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Viertes Kapitel.

Der Hietzinger Friedhof ist eine der schönsten und stimmungsvollsten Totenstätten Wiens. Ganz besonders stimmungsvoll ist sein ältester Teil mit jenen vielen dunkelgewordenen Gruftplatten, neben denen sich efeuumsponnene Grabsteine erheben, die ebenfalls die Farbe des Alters tragen.

Nicht auf jedem dieser Steine ist die Schrift noch leserlich. Viele tausend Tränen, die die Wolken geweint, haben die Buchstaben weggewaschen, welche einst erzählten, wer da gebettet wurde zum ewigen Schlaf. Da jedoch, wo man die Schrift noch lesen kann, da merkt man, daß eine gute Gesellschaft sich hier versammelt hat.

Alte Patriziergeschlechter der Kaiserstadt, der Adel und die hohe Beamtenschaft haben seit jeher ihre Familienruhestätten auf dem Hietzinger Friedhof gewählt, und heute noch, da doch im Osten der Stadt ein Riesengottesacker sich weit hindehnt, in welchem unabsehbare Gräberreihen mit ihrem reichen künstlerischen Schmuck und ihrer herrlichen Pflanzenfülle dafür Zeugnis geben, daß auch die Neuzeit ihrer Toten würdig zu gedenken weiß – noch heute sichert sich gar mancher ein Fleckchen auf dem lieben, alten Friedhof, der sich zu Füßen des reizvollen Hügels ausbreitet, welcher einst Eigentum jenes edlen Fürsten gewesen ist, der als Kaiser von Mexiko in der Blüte seiner Jahre sterben mußte.

*

Noch ist es nicht Zeit zum Dunkelwerden. Es ist ja ein Junitag und noch nicht acht Uhr.

Und doch herrscht schon tiefe Dämmerung, denn fast schwarzes Gewölk, das jäh von den Höhen des Wiener Waldes hergezogen kam, hängt so tief auf die Erde nieder, daß kein Strahl der schon sinkenden Sonne zwischen ihnen einen Weg findet. Diese dunklen, vom Wind gejagten Wolken scheinen fast die Wipfel der uralten Baumriesen zu berühren, die zu Tausenden im Parke von Schönbrunn und auf der südlich von ihm sich erhebenden Höhe von Maxing stehen. Wildes Brausen herrscht in den üppig grünenden Wipfeln. Manch morscher Ast bricht heute, der zur Zeit, in der Napoleon zu Schönbrunn Befehle gab, ein schwankendes Zweiglein gewesen, und tausend solcher schwanker Zweiglein, die keine tüchtigen Äste werden durften, weht derselbe Sturm dem alten Holze nach.

Auch auf dem Hietzinger Friedhof splittert und kracht und knackt und knarrt es, geht ein brauner Regen von Zweigen und ein grüner Hagel von Blättern nieder, wanken Grabkreuze und werden Kränze verweht, rauschen welkgewordene Blumengaben und zittern seidene Bänder, auf denen innige Liebesworte stehen.

Die Leute des Totengräbers haben alle Hände voll zu tun, um die vielen Topfpflanzen, die zur Verwendung auf den Gräbern in der Nähe des Hauses bereit stehen, unter ein schützendes Dach zu bringen.

Der Schuppen, in welchem die Pflanzen bei solchen Gelegenheiten untergebracht werden, befindet sich links vom Hause und steht, wie dieses, dicht an der straßenwärts gelegenen Friedhofsmauer.

Rechts von dem Hause des Totengräbers, aber um einiges tiefer gelegen, befindet sich das Tor, welches im Sommer um acht Uhr geschlossen zu werden pflegt.

Soeben schlägt es acht Uhr. Allein der Lärm ringsum verschlingt die Stimme der Glocke. Auch die Zeiger sieht man nicht mehr, denn dazu ist es schon viel zu dunkel.

Außerdem denkt wohl keiner von den Leuten heute daran, pünktlich das Tor zu schließen. Sie rennen alle, um die Blumen zu bergen.

