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Neunter Brief.

Paris, den 2. Mai 1842.

Man hat im Allgemeinen über Louis Philipp keine richtige Ansicht. Man hält ihn für einen schweigsamen, zurückhaltenden, mit großer Klugheit seinen persönlichen Zweck verfolgenden Charakter. Man schreibt ihm etwas von Ludwig XI., etwas von Cromwell zu, man findet in dem wechselseitig die Parteien aufreibenden Zwiespalt der Ministerien das Werk seines großen politischen Verstandes.

Von dem Allen nichts.

Louis Philipp ist der redseligste, unruhigste, unsicherste Charakter in Frankreich. Mit natürlicher Leutseligkeit begabt, hängt er sich an jede Persönlichkeit, um sich gegen sie auszusprechen. Unbehaglich sich fühlend in der Einsamkeit, bedarf er empfänglicher Umgebungen, denen er sich mittheilen kann. Louis Philipp ist gutmüthig, unterrichtet, scharfsehend, aber ohne alle Kraft, ohne allen festen Willen. Der ewig gährende Drang des Herzens beruhigt sich nur in Worten: reden, sich mittheilen, sich rechtfertigen, ist Louis Philipp's einzige Erholung. Louis Philipp ist in diesem Sinne wahlverwandt mit Thiers.

Frankreich wurde oft von Königen regiert, die keinen Verstand hatten. Darum gereicht es Louis Philipp allerdings zur Ehre, daß man ihm nachsagen muß, er ist ein Mann von großen Kenntnissen, von Belesenheit, guter Beobachtungsgabe, ohne ehrgeizige Ansprüche, ein König, der sich glücklich fühlt, mit aller Welt auf vertrautem Fuß zu leben. Louis Philipp bezaubert Jeden, der ihm vorgestellt wird. Er redet deutsch mit dem Deutschen, englisch mit dem Engländer, er kennt die Fremde in allen ihren Beziehungen, er ist der unterrichtetste Beobachter alles Dessen, was auf dem Erdball geschieht. Namen, Bücher, Gedanken, die in Frankreich bei dem Gelehrtesten vergeblich gesucht würden, Louis Philipp kennt sie. Er liest alle Zeitungen, vergleicht die gegenüberstehenden Ansichten, er ist ein guter Statistiker, er liest die gelehrten Zeitschriften, er merkt sich junge aufkeimende Talente, an die die Minister nicht denken. Schnell findet er das Terrain, auf dem Jeder, der ihn besucht, heimisch ist. Er ist glücklich, sich aussprechen zu dürfen, bescheidenen Widerspruch zu hören, seine innersten Gedanken zu verrathen. Er gibt Alles, was er hat, er behält nichts zurück.

Louis Philipp gehört nicht zu Denen, von denen Talleyrand sagte, die Sprache sei erfunden, um ihre Gedanken zu verbergen. Louis Philipp würde weit eher sagen, die Sprache sei erfunden, um keine Gedanken zu haben. Louis Philipp denkt vielleicht, aber zu laut, er hat Gedanken, aber er verbindet sie nicht, er hat kein System. Louis Philipp lebt ewig außer sich. Mit sich allein zu sein, ängstigt ihn. Er fällt beständig aus seinem Mittelpunkt in die Peripherie: er sucht Echo, Anklang, Geräusch, er lehrt gern, er theilt gern mit, plaudert gern aus. Bildung, Gutmüthigkeit, Indiscretion sind bei ihm so ineinander gemischt, daß man nicht weiß, welcher Bestandtheil vorwaltet. So viel sieht man, daß ihm nicht ein einziges der ihm gewöhnlich zuerkannten Merkmale gebührt. Statt verschlossen, ist er offen, statt schweigsam, redselig, statt selbständig, nach allen Seiten hin bedürftig der Anlehnung.

