Jeremias Gotthelf
Hans Joggeli der Erbvetter
Jeremias Gotthelf

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Bäbelis Kammer lag gegen die Sonne, der erste Sonnenstrahl, wenn die Sonne nicht hoch am Himmel ging, spiegelte sich an den dunkeln Wänden, und in einigen Tagen des Jahres küßte er das rosige Mädchen wach. Dann fuhr das Mädchen züchtig auf, faltete die Hände, dankte Gott für die gute Nacht, bat um Segen für den Tag, machte rasch und wohlgemut sich ans Tagewerk. An selbem Tage küßte es auch die Sonne wach, aber schwer hob es sein Haupt, langsam ermunterte es sich. Wahrscheinlich hatte das arme Kind wenig geschlafen und schwer geträumt. Als es zum Bewußtsein kam, wo es sei, und was für ein Tag es sei, da legte es sein Haupt wieder nieder und weinte bitterlich, weinte, bis eine andere Magd kam und es ans Tagewerk rief. Aber schwer bewältigte es das unaussprechliche Weh, das keinem bestimmten Grunde entfloß, sondern aus dem weiten Borne der Liebe quoll, aus welchem weder Gründe noch Rechnungen fließen, bloß reine Gefühle quellen. Endlich faßte es sich, faßte die Zügel der Haushaltung, aber mit schweren Gliedern, daß es ihm oft war, als müsse es in die Erde sinken, lange bevor es dem Seligen zu Grabe läute, und unaufhaltsam flossen ihm die Augen über. Den andern Hausgenossen ging es ähnlich, obgleich die meisten aus gröberm Stoffe gebaut waren.

Früh schon kam der alte Testamentsvollstrecker, er wußte wohl, daß junge Leute an solchen Tagen die Besonnenheit nicht zu wahren vermögen. Bloß den Alten, im Leben Erkühlten ist es gegeben, beisammenzuhalten ein Herz voll Schmerz, einen Kopf voll klaren Willens. Er tröstete vor allem, indem er meinte, sie würden sich gewöhnen müssen im Leben, daß alte Menschen sterben; das sei eine geordnete Sache, an welcher sich nichts ändern ließe. Sie sollten nur sorgen dafür, daß sie nie weinen müßten aus bösem Gewissen. Das Weh welches aus der Liebe kommt, das sei eine Traurigkeit aus Gott, welche sich in Freude verkläre; das Weh aus bösem Gewissen sei der Wurm, welcher nicht ersterbe, sondern immer glühender quäle. Soviel er wisse, könnten sie ein ruhiges Gewissen haben, der Selige sei zufrieden mit ihnen gewesen, und soviel er gesehen, hätten sie ihm getreulich abgewartet und ihm Frieden gelassen in den letzten Tagen. Darum sollten sie jetzt sich fassen und ordentlich schaffen, es liege heute ihnen viel ob. »Ja, und am Abend können wir den Bündel machen und wandern, wenn uns nicht der Landjäger nimmt und ins Gefängnis führt«, rief die jüngere Magd.

»Dafür habe nicht Kummer!« sagte der Alte, »das ist dummes Gerede. Was der Freund gemacht, steht versiegelt im Testament, aber das kann ich sagen: daß Unrecht euch niemand antun soll, dafür bin ich da; und wenn jemand ungerecht fortgejagt werden sollte, so findet er bei mir Arbeit und Essen, bis er zufrieden ist und was Besseres weiß.« Eines aber möchte er, fuhr er fort. Es wären unter ihnen die meisten, welche entweder als verwandt oder als Paten das Recht hätten, den Seligen zu Grabe zu geleiten. Wer wolle, der könne. Aber jemand müsse doch daheim bleiben, das Haus könne man nicht unbewacht lassen, man wisse, wie es heutzutage gehe. Da wäre ihm am liebsten, es hätte es eins wie das andere, und alle blieben beisammen daheim. Sie selbst seien so am ruhigsten, und zu kurz sollten sie nicht kommen. Bäbeli solle Fleisch kochen vom besten, welches vorrätig sei, und ungescheut Wein im Keller nehmen, soviel sie möchten. Jetzt aber sollten sie emsig sein, aufräumen, bereitmachen, daß man den entfernten Verwandten mit Kaffee, Wein und Käse aufwarten könne. Es würden zwar die meisten sagen, sie möchten nicht, ihretwegen solle man nicht Mühe haben, indessen würden sie doch nehmen, was da sei. Anfangs hielt es Bäbeli hart, mit dem Paten nicht zu Grabe gehen zu sollen. Soll man von einem Geliebten scheiden, so geleitet man ihn doch gerne so weit, als man kann, sieht ihm dann noch nach so lange als möglich; darum auch geleitet man die Geliebten zu Grabe, sieht ihnen nach ins Grab, bis die schwarze Erde sich häuft im Grabe, sie und die letzte Hülle birgt. Doch es schickte sich darein, und allgemach schien es ihm wirklich besser so, wie der Alte meinte. Daheim konnte es alleine sein, war aus dem Bereich aller feindseligen Blicke, lief nicht Gefahr, hören zu müssen: »Du, das dort, welches so nötlich tut, ist das Mensch, welches zuletzt bei ihm gewesen ist und so vaterländisch gestohlen hat. Es ist schade, daß man heutzutage die Diebe nicht mehr hängt, diese möchte ich baumeln sehen.«

