Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Diese Kirche wurde unter dem ersten Anjou ausgebaut; sie ist einschiffig, ein kühnes Werk gotischer Architektur und zur Hälfte in den Felsen gehauen. Von links her wird sie durch Tageslicht erhellt, und dort befindet sich auch der Chor mit hölzernen Schranken und Stühlen für die Domherren. Rechts öffnet sich der Zugang zum Allerheiligsten, zur weltberühmten Grotte, dem Mittelpunkt des Engelkultus im ganzen Abendlande. Die Öffnung beträgt 40 Fuß, ihre höchste Höhe 16 Fuß.

Als wir vor ihr standen, sahen wir eine fremdartige und unbeschreibliche Szene, gleichsam ein Märchen mitten in einem erleuchteten Zauberberg. Dante würde sie für die göttliche Komödie verwertet haben, wenn er ihr Zeuge hätte sein können. Dichte Scharen von Pilgern, vom Dämmerschein geisterhaft übergossen, bedeckten die Marmortreppe, welche aus der Kirche zur Grotte emporführt. Sie drängten sich aufwärts, oder sie standen oder sie lagen auf den Knien. Im finstern Hintergrunde der Höhle funkelten Kerzen auf dem mit Purpur gedeckten Altar, die weiße Gestalt des Erzengels bestrahlend, welcher seine Flügel zu regen schien. Ein Priester und Chorknaben bewegten sich davor phantastisch mit Kniebeugungen hin und wieder. Der Gesang des Geistlichen hallte mit starker Stimme, und Orgelklänge fielen von unterwärts her ein. Die schattigen Gewölbe der Kirche, droben der schwarze Höhlenschlund, die aus ihm hervorquellenden Schimmer, die feierlichen Töne, die schweigende Menge des Volks – all dieses unterirdische Wesen und Geheimnis brachte einen unsagbaren Eindruck hervor. Man hätte glauben können, es sei das ein Traum.

Der Priester des Erzengels hatte soeben die Messe begonnen; wir scheuten uns deshalb, in den Chor vorzudringen, aber der uns begleitende Kirchendiener forderte uns auf, ihm zu folgen. In der rücksichtslosesten Weise, als befänden wir uns vor der Schaubude eines Puppentheaters, machte er uns durch die Volksmasse Bahn; er zog uns die Treppe aufwärts hinter sich nach, dem Hierophanten dicht vorüber und an den Altar, hinter welchem wir uns aufstellen mußten.

Dort befanden wir uns in einer sehr peinlichen Lage: wir waren Eindringlinge in fremde Mysterien, und das ohne unsere Absicht. Im übrigen erkannten wir bald, daß auch hier dieselbe schrankenlose Toleranz geübt wurde, wie sie sonst in Kirchen Italiens gebräuchlich ist, wo das Profane neben dem Heiligen unbehindert einhergehen darf. Der Priester am Altare warf wohl ab und zu einen fragenden Blick auf uns, aber einen solchen, der eher von einem flüchtigen Lächeln als von einem Vorwurf begleitet war.

Die Männer und Frauen, welche neben uns standen (und die Grotte war von Pilgern vollkommen ausgefüllt), zum Teil in Andacht versunken oder doch deren Gebärden machend, blickten uns mit Gleichgültigkeit an, und wenn wir noch einige Skrupel fühlten, so mußte uns die unglaubliche Naivität des Kirchendieners davon befreien. Denn dieser offizielle Tempelwächter betrachtete den himmlischen Erzherzog so wenig als ein unnahbares Wesen, daß er eine an einem Rohr befestigte Wachskerze dreist an einem der Lichter auf dem Altar selbst anzündete und mit ihr die Figur des Erzengels von hinterwärts hin und wieder beleuchtete, damit wir sie deutlicher beschauen könnten – und dies tat er, während drei Schritte von uns entfernt der Domherr vor eben diesem Engel die Messe las. Wir machten abwehrende Zeichen, doch der Mann achtete nicht darauf; der Oberpriester des Engels selbst mußte diese freche Handlung bemerken, doch war sie niemandem auffällig.

