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Siebenter Teil.

 

So wie von Schlegel Bälle, auf und ab
Laut Seines ewigen Geheißes
Geschleudert werden wir bis in das Grab;
Wozu? Weshalb? Er weiß es, weiß es, weiß es!

 

Erstes Kapitel.

»Die kleine Stute ist heiß – sie wird, ehe Sie ihr zu fressen geben, abgerieben werden und ruhen müssen.«

»Ich werde schon sehen, Herr,« sagte Magnus und ging, die Tür hinter sich schließend, hinaus.

Christian Christiansson hatte zwei Schritte in die Halle getan und war wie betäubt stehen geblieben. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, und sein Puls schlug wild, ihm war zumute, als ob er beim nächsten Schritt umsinken müsse. So oft hatte er sich in Gedanken an diesem Ort gesehen, daß ihm zuerst die Wirklichkeit unfaßlich erschien. Aus der Dunkelheit kommend, blendete ihn das Licht der Kerzen, doch blickte er sich, wie nach Erinnerung suchend, im Zimmer ringsum. Mit einem Blick überflog er alles – die alten Bilder an der Wand, die alte Bornholmer Uhr in der Ecke, den alten Ofen mit dem Lehnstuhl davor – und gerade aus dem warmen, gemütlichen Regierungshause kommend, erschien ihm die Pachtausspannung öde und leer. Es gab ihm einen Stich der Reue durchs Herz, und als er dann den Blick auf seine Mutter richtete, verdoppelte sich seine Gewissensqual.

Ihr einst dunkles Haar war gebleicht, und ihr von dem Liebreiz der Liebe und der Schönheit des Glückes strahlendes Antlitz von tiefen Schmerzenslinien durchzogen. Sein Herz blutete für sie, und trotz seines Entschlusses, sich vor dem Morgen nicht zu erkennen zu geben, konnte er in der ihn überwältigenden Erregung nur mit größter Mühe die Worte zurückdrängen: »Mutter, kennst du mich nicht? Ich bin Oskar« und sich enthalten, sie, wie er es immer zu tun vermeint hatte, mit beiden Armen zu umfangen.

Mittlerweile sah Anna, die ihre Selbstbeherrschung wieder erlangt und die Hängelampe angezündet hatte, zu dem Neuangekommenen hinüber und dachte bei sich: »Er ist fast steif gefroren, und kein Wunder«. In dieser Überzeugung machte sie sich eifrig mit dem Ofen zu schaffen und forderte, während sie versuchte, das Feuer von neuem in Brand zu bekommen, ihn auf sich seiner schneebedeckten Kleider zu entledigen.

»Wollen Sie nicht Ihren Rock und Ihre Stiefel ausziehen, Herr?« sagte sie, und wenngleich es nur eine ganz alltägliche Frage war, versagte ihm die Stimme, und konnte er erst allmählich antworten.

»Ihren Rock und Ihre Stiefel, Herr, ich will sie zum Trocknen an den Ofen hängen.«

»O ja, natürlich, gewiß.«

Sie stand neben ihm, während er seinen Überrock abwarf und den Schnee aus Haar und Bart schüttelte. Und als dann ein jüngerer und kräftigerer Mann zum Vorschein kam, erregte es keinen anderen Gedanken in ihr als »Vermutlich ein Fremder; weshalb er sich nur in einem solchen Unwetter auf die Reise gemacht hat?«

Nachdem er seine Reitstiefel abgezogen hatte, brachte sie ihm ein Paar von Magnus' Pantoffeln und sagte:

»Sie müssen einen entsetzlichen Ritt gehabt haben, Herr.«

»Es war ziemlich arg, gewiß,« sagte er, und hiernach wurde ihm leichter zumute.

»Der Herr muß es sehr eilig mit seiner Reise haben, an einem solchen Tag zu kommen.«

»Das habe ich – ich habe einen besonderen Grund.«

»Sind Sie weit hergekommen, Herr?«

»Im ganzen? Ja, sehr weit.«

»Von Reykjavik vielleicht?«

»Weiter als das – von England.«

»Von England!«

»Von London.«

Als er sich bückte, um die Pantoffeln anzuziehen, meinte er, seine Mutter sähe ihn an, und er zitterte zwischen Furcht und Hoffnung erkannt zu werden.

»Ich vermute,« sagte er niedergebeugten Kopfes, »ich vermute, Sie waren nie so weit, Frau Wirtin?«

»Nein, mein Herr.«

»Auch niemand von den Ihren?«

Er konnte der Versuchung, dies zu sagen, nicht widerstehen, seine Mutter aber schien ihn nicht zu hören – sie lag auf den Knien und zerbrach Stückchen Holz für den Ofen.

