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Sechstes Capitel.

Die blaue Blouse.

Das ziemlich geräumige, aber etwas niedrige Gastzimmer des Heidekrugs war von vier Wachslichtern, die auf dem länglich durch die Mitte gehenden Tische dicht zusammengerückt standen, heller erleuchtet, als solche Räume es sonst zu sein pflegen. Die vier Kerzen standen so, daß sie zu gleicher Zeit im Spiegel sich verdoppelten. Zwischen der zweiten und dritten Kerze stand ein silbernes Gefäß, das der Kundige auf den ersten Blick als einen Champagnerkühler erkannt hätte, wenn nicht auch der daraus hervorragende Hals einer Flasche mit gerolltem Blei umlegt gewesen wäre. An der Seite des silbernen Gefäßes stand einer jener gelbirdenen Töpfe, in welchen die strasburger Gänseleberpasteten versandt werden. Eine Blechbüchse schien eine andere Näscherei zu enthalten, die jedoch mit dem großen Laib groben Brotes, der auf einem Teller daneben lag, in sonderbarem Widerspruche stand. Einige Büchschen mit Etiketten – in der Form erkannte sie Dankmar als englische – schienen pikante indische Saucen zu enthalten. Alle diese Herrlichkeiten standen vor einem mit großer Behaglichkeit gesticulirenden und eben einen silbernen Becher mit Champagner an die Lippen setzenden Herrn. Seiner Gourmandise nach hätte man vermuthen sollen, er wäre rund genährt und böte ein behagliches Embonpoint. Im Gegentheil aber sah Justizrath Franz Schlurck sehr mager und dürr aus. Die Züge des klugen und überaus verschmitzten Antlitzes konnten nicht trockener sein. Im Munde war auch nicht ein ganzer Zahn mehr übrig, wie man deutlich sah, wenn der von Weinlaune erregte Mann dann und wann einen Zug aus seiner sehr kostbaren Cigarrenspitze zwischen den behutsam aufgesperrten schlaffen Lippen von sich blies. Den Ausdruck der Augen zu erkennen, war schwer; denn eine goldene Brille verdeckte sie. Das dünne graue Haar saß so spärlich auf dem wohlgebauten und gefällig geschweiften Schädel, daß man ordentlich erblickte, mit welcher Sorgfalt die einzelnen Haare langgezogen und vom Hinterkopfe her über die Glatze herübergekämmt waren. Ein feiner blauer Frack mit gelben Knöpfen, ein weißes Halstuch und eine weiße Piqueweste gaben der Toilette etwas ebenso Gewähltes, wie die mit großen und kleinen Ringen gezierte Hand Pflege und ein Bewußtsein der Zierlichkeit derselben verrieth.

Neben diesem Sybariten an der Ecke des Tisches saß der Wirth, eine starke, stattliche Gestalt von gewaltigem Knochenbau und einem sichern festen Auge. Das Wesen dieses Mannes war kein gewöhnliches. Die Kleidung ging über den ländlichen Schnitt hinaus, die Haltung war des Welttones nicht unkundig. Man glaubte eher den Bürgermeister einer Landstadt als einen hier in der Einsamkeit des Waldes Wirthschaft treibenden Ökonomen vor sich zu haben. Eine lebhafte Auseinandersetzung schien ihn zu beschäftigen; nicht nur der Champagner, von dem er aus einem großen Wasserglase trank, hatte ihn geröthet, vielleicht auch das Feuer einer Ansicht, die er in dem Augenblicke, als Dankmar eintrat, sehr lebhaft vertheidigte. Als Dankmar einen Guten Abend! gesagt hatte, stand der Heidekrüger auf und lüftete ein kleines Sammetkäppchen, das mehr zur Zierrath als aus Rücksicht auf seinen starken Haarwuchs den Scheitel bedeckte.