Ich betrachtete die wunderbare Kultusszene in unmittelbarer Nähe mit derselben Wißbegierde, mit welcher Herodot und Plutarch die Mysterien in Ägypten, in Syrien und Griechenland betrachtet haben. Ein seltsameres Schauspiel hatte ich nirgends zuvor gesehen; als Gemälde in der Beleuchtungsweise des Honthorst würde es ein Nonplusultra des Phantastischen darstellen. Indem wir in der innersten Tiefe der Höhle standen, von deren schwarzem Gewölbe die sickernden Wassertropfen auf uns niederfielen, hatten wir neben uns betende Pilger, unmittelbar vor uns den erleuchteten Altar mit dem Erzengel darüber, den singenden und kniebeugenden Priester mit seinem Knaben, und wir überblickten sodann die Treppe dieser Grotte, welche mit Andächtigen bedeckt war, über deren dunkle Massen bis tief in die Kirche hinunter breite Kerzenschimmer niederglitten.

Die Vorstellung, daß dieser Kultus eines erdichteten Wesens oder einer Puppe schon dreizehn Jahrhunderte lang in derselben Höhle gefeiert wird, und mehr noch, daß sich sein semitischer Ursprung über die Entstehung des Christentums hinaus in ferne Jahrtausende verliert, machte einen großen Eindruck auf mich. Dieser Erzengel ist durch eine Reihe von kosmographischen Mythen hindurchgewandert, ehe er seine heutige Gestalt erhielt. Sie selbst hat eine Geschichte, die unbekannt ist. Vielleicht schon im sechsten Jahrhundert stand die Figur Sankt Michaels auf diesem Altar. In der byzantinischen Bilderverfolgung wird man sie zertrümmert, dann aber im achten Jahrhundert von neuem aufgerichtet haben. Wie sie heute gesehen wird, ist sie ein Werk der Spätrenaissance. Die marmorne Figur hat etwa drei Fuß Höhe; sie stellt den Erzengel dar im Panzerrock, eine hohe Krone auf dem von Locken umwallten Haupt, die breiten Flügel ausgespannt, in der Linken den Schild; über dem Panzer ein Gewand, welches hinterwärts niederfällt.

Trotz der martialischen Ausrüstung macht Sankt Michael doch den Eindruck des Kindlichen wie alle andern Engel auch. Der ganze Kultus trägt denselben Charakter puppenhafter Kindlichkeit. Diese Mysterien in der Grotte des Garganus haben nichts Schreckendes und Schauerliches; sie sind nur ein phantastisches Märchen, wie jenes vom Arthurschloß, vom Dornröschen, vom Venusberg und vom Kyffhäuser, aber zur religiösen Idealität erhoben. Die Gläubigen, welche hier beteten, schienen auch in keiner Weise durch düstere Vorstellungen aufgeregt; nur ein einziges altes Weib, welches neben uns stand, machte Zeichen der Verzückung, indem sie sich dröhnende Schläge gegen die Brust versetzte, während eine junge Frau in ihrer Nähe volle Ursache hatte, sich schonender zu behandeln.

Ich glaube, daß alle diese Pilger sich unter dem geflügelten Erzengel nichts anderes vorstellen als ein freundliches himmlisches Wesen, einen Retter und Beschirmer, überhaupt einen Schutzgeist. Er steht am Throne Gottes, und seine Wohnung ist das Licht. Was ist die finstere Grotte hier? Sie ist, nach dem kindlichen Glauben des Pilgers, das Symbol der Erde oder der Menschenwelt, darein ein Himmelsstrahl gefallen ist. Aber nicht in der schauerlichen Nacht der Katakomben, sondern in ätherischen Regionen sucht der Gedanke des Wallfahrers den Genius selbst mitten in dieser Höhle, und nur ein erfreuendes Bild von Schönheit und Anmut tritt ihm entgegen, welchem keine Vorstellung des Häßlichen, der Marterqual und des Todes beigemischt ist.

Die Engel oder Genien sind die einzigen leidlosen Gestalten, welche die christliche Mythe erschaffen oder vielmehr aus den alten Religionen Asiens aufgenommen hat. Sie sind die graziösesten Dichtungen der asiatischen Kosmogonie; und welcher Glaube wäre anmutiger als der an Schutzengel, welche die Pfade des irrenden Menschen umschweben? So verliert auch die Gestalt Michaels nicht diesen Charakter, obwohl ihm sein Kampf mit den rebellischen Titanen des Himmels die Züge des Herkules verleiht. Sein Tempeldienst ist frei von jener abstoßenden Materialität des Reliquienwesens und der Fetischzauberei, welche sonst vom Heiligenkultus unzertrennlich bleibt. Es ist immerhin ein Dienst des guten Genius und des Lichts, menschlicher und sicherlich idealer als der vor den Altären vieler Märtyrer der Kirche: Pythagoras und Sokrates, die Dichter Milton und Klopstock würden ihn anerkannt haben.

