Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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Siebentes Kapitel

1. Die Barbarei des X. Jahrhunderts. Aberglauben. Unbildung des römischen Klerus. Invektive der gallischen Bischöfe. Merkwürdige Entgegnung. Verfall der Klöster und Schulen in Rom. Die Grammatik. Spuren von theatralischen Aufführungen. Die Vulgärsprache. Völliger Mangel literarischer Talente in Rom.

Das letzte Kapitel dieses Buchs widmen wir der geistigen Kultur im X. Jahrhundert, und wir werden es mit einem Blick auf die Gestalt der Stadt schließen. Kaum zu einer anderen Zeit konnte die Barbarei in Rom gleich groß sein; da ihre Ursachen klar sind, dürfen wir über ihre Wirkungen nicht erstaunen. Im Zeitalter der Borgia und Medici verschleierte eine äußerliche klassische Bildung die sittliche Verderbnis; die Laster der Kirche wurden mit raffaelischen Teppichen zugedeckt, aber dem X. Jahrhundert war jeder schöne Schein fremd. Das Porträt Johanns XII. würde von dem seines spätern Nachfolgers Alexanders VI. so grundverschieden sein, wie es das X. Jahrhundert von dem XV. gewesen ist. In der Epoche Karls wurde das nach dem Wiederbesitz der antiken Bildung ringende Abendland von einem Schimmer der Wissenschaft und Kunst erhellt; man dichtete, malte und baute, man studierte und schrieb emsig alte Werke ab. Als das karolingische Reich zerfiel, die Sarazenen, Normannen und Ungarn in die Länder einbrachen, das Papsttum sich in eine römische Baronie verwandelte, machte die abendländische Welt einen Rückschritt in die Barbarei.

Die Unbildung des Klerus, welche in ganz Italien bemerklich war, mußte am meisten an der römischen Geistlichkeit auffallen. Zu Reims erklärten die Bischöfe Galliens: »In Rom gibt es gegenwärtig fast niemand, der die Wissenschaften gelernt hat, ohne welche doch, wie geschrieben steht, kaum jemand zum Pförtner befähigt sein soll. Nun mag im Vergleich zum römischen Bischof Unwissenheit bei anderen Priestern einigermaßen erträglich sein, aber beim Bischofe Roms kann sie nicht geduldet werden, da er über Glauben, Lebenswandel und Disziplin der Geistlichkeit, und kurz über die allgemeine katholische Kirche zu richten hat.« Das Papsttum verteidigte sich gegen diese Angriffe durch den apostolischen Legaten Leo, den Abt von St. Bonifaz, wörtlich folgendermaßen: »Die Stellvertreter Petri und seine Schüler wollen zu ihren Magistern weder Plato noch Virgil, noch Terenz, noch das übrige Philosophenvieh haben, welches sich im stolzen Fluge wie die Vögel in die Luft erhebt, wie die Fische des Meers in die Tiefe taucht und wie die Schafe Schritt vor Schritt die Erde abgrast. Und deshalb sagt ihr, diejenigen, welche mit solchen Poesien nicht gemästet sind, dürften nicht einmal den Rang eines Pförtners bekleiden? Ich sage euch aber, diese Behauptung ist eine Lüge. Denn Petrus wußte von dergleichen nichts, und doch wurde er zum Pförtner des Himmels bestellt, weil der Herr selbst zu ihm sprach: ›Ich werde dir die Schlüssel des Himmlischen Reiches geben.‹ Daher sind seine Stellvertreter und Schüler in den apostolischen und evangelischen Lehren unterrichtet; sie schmücken sich aber nicht mit dem Prunk der Rede, sondern mit dem Sinn und Verstande des Worts. Es steht geschrieben: ›Die Einfältigen der Welt erwählet Gott, um die Mächtigen zu beschämen.‹ Und vom Weltbeginn an hat Gott nicht die Philosophen und Redner, sondern die Illiteraten und Ungebildeten erwählt.« Dies war das dreiste Selbstbekenntnis der päpstlichen Kurie im X. Jahrhundert; offen gestand die römische Kirche ihre Unwissenheit in den humanen Wissenschaften, ja ihre Verachtung der Philosophie; sie verleugnete St. Paul, den gelehrten Doktor der Welt, aber sie zeigte, daß der ungelehrte Fischer Petrus die Schlüssel besitze, und die gebildeten Bischöfe Galliens und Deutschlands legten am Ende ihre Waffen vor dem Felsen Petri nieder.

