Maxim Gorki
Ehemalige Leute und andere Erzählungen
Maxim Gorki

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Ehemalige Leute

Die Wjesshaja – zwei Reihen einstöckiger, alter, elender Häuser mit schiefen Wänden und Fenstern, die sich eng aneinanderlehnen. Die löcherigen Dächer dieser von der Zeit mitgenommenen menschlichen Behausungen sind mit Baumrinde geflickt und mit Moos bewachsen; hier und da werden sie von hohen Stangen mit Starkästen überragt und vom staubigen Grün des Holunders und krüppeliger Weiden beschattet – der armseligen Flora der von der Armut bewohnten Stadtenden.

Die vom Alter trübgrünen Fensterscheiben der Häuser sehen einander wie feige Spitzbuben an. In der Mitte der Straße kriecht eine zwischen tiefen, vom Regen ausgewaschenen Löchern sich windende Radspur zum Berge hinauf. Hier und da liegen mit Steppengras bewachsene Haufen Schutt und Geröll – die Überreste oder Anfänge von Dämmen, welche die Bewohner im Kampfe mit den hier zusammenlaufenden Regenwasserströmen vergeblich errichteten. Auf dem Berge oben verstecken sich hübsche, steinerne Häuser im üppigen Grün der Gärten, Kirchtürme erheben sich stolz in den blauen Himmel, und ihre goldenen Kreuze funkeln blendend im Sonnenschein.

Wenn es regnet, läßt die Stadt ihren Schmutz in jene Straße hinablaufen, ist es trocken, überschüttet sie dieselbe mit Staub, – und alle diese mißgestalteten Häuser scheinen ebenfalls von dort oben heruntergeworfen zu sein, weggekehrt wie Schutt von einer mächtigen Hand.

Platt am Boden klebend, sind sie über den ganzen Berg verstreut, kläglich, halbverfault und von Sonne, Staub und Regen in jenes undefinierbare, schmutzig-graue Kolorit gekleidet, welches das Holz im Alter annimmt. Am Ende dieser erbärmlichen Straße stand, aus der Stadt unten an den Berg hingeworfen, das lange, zweistöckige, verrottete Haus, das der Kaufmann Petunnikow von der Stadt gekauft hatte. Es war das äußerste in der Reihe, da es sich schon am Fuße des Berges befand und sich hinter ihm weit das Feld ausbreitete, das eine halbe Werst vom Hause durch den steilen Abhang des Flusses abgeschnitten wurde.

Das große, sehr alte Haus hatte unter seinen Nachbarn die düsterste Physiognomie. Ganz windschief, war von den zwei Reihen seiner Fenster nicht eins, das eine regelmäßige Form zeigte, und die Glasscherben in den wackeligen Rahmen hatten die grünliche, trübe Farbe des Sumpfwassers.

Die mit Rissen und dunklen Stellen abgefallenen Putzes gesprenkelten Wände zwischen den Fenstern sahen aus, als hätte die Zeit darauf mit diesen Hieroglyphen die Biographie des Hauses geschrieben. Das sich auf die Straße neigende Dach machte sein Aussehen noch kläglicher – es war, als beuge es sich zur Erde und erwarte ergeben vom Schicksal den letzten Schlag, der es in Staub verwandle, in einen formlosen Haufen halbverfaulter Trümmer.

Die Tür war offen – die eine Hälfte lag, aus den Angeln gerissen, auf der Erde, und durch die Ritzen ihrer Bretter wuchs das Gras, das den großen, leeren Hof des Gebäudes dicht bedeckte. Im Hintergrunde des Hofes stand ein niedriger, verräucherter Bau mit eisernem Dach, das nur nach einer Seite abfiel. Das Haus selbst war freilich unbewohnt, aber in diesem Gebäude, das früher eine Schmiede vorstellte, befand sich jetzt das »Nachtasyl«, das der Rittmeister a. D. Aristid Fomitsch Kuwalda dort unterhielt.

Das Innere war eine lange, düstere Höhle mit einer Ausdehnung von vier und zehn Ssashen; vier kleine, quadratische Fenster an der einen Seite und eine Tür erhellten dieselbe. Die Ziegelwände, ohne Putz, waren schwarz vom Rauch; die Decke, aus dem Boden einer Barke, gleichfalls geschwärzt; ein riesiger Ofen, dem die Schmiedeesse als Basis diente, nahm die Mitte ein, und rings um den Ofen und an den Wänden entlang liefen breite Pritschen mit Haufen von allerhand Lumpen, die den Nachtgästen als Lager dienten. Von den Wänden roch es nach Rauch, von dem erdigen Boden nach Feuchtigkeit, von den Pritschen nach schweißigen, faulenden Lumpen.

Der Herr des Asyls hatte seinen Platz auf dem Ofen, die Pritschen rings um den Ofen waren die Ehrenplätze, und auf sie verteilten sich die Gäste, die sich des Wohlwollens und der Freundschaft des Hausherrn erfreuten.

Den Tag verbrachte der Rittmeister stets vor der Tür des Asyls, auf einer Art Sessel sitzend, den er eigenhändig aus Ziegeln zusammengestellt hatte, oder in der Schenke Jegor Wawilows, die sich dem Hause Petunnikows schräg gegenüber befand. Dort aß der Rittmeister und trank Schnaps.

Ehe er hier seinen Aufenthalt nahm, hatte Aristid Kuwalda ein Mietskontor in der Stadt; ging man noch weiter in seine Vergangenheit zurück, so hörte man, daß er eine typographische Anstalt besessen hatte, und vordem hatte er, seinen Worten nach: »einfach – gelebt! Und herrlich gelebt, der Teufel hol's! Ich verstand's, zu leben, kann ich sagen!«

Er war ein hoher, breitschultriger Mann von etwa 50 Jahren, mit pockennarbigem, vom Trunk aufgedunsenem Gesicht und breitem, schmutzig-gelbem Bart. Er hatte große, graue, frech-lustige Augen, sprach im Baß mit einem Rollen in der Kehle, und zwischen den Zähnen ragte meistens eine deutsche Porzellanpfeife mit gebogenem Rohr hervor. Wenn er erzürnt wurde, blähten sich die Löcher seiner großen, gebogenen, hochroten Nase weit auf, und die Lippen zuckten, zwei Reihen großer, gelber Wolfszähne entblößend. Langarmig, hinkend, immer mit einem schmutzigen, zerrissenen Offiziersmantel angetan und fettiger Mütze mit rotem Rand, aber ohne Schirm, und in schlechten Filzstiefeln, die ihm bis an das Knie reichten, – befand er sich morgens unwandelbar im Zustand schweren Katzenjammers und abends – in fröhlichem Rausch. Bis zur vollen Betrunkenheit kam er nie, wieviel er immer trank, und seine heitere Stimmung behielt er stets.

Abends empfing er, auf seinem Ziegelsessel sitzend, mit der Pfeife im Munde, seine Mieter.

»Wer bist du?« fragte er das zu ihm kommende zerlumpte und bedrückte Subjekt, das wegen Trunksucht aus der Stadt hinausgeworfen oder aus einem anderen, nicht weniger triftigen Grunde heruntergekommen war.

Der Mensch antwortete.

»Zeig' deine Papiere zur Bekräftigung deines Gewäsches!«

Die Papiere wurden gezeigt, falls er welche besaß. Der Rittmeister steckte sie in die Brust, sich selten für ihren Inhalt interessierend, und sagte:

»Alles in Ordnung. Für eine Nacht zwei Kopeken, für eine Woche zehn Kopeken, für einen Monat – dreißig. Geh' und such' dir einen Platz, aber sieh zu, daß du keinen fremden nimmst, sonst blasen sie dich auf. Bei mir wohnen strenge Leute . . .«

Neulinge fragten ihn:

»Und mit Tee, Brot oder sonst Eßbarem handeln Sie nicht?«

»Ich handle nur mit Wand und Dach; dafür bezahle ich selbst dem Spitzbuben von Wirt dieses Loches, dem Kaufmann zweiter Gilde, Judas Petunnikow, fünf Rubel monatlich,« erklärte Kuwalda in sachlichem Tone; »zu mir kommen Leute, die nicht an Üppigkeit gewöhnt sind . . . aber wenn du gewohnt bist, jeden Tag zu essen, – da gegenüber ist die Schenke. Aber besser, wenn du, Lümmel, dir diese schlechte Angewohnheit abgewöhnst. Du bist ja doch kein Herr – das heißt, was ißt du also? Iß dich selbst!«

Solcher und ähnlicher Reden wegen, die er in gemacht-strengem Ton, aber immer mit lachenden Augen vorbrachte, und seines aufmerksamen Verhältnisses zu seinen Mietern halber erfreute sich der Rittmeister bei den Armen der Stadt einer großen Popularität.

Oft geschah es, daß ein früherer Schützling des Rittmeisters auf dem Hofe schon nicht mehr zerlumpt und bedrückt erschien, sondern in mehr oder weniger anständiger Verfassung und mit munterem Gesicht.