Doch der Johann Seifert, einer der ältesten Gehilfen des Totengräbers, ist ein gar gewissenhafter Mann. Allerdings kommt es ihm heute nicht zu, das Tor zu schließen und die abendliche Durchsuchung des Friedhofes vorzunehmen, aber ersteres wenigstens will er besorgen, weil der andere, dem es zukäme, soeben mit einem Kameraden einen großen Korb voll Blumenstöcken nach dem Schuppen trägt.

Seifert geht also in das Haus, holt den Schlüssel, steigt zu dem Tor hinab, schlägt es zu und sperrt es ab.

In dem Augenblicke, als er ins Haus ging, hatte eine schwarzgekleidete Dame den Friedhof betreten und schreitet jetzt, unbekümmert um das Brausen des Sturmes und das Fallen der Zweige, den Mittelgang hinauf.

Als Seifert, nachdem er das Tor geschlossen, zum Hause zurückkehrt, wirft er gewohnheitsmäßig einen Blick rundum, aber da war die Frau soeben hinter einer Gruppe von Lebensbäumen verschwunden.

Leona v. Lassot kennt den Hietzinger Friedhof recht gut, weil ihr Gatte hier begraben liegt, den sie vor kaum zwei Jahren verloren hat. Damals hat sie noch in Wien selbst gewohnt und ist wochenlang täglich herausgefahren. Sie hat ihn ja leidenschaftlich geliebt, diesen schönen, auch in der Armut noch eleganten Mann, wie sie ja ebenso ihren Sohn, welcher körperlich sein Ebenbild war, geliebt hat.

Zu jener Zeit lag Roberts Regiment in Galizien, und der junge Offizier hatte nicht einmal zum Begräbnis kommen können. Etliche Monate später war er aber nach Wien versetzt worden, und sehr bald danach zog sie auf seinen Wunsch in ein kleines Dorf im Waldviertel, in der Nähe von dem Städtchen Horn gelegen. Die Tante eines seiner Kameraden hatte dort eine Besitzung, und da der Ort ganz besonders billig war, konnte eine alternde Frau, die auf eine schmale Pension angewiesen war, gar nichts Besseres tun, als dahin überzusiedeln.

Frau v. Lassot tat es zwar furchtbar weh, ihrem geliebten Toten, wie ihrem geliebten Lebenden von nun an fern bleiben zu müssen, aber sie tat doch – wie immer – was Robert wollte. Er wollte es ja doch nur in seiner liebenden Fürsorge für sie.

Es machte ihr nicht viel aus, daß sie in einem überaus bescheidenen Häuschen wohnen mußte, daß das Dorf in einer aussichtslosen Talmulde stand und von sumpfigen Wiesengründen umgeben war. »Das alles weiß er halt nicht und stellt es sich ganz anders vor.« Damit entschuldigte sie Roberts Mißgriff in Bezug auf ihren Witwensitz.

Und als er sie einmal, es war noch gar nicht lang her, besuchte und keinen von all den vielen Mängeln ihres jetzigen Wohnortes bemerkte, entschuldigte sie ihn wieder mit seinem unpraktischen Sinn und ahnte noch immer nicht, daß er ganz genau wußte, wohin er sie gesandt oder vielmehr verbannt hatte, um sie los zu sein. Sie genierte ihn, und das wußten mehrere; nur seine Mutter wußte es nicht, die meinte nach wie vor, daß die Welt ihn nur nicht recht gekannt habe, daß ihr mit ihm alles gestorben sei, was sie noch auf Erden festhielt.

Deshalb hat sie bis vor einer halben Stunde gemeint, daß auch für sie der Tod das beste, ja das einzige sei.

Bis vor einer halben Stunde!

Jetzt aber weiß sie, daß sie noch auf Erden zu tun hat. Ihrem Robert dies zu sagen, ist sie nach Hietzing gefahren, und eilt nun fast atemlos zur Familiengruft der Lauren, in welcher auf Wunsch der Oberstenwitwe ihr Sohn beigesetzt worden war.