Sie werden sich wundern, sagte Dankmar, noch so spät Besuch zu bekommen. Ich will nur eine Kleinigkeit zu Nacht nehmen, eine kurze Bettruhe halten und morgen in der Frühe mit meinem Einspänner weitermachen.

Haben Sie sich bestellt, was Sie wünschen? fragte der Heidekrüger mit einem gewissen Gentlemanton, als wollte er sagen, ich bin kein Wirth im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern verweise Sie auf die Bedienung, die hier ganz eine Privatsache meiner Leute ist.

Als Dankmar bejahte und bat, sich nicht stören zu lassen, fuhr der Sprechende, als wäre er gar nicht unterbrochen worden, mit kräftiger Stimme fort:

Woran liegt's, als an der gänzlichen Unbekanntschaft mit dem Zustande auf dem Lande selbst? Wir haben's erst versehen, daß wir Leute hineinschickten, die am schnellsten mit dem Munde voraus waren. Sie haben die Verwirrung nur noch größer gemacht, vom Hundertsten ins Tausendste gesprochen, Alles sehr schön, aber ohne Kenntniß. Denn warum? Es waren Doctoren, die ihre Praxis aufgaben....

Wenn sie welche hatten, ließ Schlurck lächelnd einfallen.

Auch das, sagte der Heidekrüger. Es waren Schullehrer, Advokaten, aber keine Geschäftsleute. Die werden wir diesmal schicken; aber auch die Beamten und die Angestellten nicht, die die Regierung geschickt wünscht.

Schlurck schien im Grunde nicht geneigt, dies Gespräch fortzusetzen, wenigstens hätte sich sein glatter Weltton erst lieber mit dem neuen Ankömmling vermittelt. Dieser hatte dicht ihm gegenüber Platz genommen und die hier ausgebreiteten Delicatessen mit einem sehr deutlichen ironischen Lächeln gemustert. Diese Kritik setzte den Epikuräer in Verlegenheit und mit einem eigenthümlichen Hinaufziehen der Stirnfalten, das dem Munde und den Schläfen einen nicht unheimlichen, aber sonderbar faunischen Ausdruck gab, wandte er sich an Dankmar mit den Worten:

Wenn man überall so gut aufgenommen wäre wie bei dem in allen Wassern erfahrenen Herrn Justus, würde man nicht nöthig haben, sich für eine Reise in diesen Gegenden so zu verproviantiren. Übrigens ist nur das Eis eine Contrebande von mir selbst, der Champagner, vortrefflicher Geldermann-Deutz, kommt aus dem Keller des Heidekrugs. Ich zahle kein Korkgeld.

Der Geldermann-Deutz ist auch, antwortete Justus lachend, mit der neuen Zeit da hineingekommen. Seit die Wahlbesprechungen die Zungen trocken machten und alle möglichen Stände, Leute, die ich nie bei mir gesehen habe, Offiziere, Landräthe, Präsidenten bei Einem vorkommen, hat die Nachfrage nach dem süßen Zeug auch die Anschaffung nöthig gemacht. Ich bezahl' ihn für echt. Ich will hoffen, daß er's ist.

Schäker! Schäker! drohte Schlurck mit affectirter Schelmerei. Nicht echt? Hab' ich Ihnen nicht, als ich die Ehre Ihres Besuches genoß, die besten Quellen genannt? Wenn unsere junge Freundschaft sich so echt erweist wie dieser Geldermann-Deutz, Justus, so können wir schon zusammenhalten. Darf ich Ihnen anbieten, mein Herr?

Damit hatte Schlurck ein Wasserglas, mit perlendem röthlichen Bouzy gefüllt, auf einen Teller gestellt und ihn Dankmarn präsentirt.

Dieser lehnte jedoch ab und brauchte dafür den höflichen Scherz, daß er sagte:

Ich trinke keinen Geldermann-Deutz.

Warum nicht? Das Haus ist sehr beliebt.

Der Name Deutz, sagte Dankmar lachend, erinnert mich immer an den Verräther der Herzogin von Berry und ihre Gefangenschaft auf dem Schlosse... wie heißt es doch?...