Man hatte zur Vorbereitung keine Zeit zu verlieren. Bei guter Zeit kamen die, welche am nächsten verwandt sich glaubten, daher, zu Fuß und zu Wagen, ließen den Imbiß sich nach einigem Nötigen gefallen, wobei jedoch selten eins ein eigen Lächeln verbergen konnte, welches sagen wollte: »Ja, nötigt nur, derweilen es noch geht; wer sich jetzt nötigen läßt, der ist vielleicht bald der, welcher befiehlt.« Es war eine seltsame Anwendung des Wortes: Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöhet werden. Darauf ward so in aller Stille durchs Haus gestrichen, die einen zählten die Speckseiten, ob sie noch alle da seien; andere erbauten sich an den schönen Pferden, übersahen hinterm Hause die schönen Wiesen, überschlugen im stillen, was der Hof wohl gelten möchte, oder musterten drinnen das schöne Geschirr in den stattlichen Glasschränken, schlichen in die Scheune oder in die Kammern und alles so wie unbewußt, daß es ja niemand merken sollte.

Als die Base mit der spitzen Nase auch ins innere Stübchen brach, saß ihr eine große, schwarze Katze, der Liebling des Kirchmeiers, im Wege. Mit dem Fuße stieß sie dieselbe auf die Seite und sagte: »Willst aus dem Wege oder nicht, du Unflat! Warte nur, dir läutet es auch bald Feierabend!« Es war schon vorher etwas Unheimliches in der Katze, so hatte sie nie miaut, wie seit der Alte tot war, und gefressen wenig; es war, als ob etwas Tieferes, Geheimnisvolleres in ihr sich rege, als im Tiere der Mensch wahrnimmt. Jener Stoß schien eine Flamme anzublasen, die Katze erhob sich, sträubte das Haar, hob hoch den Schwanz, feurig glühten die Augen; des Angriffs gewärtig und trotzige Töne ausstoßend, schritt sie durchs Haus. Einstweilen stieß sie niemand mehr mit dem Fuße, jedermann ging ihr aus dem Wege.

Nach und nach fanden die andern Geladenen sich ein, die Männer mit Säcklein in den Händen, in welchen die Leichenmäntel waren, standen in Truppen zusammen, die Weiber standen um den Garten herum, banden sich die Haarflechten auf, redeten halblaut allerlei. Endlich kam der Schulmeister, rief zum Gebet im Hause die Vereinzelten zusammen, was langsam ging, als ob jeder fürchtete, der erste zu sein. Gar wehlich schrie die Katze in das Gebet hinein, manchem ward es dabei unheimlich ums Herz, und es dünkte ihn, wenn doch nur jemand die Katze zum Schweigen brächte, aber niemand tat es. Doch erst, als man den Sarg zuschraubte, ward sie recht zornig, sträubte das Haar hochauf und folgte dem Sarge mit zornigem Geschrei vor das Haus.