»Guten Tag, Ew. Wohlgeboren! Wie geht es Ihnen?«

»Bin gesund. Am Leben. Sprich weiter.«

»Erkennen Sie mich nicht?«

»Kenn' dich nicht!«

»Wissen Sie nicht, im Winter wohnte ich ja einen Monat etwa bei Ihnen, als noch die Polizei da war und sie drei mitnahmen?«

»Ja, Bruder, unter meinem gastfreundlichen Dach erscheint die Polizei öfter!«

»Ach Gott, Sie hatten noch Ihren Spott mit dem Pristav . . .«

»Laß, spuck' auf die Erinnerungen, sag' einfach, was du willst!«

»Möchten Sie nicht eine kleine Bewirtung von mir annehmen? Als ich damals bei Ihnen wohnte und Sie mir, das heißt . . .«

»Dankbarkeit muß man ermuntern, mein Freund, denn man trifft sie selten bei den Leuten. Du mußt ein braver Bursche sein, und – obwohl ich mich deiner gar nicht erinnere, aber in die Schenke geh' ich mit Vergnügen mit dir und trinke mit Genuß auf deine Erfolge im Leben.«

»Und Sie sind noch immer so . . . spaßen noch immer?«

»Ja, was kann man denn anderes tun, da man einmal unter euch Elendswürmern lebt!«

Sie gingen. Manchmal kehrte der frühere Schützling des Rittmeisters dann, durch die Bewirtung ganz aus allen Fugen, schwankend in das Asyl zurück; anderen Tages bewirteten sie sich wieder, und eines schönen Morgens erwachte der frühere Klient mit dem Bewußtsein, daß wieder alles bis auf den letzten Rest vertrunken war.

»Ew. Wohlgeboren! Da haben wir's! Bin wieder unter Ihre Mannschaft geraten, was jetzt?«

»Eine Lage, deren man sich nicht rühmen darf, aber wenn man einmal darin ist, muß man nicht jammern,« vernünftelte der Rittmeister. »Man muß gleichgültig gegen alles sein, mein Freund, sich nicht das Leben mit Philosophie verderben und keine Fragen stellen. Philosophieren ist immer dumm, Philosophieren im Katzenjammer aber unaussprechlich dumm. Katzenjammer erfordert Schnaps und nicht Gewissensbisse und Zähneknirschen . . . schone deine Zähne, sonst wird man dich umsonst schlagen. Da hast du einen Zwanziger, geh' und hole ein Mäßchen Schnaps, für einen Fünfer heißes Gehacktes oder Lunge, ein Pfund Brot und zwei Gurken. Wenn wir uns nach dem Rausch gestärkt haben, wollen wir die Lage der Dinge in Erwägung ziehen . . .«

Definitiv festgestellt wurde die Lage der Dinge erst nach etwa zwei Tagen, wenn sich auch beim Rittmeister keiner der Dreier und Fünfer mehr fand, die er in der Tasche hatte am Tage, als sein dankbarer Schützling bei ihm erschien.

»Fertig! Basta!« sagte der Rittmeister; »jetzt, mein Freund, da alles hin ist, wollen wir wieder versuchen, auf den Pfad der Nüchternheit und Tugend zurückzukehren. Wie ganz richtig gesagt ist: hat man nicht gesündigt, kann man nicht bereuen, und bereut man nicht – wird man nicht erlöst. Das erste haben wir besorgt, bereuen ist zwecklos, so wollen wir uns also gleich erlösen. Begib dich an den Fluß und arbeite! Wenn du dir nicht traust – sage dem Unternehmer, daß er dein Geld aufhebt, sonst gib es mir. Haben wir ein Kapital zusammengescharrt, kauf' ich dir Hosen und alles übrige, was du nötig hast, um wieder als ordentlicher Mensch und bescheidener, vom Schicksal verfolgter Freund der Arbeit aufzutreten. In guten Hosen kannst du's wieder weit bringen. Marsch!«

Der Schützling begab sich an den Fluß und schleppte Lasten, bei sich über des Rittmeisters lange, weise Reden lachend. Unklar begriff er ihr Salz, aber er sah die lustigen Augen vor sich, empfand den munteren Geist und fühlte, daß er in dem schönrednerischen Rittmeister eine Hand habe, die ihn im Fall der Not stützen könnte.

Und wirklich – nach ein – zwei Monaten der Zwangsarbeit hatte der Schützling, dank des Rittmeisters strenger Aufsicht über seine Führung, die materielle Möglichkeit, sich wieder auf eine Stufe über jener zu erheben, auf die er dank der wohlgeneigten Teilnahme desselben Rittmeisters gesunken war.

»Nun, mein Freund,« sagte Kuwalda, den restaurierten Schützling kritisch musternd, »Hosen und Jacke hätten wir! Das sind Dinge von ungeheurer Bedeutung, – glaube meiner Erfahrung. So lange ich anständige Hosen hatte, lebte ich in der Stadt in der Rolle eines ordentlichen Menschen, aber, hol's der Teufel, als erst die Hosen von mir fielen, fiel auch ich in der Meinung der Leute und mußte selbst aus der Stadt hier herabsteigen. Die Leute, mein lieber Narr, beurteilen alle Dinge nach ihrer Form, das Wesen der Dinge ist ihnen ihrer angeborenen Dummheit wegen unzugänglich. Das reibe dir unter die Nase, und hast du mir, wenn auch nur die Hälfte der Schuld bezahlt, geh' in Frieden und such' dir was und rangiere dich wieder!«

»Und wieviel bin ich Ihnen schuldig, Aristid Fomitsch?« erkundigte sich der Schützling unruhig.

»Einen Rubel siebzig . . . Gib mir einen Rubel oder siebzig; mit dem anderen warte ich, bis du entweder stiehlst oder mehr als das verdienst, was du jetzt hast.«

»Danke ergebenst für Ihre Güte!« sagte der gerührte Schützling.

»Ach Sie, was sind Sie doch für ein guter Mensch, wirklich! Ach, umsonst hat das Leben Sie so in die Enge getrieben . . . was für ein Adler mögen Sie an Ihrem Platz gewesen sein?!«

Der Rittmeister konnte ohne rednerische Ergüsse nicht leben.

»Was heißt an meinem Platz? Keiner weiß seinen eigentlichen Platz im Leben, und jeder von uns kriecht in das falsche Joch. Der Kaufmann Judas Petunnikow sollte Galeerensträfling sein, und er geht am hellen Tage durch die Straßen und will sogar eine Fabrik bauen. Unser Lehrer hätte seinen Platz bei einem guten Weibe und einem halben Dutzend Kinder, und er treibt sich in Wawilows Schenke umher. Und du – du suchst dir eine Stelle als Diener oder Korridorwächter, und ich sehe, dein Platz ist bei den Soldaten, denn du bist nicht dumm, hältst aus und kennst Disziplin. Siehst du – was für ein Stück? Das Leben mischt uns wie Karten, und nur zufällig – und das nicht für lange – kommen wir an unseren Platz! . . .«

Manchmal dienten derartige Abschiedsunterhaltungen als Vorreden zur Fortsetzung der Bekanntschaft, die wieder mit einem guten Trunk anfing und wiederum dahin führte, daß der Schützling alles vertrank, darüber erschrak, der Rittmeister ihm Revanche gab und – beide alles vertranken.

Solche Wiederholungen des Vorangegangenen verdarben keineswegs die beiderseitigen guten Beziehungen. Der vom Rittmeister erwähnte Lehrer war tatsächlich einer jener Klienten, die nur dazu sich heraufarbeiteten, um gleich wieder unterzugehen. Seinem Intellekt nach war er der Mensch, der dem Rittmeister näher als alle anderen stand, und vielleicht hatte er es gerade diesem Grunde zu verdanken, daß er, nachdem er einmal bis zum Asyl gesunken war, sich nicht mehr erheben konnte.

Mit ihm allein konnte Aristid Kuwalda in der Gewißheit philosophieren, daß er verstanden wurde. Er schätzte das, und wenn der Lehrer, nachdem er sich wieder gebessert hatte, sich anschickte, das Asyl zu verlassen und mit dem Gelde, das er verdient, sich in der Stadt ein Winkelchen zu suchen, – begleitete ihn Aristid Kuwalda so traurig und ließ so viele melancholische Tiraden hören, daß beide unausbleiblich zu trinken anfingen und wieder alles vertranken.

Aller Wahrscheinlichkeit nach richtete Kuwalda bewußt die Sache so ein, daß der Lehrer trotz seines Verlangens nicht aus dem Asyl herauskommen konnte. Sollte der Edelmann Aristid Kuwalda mit einer Bildung, deren Splitter noch manchmal in seinen Reden glänzten, mit der durch die Wandlungen des Schicksals entwickelten Gewohnheit zu denken, nicht wünschen und nicht suchen, eben solchen Menschen, wie er selbst, stets um sich zu haben? O, wir verstehen wohl, uns zu bedauern!