Blaye... rief eine Stimme von einer entlegenen dunklen Ecke des Saales herüber. Dankmar wandte sein Auge zu dem Sprecher. Das französische Wort kam von jenem dritten Anwesenden, der in blauer Blouse gleich beim Eintreten Dankmarn aufgefallen war. So weit er ihn im Dunkeln erkennen konnte, war der junge so unterrichtete Mann von schönem hohen Wuchs. Die blaue Blouse ging ihm dicht bis an den Hals, der mit einem leichten seidenen Tuche umschlungen war. Ein Stock, ein gefälliger Ranzen, eine Mütze lagen neben ihm. Er stemmte den Kopf auf die Hand und streckte das Bein lang über einen Sessel hin, den er vor sich stehen hatte, ohne ihn mit den Stiefeln zu berühren, was sich ohne Zweifel der Heidekrüger würde verbeten haben. Der Ausdruck des Kopfes entging Dankmarn leider, da er ihn niederbeugte und mit der Hand verdeckte.

Richtig, Blaye! sagte Dankmar erstaunt; denn er fand gegen die zugeflüsterte Bemerkung der eben mit kalter Küche eintretenden Magd, daß der Dritte ein Handwerksbursch wäre, dem Äußern nach kaum etwas einzuwenden.

Es ist nicht der erste Beweis, begann Schlurck halblaut zu dem sein bescheidenes zweites Nachtessen anschneidenden Dankmar; es ist nicht der erste Beweis, den uns der vortreffliche junge Mann dort in der Ecke von seinen Kenntnissen gibt! Er ist, sagt er, in dieser Gegend zu Hause. Daher unstreitig Wähler und wählbar, wie alle diese jungen Menschen jetzt, wenn sie nämlich nachweisen, daß sie keinem Andern die Stiefeln putzen und dreißig Jahre alt sind, was er doch wol zu sein scheint.

Sind Sie ein Gegner des allgemeinen Wahlrechts? bemerkte Dankmar, mit einem Stück Kalbsbraten beschäftigt.

Wie könnt' ich das in einer Zeit, sagte Schlurck ironisch, wo die untern Stände sich so ausgezeichnet entwickeln, daß sie sogar die Geschichte der Herzogin von Berry wissen! Schon einige male bot ich dem jungen hoffnungsvollen Tischler – es ist ein Tischler, der junge Mann – von unserm Geldermann-Deutz, aber, erstaunen Sie –

Er hat dieselbe Antipathie gegen Verrätherwein wie ich? bemerkte Dankmar lachend, setzte nun aber, um nicht zu verletzen, hinzu:

Das edle Getränk soll indessen unter seiner Etikette nicht leiden. Wenn Sie erlauben, thu' ich Ihnen Bescheid.

Schlurck, außerordentlich geschmeichelt und gleichsam glücklich, einen Bundesgenossen gegen den jungen Tischler, der ihn schon lange zu necken schien, zu finden, schenkte, um die Schäumung recht frisch zu geben, noch einmal in einem nahestehenden Glase ein und überreichte es Dankmarn, der freundlich Bescheid that.

Der Heidekrüger aber lachte und schraubte den Justizrath, indem er anfing:

Ei, ei, Herr Justizrath, was haben Sie mir da für eine Etikette empfohlen? Das hätt' ich wissen sollen, als ich wegen meiner kleinen Häkeleien mit der hohenberg'schen Masse bei Ihnen war und Sie um eine Empfehlung guter Weine bat, wegen der bevorstehenden Wahlmanöver und Zweckdemonstrationen!

Geldermann-Deutz wird mir hier verworfen, sagte Schlurck mit halb ernster, halb komisch sein sollender Entrüstung. Da müssen Sie zur Strafe jetzt alle zusammen einem Montebello oder einem Moët den Hals brechen. Was befehlen Sie?