Geht man einen Schritt weiter, so muß man bekennen, daß die Dynastie Orleans für Frankreich ein Unglück geworden ist. Es ist wahr, daß die Bourbonen vielleicht noch ein größeres waren, es ist wahr, daß diese unköniglichen Orleans Frankreich in den ersten Jahren vor der Anarchie gerettet haben mögen, aber dies ihr Verdienst war ein rein negatives, und was noch schlimmer ist, ihr einziges. Als die pariser Journalisten und Volksführer im Juli 1830 dem Herzog von Orleans den Thron Frankreichs anboten, gaben sie Frankreich einen monarchischen Begriff, aber keinen Monarchen. Das Haus Orleans war eine fürstliche Familie, die schon eine dauernde Verschmelzung mit dem Bürgerstande begonnen hatte, Louis Philipp war ein Lehrer der Mathematik in der Schweiz. Die Restauration führte auch diese Familie, auch diesen jungen Professor nach Paris zurück. Das Palais Royal wird der Sitz nicht einer Verschwörung gegen die Tuilerien, sondern ein Sitz der Musen, ein Vereinigungspunkt öffentlicher Bestrebungen. Das Palais Royal empfängt Künstler, Redner, Geschichtschreiber, Naturhistoriker, kurz das artistische und wissenschaftliche Paris, ohne Rücksicht auf das politische Glaubensbekenntniß. Louis Philipp hat in der Armuth das Geld liebgewonnen. Er speculirt gern, er häuft gern Sümmchen auf Sümmchen, er macht kleine, größre, große Geldgeschäfte; neben den Gelehrten kommen die Wechselagenten, neben den Künstlern die Banquiers. Alle diese Namen hätten sich auch gern im Einführungsbuch der Tuilerien einschreiben lassen; aber die Tuilerien zogen die alten Würdenträger, die Kronen und Wappen vor; die Tuilerien gehörten unter Ludwig XVIII. höchstens, außer den Adligen, den Linguisten (da Ludwig XVIII. sehr eitel auf sein Latein war), unter Karl X. ausschließlich den Emigranten. Die Zurückgesetzten, die Unzufriedenen, die Elemente der Zukunft sahen sich im Palais Royal vereinigt, und es war eine Erkenntlichkeit gegen den gutmüthigen, harmlosen Wirth, daß man ihm am 7. August 1830 dafür die Krone anbot.

Zuerst sollte der Julithron eine Monarchie sein, umgeben mit republikanischen Institutionen. Es war eine große Komödie. Die republikanischen Institutionen fielen allmälig weg und der Thron allein ist übrig geblieben. Der Haß und der Wahnsinn des Parteigeistes hat den König ein Jahr ums andere zu tödten gesucht. Man empfindet Abscheu vor den Mördern, Mitleid mit ihrem Opfer. Nichtsdestoweniger kann man doch das Glück, immer unverwundet zu bleiben, dem Hause Orleans nicht als Verdienst anrechnen.

Diese Dynastie steht in Frankreich eigentlich auf fremdem Boden. Ich habe gesagt, Louis Philipp fürchte die Franzosen. Hohe Staatsbeamte haben mich versichert, er verachte sie. Er ist seinem französischen Vaterlande völlig entwachsen, er hat sich ewig in diesem Gewühl von Leidenschaft und Ehrgeiz unwohl gefühlt, er ist mit seiner ganzen Familie aus dem moralischen Verbande mit Frankreich heraus. Louis Philipp, ein redlicher, ehrlicher Mann, ist nie zum Herrscher vorbereitet worden. Er wirft sich mit seiner Würde weg, er drückt, wie ein ängstlicher Theaterdichter, der für das Schicksal seines Stückes fürchtet, dem ersten Helden wie dem Lampenputzer die Hand, er möchte sich das französische Volk wie die Dienstboten eines vornehmen Hauses durch Trinkgelder geneigt machen, er kommt zu keinem Entschluß, zu keinem System, er bleibt dabei, sich für einen Begriff, sein Leben für eine moralische Nothwendigkeit zu halten, und begnügt sich damit, daß er ist, vegetirt und so lange wie möglich sich erhält. Ist das Regierung? Ist das Politik?