Mit den Klöstern, in denen eine Zeitlang die Benediktiner die Wissenschaft gepflegt hatten, verfielen auch die Schulen. Selbst jene Sängerschule am Lateran, welche seit Gregor dem Großen als die geistliche Universität der Stadt betrachtet werden konnte, mußte tief herabgekommen sein, obwohl sie fortbestand. Die Bibliotheken vermoderten, die Mönche hatten sich zerstreut oder arbeiteten nicht mehr; gab es unter ihnen Literaten, so erschwerte das Fehlen des Papiers das Kopieren. Seitdem Ägypten, das alte Vaterland des Papyrus, in die Gewalt der Araber gefallen war, wurde jener Mangel des Schreibstoffes in ganz Italien fühlbar; Muratori leitet davon zum Teil die geistige Barbarei des X. Jahrhunderts ab. Die Herstellung von Codices wurde unerschwinglich teuer; man benutzte daher in ganz Italien Handschriften von Pergament, aus denen man die ursprüngliche Schrift austilgte, um sie von neuem zu beschreiben, und diesen Palimpsesten haben wir häufiger den Verlust als den Wiederbeginn manchen alten Autors zu verdanken. Der unwissende Mönch vertilgte die Bücher des Livius, Cicero oder Aristoteles und schrieb nun auf den Blättern, von denen die Weisheit des Altertums ausgelöscht war, Antiphonarien oder Heiligengeschichten auf. So verwandelten sich auch die Codices der Alten wie ihre Tempel; die Göttin, welche ein prachtvolles Säulenhaus bewohnt hatte, machte, nachdem das Heidentum in ihm ausgelöscht worden war, einem Märtyrer Platz, und die göttlichen Ideen des Platon mußten vom Pergament herunter, um einem Meßkanon Raum zu geben. In Rom jedoch hören wir nichts von Bibliotheken oder von Kopisten zu jener Zeit, wo man in Deutschland und Frankreich mit unsäglicher Mühe Bücher sammelte.

Die Geistlichkeit beschränkte ihr Wissen auf das Verständnis des Symbolum, des Evangelium und der Episteln, wenn sie diese überhaupt zu lesen und zu erklären verstand. Mathematik, Astronomie und Physik gaben kein Lebenszeichen von sich. Die klassische Bildung war zum dürftigen Begriff der »Grammatik« zusammengeschrumpft. Ein Zeitalter, dessen Schriften nichts sind als eine fortgesetzte Mißhandlung der Grammatik und dessen Vulgärsprache aus der Auflösung der Gesetze der lateinischen Sprache entstand, bedurfte freilich jener Wissenschaft in hohem Grade. Sie wurde selbst damals noch in Rom gelehrt, denn wir begegnen bisweilen dem Titel »Grammaticus«, welchen Leo VIII. getragen hatte. Die Unsicherheit aller Zustände, Faktionskriege und Umwälzungen ließen keine literarischen Anstalten gedeihen, wenn man überhaupt an ihre Pflege dachte. Dagegen ist die Fortdauer einer römischen Rechtsschule nicht zu bezweifeln, zumal in jener Periode, wo die lex Romana neuen Glanz erhielt und der römische Richter unter feierlichem Zeremoniell das Rechtsbuch Justinians empfing, um Rom, Trastevere und den Erdkreis danach zu richten. Freilich beschreibt die Graphia diese und andere Förmlichkeiten des ottonischen Hofes mit Genauigkeit; sie redet von vielerlei Hofbeamten, aber sie nennt weder Doktoren des Rechts, noch Scholasten und Grammatiker. Als eines Prunks, der bei Hof nicht fehlen dürfe, erwähnt sie des Theaters.