Damit langte er neben sich hinunter und griff in einen zierlichen Flaschenkeller, der neben ihm auf der Erde stand und in seinen Räumen noch Platz hatte für die köstlichsten Speisen und sogar das Eis, das er im blechernen Boden der ganzen Maschinerie beisichführte.

Nehmen Sie vom alten ehrlichen Jaquesson, rief der junge Tischler herüber und änderte ein wenig seine bequeme Stellung. Im hohenberger Schloßkeller lagen von dem Hause Jaquesson noch vor einigen Jahren ein Dutzend Körbe der bewährtesten Etikette.

Schlurck richtete sich auf und blickte mit entrüstetem Antlitz zu dem kühnen Sprecher hinüber. Die Brille auf seine hohe Stirn ziehend, stierte er ihn jetzt mit den unbewaffneten grauen Augen an; denn Schlurck gehörte zu denjenigen Weitsichtigen, die gerade erst die Brille absetzen, wenn sie gut sehen wollen.

Woher wissen Sie Das, junger Mann? fragte er mit gezogenem Tone.

Ich habe im hohenberger Schloßkeller an den Gestellen für die Weinflaschen gearbeitet, antwortete der Tischler lachend, und Dankmar konnte ihm jetzt in sein schönes edles Antlitz sehen. Sein Haar war bräunlich und gelockt wie das seinige, der Mund voll der schönsten Zähne. Überhaupt hatte der Fremde einige Ähnlichkeit mit Dankmar.

Sieh, sieh! bemerkte Schlurck mit sonderbarem Dehnen der Stimme; sieh, sieh, ich habe in der That nur Jaquesson bei mir.

Dann sich setzend und die Brille wieder über die Augen werfend, rief er:

Vive la gaieté, meine Herren! Rücken Sie näher, junger wählender und wählbarer Tischler! Justus, Sie deutscher Patriot, herbei! Sie stoßen auf die nächste Wahl in Ihrem Bezirke an, id est auf Ihre eigene Wahl! Ha, ha, alter Sünder! Das ist's doch nur, was Ihr so im Stillen ambirt! Papst Sixtus! Papst Sixtus! Der hat's auch so gemacht. In Demuth dem Herrn gedient, geächzt, gestöhnt, die höchste Würde abgelehnt, abgelehnt bis er sie hatte und Papst war! Justus, edler Märtyrer alter Beamtenwillkür! Heran! heran! Eins, zwei, drei! Krach, das Eisen ist ab und nun die Eimer her! Vollgeschöpft!

Dankmar hielt getrost hin. Was sollte er da lange zögern? Der Heidekrüger aber legte die Hand auf sein Glas und sagte ganz verstimmt:

Das bitt' ich mir aus, Herr Justizrath! So haben wir nicht gewettet. Ich sollte daran denken, gewählt zu werden? Darum all' mein Eifer für Ihre gute und rechtschaffene Wahl? Nein, nein, bester Herr! Ich bin ein schlichter, einfacher Mann. Ich hab' Ihnen gesagt, wie ich mir Alles denke, wie's werden muß im Staate, und nun kommen Sie an und thun, als hätt' ich den Hinterhalt...

Hi, pfiff gleichsam Schlurck und gab einen eigenen Ton des zahnlosen Mundes von sich, einen Ton, der List und Ungläubigkeit ausdrückte. Was ist da mehr? Kommen Sie, wählender wählbarer Tischler, thun Sie Bescheid! Sie haben schon manches gute Wort in unser Gespräch hineingegeben. Ich ehre auch die Arbeit! Ich ehre auch die Herren Arbeiter! Die Herren Arbeiter sollen leben! Wir wählen Freunde der Arbeit! Feldarbeit, Werkstattarbeit, Geistesarbeit; nicht wahr, mein Herr, Sie sind Geistesarbeiter?...

Diese Frage war an Dankmar gerichtet. Er bejahte sie.