Die Bourbonen hatten etwas Königliches. Sie waren vom Thron gestürzt, aus Frankreich vertrieben, aber sie spielten die ihnen angeborne Rolle auch in dem Elend des Exils mit Würde, ja selbst mit lächerlicher Würde fort. Sie kehrten nach Frankreich zurück, nahmen den Thron mit Stolz und Sicherheit wieder ein, regierten, regierten schlecht, aber mit einer gewissen Energie, mit einem gewissen Selbstvertrauen, das dem Hause Orleans fehlt. Nie hatten die Bourbonen aufgehört, Franzosen zu sein: sie hatten das alte Frankreich mit sich genommen und brachten es wieder zurück, allerdings mit seinen Puderquasten, mit seinen Schönpflästerchen, mit seinen Lastern, Vorurtheilen und veralteten Aristokratenlaunen, aber auch mit dem ganzen Stolz der Nationalität, mit der alten ritterlichen Grazie, mit dem unzerstörbaren Vertrauen auf die Dauerbarkeit der »allerchristlichsten« Königswürde, mit dem Stolze auf Frankreichs erprobte Kraft, auf Frankreichs nie versiegende Hülfsquellen. Von alle Dem hat die Dynastie Orleans nichts. Unsicher sind ihre Bewegungen, kraftlos ihre Schritte, haltungslos ist ihre Ruhe. Ihr Fuß schlägt keine jahrtausendjährigen Wurzeln im französischen Boden, sie gleiten furchtsam über den Staub dieses Bodens hinweg, sie trauen dem Volke nichts zu, sie trauen sich nichts zu, sie haben keine Vergangenheit, keine Zukunft, sie wohnen in den Tuilerien nicht wie in ihrem Eigenthum, sondern wie zur Miethe.

Um diese unkönigliche, Frankreich von Tag zu Tag immer mehr schwächende Haltung zu cachiren, hat man das Schreckbild der Anarchie erfunden. Die Anarchie ist eine Erfindung. Sie existirt nur in den Köpfen Derer, die dem Volke Furcht einflößen, weil sie ihm keine Liebe einzuflößen verstehen. Mit diesem Popanz Anarchie entschuldigt man den Mangel an Einigkeit, an Kraft, der Frankreich seit zwölf Jahren zur kläglichen Augenweide Europas gemacht hat. Wo ist diese Anarchie noch so gefährlich? In Frankreich ist nichts gefährlich, was nicht die öffentliche Meinung für sich hat. Die Dynastie Orleans weiß das so gut, wie jeder Andre: sie kann ruhig schlafen, wenn die Municipalgarde wacht. Eine Emeute ist keine Revolution, ein Pistolenschuß ist keine Guillotine, ein hirnverrückter Arbeiter noch kein Convent. Was ist die Folge dieser Fahrlässigkeit, dieser Wahl eines guten, aber willensschwachen, rath- und thatlosen Mannes zum Könige? Daß Frankreich aus allen seinen Fugen ist, daß es zum Spott für Europa geworden, daß seine Minister vor einem Ja oder Nein Robert Peel's zittern, daß es in keine Frage der Zeit mehr das Gewicht, geschweige das Schwert seiner Entscheidung legt, daß der plumpste Materialismus die Herrschaft des Innern und die Ausbeutung des Nationalvermögens an sich gerissen hat, daß alle Gemüther erschlaffen, alle Herzen matt werden, alle Entschlüsse siechen, alle Charaktere schwanken und sich ein furchtbarer und das Aeußerste still vorbereitender Dämon in die Herzen der Franzosen schleicht, die Langeweile, eine Hydra, die mehr Köpfe hat, als die Anarchie.