Sie merkt gar nicht, wie sehr sie gegen den Sturm ankämpfen muß, fühlt nicht, daß ihr die Äste der Trauerweiden, unter denen sie dahineilt, ins Gesicht schlagen, daß Sand sie umwirbelt und sie in einem wahren Laubregen geht.

Ganz dunkel ist der Gang, in welchen sie jetzt einbiegt. Fast schwarz erscheinen die Lebensbäume, die da und dort in dichten Gruppen, gleich Trauernden, die Gräber umstehen, und fast schwarz die Efeubehänge, die sich mit Tausenden von Luftwurzeln an die Grabsteine klammern.

Frau v. Lassot ist an ihrem Ziele, an der Gruft, die ihren vergötterten Sohn umschließt. Ihre zitternden Hände klammern sich an das kunstvolle Gitter, ihre Augen füllen sich mit Tränen, mit diesem Labsal der Niedergebeugten, das ihr in dieser schweren Zeit bis jetzt versagt geblieben ist.

»Mein Kind – mein Kind!« stöhnt sie plötzlich in tiefstem Leid auf und sinkt an der Gruft nieder, preßt das Gesicht an die Eisenstäbe und schluchzt, als wolle sie ersticken in ihren Tränen.

Immer dunkler wird es ringsum. Immer toller tobt der Sturm, der zum Orkan geworden ist. Schier bis zur Erde beugen sich die Weiden nieder, welche die Gruft der Lauren allzeit in stimmungsvolles Dunkel hüllen. Jetzt liegt sie wie in tiefster Nacht da, und es ist, als ob sie auch schon die dunkle Gestalt verschlungen habe, die an ihr hingestreckt liegt.

Der Schmerz hat ganz und gar Besitz ergriffen von dieser Mutter. Es ist fast schon eine Stunde vergangen, seit sie im Friedhofe ist. Da fährt in unmittelbarer Nähe ein Blitz nieder. Er taucht sekundenlang den Friedhof in ein unerträglich helles, blaues Licht.

Frau v. Lassot erhebt sich jäh. Sie weiß plötzlich, wozu sie hierher gekommen ist. Nicht um zu weinen und zu klagen – nein. Einen Schwur will sie zum zürnenden Himmel emporschleudern, einen Schwur des Hasses und der Rache.

Ganz vergessen hatte sie gehabt, daß es einen Ernst und eine Klementine Teck auf Erden gibt. Immer nur hatte sie an ihr verlorenes Kind gedacht, und der Jammer um dieses hatte für nichts anderes Raum in ihr gelassen. Aber der Brief, den Frau v. Lauren ihr heute gegeben, der hat sie aus dieser Apathie aufgejagt. Eine unsinnige Wut erfüllte sie, als sie diesen elenden Brief gelesen.

Klementine und Ernst hatten Robert in die Schande und in den Tod getrieben! Klementine hatte seine Liebe verworfen. Da hatte er sich betäuben müssen im wilden Strudel des Lebens. Da hatte er sogar in einer anderen Verbindung Vergessenheit suchen müssen.

»Mit Recht hast du sie verflucht!« preßt, Roberts letzter Worte gedenkend, das verblendete Weib zwischen geschlossenen Zähnen hervor. »Mit Recht hast du sie verflucht!« wiederholt sie, weil sie sich von diesem Gedanken nicht losreißen kann, und ihre Hände umklammern grimmig die Gitterstäbe der Gruft.