Dieser Lehrer unterrichtete einst in einer Lehranstalt der Wolgastädte, war aber aus einer gewissen Geschichte entlassen worden. Dann war er Kontorist in einer Lederfabrik und wurde gleichfalls gezwungen, zu gehen. Danach Bibliothekar in einer Privatbibliothek, erprobte er noch verschiedene Berufsarten, um sich schließlich, nachdem er noch das Examen als Privatbevollmächtigter in Gerichtssachen abgelegt hatte, dem Trunke zu ergeben. Endlich kam er zum Rittmeister. Er war ein großer Mann von gebückter Haltung, mit langer, spitzer Nase und ganz kahlem Kopf. Aus seinem knochigen, gelben Gesicht mit dem keilförmigen Bärtchen glänzten große, ruhelos-traurige Augen, die tief in den Höhlen lagen, und die Mundwinkel waren melancholisch herabgezogen. Die Mittel zum Leben oder richtiger zum Trinken erwarb er als Reporter für die Ortszeitungen. Es kam vor, daß er in der Woche an fünfzehn Rubel verdiente. Dann gab er sie dem Rittmeister und sagte:

»Es wird gehen! Ich kehre in den Schoß der Kultur zurück. Noch eine Woche Arbeit – dann kleide ich mich ordentlich ein und addio, mio caro!«

»Lobenswert! Ich billige deinen Entschluß von ganzem Herzen, Philipp. Die ganze Woche gebe ich dir kein Schnapsgläschen voll,« beugte der Rittmeister streng vor.

»Ich werde dir dankbar sein! . . . Nicht ein einziges Tröpfchen gibst du?«

Der Rittmeister hörte aus diesen Worten etwas wie eine schüchterne Bitte um Nachgiebigkeit heraus und sagte noch strenger:

»Du kannst meinetwegen brüllen – ich gebe nichts!«

»Nun, abgemacht,« seufzte der Lehrer und begab sich an sein Amt. Aber nach ein oder höchstens zwei Tagen schon sah er, abgespannt und wie zerschlagen, aus irgendeinem Winkel dem Rittmeister begierig nach, mit traurigen, flehenden Augen, und wartete zitternd, bis sich des Freundes Herz erweichte. Der Rittmeister setzte eine finstere Miene auf und hielt mit tödlicher Ironie getränkte Reden über das Thema von der Schande der Charakterschwäche, vom tierischen Vergnügen des Trunkes und andere, dem Falle angemessene Dinge. Und man darf wirklich sagen: er fühlte sich von seiner Rolle als Mentor und Moralist aufrichtig hingerissen; aber die skeptisch gestimmten ständigen Asylgäste, die dem Rittmeister aufmerksam folgten und seine Strafreden mit anhörten, sagten zueinander, mit den Augen nach ihm blinzelnd:

»Schlauberger! Wickelt sich geschickt heraus! Das heißt: ich hab's dir gesagt, du bist mir nicht gefolgt – mach' dir nun selbst Vorwürfe!«

»Seine Wohlgeboren ist ein echter Krieger – er geht voran und sucht schon den Weg zum Rückzug!«

Aber der Lehrer erhaschte seinen Freund wieder in irgendeinem dunklen Winkel, hielt ihn an seinem schmutzigen Mantel fest und sah ihm, am ganzen Leibe zitternd und sich die trocknen Lippen leckend, ohne zu sprechen, mit tieftraurigem Ausdruck ins Gesicht.

»Kannst du nicht?« fragte der Rittmeister finster.

In schweigender Bestätigung nickte der Lehrer mit dem Kopfe, dann ließ er ihn traurig auf die Brust fallen, an seinem ganzen, langen, magern Körper zitternd.

»Halte noch einen Tag aus . . . vielleicht bekommst du's fertig?« schlug Kuwalda vor.

Der Lehrer seufzte und schüttelte hoffnungslos verneinend den Kopf. Der Rittmeister sah, wie der magere Leib des Freundes vor Gier nach dem Gift bebte, und holte Geld aus der Tasche.

»Meistens ist es zwecklos, wider das Verhängnis zu streiten,« sagte er dabei, als wolle er sich vor irgend jemand rechtfertigen.

Hielt aber der Lehrer die ganze Woche aus, so spielte sich zwischen ihm und dem Rittmeister die rührende Szene eines Freundesabschiedes ab, und ihr Finale fand gewöhnlich in Wawilows Schenke statt.

Nicht all sein Geld vertrank der Lehrer; die Hälfte wenigstens gab er für die Kinder der Wjesshaja-Straße aus. Die Armen sind immer reich an Kindern, und in jener Straße mit ihrem Staub und ihren Wasserlöchern balgten sich tagein tagaus, vom Morgen bis zum Abend, ganze Haufen zerlumpter, schmutziger, halbverhungerter Kinder herum.

Kinder – sind die lebendigen Blumen der Erde, doch in dieser Straße hatten sie das Aussehen vorzeitig verwelkter Blüten, wahrscheinlich deshalb, weil sie auf einem Boden wuchsen, der arm an gesunden Säften war.

Und so versammelte der Lehrer sie häufig um sich, kaufte Weißbrot, Eier, Äpfel und Nüsse und ging mit ihnen ins Feld, an den Fluß. Dort lagerten sie sich auf der Erde, aßen erst alles gierig auf, was der Lehrer ihnen vorlegte, und fingen dann an zu spielen, die Luft eine Werst im Umkreis mit sorglosem Lärm und Lachen erfüllend. Es war, als schrumpfe die lange, magere Gestalt des Trinkers zwischen diesen kleinen Leuten zusammen, die mit ihm ganz familiär wie mit einem Gleichaltrigen verkehrten. Sie nannten ihn sogar Philipp, ohne seinem Namen ein »Onkel« oder »Onkelchen« hinzuzufügen. Sich um ihn wie Schlammbeißker herumdrehend, stießen sie ihn an, sprangen ihm auf den Rücken, patschten ihm auf die Glatze, faßten ihn an der Nase. Alles das mußte ihm wohl gefallen, denn er protestierte nicht gegen diese Willkürlichkeiten. Er sprach überhaupt wenig mit ihnen, und wenn er sprach, geschah es so vorsichtig und schüchtern sogar, als fürchte er, daß seine Worte sie beflecken oder ihnen überhaupt schaden könnten. In der Rolle ihres Kameraden und Spielzeugs verbrachte er einige Stunden hintereinander mit ihnen, ihre lebhaften Gesichtchen mit seinen gramvoll-bangen Augen betrachtend, und ging dann, in Gedanken versunken, langsam von ihnen nach Wawilows Schenke und fing dort hastig und schweigend zu trinken an, bis er das Bewußtsein verlor.

* * *

Fast täglich brachte der Lehrer eine Zeitung mit, wenn er von seinem Reporterdienst heimkehrte, und es fand eine allgemeine Versammlung all der heruntergekommenen Leute um ihn statt. Wenn sie ihn erblickten, kamen sie aus den verschiedenen Winkeln des Hofes hervor zu ihm hin, Berauschte und an den Folgen des Rausches Leidende, in der mannigfaltigsten Weise zerlumpt und struppig, aber alle gleich elend und schmutzig.

Da kam Alexej Maximowitsch Ssimzow, dick wie ein Faß, früher Förster in einem Provinzialamt, jetzt Händler mit Streichhölzern, Tinte, Wichse und Ausschuß-Zitronen. Er war ein Greis von 60 Jahren, mit einem Segeltuchpaletot und einem großen Hut, dessen breite, abgegriffene, verbogene Krempe sein dickes, rotes Gesicht mit dem dichten, weißen Bart verdeckte, aus dem die kleine, hochrote Nase vergnügt in Gottes Welt blickte, nebst dicken Lippen derselben Farbe und kleinen, tränenden, zynischen Augen. Sie nannten ihn Kubar, d. h. Kreisel – und dieser Beiname bezeichnete treffend seine runde Gestalt und seine brummende Sprechweise.

Aus irgendeinem Winkel kroch auch Konez, d. h. Ende, hervor – ein düsterer, schweigsamer, schwarzer Trunkenbold, der frühere Gefängnisinspektor Lukas Antonowitsch Martjanow, ein Mensch, der durch das Spiel existierte, wie »Riemchen«, »Dreiblatt«, »Bank« und ähnlichen, ebenso geistreichen wie bei der Polizei unbeliebten Spielen. Er ließ seinen großen, mehr als einmal grausam zerschlagenen Leib neben dem Lehrer auf den Rasen nieder. Seine schwarzen Augen funkelten, und er fragte, indem er die Hand nach der Flasche ausstreckte, in heiserem Baß:

»Kann ich?«

Es erschien der Mechaniker Pawel Ssonzew, ein schwindsüchtiger Mensch von etwa 30 Jahren. Die linke Seite war ihm in einem Streit zerschlagen, und sein gelbes, spitzes Fuchsgesicht verzog immer ein hämisches Grinsen. Die dünnen Lippen ließen zwei Reihen schwarzer, von Krankheit zerstörter Zähne sehen, und die Lumpen auf seinen schmalen, knochigen Schultern baumelten wie auf einem Kleiderriegel. Er wurde Objedok, d. h. Schmarotzer, genannt. Er trieb einen Handel mit Waschbürsten eigener Fabrikation und Ausklopfern aus einem besonderen Gewächs, die sehr bequem zum Reinigen der Kleider waren.