Nun sehen Sie, fuhr Schlurck fort und reichte, um den Heidekrüger zu versöhnen, diesem seine goldene Dose hinüber, aus der er vorher selbst eine Prise nahm, was murren Sie, Justus? Es ist Alles Windbeutelei mit der jetzigen Politik! Kenntniß vom Recht? Gleich Null. Ehrgeiz ist die Achse des ganzen Getriebes. Steck da Einer seine Finger hinein, sie werden ihm bald zerquetscht werden. Die beste Politik ist gewiß die, aus dem Staate Alles hinauszufegen, was in diesen Begriff seit hundert Jahren hineingepfercht ist. Wer sagt so etwas? Eine gute Polizei, das ist Alles, was man vom Allgemeinen verlangen sollte. Das Übrige bleibt der Gesellschaft überlassen. Verwaltung und Schule kommt an die Gemeinde, die Kirche bete und singe, was sie will. Die Provinzen halten jede für sich! Die Ständekammern sind bloße Abrechnungsconvente. Man kommt zusammen, um Soll und Haben auszugleichen. So ist's in Amerika, so in England, und das Beste dabei ist, daß die Menschheit vergnügt bleibt und Jedermann das angenehme Gefühl hat, in seinem Kreise so viel zu gelten, als er mit seiner Person behaupten kann.

Bravo, sagte Dankmar, die Ansicht ist fast die meinige. Doch sind Sie dabei auf dem besten Wege zur Republik.

Wenn wir uns, fuhr Schlurck behaglich lächelnd fort, wenn wir uns eine Republik denken könnten comme il faut, warum nicht? Aber Das ist ja der ewige Jammer. Die heutigen Republikaner wollen mit dem Staate auch wieder nur Staat machen. Da soll Alles von unten aufgebaut werden, symmetrisch, Alles in die Höhe, Alles Pyramide, Alles Centralisation. Der Mensch, die Gemeinde, die Gesellschaft werden nur ausgesogen zu einem großen Allgemeinzwecke, der im Grunde wieder nicht besser ist als die alte Königs Majestät von Gottes Gnaden. Diese Wuth, den Einzelnen für nichts mehr zu erklären, die ist ja so allgemein jetzt, daß die Lumpe in dem verdammten Communismus ihr Heil finden, als wenn dann der Einzelne was hätte, wenn Alle nicht viel haben! Meine Herren, die Erde ist ein höchst unvollkommener, höchst kleiner, obscurer Planet und wird's bleiben, bis er sich einmal an einem größern ganz die Nase zerstößt oder wohlbehalten in ihm aufgeht. Wir Menschen sind vielleicht vollkommener als die Bewohner der großen Planeten; denn allerdings schon die Gastronomie belehrt uns, daß die kleinen Krabben besser schmecken als die großen. Möglich, weil die Erde klein ist, sind ihre Bewohner feiner organisirt als die Bewohner des Saturn. Aber bis zur Vollkommenheit bringen wir es nicht. Wir sind ein wimmelndes Geschlecht fleischfressender Vernunftsthiere. Was wir für Moral halten, ist veredelte Gesundheitslehre; was uns Metaphysik scheint, ist nichts als die Reflexion der einen Sinnentäuschung in der andern. Denn da diese gänzliche Rathlosigkeit über unsern Ursprung und unsers Hierseins Zweck und Absicht bereits mehrere Jahrtausende dauert, so hat sich von den Millionen Blasen, die darüber in unsern Köpfen schon aufgestiegen sind, ein solcher Blasebalg von Traditionen gebildet, daß Keiner mehr weiß, was er selbst oder was Andere gedacht haben und woher der Wind eigentlich weht. Verdauen Sie gut, meine Herren, haben Sie das einzige Glück, das die Erde gewähren kann, so schreiben Sie lustig an den gestirnten Himmel: Das Prinzip des Alls ist die Liebe. Verdauen Sie aber schlecht, meine Herren, und möchten Sie nach jeder Gänseleberpastete des Teufels werden, so schreiben Sie voll Zorn auf dieselbe Stelle: Das Prinzip des Alls ist der Haß. Was ist da nun Wahrheit?