Sehr wohl weiß ich, daß das Staatsleben nicht dazu da ist, um die Nationen zu amüsiren, aber dazu soll es dienen, die Gemüther anzuspannen, die Herzen zu stärken, die Ideen zu erweitern, das sittliche und nationale Selbstvertrauen zu erheben. Wenn die wahre Regierungskunst die ist, dem in einem Volke oder in einer Epoche liegenden Triebe nach Veränderung, nach Neuerung und gesteigerter Wohlfahrt eine gesetzliche Form zu geben, einen gesetzlichen Weg zu bahnen, dann ist in Frankreich nichts für diese wahre Politik geschehen. Die Uebel statt mit einem scharfen Mittel aufzuziehen, hat man nur durch Bähungen zertheilt. Ausgeglichen, ja versöhnt, abgenutzt und abgestumpft hat man vieles Unebene, Feindliche und gefährlich Spitze, aber der ganze Staatskörper ist darüber erschlafft. Die wahre Politik unsrer Zeit soll dem Neuen durch etwas Neuestes voraneilen, dem Kühnen durch Kühneres seine Gefahr nehmen, am Theile das Ganze, am Ganzen den Theil treffen und die Anarchie dadurch besiegen, daß man die Vorwände, auf die sie sich stützen könnte, wegnimmt, die Mängel beseitigt, deren Abhülfe sie herbeizuführen sich anheischig macht. Ein gläubiges Vertrauen zur großen Sache der Menschheit muß die Fahne dieser Politik sein; wo hat die Dynastie Orleans dieses Vertrauen bewiesen, wo hat sie diese Fahne aufgesteckt?

Nicht eine große That, die unmittelbar vom Könige ausgegangen wäre. Alle die Impulse, die er unmittelbar gegeben, sind negativ: kein schaffender, kein belebender. Die Bourbonen wählten die Jesuiten und die Ultraroyalisten zu ihren Rathgebern: man wußte, woran man mit ihnen war. Der Kampf gegen sie in der Kammer, auf dem Katheder, in der Presse war ein offner, freier, freudiger: ein Kampf, der der Wissenschaft, der edlen Charakterbildung, nicht wie jetzt nur der Intrigue Feld ließ. Der damalige Kampf hob die Nation, hob die Erziehung, hob die Moralität; er machte eine Revolution möglich, die wie die vom Jahre 1830 sich so anerkennenswerth in den Schranken der Großmuth und Selbstüberwindung zu halten wußte. Jetzt flüchtet sich der Hof von einer Partei zur andern: die jungen Prinzen jammern, daß man sie in Rußland nicht anerkennen wolle, die Frauen weinen über die Malicen des Faubourg St. Germain, der König selbst empfängt heute die Doctrinairs, morgen den Tiersparti, drückte gern auch Odillon Barrot die Hand und verständigte sich, wenn er dürfte, mit Mauguin, mit Cormenin, mit dem Charivari. Keiner von sämmtlichen französischen Staatsmännern weiß, wie er mit Louis Philipp daran ist. Nicht etwa die Klugheit des Königs ist daran Schuld, sondern seine Unbeständigkeit. Der Eine geht, der Andre kommt. Dem Wohle der Monarchie, der Prärogative der Krone wollen sie ja Alle dienen. Rathlos schwankt der König: wem sich anvertrauen?

Man würde ungerecht sein, wollte man die außerordentlichen Schwierigkeiten des Terrains, auf welches der 9. August 1830 gepflanzt wurde, nicht anerkennen. Es gehört Selbstentäußerung und Takt dazu, mit allen Zumuthungen, die den König umringen, als König fertig zu werden. Aber wenn man nach der Natur jenes Mittels fragt, durch welches Louis Philipp bisher die Parteien neutralisirt hat, welches ist dieses Mittel? Ein unbeschreiblicher Egoismus, der sich von oben allen Theilen des Staatskörpers so mitgetheilt hat, daß jede Function dieser Theile sich nur noch auf sich selbst bezieht und der Körper in starrer Regungslosigkeit darniederliegt.

