehr, war glätter und sanfter, als man sie unter den Schatten des Lebens 477 gekannt hatte, und wie von einem tiefen, ruhigen Wissen erfüllt.

Es war wieder ganz still in der Kirche geworden. Auch die Knechte beim Tor lehnten schweigend und schlaftrunken an den Pfeilern. Nur von draußen kam das schlürfende Geräusch des langsamen Schaufelns und Fallens von Erdschollen. Die Kerzen flackerten und schwelten. In den süßlichen Duft des Wachses mischte sich fein und fad eine Ahnung von Leichengeruch. Der Junker schüttelte sich, rieb die Hände, ging rascher das ganze Mittelschiff entlang hin und her. Dann saß er wieder ins dunkle Chorgestühl hin, zog den Mantel um Schultern und Gesicht und nickte bald ein.

Über dem Loch in der Wölbung begann es zu grauen. Der Wind zog vernehmlicher um die bebenden Fenster, deren Farben und ausgebrochene Lücken aufdämmerten. Das Gesicht und die Hände des Toten schienen bleicher im nach und nach eindringenden Licht der Frühe, das den gelben Schein der Kerzen verdrängte. Es war Montag, das Fest Mariä Geburt. Aber kein Küster, kein Geistlicher betrat das verwüstete Gotteshaus.

Ein Landsknechthauptmann kam lauten Trittes in die Kirche. Er sprach mit den Leuten von der Wache. Die Stimmen hallten hart und rauh unter den Steinbogen. Der Feldwaibel ging zum Chor hinauf, stand still und sah auf den schlafenden Junker, trat zu ihm und rüttelte ihn sacht am Arm. Fritz von Thüngen fuhr auf und blickte verstört umher. Dann erhob er sich und nickte zu dem, was der Waibel murmelte. Draußen wurden Lärm, Geklirr und Huftritte laut. Mehrere Reiter in voller Rüstung schritten durch das Mittelschiff heran, ihnen voraus der Hans Schau. Er hatte, wie es stets sein Brauch gewesen, da der Herr noch lebte, die Nacht bei den Pferden verbracht. Nun kam er noch einmal, das Antlitz seines Junkers zu sehen. Die Reiter stellten sich beiderseits der Bahre auf, vier hüben, vier drüben. Sie lüpften ein wenig das Brett, auf dem der Tote lag, und schoben ihre Spieße darunter. Fritz von Thüngen trat heran, heftete einen letzten, langen Blick auf die Züge des Freundes, kehrte sich dann kurz und schlug die zur Erde herabhängenden 478 Fahnentücher über dem Leichnam zusammen. Der Schau half ihm dabei. Ein Reiter nahm den Helm, einer die Handschuhe. Einer trug ein gezogenes Schwert, der nächste einen Speer mit blauweißem Fähnlein, der fünfte die Tartsche mit dem Ebersteinischen Wappen. Die Träger hoben auf kurzen halblauten Befehl des Junkers die Spieße mit der Leiche auf ihre Schultern. Der Schau und die Waffenhälter schritten voraus. Fritz mit entblößtem Schwert folgte. Langsamen Trittes verließen sie die Kirche.

Vor dem Tor war eine Reihe Reiter zu Pferd und ein Fähnlein Landsknechte aufgestellt. Als der Zug im Portal erschien, begrüßten ihn Trommelwirbel. Die Reiter senkten die Lanzen. Mangolds Rappe, gezäumt und gesattelt, stand schnaubend und stampfend vor der Front. Ein Knecht hielt ihn. Jetzt übernahm der Hans Schau den Zügel. Fritz hob das Schwert. Der Hauptmann kommandierte. Die Landsknechte schwenkten in Viererreihen auf und setzten sich zum langsamen Trommeltakt in Marsch. Der Schau mit dem Rappen an der Hand schloß hinter den Trägern an. Fritz hatte sein Pferd bestiegen und folgte an der Spitze der Reiter. Der Zug bewegte sich um die ganze Kirche herum und dann zum offenen Grab an der Mauer. Ein Schriftkundiger hatte während der Nacht auf die Rückseite einer alten Grabplatte aus Sandstein eine rohe Inschrift mit Kreuz und Wappenschild gemeißelt. Die war über dem Grab mit Eichenlaub umkränzt aufgestellt worden. Nun machten die Landsknechte wieder Front, die Träger setzten ihre Last nieder, Fritz von Thüngen stieg vom Pferde. Der in die Fahnentücher gehüllte Leichnam wurde an Sattelgurten ins Grab gesenkt. Die Trommeln wirbelten, das Fußvolk präsentierte mit den langen Spießen, die Reiter neigten die Lanzen, der Fahnenträger die Sickingsche Standarte bis zur Erde. Dann knieten alle, die zu Fuß waren, nieder. Fritz sprach ein Vaterunser vor und den englischen Gruß. Die Kriegsleute antworteten in tiefem Chor.

»Sankt Jörg, aller Reuter Schutzherr, bitt für ihn. Der Herr geb ihm die ewige Ruh. Er ruh in Frieden. Amen.«

Sie erhoben sich. Vierundzwanzig Musketiere traten an 479 das Grab, nahmen fertig und ließen die Lunten anbrennen. Der Hauptmann hob das Schwert. Seine hohe Stimme scholl: »Gebt – Feuer!« Das Schwert blitzte herab, die Salve krachte übers offene Grab hin. Der Widerhall rollte die Berge entlang. Die Trommeln schlugen den Pumerleinpum.

Fritz bückte sich, nahm eine Erdscholle und warf sie hinab. Der Schau, der Hauptmann, der Leutnant und die Fähndriche taten das gleiche. Vier Schaufler traten an. Schnell strömte die braune Erde in die Grube und füllte sie aus. Als sie aufgehügelt war, legten sie die Tartsche darüber, stießen häuptlings das Schwert in den Boden, hingen die Handschuhe an den Griff und setzten den Helm auf den Knauf.

Die Trommeln schlugen, die Schwegelpfeifen fielen ein. Die Landsknechte marschierten ab. Fritz von Thüngen hatte sein Pferd, der Schau den Rappen bestiegen. Noch einmal kehrten sich beide nach dem Grabe um. Dann zogen sie vor den Reitern an der Kirche vorbei und durch das Tor des Friedhofes hinaus.

Schweigen blieb um das zerschossene Gotteshaus mit dem eingestürzten Turm, um die Steine und Kreuze des vom Kampf zerstampften Kirchhofes und die frischen Gräber. Der Tag war still und wolkengrau. Weiter und weiter ab ins Tal rückte der Trommelschlag. Und fernher von Westen über die öden Höhen grollten dumpf die Kanonenschläge der beginnenden Schlacht.

Der Wind flüsterte in den Stauden an der Kirchhofmauer und regte leis die Eichenblätter um die plumpe Inschrift:

»Hir ligt begraben der edl und vest Her Mangold von Eberstain welcher starb am Tag vor Mari gepurt A. D. 1522 dem Gott genad.«

 


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