Otto von Greyerz
Sprachpillen
Otto von Greyerz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die -heiten und -keiten

Ein Zeitungsfetzen fiel in einen Hühnerhof. Der Hahn, der zur Not lesen konnte, gackerte seinen Hennen vor, was da gedruckt stand. Es war eine Mitteilung des Statistischen Amtes:

«Aus den aufgestellten Listen geht hervor, daß die Zahl der Hühner aller Art stark gestiegen ist, und zwar von 4 864 459 auf 5 530 163; die Zunahme beträgt also 665 704 Einheiten.»

«Einheiten» las der Gockel mit Betonung und schaute seine Legerinnen an. Es brauchte Zeit, bis die trübe Funzel des Hühnerhirns etwas merkte. Aber dann reckten sie die Hälse und verdrehten die Augen. Einheiten nannte man sie also. Das war neu. Und klang vornehm, ungemein gebildet, geradezu distinguiert. Verstehen konnten sie’s zwar nicht, aber da war etwas, was ihrer Eitelkeit schmeichelte; und wenn sie schon nichts wußten von Leibnizischen Monaden, kamen sie sich trotzdem als höhere Wesen vor, gewissermaßen philosophisch geadelt. Das -heit hatte es ihnen angetan. Jetzt sollte ihnen einer kommen mit «dummem Huhn»! Dem wollten sie! «Distanz nehmen, wenn’s beliebt! Wir sind Einheiten, Ganzheiten, Wesenheiten!»

Im Affentheater der zivilisierten Menschheit vermögen -heit 44 und -keit auch Wunder zu wirken, wie im Hühnerhof. Wer es nötig hat, schafft Distanz und Nimbus mit -heit und -keit. Mit -heit und -keit hebt man das Menschlich-Allzumenschliche in die metaphysische Sphäre des allgemeinen Begriffs. Der Hochgestellte wird zu einer Hoheit, der Heiligseinsollende zur Heiligkeit; -heit und -keit machen aus Menschen wie du und ich körperlose Allgemeinheiten: Fürstlichkeiten, Herrlichkeiten, Durchlauchtigkeiten. Wo die deutsche Sprache nicht ausreicht, müssen Fremdwörter her: Eminenzen, Exzellenzen, Potenzen, Magnifizenzen; Dignitäten, Notabilitäten, Kapazitäten, Zelebritäten, Majestäten... nie der Mann, immer die ihm angedichtete Eigenschaft, die Erhabenheit, Einzigartigkeit, die ihn hoch über alle hebt, welche solchen Ruhmes ermangeln. Wir andern sind höchstens noch — Wenigkeiten.

Und doch sind die menschlichen Schwächen, Übel, Sünden und Laster über alle Rangstufen verteilt. Sie werden nur nicht zu Ehrentiteln verwendet. Ansonst es etwa heißen könnte: Haben Eure Scheinheiligkeit wohl geruht? Was gedenken Eure Verruchtheit in dieser Sache zu tun? Haben Eure Ignoranz den Witz noch nicht begriffen? Leiden Eure Bestialität immer noch an Hämorrhoiden? Denken Eure Impotenz ernsthaft an eine neue Vermählung? usw. in allen Schattierungen.

Unsrer Volkssprache wie unserm Volk sind diese hohen Titel zum Glück fremd. Zwar wird auch bei uns der Direktor leicht zur überpersönlichen Direktion. Aber einen Bundesrat und einen General reden wir doch noch als einen Mann, nicht als eine zur Abstraktion verklärte Größe an. Wir lieben den falschen Nimbus nicht, der in der Nähe erlöschen muß. Wir lieben aber auch die Abstraktionen auf -heit und -keit nicht, in denen sich alle Anschauung verflüchtigt, besonders nicht diese philosophisch aussehenden Einheiten, Vielheiten, Ganzheiten, Allheiten, Wesenheiten, mit denen so leicht und oft Schwindel getrieben wird.

Es ist auffallend, wie das Alemannische schon in früher (althochdeutscher) Zeit der Wortbildung mit -heit und -keit ausweicht und dafür weibliche Dingwörter mit -i bildet: d’Heiteri (Heiterkeit), d’Dünkli (Dunkelheit), d’Gschwindi (Geschwindigkeit), d’Gröbi, 45 d’Fyni, d’Rüüchi, d’Süberi, d’Füechti, d’Tröcheni, d’Schmeli (Schmalheit), d’Hübschi, d’Sälteni. So werden auch geistige Eigenschaften entsprechend den schriftdeutschen auf -heit und -keit im Schweizerdeutschen einfach mit -i gebildet: d’Dümmi (Dummheit), d’Gschydi (Gescheitheit), d’Füli (Faulheit), d’Läbigi (Lebendigkeit), d’Lengsemi, d’Brevi (Bravheit), d’Schlööuji (Schlauheit), d’Glehrti (Gelehrtheit und Gelehrsamkeit), d’Wunderligi (Wunderlichkeit), d’Meischterlosigi.

In andern Beispielen geht das Schweizerdeutsche teils in der Wortbildung, teils in der Bedeutungsentwicklung eigene Wege: d’Glimpfigi (Biegsamkeit, Elastizität), d’Fyschteri (Finsternis), d’Völli (Betrunkenheit), d’Töübi (eigentlich Zustand dessen, der vor Zorn nichts mehr hört oder hören will), Hässigi (vgl. Gehässigkeit), d’Husligi (Sparsamkeit), Vertüenligi (Verschwendung), Chönnigi (Geschicklichkeit), d’Ufölgigi (Unfolgsamkeil), d’Verböüschtigi (neben Verbouscht: Neid), Tüüfelsüchtigi (neben Tüüfelsucht: teuflische Bosheit).


 << zurück weiter >>