Es kam ein großer, knochiger, auf dem linken Auge schielender Mann unbekannten Herkommens, mit erschrockenem Ausdruck in den großen, runden Augen, schweigsam und scheu, der dreimal laut Verurteilung des Friedens- und Kreisgerichts wegen Diebstahls gesessen hatte. Sein Familienname war Kisselnikow, aber er wurde Poltora Tarassa, d. h. anderthalb Taraß, genannt, weil er gerade anderthalbmal so groß war wie sein unzertrennlicher Freund, der Diakon Taraß, der wegen Trunksucht und lasterhaften Betragens seines Amtes entsetzt war. Der Diakon war ein kleiner, untersetzter Mensch mit einer Riesenbrust und rundem Pudelkopf. Er tanzte sehr gut, und noch erstaunlicher verstand er Zoten zu reißen. Er hatte mit Poltora Taraßa zusammen das Holzsägen am Flußufer als Spezialität erwählt, und in seiner Mußezeit erzählte er seinem Freunde und jedem, der zuhören mochte, Geschichten »eigener Erfindung«, wie er erklärte. Beim Anhören dieser Geschichten, deren Helden immer Heilige, Könige, Geistliche und Generäle waren, spien selbst die Asylbewohner vor Ekel aus und sperrten die Augen auf vor Verwunderung über die Phantasie des Diakons, der mit zusammengekniffenen Augen und gleichgültigem Gesicht entsetzlich schamlose Dinge und schmutzig-phantastische Abenteuer erzählte. Die Einbildungskraft dieses Menschen war mächtig und unerschöpflich – er konnte erfinden und sprechen den ganzen Tag vom Morgen bis zum Abend und wiederholte sich nie. Möglicherweise war ein großer Dichter an ihm verdorben, jedenfalls ein ungewöhnlicher Erzähler, der alles zu beleben verstand, und selbst den Steinen die Seele seiner garstigen, aber plastischen und starken Worte einhauchte.

Auch ein täppischer, junger Mensch war noch da, dem Kuwalda den Namen Meteor beigelegt hatte. Er war einmal gekommen, um zu übernachten, und blieb seitdem bei diesen Leuten, zu ihrer Verwunderung. Zuerst bemerkten sie ihn nicht – tags ging er wie alle aus, sich Brot zu suchen, aber abends hielt er sich beständig bei dieser wackeren Gesellschaft auf, und endlich bemerkte ihn der Rittmeister.

»Bürschchen! Was bist du denn auf dieser Welt?«

Der Bursche antwortete kurz und tapfer:

»Ich – Landstreicher . . .«

Der Rittmeister betrachtete ihn kritisch. Es war ein Bursche mit langen Haaren und dummem Gesicht, das vorstehende Backenknochen und eine aufgestülpte Nase zierten. Er trug eine blaue Bluse ohne Gürtel und auf dem Kopf die Reste eines Strohhutes. Er war barfuß.

»Du – Narr!« entschied Aristid Kuwalda. »Wozu willst du dich hier herumtreiben? Du bist uns zu nichts nütze . . . Trinkst du Schnaps? Nein . . . Nu, aber stehlen kannst du? Auch nicht. Marsch, lern' erst was und komm' wieder, wenn du erst ein Mensch bist . . .«

Der Bursche lachte.

»Nein, ich bleibe lieber bei Ihnen.«

»Weshalb?«

»So . . .«

»Ach du . . . Meteor!« sagte der Rittmeister.

»Ich schlag' ihm gleich die Zähne ein,« mischte sich Martjanow ein.

»Weshalb?« erkundigte sich der Bursche.

»So . . .«

»Und ich nehm' einen Stein und geb' Ihnen eins an den Kopf,« erklärte ehrerbietig der Bursche.

Martjanow hätte ihn zuschanden geschlagen, wäre nicht Kuwalda für ihn eingetreten.

»Laß ihn, Bruder . . . Es ist in ihm etwas Verwandtes mit dir und meinetwegen mit uns allen. Du willst ihm ohne hinreichenden Grund die Zähne einschlagen – er will, wie du, ohne Grund bei uns leben. Nun, zum Teufel, wir leben alle ohne genügenden Grund . . . Leben, und wozu? So! Er auch so . . . laß ihn! . . .«

»Aber besser wäre es für Sie, junger Mann, sich von uns zu entfernen,« riet ihm der Lehrer, indem er den Burschen mit seinen traurigen Augen ansah.

Der antwortete nicht und blieb. Dann gewöhnten sie sich an ihn und hörten auf, ihn zu bemerken. Er aber lebte unter ihnen und bemerkte alles.

Alle diese aufgezählten Existenzen machten den Hauptstab des Rittmeisters aus, und er nannte sie mit gutmütiger Ironie »Ehemalige Leute«. Außer ihnen bewohnten immer noch fünf bis sechs »Gemeine« – Landstreicher – das Asyl. Das waren Dorfleute; sie konnten sich nicht solcher Vergangenheit rühmen wie die »ehemaligen Leute«, und obwohl sie nicht minder die Wandelbarkeit des Schicksals erfahren hatten, waren sie doch heiler geblieben als jene. Es waren nicht so schrecklich zerbrochene Existenzen. Vielleicht steht ein ordentlicher Mensch der kultivierten Klasse höher, als ein solcher des Bauernstandes, stets aber ist ein lasterhafter Stadtmensch unendlich widerwärtiger und schmutziger als ein lasterhafter Mensch aus dem Dorfe. Diese Regel fiel kraß in die Augen, wenn man die früheren Intelligenten, die Kuwaldas Zufluchtsort bewohnten, mit den dort lebenden, früheren Bauern verglich.

Als ansehnlichster Repräsentant der früheren Bauern erschien ein alter Lumpensammler namens Tjapa. Lang und mißgestaltet, hielt er den Kopf so, daß sein Kinn auf der Brust ruhte; daher erinnerte sein Schatten an einen Feuerhaken. Von vorn konnte man sein Gesicht nicht sehen, im Profil sah man nur die bucklige Nase, die herabhängende Unterlippe und die grauen, struppigen Brauen. Er war der erste Mieter zu des Rittmeisters Zeit, und es wurde von ihm erzählt, daß er irgendwo viel Geld versteckt habe. Eben dieses Geldes wegen wäre ihm vor etwa zwei Jahren beinahe die Kehle mit dem Messer durchschnitten worden, und seitdem hielt er den Kopf so sonderbar. Er leugnete die Existenz des Geldes, sagte, er sei nur aus Raufsucht überfallen worden, und es sei ihm seitdem sehr bequem, Lumpen und Knochen zu sammeln – weil der Kopf immer gesenkt war. Wenn er schwankenden, unsicheren Ganges, ohne Stock in der Hand, ohne Sack auf dem Rücken – den Zeichen seines Berufs – dahinging, sah er aus wie ein Mensch, der fast bis zum Verlust des Bewußtseins in Gedanken versunken war, und Kuwalda sagte in solchen Momenten, indem er mit dem Finger auf ihn deutete:

»Seht, dort sucht das Gewissen des Kaufmanns Judas Petunnikow, das ihm entflohen ist, einen Zufluchtsort! Seht, wie das flüchtige Gewissen zerfetzt, garstig, schmutzig ist!«

Tjapa sprach heiser, so daß er kaum zu verstehen war, und vielleicht deshalb sprach er überhaupt wenig und liebte sehr die Einsamkeit. Jedesmal aber, wenn im Asyl ein neues Menschenexemplar erschien, das die Not aus dem Dorf vertrieben hatte, geriet Tjapa bei seinem Anblick in Zorn und bange Unruhe. Er verfolgte den Unglücklichen mit beißendem Spott, der in zornigen, heiseren Lauten aus seiner Kehle kam, hetzte irgendeinen schlimmen Landstreicher hinter ihm her, drohte endlich, ihn eigenhändig zuschanden zu schlagen und nachts zu berauben, und brachte es fast immer dahin, daß der geängstigte, konfuse Bauer aus dem Asyl verschwand und niemals mehr zurückkehrte.