Alle Eindrücke, die ich in Paris sammelte, haben mir diese Erfahrung auf das unwiderleglichste bestätigt. In der Abhängigkeit von der auswärtigen Politik bis hinunter zur Hingabe an den ersten besten fremden Virtuosen, in allen Welt- und Gesellschaftskreisen sieht man in Paris jetzt die Folgen einer Politik, die ein ganzes Nationalleben an sich selber irre gemacht hat. Alles schwankt, nichts steht fest, als eine gewisse polizeiliche Ordnung, die statt zu beruhigen nur beängstigt. Dem Hofe fehlt seine natürliche Umgebung. Die Banquiers gelten für die Vertreter der wahren Wohlfahrt des Landes. Frankreich leidet nicht an der Erschöpfung seiner Hülfsquellen, nicht an den Umtrieben seiner politischen Parteien, nicht an den Intriguen seiner ehrgeizigen Staatsmänner, sondern an dem von oben herab kommenden Geist der Furcht, des Mistrauens, der Verstellung, an der von oben kommenden Miethlingsgesinnung, Unselbständigkeit und Unterwürfigkeit. Und das Alles bei einem Volke, das so dringend beschäftigt, wenigstens unterhalten sein will, bei einem Volke, das so unterwürfig zu gehorchen versteht, wenn nur energisch befohlen wird, bei dem durch seine Einheit gouvernabelsten Staate der Erde, wenn man vielleicht China ausnimmt. Ganz Frankreich gleicht dem Palais Royal. Es ist ausgestorben. Bunte Läden, in denen man nichts kauft, an denen man nur vorüberflanirt. Man ißt im zweiten Stock, trinkt Kaffee im ersten und liest die Journale.

Ein natürliches Gefühl wird allerdings den Fremden zwingen, im Angesicht dieses Systems zu sagen: » Desto besser für uns! Dieses entmuthigte, willenlose Frankreich wird den Frieden Europas ungestört lassen. Hier brüsten sich keine Rohans, keine Blacas, keine Montmorencys mehr mit dem alten Ruhme ihrer Geschlechter. Hier sind die ehrgeizigen Generale auf den Dienst der Garnison, auf den Feldzug gegen die Emeute angewiesen. Das Fremde macht sich in Paris mit beispielloser Sicherheit geltend. Man kann es wagen, den wissenschaftlichen Vorurtheilen der Franzosen, ja ihren ästhetischen Principien die Spitze zu bieten. Cette France ne recule plus. Stellt sich dem Hof der Tuilerien ein fremder Gesandter vor, laßt den Julikönig sich bücken bis zur Erde, während ein Herr von Appony, ein Herr von Butenieff sich nur so eben verneigt! Laßt ihn sich grämen, den Chef dieser Dynastie, um die Anerkennung Rußlands, um die frostigen Gesinnungen des Czaaren. Immerhin! Wir sehen dadurch ein unruhiges Volk in Europa beschwichtigt, große Gefahren von andern Staaten abgewendet, es ist besonders uns Deutschen möglich gewesen, im Schatten dieses ohnmächtigen Nachbarn seit einigen Jahren unsre politische Kraft zu steigern, unsern nationalen Verband stärker anzuziehen.«

Gut! Weit entfernt, die deutsche Presse zu einer Polemik gegen Ludwig Philipp aufzufordern, wollen wir im Gegentheil immerhin dem Vaterlande Glück wünschen, daß es durch das System dieses Fürsten Raum und Muße gewonnen hat, sich zu sammeln. Dennoch bemerke ich Eines: Die Geschichte beweist, daß sich jede Anomalie ihres natürlichen Laufes später nur desto bedrohlicher wiederherstellt. Die jetzige Erschlaffung der Franzosen wird sich rächen. Ja, ich glaube sogar, daß die Völker sich gegeneinander besser stehen, wenn jedes sich des vollen Gebrauches seiner natürlichen Kräfte erfreuen darf. Unter einem stolzen und kräftigen Frankreich ist kein kriegerisches zu verstehen. Man kann eine Nation mit Thatkraft beflügeln, auch ohne ihr das Schwert in die Hand zu geben. Die Fülle der Ideen des neunzehnten Jahrhunderts ist so groß, das Feld für eine im Lichte unsrer Zeit wandelnde Politik so weit gesteckt, daß man die Schwungkraft des Nationalgeistes auch ohne Trommellärm heben kann. Das krämerhafte Abwiegen der Interessen, von dem Frankreich seit zwölf Jahren regiert wird, hat diese Möglichkeit nicht begriffen. Frankreich ist durch diese Politik wol für den Augenblick beruhigt; aber früher oder später wird irgend ein Ruf diese Lethargie wecken, irgend ein Funke diese in der Stille sich sammelnden Brennstoffe entzünden.