Die theatralische Luft, einst so vorherrschend in Rom, begann im karolingischen Zeitalter durch die christlichen Feste aufzuleben. Die von der Kirche als Werke des Teufels verdammten szenischen Spiele hatten sich in allen Ländern erhalten. Terenz war überall bekannt, wo das klassische Altertum gepflegt wurde, und Hrotsvith von Gandersheim schrieb ihre lateinischen Dramen oder Moralitäten ausdrücklich, um den heidnischen Terenz aus den Händen der Nonnen zu verbannen. Noch heute bewahrt die Vaticana einen Codex des Terenz, der dem IX. Säkulum angehört; seine dem klassischen Stil nachgeahmten Miniaturen stellen Szenen aus den Komödien des Dichters dar; aber sein Verfasser Hrodgarius deutet auf das Frankenland, wo jenes Werk entstanden sein mochte. Es ist eine Tatsache, daß im X. Jahrhundert in Norditalien Schauspiele aufgeführt wurden. Die Schauspieler hießen damals, wo so viele griechische Ausdrücke in Gebrauch kamen, Thymelici, so daß die Thymele der Bühne des Sophokles zu einer Zeit, als man die Tragiker selbst nicht mehr kannte, ihren Namen den Komödianten lieh. Atto von Vercelli beschwerte sich über die Teilnahme der Geistlichen an theatralischen Szenen; er ermahnte sie, sich vom Tische zu erheben, sobald die Thymelici eintraten; er lehrt also, daß wie bei alten Gastmählern noch immer Mimen die Gäste unterhielten, daß man bei Hochzeiten Schauspiele aufführte, daß es überhaupt solche gab und sie zumal in der Osteroktave gegeben wurden. Die Passionsstücke und andere biblische Vorstellungen wurden schon im IX. Jahrhundert in allen Ländern während der Osterwoche gespielt, aber außerdem gab es auch profane Schauspiele bei festlichen Gelegenheiten. Wenn sie nun in Oberitalien nachgewiesen werden können, werden sie auch in Rom nicht gefehlt haben. Wir zweifeln freilich, daß Komödien des Terenz und Plautus dort rezitiert wurden, und die Nähe der Heiligen würde ihre Aufführung selbst als höfischen Luxus im Palast Ottos III. vielleicht verhindert haben. Von Spielen im Amphitheater oder von Tierjagden hören wir nichts; der Gladiatoren und Venatoren erinnerte man sich nur als Antiquität, aber ohne Frage gab es Mimen, Sänger, Tänzer und Schauspieler. Es läßt sich denken, daß sie nicht allein in Kirchen und Palästen auftraten, sondern sich bisweilen noch im Colosseum oder in einer Theaterruine produzierten, wie sie es heute in der Arena zu Verona oder im Mausoleum des Augustus zu Rom tun. Die Graphia hat dem theatralischen Vergnügen zwei Paragraphen gewidmet, die einzigen Bemerkungen über das Schauspiel in Rom seit Cassiodor, Poeten, Komöden, Tragöden, Szene und Orchestra, Histrionen, Saltatoren und Gladiatoren werden genannt, und der damals wirklich gebrauchte Ausdruck »Thymelici« zeigt, daß wenigstens einiges, was die Graphia berichtet, mehr als antiquarische Erinnerung war. Wir werden nicht zu Kühnes behaupten, wenn wir sagen, daß an den Höfen Hugos, Marozias und Alberichs mythologische Szenen vorgestellt wurden, und wenn Johann XII. in humoristischer Laune der Venus und dem Apollo Heil zutrank, so mochte seine Phantasie erhitzt worden sein, nachdem er bei einem Freudenfest im Lateran Schauspieler diese heidnischen Figuren hatte darstellen sehen.

Die Römer blieben, was die klassische Literatur betrifft, immer in dem Vorteil, daß sie ihr antikes Eigentum war und ihre eigene Vulgärsprache ihnen das Verständnis erleichterte. Wenn die Kenntnis der Alten in Frankreich, zumal in Deutschland, der schwer erworbene Gewinn ausschließlicher Gelehrsamkeit blieb, an welcher das Volk keinen Anteil nehmen konnte, so kostete es die Römer des X. Jahrhunderts noch keine zu große Anstrengung, die Sprache der Vorfahren zu verstehen, wenn auch der Sinn schwierig geworden war. Schriften und Urkunden jenes Zeitalters zeigen freilich, daß die Vulgärsprache einen großen Schritt weiter zur Ausbildung des Italienischen gemacht hatte, und zum erstenmal finden wir der lingua volgare selbst als einer wirklichen Sprache neben dem Latein erwähnt. Die Grabschrift Gregors V. rühmt, daß er die Völker in drei Sprachen zu erbauen verstand, im Deutschen, Lateinischen und im Vulgär. Die Vulgärsprache wurde auch von den Gebildeten gesprochen, und Johann XII. scheint sich als ein römischer Optimat nur im Italienischen gut ausgedrückt zu haben. Das Lateinische verschwand aus dem Gebrauch, außer daß es die Sprache des Kultus, der Literatur und Rechtsverhandlung blieb, und die wenigen Schriftsteller dieser Epoche kämpften mühsam gegen das Vulgär, welches ihre Feder beirrte, da es dem Lateinischen so nahe stand. Eben deshalb war den Italienern das Verständnis der alten Schriftsteller leicht. Horaz, Virgil und Statius wurden nicht mehr im Forum des Trajan rezitiert, aber die Grammatiker erklärten sie in ihren, wenn auch kümmerlichen Schulen.