Dann beruhigte sich Tjapa und verkroch sich in irgendeinen Winkel, wo er seine Lumpen sichtete oder in der Bibel las, eben solcher alten, schmutzigen und zerfetzten, wie er selbst. Aus seinem Winkel kroch er jedoch hervor, wenn der Lehrer eine Zeitung mitbrachte und vorlas. Gewöhnlich hörte er alles schweigend mit an, was gelesen wurde, und seufzte tief, ohne nach etwas zu fragen. Aber wenn der Lehrer die Zeitung zusammenlegte, nachdem er sie gelesen hatte, streckte Tjapa seine knochige Hand aus und sagte:

»Gib mal . . .«

»Was willst du damit?«

»Gib . . . vielleicht ist was von uns darin . . .«

»Von wem?«

»Vom Dorf.«

Sie lachten darüber und warfen ihm die Zeitung hin. Er nahm sie und las darin, daß in einem Dorf Hagelschlag das Korn vernichtet hatte, daß in einem anderen dreißig Gehöfte abgebrannt waren, daß in einem dritten ein Weib seine Familie vergiftet hatte – alles, was hergebrachterweise vom Dorfe geschrieben wird und dasselbe nur von der unglücklichen, dummen und bösen Seite zeigt. Tjapa las alles mit dumpfer Stimme und brummte dabei, wodurch er vielleicht seine Freude, vielleicht sein Mitgefühl ausdrücken wollte.

Den größten Teil des Sonntags, an dem er niemals Lumpen sammeln ging, verwandte er auf das Lesen seiner Bibel. Während er las, brummte und seufzte er. Das Buch hielt er, indem er es auf die Brust stützte, und er wurde böse, wenn jemand ihn anrührte oder im Lesen störte.

»He du, Schwarzkünstler,« sagte Kuwalda zu ihm, »was verstehst du davon? Laß sein!«

»Und was verstehst du?«

»So, Hexenmeister! Ich verstehe auch nichts, aber ich lese auch nicht Bücher . . .«

»Aber ich lese . . .«

»Nu, du bist auch dumm . . .« entgegnete der Rittmeister. »Wenn sich Insekten auf dem Kopfe eingenistet haben, so ist das ja auch beunruhigend, kriechen aber noch Gedanken hinein – wie willst du dann leben, alte Kröte?«

»Nu, ich hab's nicht mehr lange nötig,« meinte Tjapa ruhig.

Einmal wollte der Lehrer wissen, wo er lesen und schreiben gelernt habe. Tjapa antwortete kurz:

»Im Gefängnis . . .«

»Warst du denn drin?«

»Ja . . .«

»Weshalb . . .?«

»So . . . Ich hatte einen Fehler begangen. Von da hab' ich auch die Bibel mitgebracht. Eine Dame gab sie mir . . . Bruder, im Gefängnis ist es gut . . .«

»Nun wieso denn?«

»Man lernt was . . . Da hab' ich lesen und schreiben gelernt . . . bekam das Buch . . . Alles . . . umsonst . . .«

Als der Lehrer im Asyl erschien, wohnte Tjapa schon lange drin. Er betrachtete den Lehrer lange, – um einem Menschen ins Gesicht zu sehen, mußte er sich ganz auf die Seite biegen – hörte lange seinen Reden zu und setzte sich einmal wie von ohngefähr neben ihn.

»So einer bist du . . . warst ein Gelehrter . . . Hast du die Bibel gelesen?«

»Ja . . .«

»So – so . . . Weißt du noch was davon?«

»Nu . . . ich weiß noch . . .«

Der Alte beugte sich ganz auf die Seite und sah den Lehrer mit einem grauen, finsteren, mißtrauischen Auge an.

»Weißt du auch, daß es Amalekiter gab?«

»O ja!«

»Wo sind die jetzt?«

»Verschwunden, Tjapa . . . ausgestorben . . .«

Der Alte schwieg eine Weile, dann fragte er von neuem:

»Und die Philister?«

»Die auch . . .«

»Alle ausgestorben?«

»Ja . . . alle . . .«

»So . . . und sterben wir auch aus?«

»Die Zeit kommt – und auch wir sterben aus,« versprach der Lehrer gleichgültig.

»Aus welchem Stamme sind wir denn?«

Der Lehrer sah ihn an, besann sich und fing an von Kimbern, Skythen, Hunnen und Slawen zu erzählen . . . Der Alte bückte sich noch mehr auf die Seite und sah ihn mit erschrockenen Augen an.

»Das lügst du alles!« sagte er heiser, als der Lehrer aufhörte.

»Wieso lüge ich?« wunderte sich dieser.

»Was hast du mir für Völker genannt? Die sind nicht in der Bibel!«

Er stand auf und ging tiefgekränkt davon, zornig vor sich hinbrummend.

»Du wirst schwachsinnig, Tjapa,« sprach der Lehrer hinter ihm mit Überzeugung.

Da drehte sich der Alte nochmals nach ihm um und drohte ihm, die Hand ausstreckend, mit dem krummen, schmutzigen Finger.

»Von Gott – Adam, von Adam – die Hebräer, das heißt, alle Leute – von den Hebräern . . . Und wir auch . . .«

»So?«

»Die Tataren von Ismael . . . und er war von den Hebräern . . .«

»Aber was willst du damit?«

»Nichts! Warum lügst du?«

Und er ging fort, seinen Gesellschafter im Zweifel zurücklassend. Doch nach etwa zwei Tagen fetzte er sich wieder zu ihm.

»Du bist ein Gelehrter gewesen . . . ja, und mußt wissen, – was sind wir?«

»Slawen, Tjapa,« antwortete der Lehrer und gab aufmerksam acht auf Tjapas Worte, um ihn zu verstehen.

»Sprich nach der Bibel – solche gibt's da nicht. Was sind wir – Babylonier vielleicht? oder – Edomiter . . .«

Der Lehrer ließ sich auf eine Kritik der Bibel ein. Der Alte hörte ihm lange aufmerksam zu, dann unterbrach er ihn.

»Halt . . . laß sein! Das heißt, unter den Völkern, die Gott kannte, waren die Russen nicht? Wir sind Gott unbekannte Leute? Ist es so? Von denen in der Bibel steht – die kannte Gott . . . vernichtete sie mit Feuer und Schwert, zerstörte ihre Städte und Dörfer, aber schickte ihnen auch Propheten, sie zu belehren . . . d. h. er hatte Mitleid mit ihnen. Juden und Tataren hat er zerstreut, aber doch bewahrt . . . Wir aber? Warum haben wir keine Propheten?«

»Ich weiß nicht!« sagte der Lehrer zögernd in dem Bemühen, den Alten zu verstehen. Dieser aber legte die Hand auf seine Schulter, stieß ihn sachte hin und her und sagte heiser schluckend . . .

»So sag' es doch! Du sprichst so viel, als wenn du alles wüßtest. Mir wird schlimm, wenn ich dir zuhöre . . . Du machst mir die Seele krank . . . Besser wär's, wenn du schwiegst! . . . Wer sind wir? So – so! Warum haben wir keine Propheten? aha! . . . Und wo waren wir, als Christus auf Erden wandelte? Siehst du? Ach du! Und lügst noch . . . kann denn ein ganzes Volk aussterben? Das russische Volk kann nicht verschwinden – das lügst du – es ist in der Bibel aufgeschrieben, nur weiß man nicht, unter welchem Namen . . . Weißt du denn, was für ein Volk das ist? Es ist – ungeheuer groß . . . Wieviel Dörfer auf der Erde . . . da wohnt das Volk . . . das wirkliche, große Volk. Und du sagst – es stirbt aus . . . Ein Volk kann nicht sterben, der Mensch kann . . . Gott braucht das Volk, er hat die Erde geschaffen. Die Amalekiter sind nicht ausgestorben – die Deutschen oder Franzosen sind's . . . und du . . . ach du! . . . Nun, sag' doch, warum hat Gott uns übergangen? Warum haben wir keine Strafen und keine Propheten von Gott? Wer belehrt uns? . . .«

Tjapas Worte waren voll Kraft, – Hohn, Vorwurf und tiefer Glaube klangen aus ihnen. Er sprach lange, und dem Lehrer, der wie gewöhnlich berauscht war und sich in friedlicher Stimmung befand, wurde ganz elend zumute, indem er ihm zuhörte, als ginge ihm eine Säge durchs Gebein. Er hörte dem Alten zu, sah seinen entstellten Leib, fühlte die seltsame, bezwingende Kraft seiner Worte und wurde plötzlich traurig, – er tat sich selber bis zum Schmerze leid. Er hätte dem Alten auch gern etwas Starkes, Überzeugungsvolles gesagt, etwas, das Tjapa ihm freundlich gestimmt, ihn bewogen hätte, nicht in diesem vorwurfsvoll finsteren Ton, sondern in einem anderen – einem weichen, väterlich-freundlichen – mit ihm zu sprechen. Und der Lehrer fühlte, wie es in seiner Brust aufwallte, wie es ihm in die Kehle stieg . . . aber gewaltige Worte fand er nicht in sich.

»Was für ein Mensch bist du? . . . Du hast eine zerrissene Seele . . . sprichst hier verschiedene Worte . . . Als wüßtest du . . . Schweigen solltest du . . .«

»Ach, Tjapa,« rief der Lehrer bang, »du sprichst wahr . . . Und das Volk . . . gewiß! es ist sehr groß . . . und ich bin ihm fremd . . . und es ist mir fremd . . . Die Tragödie meines Lebens liegt darin . . . Doch – laß! Ich werde leiden . . . Und keinen Propheten . . . keinen! . . . Es ist wahr, ich rede viel . . . und keinem nützt es . . . aber ich will schweigen . . . Nur sprich nicht so mit mir . . . Ach, Alter! Du weißt nicht . . . weißt nicht . . . kannst nicht verstehen . . .«

Schließlich fing er an zu weinen. Er weinte so leicht und frei, mit reichlich fließenden Tränen, daß ihm danach sehr wohl wurde.

