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Achtes Kapitel

In Anbetracht der Heldenthaten, deren sich Willy und Bob heute rühmen durften, waren dieselben bei der Rückfahrt ein sehr bescheidenes Pärchen. Willy machte sogar den Versuch, ihr unerwartetes Erscheinen bei Klarksons zu rechtfertigen, indem er darauf hinwies, daß Marie nicht zu finden gewesen und sie doch »durchaus nicht länger« hätten warten können. Ich gab ihnen die Versicherung, daß eine Entschuldigung gar nicht nötig wäre, und war überhaupt in so freudiger Stimmung, daß dieselbe geradezu ansteckend wirkte. Wir sangen Lieder, erzählten uns Geschichten und spielten den ganzen Abend allerhand thörichte Spiele, so daß wir fast das Essen darüber vergessen hätten.

»Onkel Heinrich,« begann da plötzlich Willy, »weißt du, wir haben noch gar nicht gesungen: ›Vater, ich rufe dich!‹ Das könnten wir doch mal singen!«

»Gewiß, mein alter Junge.«

Ich kannte das schöne Lied natürlich auswendig und wollte eben beginnen, als Willy mich unterbrach mit der Bemerkung, daß wir noch lange nicht fertig wären. Er schleppte erst einen Schaukelstuhl in die Mitte des Zimmers – was das bedeuten sollte, wollte mir nicht recht klar werden – und schrie dann:

»Hier, Onkel Heinrich, da setz' dich hin. Bob, komm her und setz' dich auf das Knie da, ich setze mich auf's andere. Und nun beide Hände hoch Bob, so wie ich's mache, so. Nun aber man los Onkel!«

Ich begann die erste Strophe des herrlichen Liedes. Die Knaben rührten sich nicht; als aber der Refrain kam, fielen sie mit kräftiger Stimme ein, während ihre vier Fäuste sich blitzschnell senkten und auf meinem Brustkasten den Takt in wahrhaft dämonischer Weise zu trommeln begannen.

Natürlich mußte ich sofort das Singen einstellen; die beiden kleinen begeisterten Patrioten schienen das jedoch durchaus nicht in der Ordnung zu finden.

»Ja warum singst du denn nicht weiter, Onkel Heinrich,« fragte Willy.

»Junge, glaubst du etwa, daß das nicht weh thut? Das möchte ich mir doch entschieden verbitten!«

»Ach, Onkel Heinrich, bist du aber man schwach! Papa thut's nicht weh, der sagt nie was!«

Armer Thomas! Daher also deine häufigen Brustschmerzen!

»Ah – Ah, tleines Witteltind,« spottete Bob.

Diese Demütigung ließ ich gefaßt über mich ergehen, bemerkte dann aber sehr bestimmt, daß es nun Zeit zum Schlafengehen sei. Nachdem ich noch die gewöhnlichen Meinungsverschiedenheiten einige Zeit mit angehört hatte, kletterte ich, Bob auf dem Arme und Willy auf den Rücken schleppend, die Treppe hinauf, während die beiden Jungen den Refrain des alten Studentenliedes: »Bin ein fahrender Schüler, ein wüster Gesell« brüllten. Das Versprechen, demjenigen, der sich zuerst ausgezogen, Bonbons zu schenken, beschleunigte dieses Geschäft ungemein, und jeder Knabe erhielt den verheißenen Lohn. Willy biß ein großes Stück ab, klemmte es zwischen Backe und Zähne, schloß die Augen, faltete die Hände auf der Brust und betete:

»Lieber Gott, behüte Papa und Mama und Bob und mich und die hübsche Schildkröte, die Onkel Heinrich mir gegeben hat; und behüte auch die hübsche Dame, und auch die alte Dame mit dem weißen Haar, welche so laut weinte und sagte, ich sei ein kluger Junge. Amen.«

Bob seufzte, als er seinen Bonbon wieder aus dem Mund nahm; dann schloß er die Augen und sagte:

»Lieber Dott, beßütze Bob und mach einen duten Sungen aus ihm und behüte auch die Damen, die desagt haben, iß solle es immer noch einmal sagen.« (Die Partikel »es« bezog sich auf mein Gedicht, das von mindestens drei Erwachsenen jener Gesellschaft ganz richtig verstanden worden war.)