Herr Justizrath! rief der Heidekrüger, wenn Sie so zu den Bauern sprechen, bekommen Sie in Schönau nicht Eine Stimme.

Wirklich? Wie so?

Jeder Wahlmann wird Ihnen sagen: Das sind Lästerungen!

Hm! hm! Glauben Sie Das?

So müssen Sie diese Naturmenschen nicht fassen, Herr Justizrath.

Wissen Sie was, Justus! sagte Schlurck nach einigem Besinnen und vom Champagner nippend; der Henker hole Ihre ganze Wühler- und Wählerei! Wenn's nicht jetzt Mode wäre, Politik zu treiben, und die unhöflichste Vergessenheit über Jeden käme, der nicht auch in einem Club sitzt und in die allgemeine Confusion mithineinbrüllt, ich würde mich wol in Acht nehmen, meine Zeit und Muße zum Opfer zu bringen. Ich habe ein paar Ressourcenfreunde gesehen, die nur drei mal im Constitutionellen Club waren und um zehn Jahre älter wieder herauskamen. Sie hatten ein Gesicht – so lang! – gekriegt. Übrigens irren Sie, werthester Freund, wenn Sie glauben, daß die Bauern blos patriotische und politische Salbung hören wollen. Die Leute ahnen auch längst, daß die Welt ein großes Loch hat, wo all der Wind, den man ihnen seit tausend Jahren vorgemacht, zwecklos wieder durchbläst ins Leere, und unsere Existenz eine bloße Flause ist. Es soll ihnen nur Einer einmal von Grund aus zeigen, wie die Welt damals aussah, als sie blos für Adam und Eva geschaffen wurde; ich weiß nicht, Freundchen, ob Sie für Ihre schönauer Loyalitätsadresse die fünfhundert Unterschriften bekommen hätten, die Ihnen in der Zeitung schrecklich viel Insertionsgebühren müssen gekostet haben.

Sind Sie jetzt ein Loyalitätsadressenschreiber? fragte Dankmar ganz erstaunt den Heidekrüger.

Justus stützte den Kopf auf den linken Arm und antwortete, Dankmarn scharf ins Auge fassend:

Ich weiß nicht, mit wem ich zu sprechen die Ehre habe; aber Das weiß man vom Heidekrüger Justus zehn Meilen Weges, daß ich das Bischen Einfluß auf unser Land und unsere Gegend nicht zum Unrechten verwende. Mit den Wühlern hab' ich niemals gehen mögen. Ich wurde schon verfolgt vor zehn Jahren von der alten Polizeiwirthschaft. Warum? Weil ich verbotene Bücher las, in den Provinziallandtagen manchmal ein Wort über die Beamtenwirthschaft, über Grundsteuer und die Chausséebauten sprach. Das war ein Hetzen, ein Untersuchen, ein Incriminiren....

Sie haben sich damit einen Namen erworben, fiel Dankmar ein. Ich bin angenehm überrascht, die persönliche Bekanntschaft des freisinnigen Heidekrügers Justus zu machen....

Justus zog, etwas geschmeichelt, sein Käppchen.

Schlurck schnitt eine ironische Miene und blinzelte zu Dankmarn hinüber, als wollte er sehen, ob man wol von ihm verstanden würde, wenn man in scheinbar ernster Miene etwas blicken ließe, das etwas soviel sagte als: Der eingebildete Esel!

Schlurck war ein völlig negativer Kopf, vor dem nichts festen Bestand hatte. Er leitete fast Alles aus dem Interesse her, auch Justus' politische Stellung, die in der That keine geringfügige war, wenigstens in den Tagen vor den neuesten Bewegungen.