»Du solltest aufs Dorf gehen . . . um eine Lehrer- oder Schreiberstelle einkommen . . . Du wärst satt und in der frischen Luft . . . Was plagst du dich ab?« sagte Tjapa murrend mit heiserer Stimme.

Aber der Lehrer weinte und fand Genuß in seinen Tränen.

Von dieser Zeit an wurden sie Freunde, und die »Ehemaligen Leute« sagten, wenn sie sie zusammen sahen:

»Der Lehrer bildet Tjapa aus . . . hält ihm für Geld einen Kursus . . .«

»Kuwalda hat ihn angestiftet . . . er soll auskundschaften, wo der Alte seine Kapitalien hat . . .«

Vielleicht, daß sie anders dachten, wenn sie so sprachen. Diese Leute hatten einen komischen Zug: sie mochten sich einander gern schlimmer zeigen, als sie in Wirklichkeit waren.

Der Mensch, der nichts Gutes in sich hat, ist oft nicht abgeneigt, auch mit seinem Bösen zu renommieren.

* * *

Hatten sich alle diese Leute um den Lehrer mit der Zeitung versammelt, so begann die Lektüre.

»Nun denn,« sagt der Rittmeister, »was bringt denn heut die Zeitung? Ist ein Feuilleton drin?«

»Nein,« teilt der Lehrer mit.

»Euer Herausgeber ist habsüchtig . . . Ist ein Leitartikel – –?«

»Heut ist einer . . . Wie's scheint, von Gulajew . . .«

»Aha! Her damit! Der Spitzbube schreibt vernünftig . . .«

»Die Abschätzung des unbeweglichen Eigentums,« liest der Lehrer, »welche vor mehr als fünfzehn Jahren bewerkstelligt wurde, dient auch heute noch als Grundlage für die Steuererhebung seitens der Stadt . . .«

»Das ist naiv,« kommentiert Kuwalda, »dient noch! Lächerlich! Weil es so vorteilhaft für den Kaufmann ist, der die Stadt bestiehlt, darum eben dient sie noch . . .«

»Der Artikel ist über dies Thema geschrieben,« sagt der Lehrer.

»Ja? Sonderbar! Das ist ein Thema fürs Feuilleton . . . Darüber muß gepfeffert geredet werden . . .«

Ein kleiner Streit entbrennt. Das Publikum hört aufmerksam zu, denn bis dahin ist erst eine Flasche Schnaps getrunken worden. Nach dem Leitartikel wird die Lokal- und dann die Gerichtschronik gelesen. Erscheint in dem kriminalistischen Teile ein Kaufmann als handelnde oder leidende Person, so frohlockt Aristid Kuwalda von Herzen. Ist ein Kaufmann bestohlen worden – schön, nur schade, zu wenig! Wurden seine Pferde totgeschlagen – angenehm zu hören, nur betrübend, daß er selbst am Leben blieb. Verlor er seine Klage vor Gericht – prächtig, nur traurig, daß ihm nicht zweimal so viel Gerichtskosten auferlegt wurden.

»Das wäre ungesetzlich gewesen,« bemerkt der Lehrer.

»Ungesetzlich? Ist er selbst denn gesetzlich?« fragt Kuwalda bitter. »Was ist der Kaufmann? Betrachten wir seine grobe, läppische Erscheinung: zunächst ist jeder Kaufmann ein – Bauer. Er kommt aus dem Dorfe, und im Lauf der Zeit wird er Kaufmann. Um Kaufmann zu werden, muß man Geld haben. Woher kann ein Bauer Geld haben? Wie bekannt, erwirbt man es nicht durch redliche Arbeit. Der Bauer hat in dieser oder jener Weise gestohlen. Das heißt, der Kaufmann ist ein diebischer Bauer!«

»Getroffen!« billigt das Publikum die Ausführung des Redners.

Tjapa brummt, sich die Brust reibend. Genau so brummt er, wenn er nach dem Katzenjammer das erste Gläschen Schnaps trinkt. Die Korrespondenz wird gelesen. Das ist für den Rittmeister, seinen Worten nach, ein weites Meer. Überall sieht er, wie der Kaufmann das Leben verhäßlicht, wie er es gewandt verunstaltet und verdirbt. Seine Reden donnern und vernichten den Kaufmann. Weil er schimpft, wird er mit vergnügtem Gesicht angehört.

»Wenn ich Zeitungen schriebe!« ruft er aus. »O, ich wollte den Kaufmann in seiner wirklichen Gestalt zeigen . . . Ich zeigte, daß er nur ein Tier ist, das zeitweise Menschenamt erfüllt. Ich verstehe ihn! Er? Er ist roh, er ist dumm, er hat keinen Geschmack am Leben, keine Vorstellung vom Vaterland und kennt nichts Höheres als den Fünfer.«

Objedok, der die schwache Seite des Rittmeisters kannte und die Leute gern ärgerte, schaltet hämisch ein:

»Ja, seit der Adel anfängt, sich mit dem Hunger auszusöhnen – verschwinden die Menschen aus dem Leben . . .«

»Du hast recht, Sohn der Spinne und Kröte, ja, seit der Adel gesunken ist, gibt es keine Menschen mehr! Nur Kaufleute . . . und die hasse ich! has–se – ich!«

»Das ist zu begreifen, – weil sie auch dich in den Staub getreten haben, Bruder . . .«

»Mich? Ich ging an der Liebe zum Leben zugrunde . . . Narr! Ich liebte das Leben . . . und der Kaufmann nimmt es in Beschlag. Ich leide ihn gerade deshalb nicht, – und nicht, weil ich Edelmann bin. Wenn du's wissen willst, ich bin kein Edelmann, sondern einfach ein ehemaliger Mensch. Ich spucke jetzt auf alles und alle . . . und das Leben ist mir – eine Geliebte, die mich aufgegeben . . . dafür verachte ich es, und es ist mir tief-gleichgültig.«

»Du lügst!« sagt Objedok.

»Ich lüge?« brüllt Kuwalda zornrot.

»Wozu schreien,« ertönt Martjanows kalter, finsterer Baß. »Wozu das besprechen? Kaufmann . . . Edelmann . . . was geht es uns an?«

»Sintemal wir weder das eine noch das andere sind . . .« warf der Diakon Taraß ein.

»Laßt sein, Objedok!« sagt der Lehrer versöhnend. »Wozu den Hering salzen?«

Er mochte keinen Streit und überhaupt keinen Lärm. Wenn um ihn die Leidenschaften aufbrausten, preßte er mit leidender Miene die Lippen zu einer schmerzlichen Grimasse zusammen und bemühte sich, mit Ruhe und Besonnenheit alle mit allen zu versöhnen, und gelang es ihm nicht, verließ er die Gesellschaft. Da der Rittmeister dies wußte, hielt er an sich, falls er nicht besonders betrunken war, denn er verlor in dem Lehrer nicht gern den besten Zuhörer seiner Reden.

»Ich wiederhole,« fuhr er ruhiger fort, »ich sehe das Leben in den Händen der Feinde, nicht nur Feinden des Adels, sondern Feinden alles Edlen, die gierig und unfähig sind, das Leben, wie immer, zu verschönen . . .«

»Aber Bruder,« sagt der Lehrer, »Kaufleute haben Genua, Venedig, Holland gegründet, die Kaufleute Englands haben ihrem Lande Indien erobert, die Kaufleute Stroganow . . .«

»Was gehen mich jene Kaufleute an? Ich habe Judas Petunnikow und seinesgleichen im Auge . . .«

»Und was gehen diese dich an?« fragt der Lehrer ruhig . . .

»Lebe ich denn nicht? Aha! Ich lebe, – das heißt, es muß meinen Unwillen erregen, wenn ich sehe, wie rohe Menschen das Leben, das sie als Beute an sich gerissen, verderben . . .«

»Und über den edlen Unwillen des Rittmeisters und Menschen a. D. lachen,« stichelt Objedok.

»Gut! Einverstanden . . . es ist töricht . . . Als heruntergekommener Mensch soll ich in mir alle Gefühle und Gedanken, die einst mein waren, auslöschen. Das mag meinetwegen richtig sein! – Aber womit rüste ich mich aus und wir uns alle, wenn wir diese Gefühle abwerfen?«

»Jetzt fängst du an vernünftig zu reden,« sagt der Lehrer billigend.

»Wir brauchen etwas anderes, andere Gesichtspunkte, andere Gefühle . . . wir brauchen etwas Neues . . . denn wir sind selbst im Leben etwas Neues . . .«

»Unzweifelhaft brauchen wir das,« sagt der Lehrer.