Seit dem Aufleben der Wissenschaften unter den Karolingern war die Kenntnis der alten Dichter eine Bedingung der literarischen Bildung, und ihre auch in Italien gestifteten Schulen unterstützten sie. Am Ende des X. Jahrhunderts machte sogar ein sonderbarer Fall in Ravenna großes Aufsehen, welcher bewies, wie eifrig einzelne diese Wissenschaft betrieben. Der Scholasticus Vilgard hatte sich so sehr in Virgil, Horaz und Juvenal verliebt, daß ihm diese Dichter im Traum erschienen und ihm die Unsterblichkeit versprachen; er bekannte daher öffentlich, daß ihre Lehren die Kraft von Glaubensartikeln besäßen, weshalb er als Heide vor das geistliche Tribunal zitiert wurde. In Deutschland war man in solche elegante Studien sehr vertieft. Otto I. sprach zwar kaum Lateinisch, aber sein Sohn und Enkel waren Kenner der alten Literatur; sein Bruder, der Erzbischof Bruno, ein sächsischer Mäzen, erneuerte sogar die Palastschule Karls und sammelte selbst griechische Grammatiker um sich her. Unter den Frauen Roms erscheint uns nur eine, Imiza, als gebildete Matrone, weil wir einige Schreiben Gerberts an sie finden; die vornehmsten Frauen jedoch waren literae nesciae, schreibensunkundig, während in Deutschland Hedwig von Schwaben mit dem Mönch Ekkehard den Virgil und Horaz las. Junge Mädchen von Adel wurden in den Nonnenschulen zu Gandersheim und Quedlinburg durch die ihnen unverständlichen Klassiker gequält, und während die Geschichte und Geographie ihres Vaterlandes ihnen unbekannt blieb, waren sie aus dem Virgil mit den fabelhaftesten Gegenden Italiens vertraut. Die deutsche Nonne Hrotsvith schrieb lateinische Epen und Dramen, und Adelheid wie Theophano konnten sich in klassischer Bildung mit der langobardischen Fürstin Adelberga vergleichen. So zog Rom aus der Heimatlichkeit der klassischen Sprache keinen Gewinn, sondern die römische Gesellschaft blieb hinter der Bildung Deutschlands und Frankreichs zurück. Während Otto III. das Reich des Philosophen Marc Aurel herzustellen sich vornahm, glaubten die Römer, daß die Reiterstatue dieses Kaisers einen Bauern vorstelle, der einst einen König bei seiner Notdurft überrascht und gefangen habe. Jedoch Fabeln mögen immer das Vorrecht des unwissenden Volkes sein; aber eine rechtmäßige Anklage gegen die Unkultur Roms hat die Literaturgeschichte zu erheben, indem sie nachweist, daß während des ganzen X. Jahrhunderts unter den Römern kein literarisches Talent gesehen ward.

In der Lombardei glänzten Fremdlinge wie Ratherius von Verona, ein umherschweifender Lütticher, der seine Bildung der Klosterschule von Laubes verdankte, oder Langobarden wie Atto von Vercelli, wie der Panegyrist Berengars und wie Liutprand von Cremona. Sie alle zeigen eine pedantische Schulgelehrsamkeit, und ihre Prosa wie Poesie ist mit Fragmenten aus den Klassikern geschmückt, die sich darin völlig so ausnehmen wie die Reste von antiken Friesen und Säulen, welche man in Kirchen und Paläste des Mittelalters einfügte. Denselben Charakter entdeckten wir schon in Johann Diaconus, dem Lebensbeschreiber Gregors, und finden wir auch in einigen römischen Schriftstellern des X. Jahrhunderts. Das gleiche Wesen ist bei Otto III. sichtbar, welcher Fragmente des Römerreichs, Titel, Gewänder, Ideen in seinen mittelalterlichen Staat begierig aufnahm, wo sie als völlig klassische Flickwerke erscheinen. Das Gewand, welches jene Zeit trug, war ein roher Stoff, den einige antike Borten und Figuren verzierten. Die Sucht, ein barbarisches Zeitalter mit solchen Erinnerungen zu adeln, war allgemein. Seit Karl zitierte man mit Leidenschaft Phrasen aus Virgil oder Statius, und die Kunst, Verse zu machen, war zur Zeit des Lobredners Berengars so gewöhnlich, daß er im Eingange seines Poems sich entschuldigt, es zu schreiben, da doch niemand jetzt nach Gedichten frage, denn selbst auf dem Lande mache man Verse, so gut wie in den Städten. In Rom indes wurden nur Leichensteine, Kirchentüren oder Tribunen nach wie vor mit Distichen bedeckt; wir fanden darunter entsetzlich barbarische und wenige erträgliche, wie namentlich die Grabschriften sind, die sich auf die Crescentier beziehen. Das Bestreben nach blumenreicher Fülle ist darin überall sichtbar, und der Gedankengehalt schwer und mystisch dunkel wie die Zeit. Die Verfasser solcher Verse waren damals wahrscheinlich eher Laien oder Grammatiker als Geistliche.


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