Anastasius Grün
Spaziergänge eines Wiener Poeten
Anastasius Grün

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Unsere Zeit.

        Auf dem grünen Tische prangen Kruzifix und Kerzenlicht,
Schöff' und Räte, schwarzgekleidet, sitzen ernst dort zu Gericht,
Denn sie luden vor die Schranken unsre Zeit, die Frevlerin,
Weil sie trüb' und unheildrohend und von sturmbewegtem Sinn!

Doch es kommt nicht die Gerufne, denn die Zeit, sie hat nicht Zeit,
Kann nicht stille stehn im Saale weltlicher Gerechtigkeit,
Während sie zwei Stunden harren, ist sie schon zwei Stunden fern!
Doch sie sendet ihren Anwalt, also sprechend, zu den Herrn:

»Lästert nicht die Zeit, die reine! Schmäht ihr sie, so schmäht ihr euch!
Denn es ist die Zeit dem weißen, unbeschriebnen Blatte gleich;
Das Papier ist ohne Makel, doch die Schrift darauf seid ihr!
Wenn die Schrift nicht just erbaulich, nun, was kann das Blatt dafür?

Ein Pokal durchsicht'gen Glases ist die Zeit: so hell, so rein!
Wollt des süßen Weins ihr schlürfen, gießt nicht eure Hefen drein!
Und es ist die Zeit ein Wohnhaus, nahm ganz stattlich sonst sich aus,
Freilich seit ihr eingezogen, scheint es oft ein Narrenhaus.

Seht, es ist die Zeit ein Saatfeld; – da ihr Disteln ausgesät,
Ei, wie könnt ihr drob euch wundern, daß es nicht voll Rosen steht?
Cäsar ficht auf solchem Felde Schlachten der Unsterblichkeit,
Doch auch Memmen, zum Entlaufen, ist es sattsam groß und weit.

Zeit ist eine stumme Harfe; prüft ein Stümper ihre Kraft,
Heulen jammernd Hund und Kater in der ganzen Nachbarschaft! –
Nun wohlan, so greift begeistert, wie Amphion fest darein,
Daß auch Strom und Wald euch lausche, Leben fahre in den Stein!«


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