Das ist mein Glaubensbekenntnis; über das jetzige und künftige Frankreich: Wenn Louis Philipp es verantworten kann, Frankreich durch Demüthigungen zu beruhigen, so sollten die europäischen Mächte, statt daran ihre Freude zu haben, eher dieser Politik entgegen zu wirken suchen. Frankreich ist Paris, aber Paris sind noch nicht die Journale, noch nicht die Minister, Frankreich ist weder Thiers noch Guizot, weder das Haus Orleans noch das Haus Bourbon, sondern Frankreich ist ein Land von 33 Millionen Einwohnern, von den Pyrenäen und den Alpen bis zum Ocean ein, wo nicht überall fruchtbares, doch überall ergiebiges Land, ergiebig an Menschen, an geschichtlichen Erinnerungen, an einer beispiellosen Hingebung für einen einigen, schnell beherrschten, rührigen Staatszweck. Zur physischen Kraft gesellt sich hier die intellectuelle. Andre Nationen mögen tiefsinniger denken, Frankreich nur hat für den Gedanken Formen, die den Gedanken zum Gemeingut der Welt machen. Was streiten wir uns jetzt mit unserm Schelling und Hegel? Um aus Hegel's schwerem Gewächs etwas praktisch und politisch Genießbares zu machen, haben ihn seine jüngsten Schüler doch erst mit Montesquieu, Rousseau, Voltaire und Mirabeau versetzen müssen. Uebersetzt russische Volksmärchen, schwedische Familiengeschichten und englische Gaunerromane, wir werden in Dem, was für die Masse den Ton angibt, immer wieder auf Frankreich zurückkommen, nicht, weil es immer die Wahrheit, sondern weil es immer die Mode sein wird.

Nun, dieses innerlich so reiche, dieses unvertilgbare Frankreich ist es, das man mit Gewalt aus dem europäischen Verbande vertreiben will, das man auf einen Isolirstuhl setzt und dem man seine Erkräftigung so außerordentlich erschwert. Warum diese Kühle, diese Schadenfreude; warum eine Politik, deren besorgliche Folgen wir jetzt kaum absehen können?

Als im Jahre 1814 die Bourbonen wieder eingesetzt wurden, hatte Kaiser Alexander wenig Vertrauen zu ihnen. Er ahnte, was 1830 eingetroffen ist. Kaiser Alexander fühlte die Nothwendigkeit eines starken Frankreichs, eines Frankreichs, mit dem England, um die andern Staaten unbehelligt zu lassen, vollauf zu thun haben müsse. Kaiser Alexander würde noch lieber den Marschall Bernadotte auf den französischen Thron gesetzt haben, als Ludwig XVIII. Die Bourbonen verdanken es nur der Beweglichkeit Talleyrand's, daß die Zweifel Kaiser Alexander's besiegt wurden.

Die Cabinette Europas sollten den französischen Ministern nicht die Regierung eines Landes erschweren, in dessen Politik die Ruhe der Welt liegt. Es heißt sehr leichtsinnig handeln, die Franzosen jetzt, da sie schwach scheinen, zu demüthigen. Die ganze Zukunft Europas ist dabei gefährdet. Nur ein innerlich erstarkendes Frankreich kann die Garantie eines künftigen Friedens sein.

Schlimm genug für die Welt, daß es noch keine Politik der Liebe gibt. Vortheile von der Schwäche der Andern ziehen, nennt man noch immer Weisheit. Thorheit würde es unsern Staatsmännern scheinen, wollte man Frankreich die Erholung von seinen Leiden erleichtern, wollte man die allerdings sehr unglücklich gewählte Dynastie Orleans in ihrer schwierigen Aufgabe unterstützen. Dies ist denn wahrlich würdig jener atomistischen Politik, die nur Staaten und keine Völker, nur Völker und keine Menschen sieht. Unser Jahrhundert verabscheut aber diese Politik ebenso, wie unser Jahrhundert des Nationalhasses sich schämen sollte. Staatsmänner und Demagogen in diesem Sinne sind gleich verwerflich. Sie setzen den Frieden der Welt aufs Spiel, das Wohl der Völker, den Flor der Künste und Gewerbe, den Segen des Ackerbaues, die Veredlung der Sitten und die gesetzliche Verbesserung unserer Gesellschaft.