Der Anblick dieses Genius kann die Pilger hier nur zu milden Empfindungen stimmen, welche, nicht an bestimmte Dogmen noch an Vorgänge in der Kirche geknüpft, in allgemeine Begriffe sich auflösen. Denn diejenigen Vorstellungen, welche sich das Rittertum im Mittelalter von Sinkt Michael machte, als von dem himmlischen Kavalier und Streiter im Kampfe mit den Ungläubigen und andern Feinden der Kirche, sind erloschen. Nur die tendenziöse Propaganda hat aus diesem Erzengel wieder in Frankreich den Marschall der Revanche gemacht für die ungeheure Niederlage dieses Landes und des Papsttums im Jahre 1870. So soll er die Deutschen aus dem von Bazaine verratenen Metz und aus Straßburg, und den neuen Heliodor aus dem geschändeten Quirinal vertreiben – eine schwere Aufgabe für den guten Erzengel von Avranches, da auch er wohl in der Kriegswissenschaft hinter den Forderungen der Zeit ein wenig zurückgeblieben sein wird. Und wer weiß, ob er diese ihm zugedachte Aufgabe überhaupt als eine im Dienst des Prinzips des Lichts stehende Mission anerkennen würde? Mit feiner Ironie hat der geniale Kaulbach den deutschen Michel gerade im Bilde dieses Erzengels dargestellt, welcher, das Haupt mit dem preußischen Helm bedeckt, die Mächte der Finsternis des Jahres 1870 als ein siegreicher Reformator niederschlägt.

Dies ist mit Gewißheit anzunehmen, daß der italienische Erzengel auf dem Garganus niemals sein kindliches Schwert gegen Viktor Emanuel ziehen wird. Er ist nicht fanatisierbar für die Zwecke der Legitimität und der jesuitischen Propaganda. Don Carlos und Heinrich V. haben wenig von ihm zu hoffen. Zur Rettung des «Dominium temporale» hat er seinen Degen nicht aus der Scheide gezogen, als die Italiener in seine Engelsburg einrückten. Keine Nation war und ist in religiösen Dingen leichter aufzuregen als die französische; ihre vielen und schrecklichen Religionskriege beweisen es, die Albigenserkriege, die Hugenottenkriege, die Bartholomäusnacht, die Dragonaden usw. – und keine andere ist dies so wenig wie die italienische. Prozessionen, wie solche heute Frankreich durchziehen, würde keine priesterliche Macht, nicht einmal das ausdrückliche Gebot des Papstes, in Italien zustande bringen, und sollte sie der Heilige Vater in Person nach dem Garganus, nach Loreto oder nach S. Niccolo in Bari führen wollen.

Als ich das weltberühmte Heiligtum zu Bari sah, den besuchtesten Wallfahrtsort in Süditalien, und dort die Sakristei betrat, erblickte ich hier die Bildnisse Pius' IX. und Viktor Emanuels in voller Eintracht einander gegenüber aufgestellt. Der König beider Sizilien ist nämlich nach altem Herkommen Canonicus in Bari, und so ging diese kirchliche Würde ohne weiteres auf den Usurpator Roms über. Die Priesterschaft in Süditalien hat sich zu allen Zeiten mit vollendeten politischen Tatsachen abzufinden gewußt. Es ist ihr niemals auf die Dynastien des Landes viel angekommen, wohl aber darauf, daß man sie selbst gewähren ließ und ihren Tempeldienst nicht antastete. Die Geistlichkeit beherrscht das Volk nach wie vor fast unumschränkt, denn die Veränderung, die hier vor sich ging, ist nur eine politische, nicht eine moralische. Ein uraltes Wesen ererbter Gewohnheiten dauert mit einem tausendjährigen Aberglauben unerschüttert fort, und die Zeit, wo der Kultus alter italienischer Heiligtümer erloschen sein wird, ist gar nicht abzusehen. Die einzige Veränderung, welche die Mysterien auf dem Garganus erfahren haben, besteht in der geminderten Zahl der Opferspenden und im Verschwinden von Kaisern und großen Fürsten aus der Liste der Pilger. Aber auch das dürfte nur unwesentlich sein, denn es ist keineswegs unmöglich, daß eines Tages wieder ein Papst oder irgendein strengkatholischer König als Wallfahrer auf dem Garganus sichtbar wird.