Zornig, ungefähr wie die Katze, war Hansli, der spät gekommen, durch das Haus gefahren, es schien ihm, als hätte das Fleisch im Rauchfang abgenommen. Vor dem Hause stießen sie plötzlich aufeinander, der zornige Hansli und die zornige Katze. Diese krümmte sich, schneuzte ihn grimmig an und machte Augen wie glühende Kohlen, daß Hansli erschrak. Er sah in der Katze ein Ungeheuer, ein Wesen aus einer andern Welt, denn so aufgeklärt er schien, so war er insgeheim doch so abergläubisch wie das dümmste Grabenbabi. Drei Schritte fuhr er zurück, schrie, man solle die Katze wegnehmen, sie sei verrückt; um kein Gut der Welt hätte er selbst sie mit einem Finger berührt, bloß von weitem schneuzte er die Katze an, die Katze ihn. Wahrscheinlich hätte die Katze den Angriff gewagt, Hansli Fersengeld gegeben, da kam Bäbeli, welches Erbarmen hatte mit dem armen Tiere, trug es liebkosend in des Vetters Stübchen.

Endlich war er hinausgetragen, der alte Vetter, aus seinem schönen Nidleboden dem dunkeln Grabe zu, welches auf dem fast eine Stunde weit entfernten Kirchhofe der Gemeinde für ihn bereitet war, wo Reiche und Arme sich sammelten im Tode, wie weit sie im Leben entfernt waren. Den Reichen und Armen ist nur ein Trost gegeben und allen der gleiche, daß der, welcher vom Tode auferstanden ist, auch sie auferwecke, harrend der Stimme, die da in die Gräber dringen wird und zum Leben wecken, die da Gutes getan haben. Wohl täte es manchem, wenn er im Leben daran dächte, neben wem er im Tode zu ruhen kommen könnte, und schon im Leben sich brüderlich ihm näherte, damit er nicht einst vielleicht hören muß: »Sieh, der neben dir begegnete dir im Leben in meinem Namen, du aber nahmest ihn nicht auf.«

Das Leichengeleite des Kirchmeiers zeugte davon, daß er dessen nicht vergessen, und wenn neben ihn der Ärmste gebettet ward ins Grab, so mußte der das Zeugnis geben, daß der reiche Bauer im Nidleboden ihm ein Bruder gewesen im Leben.

Nach Landsitte ward auf einem einspännigen Wägelchen der Sarg gefahren, demselben folgte ein langer Zug verschiedener Gestalten männlichen und weiblichen Geschlechtes. Den weiten Weg entlang blieben bloß die Geschlechter so ziemlich gesondert, nicht aber die reiche Verwandtschaft und die armen Gäste, zusammen fast zweihundert an der Zahl. Man sah alte Männchen in groben, rötlichen Mänteln und mangelhaften Kleidern wanken zwischen stattlichen Gestalten mit Stiefeln an den Beinen und Uhrenketten über die seidenen Westen, sah zwischen schön schwarz gekleideten, üppig genährten, mit dem weißen Hemde auf der breiten Brust weithin funkelnden Bäurinnen alte Mütterchen zitternd gehen, deren ärmliche Kleidung, welche die magern Glieder deckte, ein kärglich, trüb Dasein verkündete.

Größer jedoch noch als in den Gliedern und Kleidern war die Verschiedenheit auf den Gesichtern. Die stattlichen Männer, die dicken Weiber sahen hellauf, plauderten, wenn auch nicht lachend, doch munter durcheinander, schritten rasch dem voranfahrenden Wägelchen nach und wären noch rascher geschritten, wenn das alte Leibroß des Seligen rascher vorausgeschritten wäre. Aber es war, als ob es wisse, was es ziehe, als werde es ihm bei jedem Schritte schwerer, seinen guten Herrn und Meister dem Grabe zuzuführen. Man sah deutlich, in den stattlichen Gestalten drängte ein Trieb die Glieder vorwärts, der Befriedigung eines Verlangens entgegen. Hing nicht drüben, wo das Kirchlein stand, in verschlossenem Testamente der Schlüssel zu verschlossenen Kisten und Kasten, zu Geldsäcken und Schriftbehältern? Und wenn im Grabe die Leiche lag, sollte nicht der Schlüssel frei werden und zu freiem Gebrauch in glückliche Hände kommen? Ist es sich zu wundern, wenn bei solcher Aussicht unwillkürlich der Schritt länger wird, rascher der Fuß sich bewegt, in entschiedenen Fortschritt kommt?