Die Wühler, sagte Justus, haben Jeden verdächtigt, der keine Schulden auf seinem Eigenthum hatte. Sie haben sich hier an einige bankrotte Müller und Wirthe und vorlaute Tagelöhner gehängt und Die in die Stadt geschickt, um für sie zu sprechen. Ob es anderswo anders war, weiß ich nicht; genug, wir Alten von sonst sahen dem Treiben ruhig mit zu. Die Regierung foderte Die, die sie noch für das Bessere treugesinnt hielt, durch Circularausschreiben auf, man sollte durch Adressen seine wahre Gesinnung kundgeben, und was versprochen wäre, Das würde auch gehalten werden. Nun, darauf hin, Herr, wenn man uns Das hält, was versprochen ist, darauf hin konnten wir sagen, daß wir an unserm angestammten König festhalten und uns von keinerlei Rottirung würden irremachen lassen. Es haben's Vierhundertneunzig unterschrieben und viele Arme darunter, die aber vollkommen klar wissen, was sie thaten, als sie die Feder führten.

Sie sehen, sagte Schlurck mit feinem Humor, unser braver Herr Justus gehörte sonst zu den Demagogen, jetzt zum rechten Centrum. Das rechte Centrum ist die Gegend, wo die Portefeuilles wachsen. Wenn das Glück gut geht, Justus, und Sie die Stimmen haben, werden Sie doch noch bei irgend einer Krisis Excellenz....

Nein! Wenn Sie so über Alles spotten, Justizrath, sagte Justus fast ärgerlich und wollte aufstehen.

Sitzen geblieben! rief Schlurck. Altes Haus, Spaß verstehen! Hier Jaquesson getrunken! Alles Andere ist eitel.... Sie sind auch eitel.

Dabei füllte er die Gläser, bemerkte aber, daß der Tischler vorhin das seine nicht geholt hatte. Als er sich umwendete, um ihn dazu aufzufodern, fand er, daß der sicher sehr ermüdete Wanderer schlief.

Der junge wählbare Wähler schläft, flüsterte Schlurck. Und um ein Uhr Nachts wach zu sein, ist allerdings eigentlich nur das Privilegium der Gebildeten.

Der Heidekrüger, verstimmt, gab ihm einen Wink und sagte leise:

Schlimm genug, daß wir in Zeiten leben, wo man nicht einmal einem reisenden Handwerksgesellen sagen kann: Scher' er sich auf den Heuboden!

Was, Herr Justus ist nicht nur rechtes Centrum, bemerkte Dankmar, sondern auch Aristokrat geworden?

Ich bin ein ehrlicher Mann geblieben, antwortete der Heidekrüger; ich gebe Gott was Gottes, und dem Könige was des Königs ist. Jeder Stand soll in seinen Grenzen bleiben, der Dienende sich nicht zu dienen, der Arbeitende sich nicht zu arbeiten schämen.

Und der Wirth, fiel Schlurck mit jovialer Bestimmtheit ein, der Wirth soll sich nicht irre machen lassen, sein Hausrecht zu gebrauchen. Wenn Sie, bester Freund, nicht auf Popularität speculirten, hätten Sie den Burschen da längst zur Thür hinausgeworfen.

Sie können's, seh' ich, Justizrath, sagte Justus, nicht lassen, mich für einen ehrgeizigen Mann zu halten. Es sollte mich kein Mensch hindern und keine Rücksicht auf Wählen oder Nichtwählen bestimmen, Einem zu sagen, was ich von ihm denke. Aber betrachten Sie doch nur den Mann! Ich halte ihn für Das, was er von sich aussagt, aber die Meisten sind heute etwas Schlimmeres, als was sie sein wollen. Der kommt mir aber vor, als könnte er etwas Besseres sein.