»Setzen und wärmen Sie sich, Herr. Mein Sohn hatte das Feuer schon ausgescharrt, diese Reisige werden aber gleich brennen. Sie sind vermutlich Geschäfte halber hier?«

Anna dachte an die Versteigerung und wartete, daß der Fremde davon zu sprechen beginnen sollte. Als er es nicht tat, sagte sie: »Es kommen manchmal Reisende von England nach hier, um Ponys und Schafe zu kaufen, im Winter jedoch höchst selten.«

Noch immer sprach er nicht (er dachte an Elin und blickte sich nach irgendeiner Spur von ihr um) und so sagte Anna, vom Ofen aufstehend:

»Aber Sie werden nach Ihrem langen Ritt hungrig sein – was kann ich Ihnen vorsetzen?«

»Irgend etwas – irgend etwas, das Sie fertig haben.«

»Ich fürchte, ich habe nichts fertig – das heißt, nichts das gut genug für einen Herrn wie Sie wäre!«

Sobald er hierauf seiner Stimme wieder mächtig wurde, sagte er: »Hat man nicht stets geräuchertes Hammelfleisch in einem isländischen Hause?«

»Nun ja, wenn das genügt, Herr?«

»Ich würde es allem vorziehen.«

Dann herrschte eine minutenlange Pause, und wieder meinte er, daß seine Mutter ihn anblicke. »Dann sind Sie vielleicht ein Isländer?« sagte sie.

»Ja, ich bin ein Isländer,« antwortete er.

»Wie ist Ihr Name?«

Ein abermaliger wilder Drang, sich seiner Mutter sofort zu offenbaren, ließ ihn seine Furcht fast vergessen, denn die Scham über die ihr gegenüber geübte Heuchelei schnürte ihm die Kehle zu, und die widerstreitendsten Empfindungen kämpften in seinem Gewissen. Nach kurzer Überlegung jedoch siegte die Vorsicht, und er sagte, schwer zuschluckend:

»Man nennt mich Christian Christiansson.«

»Nun, es ist ein Glück, daß Sie uns noch auffanden, Herr, wir waren gerade im Begriff, zu Bett zu gehen.«

»Ich vermute, Ihre übrigen Angehörigen sind schon schlafen gegangen?«

»Da ist nur noch eine außer uns – meine Enkelin – und sie war gerade hinaufgegangen, als Sie hereinkamen, Herr.«

Er sah sie an, als sie an ihm vorbeiging und bemerkte, daß sie die Brosche trug, die er ihr bei seiner Rückkehr von Oxford als Geschenk mitgebracht hatte. Dies trieb ihm das Blut in die Wangen, und ehe er sich dessen versah, sagte er:

»Wissen Sie wohl, Frau Wirtin, daß ich in diesem Hause schon einmal geschlafen habe?«

»Dann muß es vor langer Zeit gewesen sein, denn – ich erinnere mich Ihrer nicht.«

»Es ist lange her. Das« – nach dem Bilde Annas an der Wand zeigend, »das ist ein Bildnis von Ihnen, nicht wahr?«

»Es war es, aber als es mir gleichsah, war ich jung, Herr.«

Mit einer plötzlichen Weiche in der Stimme antwortete er: »Es war genau wie Sie, ganz so wie ich Sie zuletzt sah, Frau Wirtin.«

»Dann sind Sie wenigstens zehn Jahre nicht hier gewesen, Herr.«

»Gut zehn Jahre,« antwortete er. »Und das,« nach dem Bildnis des Gouverneurs zeigend, ist ein Bild Ihres Herrn Gemahls.«

»Dann müssen es mehr als zehn Jahre sein, seit Sie hier waren, Herr, denn mein Mann ist mehr als zwölf Jahre im Grabe.«

»Es sind mehr als zehn Jahre. In Wahrheit, es sind sechzehn – fast sechzehn Jahre.«

Sie sah ihn einen Augenblick fest an, und irgend etwas schien in ihrer Erinnerung aufzudämmern, denn ihre Brust hob sich merklich; mit einem tiefen Seufzer jedoch sagte sie einfach: »Wir haben Trübes durchgemacht, seit Sie in dieser Gegend waren, Herr.«

»Ach ja, ich hörte es – ich hörte davon in Reykjavik. Sie hatten einen Sohn –«

»Das war mein Sohn, der Ihnen die Tür öffnete.«

»Aber Sie hatten einen andern Sohn – einen jüngeren Sohn.«

»Ja, aber – wir sprechen jetzt nie von ihm, Herr.«

»Wessen Bild ist das in Ihrer Brosche, Frau Wirtin?«

»Das ist er – er ist tot.«

»Starb in Schande, nicht wahr?«

»Wer kann das wissen? Der Mensch sieht die Tat, sagt man, aber Gott die Umstände.«

»Man spricht aber sehr schlecht von ihm in Reykjavik. Man sagt, er habe, als er fortging, seinen Vater jedes Pfennigs beraubt und auch nie das Geringste nur zur Unterhaltung seines Kindes heimgeschickt.«

»Es ist keine Kunst, die, die sich nicht verteidigen können, zu verwunden,« sagte Anna empfindlich. »Sein Vater, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, beraubte sich selbst, um seinen Sohn zu retten; und daß er nie etwas für das Kind schickte, lag daran, weil der arme Junge selbst arm war und nichts zu schicken hatte, Herr.«