»Wozu?« fragt Konez. »Ist es nicht einerlei, was gesprochen und gedacht wird? Wir haben nicht lange zu leben . . . ich bin vierzig, du fünfzig, keiner von uns unter dreißig . . . Und selbst mit zwanzig hält man solch Leben nicht lange aus.«

»Und was für Neues sind wir?« spottet Objedok. »Hungerleider hat's immer gegeben.«

»Und sie haben Rom gegründet,« sagt der Lehrer.

»Ja, gewiß,« frohlockt der Rittmeister. »Romulus und Remus – gehören sie nicht auch zur ›goldenen Rotte‹So genannt in Rußland verkommene Leute, die die niedrigsten Arbeiten verrichten, vagabundieren, trinken usw. Und wir – kommt unsere Stunde – schaffen auch wir . . .«

»Die Vernichtung der öffentlichen Ruhe und Stille,« unterbricht ihn Objedok. Er lacht laut und selbstzufrieden, ein häßliches Lachen, das in die Seele schneidet. Ihm sekundiert Ssimzow, der Diakon, Poltora Tarassa. Die naiven Augen des Burschen Meteor glühen in hellem Feuer, und seine Wangen röten sich.

Konez spricht, und es ist, als fiele ein Hammer auf die Köpfe:

»Das alles ist Torheit . . . Einbildung . . . dummes Zeug . . .«

Es war seltsam, diese aus dem Leben verjagten, zerlumpten, mit Ironie, Bosheit, Schmutz und Schnaps durchtränkten Leute so reden zu hören.

Für den Rittmeister waren diese Gespräche entschieden ein Feiertag des Herzens. Er sprach mehr als alle, und das gab ihm die Möglichkeit, sich besser als alle zu fühlen. Wie tief ein Mensch auch gefallen sei, – niemals versagt er sich den Genuß, sich stärker, klüger und wäre es auch nur – satter zu fühlen als sein Nächster. Aristid Kuwalda trieb mit diesem Genuß Mißbrauch, aber übersättigte sich nie, zum Mißvergnügen Objedoks, Kubars und anderer, die sich für derartige Fragen wenig interessierten.

Dafür war Politik allgemein beliebt. Ein Gespräch über das Thema von der Notwendigkeit der Eroberung Indiens oder der Besiegung Englands konnte sich endlos hinziehen. Mit nicht geringerer Leidenschaft sprachen sie von den Mitteln zur radikalen Judenausrottung auf Erden, aber in dieser Frage hatte Objedok die Oberhand, der erstaunlich grausame Projekte entwarf, und der Rittmeister, der überall der erste sein wollte, vermied dieses Thema gern. Viel und abscheulich wurde von den Weibern gesprochen, doch warf sich zu ihrer Verteidigung stets der Lehrer auf, der böse wurde, wenn sie übersalzten. Ihm gaben sie nach, denn sie hielten ihn für einen ungewöhnlichen Menschen und borgten Sonnabends ihm das Geld ab, das er in der Woche verdient hatte.

Er genoß überhaupt manche Privilegien: z. B. schlugen sie ihn nicht in den nicht seltenen Fällen, wenn das Gespräch mit einer allgemeinen Prügelei endete. Ihm war gestattet, Weiber mitzubringen; niemand sonst hatte dies Recht, denn der Rittmeister hatte allen vorher gesagt:

»Weiber dürfen nicht hergebracht werden . . . Weiber, Kaufleute und Philosophie sind die Ursachen meiner Mißerfolge. Seh' ich jemand mit einem Weib kommen, hau ich ihn zuschanden . . . das Frauenzimmer auch . . . Für Philosophieren – reiß' ich den Kopf ab . . .«

Er konnte den Kopf abreißen: ungeachtet seiner Jahre verfügte er über eine ungewöhnliche Kraft. Zudem half ihm Martjanow bei jedem Streit. Düster und schweigend wie ein Grabmal stand er während des allgemeinen Kampfes immer Rücken an Rücken mit Kuwalda, und sie waren dann wie eine allvernichtende und unvernichtbare Maschine.

Einmal krallte sich der betrunkene Ssimzow um nichts und wieder nichts dem Lehrer in die Haare und riß ihm ein Büschel aus. Mit einem Faustschlag auf die Brust streckte ihn Kuwalda für eine halbe Stunde ohnmächtig hin und zwang ihn, als er wieder zu sich kam, das Haar des Lehrers aufzuessen. Jener tat es, da er sonst fürchten mußte, totgeschlagen zu werden.

Außer Zeitunglesen, Gesprächen und Händeln diente ihnen auch das Kartenspiel zur Zerstreuung. Es wurde ohne Martjanow gespielt, denn der konnte nicht ehrlich spielen, was er auch selbst, nachdem er einige Male auf Spitzbübereien ertappt worden war, offen eingestand:

»Ich kann nicht anders als aufschlagen . . . Das ist meine Gewohnheit.«

»Das passiert,« bestätigte der Diakon Taraß. »Ich war es gewohnt, Sonntags nach der Messe meine Diakoniza zu schlagen, so daß, als sie gestorben war, mir Sonntags so bange wurde, daß es gar nicht zu glauben war . . . Einen Sonntag brachte ich hin – schlecht! Einen anderen – hielt ich's aus, – am dritten schlug ich mal meine Köchin . . . Sie tat beleidigt. ›Ich verklage Sie beim Friedensrichter‹ sagt sie. Stellt euch meine Lage vor! Am vierten Sonntag schlug ich sie wie meine Frau! Nachher zahlte ich ihr zehn Rubel und schlug sie nun regelmäßig wie gewohnt, bis ich wieder heiratete . . .«

»Diakon, du lügst! Wie konntest du zum zweitenmal heiraten?« unterbrach ihn Objedok.

»Ah? Nu so . . . sie sah bei mir nach der Wirtschaft . . .«

»Hattet ihr Kinder?« fragte ihn der Lehrer.

»Fünf Stück . . . Einer ertrank . . . der älteste . . . ein spaßiges Jungchen! Zwei starben an Diphtheritis . . . Eine Tochter hat einen Studenten geheiratet und ist mit ihm nach Sibirien gegangen, die andere wollte studieren und starb in Piter, an Schwindsucht wurde gesagt . . . J–ja . . . fünf waren's . . . versteht sich! Wir Geistlichen sind fruchtbar . . .«

Er fing an zu erklären, warum das so sei, wobei er durch seine Erzählung ein homerisches Gelächter erregte. Als sie des Lachens müde waren, fiel es Alexej Maximowitsch Ssimzow ein, daß er auch eine Tochter gehabt hatte.

»Lydia hieß sie . . . sie war dick . . .« Und mehr mochte er wohl nicht wissen, denn er sah alle an, lächelte verlegen und schwieg.

Von ihrer Vergangenheit sprachen diese Leute wenig miteinander und gedachten ihrer äußerst selten, immer nur in allgemeinen Zügen und mehr oder weniger spöttischem Ton. Man wird wohl zugestehen müssen, daß solche Beziehung zur Vergangenheit auch klug war, denn den meisten Menschen schwächt die Erinnerung an die Vergangenheit die Energie in der Gegenwart und untergräbt die Hoffnung auf die Zukunft.

* * *

In den regnerischen, grauen, kalten Spätherbsttagen aber versammelten sich alle diese Leute in Wawilows Schenke. Dort waren sie bekannt, – etwas gefürchtet als Diebe und Raufbolde, etwas verachtet als unverbesserliche Trinker, aber trotzdem auch geachtet und als kluge Leute angesehen. Wawilows Schenke war der Klub der Wjesshaja, und diese »ehemaligen« Leute – die Intelligenten des Klubs.

Sonnabend abends und Sonntags vom Morgen bis zum Abend und in die Nacht war die Schenke voll, und die Bewohner des Kuwaldaschen Asyls erschienen dort als gern gesehene Gäste. Sie brachten unter die in Not und Elend steckenden Bewohner der Straße ihren Geist, in dem etwas war, das das Leben dieser Menschen erleichterte, die, abgehetzt von der Jagd nach dem Stück Brot, sich keinen Rat wußten, die ebensolche Trinker waren wie die Asylgäste und ebenso aus der Stadt Hinausgeworfene wie sie. Das Vermögen, von allem zu sprechen und über alles zu lachen, die Furchtlosigkeit ihrer Meinungen, die Schärfe ihrer Reden, die Unerschrockenheit vor dem, was die ganze Straße in Schrecken versetzte, die müßiggängerische, bramarbasierende Bravour dieser Leute – mochten der Straße wohl gefallen. Dazu kannten fast alle die Gesetze, konnten beliebigen Rat geben, Gesuche schreiben und helfen, ungestraft Spitzbübereien zu verüben.

Für alles das zahlten sie ihnen mit Schnaps und schmeichelhafter Bewunderung ihrer Talente.