Wie aber den Verwandten ein Schlüssel wartete, das verschlossene Haus mit all seinen reichen Behältern ihnen zu öffnen, so hatte sich dagegen den Alten, den Armen eine offene, milde Hand geschlossen für immer, sie sahen sie nimmer wieder, denn eben diese milde Hand geleiteten sie zu Grabe. Wer gab ihnen nun Holz für den Winter, gab ihnen Kartoffeln im Frühjahr, Obst im Herbste, Land zum Pflanzen unentgeltlich, so manchen schönen Batzen das Jahr hindurch, die schönen Neujahrsgeschenke ihren Kindern, die warmen Kleider, die schönen Bücher? Die Hand war tot, welche offen gewesen über sie zu jeder Zeit, das Haus ging ihnen zu, aus welchem sie so oft und so reichen Trost getragen.

Verschließen sehen sollten sie ihren teuren Wohltäter in die dunkle Kammer, wo, den Augen der Lebendigen verborgen, die sterblichen Reste der Toten wieder in die Elemente aufgelöst werden, aus welchen die wunderbare, weise Hand des Allmächtigen sie zusammengefügt. Darum trauerten sie hinter dem Sarge her, seufzten so schwer, darum wässerte so manche Träne die tiefen Furchen in den verwitterten Gesichtern, darum war das Gehen ihnen so mühselig, und immer mehr kürzten sich ihre Schritte, je näher sie der geheimnisvollen Kammer kamen. Es war ihnen, als hätten sie noch immer einen Trost auf Erden, solange der alte Kirchmeier über der Erde sei, als gehe mit ihm unter der einzige Stern, der ihnen freundlich geleuchtet in die Nacht ihrer Pilgerschaft.

Ein doppelt Wesen war der Selige in der Welt gewesen. Ein Vater der Armen mit Rat und Tat. Ein reicher Vater an Geld und Weisheit war er gewesen, aber in aller Stille; es vernahm die Linke das Tun der Rechten nicht. Ein reiches, aber ernstes Wohlmeinen trug er in sich und ließ es zur Tat werden, wo dieselbe, in Liebe und Treue aufgenommen, gute Frucht versprach, hütete sich aber sorgfältig, soweit es Menschen möglich, vor Taten, von denen er glaubte, sie wüchsen als Dornen und Disteln auf. Dem größten Teile der Verwandtschaft dagegen war er als geizig und wunderlich erschienen, sie lachten über den altväterischen, unscheinbaren Alten; sie spotteten über seine scheinbare Beschränktheit und klagten wiederum über seine Eigentümlichkeiten, sein Mißtrauen, seine Veränderlichkeit, daß, wenn man meine, man sei obenauf, so sehe er einen morgen kaum mehr an, denn er glaube allem Geschwätz und jeder Verleumdung, meinten sie. Sie kannten den Alten nicht, wohl aber er sie, das aber ahnten sie in ihrem Hochmute gegenüber dem unscheinbaren Männchen nicht. Er war Herr seiner selbsten, darum auch Meister über andere, hielt die Verwandten zehn Schritte vom Leibe, darum erkannten sie auch sein eigentliches Wesen nicht.

So ging ein doppelt Geleite, eine doppelte Verwandtschaft hinter dem Sarge her, eine Verwandtschaft durch die Liebe, eine durch das Blut. Wehe dem, welchem keine Liebe das Geleite zur dunkeln Kammer gibt, entweder hatte ihm des Vaters Ratschlag ein sehr trüb Los zugeteilt, oder aber er nimmt das Zeugnis mit sich, daß er sein Pfund vergraben, daß er nicht Wurzel gefaßt im Felde, auf welchem die seligen Geister erblühn. Denn wer nirgends Liebe wecket, den hat der beseligende Hauch der Gottheit nicht berührt, nicht beseelt, der gehört ins unselige Reich, wo feindselig die Kräfte sich durcheinanderschlingen, jede nur das Eigene sucht und nichts als das Verderben findet. Möglich aber auch, daß, wie zwei Ströme oft lange unvermischt nebeneinander fließen, der eine trüb, der andere klar, so eine doppelte Verwandtschaft am Grabe steht, eine Verwandtschaft der Liebe, eine des Blutes; daß, wo das Blut verwandt ist, keine Liebe ist und, wo Liebe ist, das Blut ein fremdes ist. Selten wohl wird dieses seltsame Verhältnis dem Toten zum Vorwurf gereichen und schwer über ihm die Erde machen, jedenfalls sind die in Liebe ihn Begleitenden Zeugen, daß er, vom Hauche der Gottheit belebt, Liebe in Herzen zu wecken, ins Reich der seligen Geister seine Wurzeln zu schlagen wußte.


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