»Dann haben Sie soviel also ausfindig gemacht?«

»Nachdem er tot war, hörten wir es – einer von seines Vaters englischen Freunden schrieb es uns. Und die ganze Zeit hatte er mir in seinen Briefen erzählt, wie beschäftigt er sei und wie er voran käme – nur um mich glücklich zu machen und damit ich mich nicht abhärmen sollte.«

Die mütterliche Zärtlichkeit für ihren verlorenen Sohn blickte aus ihren Augen und tönte aus ihrer Stimme, und sie versuchte sich abzuwenden, er konnte es aber nicht übers Herz bringen, sie schon gehen zu lassen.

»Wie schade, daß sein Vater nicht lange genug lebte, um das zu hören! Es würde sein Herz vielleicht gegen ihn erweicht haben.«

»Es bedurfte des Erweichens nicht, Herr – auf jeden Fall nicht bei seinem Ende.«

»Sein Vater vergab ihm also?«

»Er starb im Glauben, daß sein Sohn ein berühmter Mensch geworden wäre und alle seine Hoffnungen gerechtfertigt und alles wieder gut gemacht hätte. Es war nur ein Wahn, Herr, aber er machte ihn sehr glücklich.«

»Ihr Sohn war Musiker, nicht wahr?«

»Ja, Herr, und von seiner Kindheit an pflegte er etwas niederzukritzeln und es seine Kompositionen zu nennen. Die Papierstücke verschwanden immer, und ich wußte nie, was aus ihnen geworden war; aber wie sein Vater als Leiche dalag, fand ich heraus, wo sie waren.«

»Und wo waren sie?«

»In seines armen Vaters Händen.«

Christian Christiansson war, während das Blut heiß in seinem Hirn pochte, und der Wunsch sich zu enthüllen mit der Furcht es zu tun kämpfte, weiter und weiter gegangen; schließlich jedoch tat das erstickende Gefühl seiner eigenen Unwürdigkeit weiteren Fragen Einhalt, und ehe er es sich selbst versah, sagte er –

»Der Mann, der seinem Vater, der ihn so liebte, ein derartiges Unrecht zufügen konnte, muß ein Schurke gewesen sein – ein Schurke mit einem schlechten Herzen, und verdient alles, was ihm zuteil geworden ist.«

»Das war er durchaus nicht, Herr,« sagte Anna. »Er mag Unrecht begangen haben – ich verteidige ihn nicht – aber einen gutherzigeren Jungen gab es in der Welt nicht. Jedermann liebte ihn, und er liebte jedermann, und was mich betrifft –«

Christian Christiansson gewann beim Klange von Annas stammelnden Worten seine Selbstbeherrschung wieder. »Gott segne sie!« dachte er bei sich, und sein Herz schlug freudig in einer anderen Tonart, aber mit merklich gedämpfter Stimme sagte er einfach nur: »Ich bitte um Verzeihung! Natürlich kann seine Mutter nicht so denken, aber dies ist das erste Mal, daß ich, seit ich nach Island kam, ein gutes Wort für ihn gehört habe.«

»Ich hatte überhaupt nicht vor von ihm zu sprechen, Herr. Ich tue es nie, wenn mein anderer Sohn zugegen ist – still! Er kommt zurück.«

Das hinter ihnen ertönende Geräusch indes kam von dem Öffnen und Schließen einer Schlafzimmer- und nicht der Küchentüre her, und ihm folgte der leichte Schritt eines Mädchens, worauf Anna sagte:

»Elin! Ich dachte, du wärest im Bett und schliefest, mein Kind.«

»Das tat ich, aber ich erwachte und hörte, daß du Besuch hast, so stand ich auf, um zu helfen, Großmama.«

Christian Christiansson zitterte vom Kopf bis zur Sohle. Die silberne Stimme hinter seinem Rücken schien über einen weiten Abgrund hinüber zu ihm zu dringen – denn es war eine vertraute Stimme, aber undeutlich, wie mit dem Schleier der Träume und den Wolken der Nacht umhüllt.

»Dies ist meine Enkelin, Herr,« sagte Anna. Und dann wandte sich Christian Christiansson um und erblickte ein junges, wie eine ausgewachsene Frau großes Mädchen, mit heller Gesichtsfarbe, sanftem, lächelndem Antlitz und wunderschönen blauen Augen. Sie trug eine Schnürtaille, einen heruntergeklappten Kragen, eine Hufa, eine Troddel und geflochtenes Haar und schien das Abbild ihrer Mutter, wie sie zur Zeit, als er von der Universität kam, ausgesehen hatte.

Es war seine Tochter, seine kleine Elin, um die zu sehen er so weit gereist war, aber es war ihm, als ob alle die grausamen Jahre in einem Augenblick versänken, und Thora zum Leben zurückgekehrt sei.


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