Schlurck und Dankmar betrachteten den Schläfer in der blauen Blouse noch einmal aufmerksamer. Es war ein schöner, schlank gewachsener junger Mann. Er hatte den Kopf dicht unter beiden gekreuzten Händen auf den Tisch gelegt. Dem dadurch recht sichtbaren krausen hellbraunen Haar sah man die sorgsamste Pflege an. Ein um das Kinn rundherum gehender Bart hob die blassen, edlen Züge nur noch lebendiger hervor. Auf der hohen Stirn schien ein anderer Beruf zu schlummern, als ihn die Blouse verrieth. Und doch war auch diese feiner als die eines gewöhnlichen Handwerkers. Sie war rings am Kragen, an den Ärmeln und auf der Brust einfach, aber sehr sorgfältig gesteppt. Die bunten Beinkleider waren von einem gewählten Muster, die Stiefel saßen auf einem zierlichen Fuße, dem das Wandern auf der Landstraße nicht geläufig schien. Als Dankmar bemerkte, daß an den Hacken dieser Stiefeln sich sogar ein kleiner Absatz Sporenleder befand, überflog den Justizrath eine düstere Wolke plötzlichen Unmuths. Es schien, als hätte er sagen wollen: Alles Fremde ist mir unheimlich. Auch Dankmar blieb ihm ohne Zweifel zu lange namenlos. Er griff nach der Uhr, zog sie an einer langen, schweren goldenen Kette hervor und ließ sie repetiren. Sie schlug ein Viertel auf zwei.

Jetzt, bester Freund, begann er, zu Justus gewendet, ist es Zeit, aufzubrechen. Die Pferde werden vom Warten müde. Mein Kutscher fällt wol gar vom Bocke und es ist heiß hier, recht heiß....

Damit wollte er aufstehen. Aber Justus, der breite Auseinandersetzungen liebte, war eben erst im Begriff, sich recht gehen zu lassen. Man hatte seine Offenheit bezweifelt; jetzt kam ihm erst das Bedürfniß, sich vollständiger auszusprechen.

Nein, sagte er, nun lass' ich Sie nicht. Nun müssen Sie auf ein Stündchen bleiben. Die Nacht ist einmal verdorben. Sie fahren mit Ihren Staatsfüchsen in zwei Stunden nach der Stadt, was wollen Sie früher ankommen als mit Sonnenaufgang?

Bester Freund, mich erwarten Geschäfte....

Sie bleiben noch! Auch der fremde Herr; ja! ja! Das laß ich mir nicht nehmen, mich gegen ungerechten Verdacht zu vertheidigen. Mein ehrlicher Name ist nicht von gestern. Auch wir Alten, die wir sonst etwas waren, müssen uns wieder aussprechen dürfen. Oder sollen nur die Communisten, nur die Reubündler reden?

Die Reubündler stachelten Schlurck auf. Sie werden doch nichts gegen die Reubündler zu sagen haben, Justus? bemerkte er.

Gegen die Reubündler? Warum nicht? Sind Sie Mitglied des Reubunds?

Allerdings.

Ein Mann von Ihrem Geiste? bemerkte Dankmar.

Sehr schmeichelhaft, mein Herr! erwiderte Schlurck. Allein ich versichere Sie, der Reubund ist eine der merkwürdigsten Neuerungen, die ich unserer an Ideen so armen Zeit kaum zugetraut hätte.

Das müssen Sie beweisen, Justizrath! rief Justus donnernd und zwang den Epikuräer, der diese Nacht einmal beschlossen hatte, die Gewalt des Sohnes derselben, Morpheus, nicht anzuerkennen, eine so kühne Behauptung zu rechtfertigen.

Schlurck sah sich noch einmal mistrauisch zu der schlummernden blauen Blouse um, schenkte noch einmal die Gläser mit seinem Jaquesson aus der hohenberg'schen fürstlichen Kellerei voll und begann mit einer Dankmarn wohlverständlichen und ihn sehr angenehm unterhaltenden Ironie:

Eh' ich denn also vom Reubunde spreche, lassen wir erst noch den Heidekrüger reden! Entfalten Sie sich, Justus! Entwickeln Sie sich in Ihrer ganzen Bedeutung für das vaterländische Allgemeine!


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