Der Verlauf von Willys Unterredung mit Frau Mayton wurde mir später folgendermaßen berichtet:

Frau Mayton hatte im Hinterzimmer, das nach dem Garten zu lag, gesessen und in aller Muße einen Roman gelesen. Da war ihr zufällig die Brille heruntergefallen und als sie dieselbe aufhob, bemerkte sie zu ihrem Erstaunen, daß sie nicht allein war. Im Zimmer stand ein kleiner, sehr schmutziger Junge mit hübschen, kindlichen Zügen, der sie fragend ansah.

»Was willst du denn hier, Kleiner,« fragte sie streng. »Weißt du nicht, daß es sich nicht schickt, in ein Zimmer zu treten, ohne anzuklopfen?«

»Ich suche meinen Onkel,« entgegnete Willy furchtlos mit seiner wohlklingenden Stimme, »und die andern Damen sagten, du würdest wissen, wann er zurückkommt.«

»Wie soll ich das wissen! Man will sich mit dir oder auch gar mit mir einen Spaß machen,« erwiderte die alte Dame in noch strengerem Tone. »Ich weiß über die Onkels kleiner Jungens überhaupt nichts. Geh nur wieder fort und störe mich nicht mehr.«

»Na,« fuhr Willy fort, »sie sagten, dein kleines Mädchen wäre mit ihm fort, und du würdest schon wissen, wann die wiederkommt.«

»Ich habe überhaupt kein kleines Mädchen,« sagte die alte Dame, die einen unpassenden Scherz vermutete. »Nun mach' aber, daß du fortkommst.«

»Sie ist auch nicht mehr ein ganz kleines Mädchen,« entgegnete Willy, »Sie ist viel größer als ich, aber sie sagten, du seiest ihre Mutter, und dann muß sie doch wohl dein kleines Mädchen sein. Sie ist auch sehr hübsch.«

»Meinst du Fräulein Mayton?« fragte die Dame.

»O ja, so heißt sie! Der Name fiel mir bloß nicht ein. Ist sie auch sehr hübsch? Dann ist sie's!«

»Dein Urteil scheint bei deinem Alter ja sehr entwickelt zu sein,« sagte Frau Mayton mit größerem Interesse. »Wie kommst du aber darauf, das sie sehr hübsch ist? Du bist mir eigentlich für einen Verehrer doch noch etwas zu jung.«

»Na, das sagte mir mein Onkel Heinrich,« erwiderte Willy »und der weiß alles.«

Frau Mayton wurde mit einem Male sehr aufmerksam und legte ihr Buch beiseite.

»Wer ist denn dein Onkel Heinrich, Kleiner?«

»Na, das ist Onkel Heinrich; kennst du den denn nicht? Er kann bessere Pfeifen machen als mein Papa und gestern hat er eine Schildkröte gefunden –«

»Wer ist denn dein Papa?« unterbrach ihn die alte Dame.

»Den kennst du auch nicht? Ich dachte, den kenne jeder

»Wie heißt er denn?« fragte Frau Mayton.

»Thomas Lawrence« antwortete Willy schnell.

Frau Mayton zog bedenklich ihre Stirn in Falten; nach einer kleinen Pause fragte sie weiter.

»Dann ist also Herr Burton der Onkel, den du hier suchst?«

»Ich kenne keinen Herr Burton,« sagte Willy ein wenig verwirrt, »Onkel ist Mamas Bruder; er ist nicht immer bei uns; seit aber Mama und Papa vereist sind, ist er zu uns gekommen und nun fährt er in unserem Wagen.«

»Aha!« bemerkte die Dame mit solchem Nachdruck, daß Willy verstummte. Einen Augenblick später fuhr sie fort:

»Ich wollte dich nicht stören, lieber Junge; erzähle nur weiter.«

»Und er fährt mit der hübschen Dame; ach, ist die aber mal hübsch! Ja, er sagt auch, sie wäre reizend und ich weiß auch, daß er sie zätzt?«

»Was?« rief die alte Dame.

»Gewiß er zätzt sie, das sagt er immer, wenn er meint, daß er sie lieb habe; warum sollte er sie denn sonst auch immer umarmen und küssen?«

Frau Mayton rang nach Atem; endlich fragte sie.

»Was thut er? Er küßt und umarmt sie?«

»Ja, gewiß; das habe ich ja selbst gesehen an dem Tage, wo Bob sich an dem Grasschneider in den Finger schnitt. Und da war er so lustig und vergnügt und er hat mir am nächsten Tage den Wagen und die Ziege gekauft. Ich werde sie dir zeigen, wenn du in unseren Stall kommst. Und er kaufte mir –«

Hier hielt Willy inne, da er bemerkte, wie Frau Mayton ihr Taschentuch an die Augen führte. Ein paar Augenblicke später fühlte sie, wie eine kleine Hand ihre Kniee berührte.