Ich könnte diese Gedankenreihe noch weiter fortsetzen, könnte dem materiellen Zustande Frankreichs England gegenüberhalten in seiner sichtbaren innern und äußern Zerrüttung, Deutschland in seinem neuesten Eigendünkel, den unsere Zeitungsschreiber Nationalkraft getauft haben, Rußland in seiner Finanznoth – ich thue es nicht, um nicht in dem Lichte zu erscheinen, als hätte ich für Frankreich eine Vorliebe, die ich nicht habe. Vor dem Menschenfreunde liegen die Reiche und Staaten auf der bunten Karte der Welt gleichberechtigt hingemalt: einer Farbe kann unser Herz gehören, aber darum ist diese eine noch nicht der Regenbogen, darum werden die grünen, rothen und gelben Felder noch nicht grau, noch nicht farbenlos. Erst der Mensch und dann der Bürger, und durch den Bürger für den Menschen wirken; das ist die Philosophie und die Politik unserer Zeit in einem Satze, in einem Bunde.

Ich verlasse Frankreich. Einem Franzosen schrieb ich: »Je quitte la France, dans la conviction, que j'ai trouvé un pays sain, une nation un peu indisposée, un état complètement malade.« Man sieht ein, daß, wo ein Land gesund, ein Volk nur etwas unpäßlich ist, die Krankheit des Staates nicht aus dem Lande und Volke kommen kann. Sie kommt aus dem Phlegma der Dynastie und aus dem überreizten Gegendruck des Auslandes. Europa hat nichts mehr von der Revolution, aber es kann dahin kommen, daß es Alles von der französischen Nationalität zu fürchten hat.

Endlich! Ich verlasse Paris.

Waren Sie mit Ihrem Aufenthalt zufrieden? fragen mich die Abschied Nehmenden. Hat es Ihnen in Paris gefallen? werden mich Die fragen, die mich in der Heimat begrüßen.

Lieben und schwärmen in Paris, leben aber und sterben in der Heimat!

Die Liebe sucht die Einsamkeit und doch gleicht sie der Mauerschwalbe, die nur an bewohnten Häusern nistet. Einsamkeit im Gewühle der Welt, das ist das höchste Glück. Die rauschende Woge des Weltmeeres sich brechend an der Schwelle einer einsamen Strandhütte. Die wahre Liebe verschwiegen und doch sich gerne zeigend. Ein Brief, ausgestellt am offnen Gitter der Post. Wer kennt den Inhalt? Es wimmelt in Paris von falscher Liebe, aber die wahre kann nirgends verborgener, nirgends glücklicher sein. Sie duftet und man sieht sie nicht. Sie entbehrt nichts, da Paris Alles bietet. Die Schönheit wird beneidet, aber nicht bestürmt. Paris so weit und erschöpfend, so anstrengend und beschäftigend. Paris, ein Ort des Ruhms, der Täuschungen, der Gefahren. Paris die bitterste Illusion oft für den edelsten Willen, für die kühnsten Thaten. Was bleibt dem Manne darin übrig? Die unsichtbare, stille Trösterin der Liebe.