»Und deinem Fluch lass' ich den meinen folgen! Sterben habe ich wollen, weil du nimmer bist, der du mein Glück, mein Stolz warst, du, der einzige, der noch zu mir gehörte, du, der Worte fand für seine arme Mutter, so kosend, so traut, daß sie mich in den Himmel hoben, daß sie mir die Einsamkeit vergoldeten. Aber deine letzten Worte verpflichten mich zum Leben. Ich verstehe dich! Rächen soll ich dich. Deine verschwendete, herzlos zurückgewiesene Liebe, dein verschwendetes, verratenes Vertrauen, deine Angst, deine Verzweiflung, deinen bitteren Tod – ich will und ich werde sie rächen. – Mein Sohn, du hörst mich! Tausendfachen Fluch den zweien, die deine Mörder sind! Tausendfache Rache den zweien, die mich kinderlos gemacht haben!«

Sie ließ die Hand, die sie zum Schwüre über die Gruft gestreckt hatte, langsam sinken. Ihre heisere Stimme, vom Sturm verweht und übertönt, war zuletzt ganz schwach geworden. Sie fühlte es nicht, daß ihre Knie zitterten, daß sie wankte, als sie sich zum Gehen wendete.

Sie machte nur zwei Schritte, dann taumelte sie und sank ohnmächtig neben dem Gitter der Gruft zu Boden.

*

Gegen neun Uhr machte der diensthabende Gehilfe des Totengräbers mit dem Hunde, der bei solchem Anlasse stets mitgenommen werden mußte, den allabendlich stattfindenden Rundgang durch den Friedhof.

Sonst pflegte dessen Durchforschung nach etwa zurückgebliebenen Besuchern sogleich nach Torsperre zu erfolgen. Heute aber war man, des Unwetters halber, nicht so pünktlich gewesen.

Der Mann begnügte sich, da es noch immer stürmte, damit, die Hauptwege des Friedhofes abzugehen. Der Hund wich wohl zuweilen nach rechts oder links ab, aber auch er entdeckte die Frau nicht, welche an der Laurenschen Gruft lehnte.

Mann und Hund beeilten sich überhaupt, wieder unter Dach zu kommen, denn immer toller trieb es der Sturm. Es war noch immer drückend schwül, und noch immer war kein Tropfen gefallen, wiewohl das Unwetter schon fast zwei Stunden über Wien hinraste.

Gegen zehn Uhr erst war die Macht des Sturmes gebrochen, und um Mitternacht herrschte schon wieder die gewöhnliche, tiefe Stille in dem schönen, alten Friedhof.

Frau v. Lassot öffnete um diese Zeit einmal ganz weit die Augen. Sie sah einen schwarzblauen Himmel über sich, auf welchem Tausende von Sternen funkelten, und sah dunkle und lichte Grabsteine vor sich und die unsicheren Umrisse von Strauchwerk und Bäumen.

Die Augen fielen ihr wieder zu, ohne daß sie zu wirklichem Bewußtsein ihrer Lage gekommen wäre. Erst die Morgensonne brachte sie zu sich selbst.

Das Tor des Friedhofes war heute schon sehr früh geöffnet worden, denn es sollten viele Fuhren Blumenerde hereingeschafft werden.

Das schwere Rollen des ersten herankommenden Wagens weckte Frau v. Lassot völlig aus ihrem Halbschlummer.

Sie mußte sich erst darauf besinnen, wo sie sich befinde, und was hier vorgegangen war.

Da wurde ihr Gesicht hart, und nachdem sie sich erhoben hatte, streckte sie noch einmal die Hand über die Gruft hin und murmelte: »Meinen Schwur halte ich dir, Robert. Aus unserem Leid soll ihnen noch schwereres Leid erwachsen. Werde ich aber müde, so werde ich mir hier wieder Kraft holen.«

Langsam ging sie dem Tore zu. Noch immer hatte kein Mensch sie gesehen.

Es war das ein Zufall, denn schon seit vier Uhr waren der Totengräber und seine Gehilfen damit beschäftigt, nach den Schäden zu schauen, welche der Sturm angerichtet hatte.

Erst als Frau v. Lassot schon dem Tore nahe war, begegnete sie einem Menschen. Es war der Fuhrmann des zweiten Wagens, welcher, mit Erde beladen, langsam den Weg heraufkam.

Der Mann sah ihr erstaunt nach, ging aber dann ruhig neben seinen Pferden weiter.


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