»Tu bist wohl traurig, daß dein kleines Mädchen so lange bleibt?« fragte Willy teilnahmsvoll.

»Ja!« erklärte Frau Mayton mit großer Entschiedenheit.«

»Da brauchst du aber keine Angst zu haben, Onkel Heinrich ist ja bei ihr, und der paßt sehr gut auf!«

»Er sollte sich schämen!«

»Das wird er auch thun,« sagte Willy, »denn er thut alles, was er soll. Er ist ja auch so gut. Weißt du, an dem Tage, wo die Ziege ausriß und Bob und ich zu ihm in den Wagen steigen mußten, da hat er immer dein kleines Mädchen ganz – ganz fest gehalten, damit sie ja nicht herausfallen konnte.

Frau Mayton stampfte heftig mit dem Fuße auf.

»Du würdest ihm gewiß auch gut sein, wenn du wüßtest, wie furchtbar nett er ist,« fuhr Willy fort. »Er singt schrecklich komische Lieder und erzählt so wunderschöne Geschichten.«

»Unsinn!« rief die erzürnte Mutter.

»Na, das ist aber doch kein Unsinn, was Onkel Heinrich erzählt! Denke doch nur die schönen Geschichten von Joseph und Abraham und Moses und Jesus, als er ein kleiner Junge war, und noch eine ganze Menge aus der biblischen Geschichte. Ach und wie gut und lieb er sein kann!«

»Ja, das kann ich mir schon denken,« grollte Frau Mayton.

»Ja, und wenn wir unsere Gebete hersagen, beten wir auch immer für die hübsche Dame, die er lieb hat, und das hat er sehr – sehr gern,« fuhr Willy fort.

»Woher weißt du denn das?«

»Na, er küßt uns ja immer, wenn wir es thun, und Papa küßt uns auch, wenn wir beten, was er gern hört.«

Frau Mayton versank in ernste Gedanken, Willy hatte aber noch nicht alles gebeichtet, was ihm auf dem kleinen Herzen lag.

»Und wenn Bob oder ich hinfallen und wir uns weh thun, dann ist es ganz egal, was er zu thun hat: gleich kommt Onkel Heinrich gelaufen und hebt uns auf und tröstet uns in einem fort. Neulich, als eine alte, garstige Wespe mich gebissen hatte, da hat er gleich seine Cigarre weggeworfen, um mir zu helfen, und die hat er doch gar zu gern. Bob hat dann die Cigarre aufgehoben und sie gegessen; ach, da wurde ihm aber schlecht – so furchtbar schlecht!«

Der letztgenannte Unfall schien Frau Mayton nicht sonderlich zu interessieren. Doch Willy ließ sich dadurch nicht beirren; eifrig fuhr er fort:

»Und erst heute, wie gut ist er da zu mir gewesen! Ich war so einsam und traurig, weil ich niemand hatte, mit dem ich spielen konnte, und ich sagte bloß, ich wollte lieber sterben und im Himmel sein. Da hörte er gleich mit dem Rasieren auf, nahm mich auf seinen Schoß und war so gut und lieb zu mir.«

Frau Mayton hatte ernsthaft über die Angelegenheit nachgedacht – allmählich war eine mildere Stimmung in ihr Herz eingezogen und sie urteilte nicht mehr so strenge über den Missethäter.

»Was meinst du,« begann sie nach einer Pause, »wenn ich nun mein kleines Mädchen nie wieder mit ihm ausfahren ließe –«

»Dann,« sagte Willy, »weiß ich, wird er furchtbar, furchtbar traurig sein, und auch ich würde sehr, sehr traurig sein. weil er so betrübt ist; aber gute Leute soll man nicht traurig machen.«

»Denke dir nun aber mal, daß ich sie doch noch mit ihm ausfahren lasse, was dann?«

»O, dann gebe ich dir einen ganzen, großen Haufen Küsse, weil du zu meinem Onkel so gut bist,« sagte Willy. Und in der sicheren Annahme, daß Frau Mayton sich für die letztere Maßnahme entscheiden würde, kletterte Willy auf ihren Schoß und fing mit einer Abschlagzahlung an.

»Gott segne dein kleines Herz!« rief Frau Mayton; »du bist von gleichem Blut, das sieht man, und dieses Blut ist gut – wenn auch ein wenig hitzig.«

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