Die Messe war beendigt, und die Grotte leerte sich. Wir sahen diese nun mit Muße. Ein Wasserbecken steht in der Nähe des Altars, woraus die Pilger von der heiligen Quelle zu schöpfen pflegen. Daneben ist eine altertümliche Figur des Erzengels aufgestellt. Auch zeigt man hier die von ihm in einem Stein aufgedrückte Fußspur, seine einzige Reliquie. Sind aber Engel so schwerfüßig und schwerwandelnd, daß sie solche Spur zurücklassen können? Wir sahen auch eine alte Kathedra von Marmor mit einem Abbilde Sankt Michaels und eine altertümliche Figur des Sankt Jakob, dessen weltberühmtes Heiligtum zu Compostella mit dem des Garganus wetteiferte. Der Fußboden der Grotte selbst ist nicht der natürliche Stein, sondern mit weißem und rotem Marmor gepflastert.

Als wir aus der Höhle wieder an das Tageslicht traten, hatte sich der Sturm gelegt, und wir durchwanderten die Stadt Sant' Angelo. Sie entstand ursprünglich aus Pilgerhospitälern, deren es hier noch heute einige gibt. Schon im 11. Jahrhundert war sie ein ansehnlicher befestigter Ort und bildete mitsamt dem Garganuslande ein königliches Lehen, von welchem große Herren den Titel führten. Die darauf ruhenden Rechte wurden «l'onore di Monte Sant Angelo» genannt. Friedrich II. hatte testamentarisch seinen geliebten Sohn Manfred damit ausgestattet.

Die Stadt zählt heute mehr als 10 000 Einwohner. Ihre weiß übertünchten Häuser, fast durchweg mit kleinen Figuren des Erzengels in Nischen geschmückt, sind vom bizarrsten Baustil, meist einstöckig, mit Freitreppen von Stein, die durch gewölbte Pforten auf eine Terrasse führen. Die Fassade besteht in der Regel aus einem Quadrat, worin die Tür zugleich Fenster ist. Das Innere dieser Häuser starrt von Unsauberkeit. Wir sahen keins von einiger Schönheit, und doch soll es viele reiche Leute in Sant' Angelo geben. Man sagte uns, daß sie Haufen von Gold und Silber in der Erde vergraben halten und das ärmlichste Leben führen, während ihre Söhne in Neapel studieren.

Wo die Stadt gegen das Innere des Gebirges ihr Ende nimmt, blickt man in die großartigsten Wildnisse des Garganus hinein. Schwarze Pinien- und Eichenwälder ziehen sich dort in tiefe Felsenschluchten nieder; aber fast überall sieht man Terrassen angelegt, die Oliven und Reben tragen. Tiefer unten gibt es auch Saatfelder und Gärten, denn an Bergwassern mangelt es nicht.

In den Jahren 1860 bis 1869 wimmelte dieses Gebirge von Briganten, gleich den Abruzzen; heute ist es von dieser Plage gesäubert. Die Regierung sorgt dafür, alle Orte im Garganus durch Straßen und Telegraphen miteinander zu verbinden, was das sicherste Mittel ist, dieser vereinsamten Gebirgswelt eine höhere Kultur zu geben.

Wir blickten mit Verlangen in das Innere der unbekannten Berge und Täler: es müßte eine Lust sein, sie zu durchreiten. Aber mit noch größerer Begierde betrachtete ich die wilden Felsenmassen, welche sich ostwärts zum Meere senken. Dort weiter abwärts liegt das weltverlorene Viesti, dessen Einsamkeit bezaubernd sein muß. Indes diesen Hafen zu sehen, wurde uns nicht zuteil. Wir kehrten vielmehr von Sant' Angelo nach Manfredonia zurück, froh, unsere Pilgerfahrt zum Erzengel auf dem Garganus glücklich vollbracht zu haben.


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