Auch schwärmen in Paris. Schwärmen für Alles; denn Alles ist möglich in Paris. Schwärmen für den Glauben: dort sind die Kirchen! Schwärmen für die Wissenschaft, die Kunst: dort sind die Hörsäle, die Tempel der Musen! Schwärmen für die Menschheit: dort sind hundert Secten, die schon bestehen, tausend, die mit dem Tage entstehen können. Nicht Alles geschieht, aber Alles kann man hoffen. Man sucht und man findet. Man findet vielleicht nicht, was man suchte, aber was man findet, ist überraschender noch, als was man suchte. Keine Leidenschaft braucht in sich zu ersticken; sie kann sich veredeln, indem sie sich austobt. Man hat es frei, gut oder böse zu sein. Man schreibt sich seine eignen Gesetze vor. In der Heimat, wie ist dort Alles so klein! In der Heimat Alles verboten und nur Einiges erlaubt! In Paris ist Alles erlaubt und nur Einiges verboten. Paris ist ein Ort zum Schwärmen.

Leben aber, wahrhaft leben in der Heimat! Wirken in einem bestimmten Kreise und den Lohn seiner Mühen sehen, es ist selbst dem Franzosen nicht möglich in Paris. Das rauscht! Das flutet! Das spendet Ungeheures, das verbraucht Ungeheures! Der Einzelne gleitet mit der Welle mit. Wohl ihm, wenn sie ihn sanft über die Klippen hinüberträgt, wenn ihn die Felsen nicht zerschellen! Man kann hier in seiner Lebensbahn steigen, fliegen, aber nicht Schritt vor Schritt mit männlichem Ernst ein würdiges Ziel verfolgen. Man lebt, wenn man von dem Riesen der Oeffentlichkeit verbraucht werden, leben nennen kann. Man wird verdaut, zermalmt, man hat Willen zum Lieben, Freiheit zum Schwärmen, aber keinen Willen und keine Freiheit für eine lebendige That, für den Genuß seines Rechtes, für die Erfüllung seiner Pflicht. Leben heißt, in die pariser Sprache übersetzt, Geld verdienen! Es ist bekannt, wie leicht es in Paris ist, Geld auszugeben; aber ich glaube, daß es sehr schwer ist, welches zu verdienen.

Sterben in Paris muß schrecklich sein. Da wird um uns herum nichts grau, da senkt kein Baum seine Zweige, da fällt kein Laub; wir sterben, nichts stirbt mit uns. Schon krank zu sein, ist in Paris kränkend für das Allgemeine, eine Unpäßlichkeit ist unpassend. Nun gar der Tod! Draußen bei uns altert mit dem Alter eine ganze Generation. Die Alten bilden bei uns einen Bund gegen die Jungen. Die Alten rühmen bei uns ihre Jugend, ihre Vergangenheit, ihre Zeit und ihre entschwundene Herrlichkeit. Sie preisen sogar ihre alten Irrthümer, behängen nur sich mit Würden und Ehrenzeichen; bei uns gehört die Welt mit allen ihren Freuden und Auszeichnungen dem Alter. Mit ihnen stirbt, was die Greise liebten: drücken sie die Augen zu, so wird es Winter, weiß auf den Fluren, weiß in den Herzen. Sie lassen nichts zurück, was nach ihnen von Werth wäre: die neue Politik, der neue Glaube, die neue Dichtung, alles Das haben sie ja längst als verwerflich geschildert: so gehen sie zu ihren Vätern und sterben würdevoller, als man in Frankreich stirbt.

Also – lieben und schwärmen in Paris. Leben und sterben in der Heimat!

Lebe wohl, Paris! Ich habe nicht in dir geliebt, nicht in dir geschwärmt, ich habe in dir mich selber wiedergefunden. Mit zweifelnder Kälte kam ich, mit Wehmuth scheide ich. Es war mir früher oft komisch, dich weinen, jetzt ist es mir rührend, dich lachen zu sehen! Welche Schwüle am Himmel; ein Gewitter zieht heut' heraus. Noch fühle ich in der Hand den warmen Abschiedsdruck der Freunde. Der Postwagen sprengt am Seinequai hinaus. Ein Blitzstrahl zuckt über den Pont d'Austerlitz. Der Bleistift ruhe! Ich steck' ihn in das überfüllte, treue, erinnerungsreiche Portefeuille und drücke mich, erschöpft vom Sehen, ermüdet vom Hören, unbekümmert um Blitz und Donner, in die Ecke des Wagens. Im strömenden Mairegen erleichtre sich das übervolle Herz!


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