Ihren Sympathien nach teilte sich die Straße in zwei fast gleiche Parteien: die einen hielten den Rittmeister, der weit schärfer als der Lehrer war, für einen »echten Krieger von größtem Mut und Verstand«. Die anderen waren überzeugt, daß der Lehrer Kuwalda in allen Beziehungen übertraf. Als Kuwaldas Verehrer traten diejenigen Elemente der Bürgerschaft auf, welche als notorische Trunkenbolde, Diebe und Wagehälse in der Straße bekannt waren, und denen der Weg vom Bettelstab zum Gefängnis kein gefährlicher Pfad schien. Den Lehrer aber achteten die Leute mehr, die ehrbarer waren, auf etwas hofften, etwas erwarteten, ewig mit etwas beschäftigt und selten satt waren.

Der Charakter der Beziehungen Kuwaldas und des Lehrers zur Straße zeigte sich treffend an folgendem Beispiel. Einmal wurde in der Schenke eine Verfügung des Magistrats begutachtet, durch welche die Bewohner der Wjesshajastraße verpflichtet wurden, die Gruben und Wasserlöcher in ihrer Straße zuzuschütten, aber weder Dünger noch Tierkadaver zu diesem Zwecke zu verwenden, sondern nur Bauschutt und Geröll von Bauplätzen.

»Woher soll ich denn diesen Bauschutt nehmen, da ich in meinem ganzen Leben bloß einen Starkasten bauen wollte, der noch nicht einmal fertig geworden ist,« äußerte Mokej Anisimow kläglich, ein Mensch, der einen Handel mit Kalatschen betrieb, die ihm seine Frau buk.

Der Rittmeister fand es notwendig, sich über die aufgeworfene Frage auszusprechen und schlug mit der Faust auf den Tisch, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Woher Bauschutt nehmen? Geht in die Stadt, Kinder, und tragt das Rathaus ab, – bei seiner Baufälligkeit taugt es doch zu nichts anderem mehr. Auf diese Art macht ihr euch doppelt um den Schmuck der Stadt verdient – macht die Wjesshaja anständig und veranlaßt, daß ein neues Rathaus gebaut wird. Die Pferde zu den Fuhren nehmt ihr vom Bürgermeister, und seine drei Töchter nehmt auch mit – die Mädchen sind ganz tauglich zum Anspann. Dann reißt Judas Petunnikows Haus ein und pflastert die Straße mit dem Holz. Übrigens, Mokej, ich weiß, womit deine Frau heut die Kalatschen gebacken hat: – mit den Laden des dritten Fensters und zwei Stufen von der Treppe von Judas Petunnikows Haus.«

Als das Publikum sich über den Vorschlag des Rittmeisters satt gelacht und gewitzelt hatte, fragte der gesetzte Gemüsegärtner Pawljukin:

»Aber was ist nun bei alledem zu machen, Ew. Wohlgeboren? . . . Ah? Was meinen Sie?«

»Ich? Weder Hand noch Fuß rühren! Wird die Straße weggeschwemmt – nun, mag sie!«

»Einige Häuser wollen einfallen . . .«

»Stört sie nicht, laßt sie fallen! Sind sie eingestürzt – fordert ihr eine Unterstützung von der Stadt; geben sie nichts – verklagt sie! Woher kommt das Wasser? Aus der Stadt? Nun, dann ist die Stadt auch schuld am Einsturz eurer Häuser . . .«

»Das Wasser ist vom Regen, werden sie sagen . . .«

»Ja, fallen denn in der Stadt auch die Häuser davon ein? Ah? Sie nimmt Steuern von euch, aber läßt euch keine Stimme, um von euren Rechten zu sprechen! Sie verdirbt euch Leben und Habe und will euch noch zwingen, auszubessern. Gebt's ihnen tüchtig! . . .«

Und die Hälfte der Straße, von dem radikalen Kuwalda überzeugt, entschloß sich, abzuwarten, bis das Regenwasser aus der Stadt ihre Häuschen wegspüle.

Die gemäßigteren Leute fanden in dem Lehrer einen Mann, der ihnen einen vortrefflichen und überzeugenden Bericht an den Magistrat aufsetzte. In diesem Bericht war die Ablehnung der Straße, die Verfügung des Magistrats auszuführen, so gediegen motiviert, daß der Magistrat sie annahm. Es wurde bestimmt, daß sie den vom Bau der Remontenkaserne übrig gebliebenen Schutt benutzen sollten, und zu den Fuhren wurden ihnen fünf Pferde der Feuerwehr gegeben. Sogar mehr noch – es wurde die Notwendigkeit anerkannt, mit der Zeit ein Abzugsrohr durch die Straße zu legen. Dies und manches andere verschaffte dem Lehrer eine ausgedehnte Popularität in der Stadt. Er schrieb die Gesuche und machte in der Zeitung Anmerkungen. So hatten Wawilows Gäste z. B. einmal bemerkt, daß Heringe und andere Nahrungsmittel dort durchaus nicht ihrer Bestimmung entsprachen. Und da, nach zwei Tagen etwa, legte Wawilow, an seinem Büfett stehend, mit der Zeitung in der Hand, öffentlich das Bekenntnis ab:

»Es ist wahr – eins kann ich sagen! Heringe habe ich in der Tat nicht ganz gute gekauft. Und der Kohl . . . das ist richtig! . . . er war ein bißchen angegangen. Gewiß, jeder will soviel Fünfer wie möglich in seine Tasche jagen . . . Aber jetzt ist gerade das Gegenteil daraus geworden: ich hatte Böses im Sinn, und ein kluger Mensch hat mich um meiner Habgier willen der Schande preisgegeben . . . wir sind quitt!«

Dies Bekenntnis machte einen sehr guten Eindruck auf das Publikum und gab Wawilow die Möglichkeit, seinen Hering und Kohl zu verfüttern; und das Publikum aß mit der Würze dieses Eindrucks, ohne es zu merken. Dies Faktum war sehr bedeutsam, denn es vergrößerte nicht nur das Prestige des Lehrers, sondern machte die Leute auch mit der Macht des gedruckten Wortes bekannt. Es kam vor, daß der Lehrer in der Schenke Vorlesungen über praktische Moral hielt.

»Ich habe gesehen,« sagt er, sich an den Maler Jaschka Tjurin wendend, »ich habe gesehen, Jakob, wie du deine Frau geschlagen hast . . .«

Jaschka hat sich schon mit zwei Gläsern Schnaps aufgefrischt und befindet sich in kecker, ungebundener Stimmung. Das Publikum sieht auf ihn in der Erwartung, daß er gleich einen Spaß macht, und in der Schenke herrscht Stille.

»Hast du's gesehen? Nun, hat's dir gefallen?« fragt Jakob.

Das Publikum lacht verhalten.

»Nein, es hat mir nicht gefallen,« antwortet der Lehrer. Sein Ton ist so eindringlich ernst, daß das Publikum schweigt.

»Mir scheint, ich hab' mir Müh' gegeben,« prahlt Jaschka im Vorgefühl, daß er neben dem Lehrer den kürzeren ziehen wird. »Sie hat genug . . . heut steht sie nicht mehr auf . . .«

Der Lehrer zieht nachdenklich mit dem Finger Linien auf den Tisch und sagt, während er sie betrachtet:

»Sieh, Jaschka, weshalb es mir nicht gefällt . . . Wir wollen uns ordentlich klarmachen, was du tust, und was du davon zu erwarten hast. Deine Frau ist guter Hoffnung; du schlugst sie gestern auf den Leib und die Seiten, – das heißt, du hast nicht nur sie, sondern auch das Kind geschlagen. Du hättest es töten können, und bei der Geburt würde deine Frau daran sterben oder sehr krank werden. Sich mit einer kranken Frau plagen, ist nicht angenehm und macht Mühe, und es würde dich teuer zu stehen kommen, denn Krankheit erfordert Arzenei, und Arzenei Geld. Hast du das Kind nicht getötet, so ist es vielleicht verstümmelt und kommt möglicherweise als Krüppel zur Welt: schief oder bucklig. Das heißt – es wird unfähig zur Arbeit, und für dich ist es wichtig, daß ein Arbeiter daraus wird. Und würde es nur kränklich geboren – so ist auch das schlimm genug, denn die Mutter ist dadurch gebunden, und das Kind muß kuriert werden. Siehst du, was du dir besorgt hast? Leute, die durch ihrer Hände Arbeit leben, müssen gesund geboren werden und gesunde Kinder zur Welt bringen . . . Habe ich recht?«

»Du hast recht,« bestätigt das Publikum.

»Ja, das . . . hoffentlich . . . geschieht das nicht,« sagt Jaschka, ein wenig bange vor der Perspektive, die ihm der Lehrer eröffnet. »Sie ist gesund . . . durch sie kommt man nicht ans Kind, geh' doch! – Zum Teufel, sie ist doch wirklich eine Hexe!« ruft er erbittert. »Kaum mach' ich was . . . so möcht' sie mich fressen wie der Rost das Eisen.«

»Ich begreife, Jakob, daß es dir unmöglich ist, deine Frau nicht zu schlagen,« ertönt wieder die ruhige, nachdenkliche Stimme des Lehrers. »Du hast manche Ursachen dazu. Nicht der Charakter deiner Frau ist der Grund, daß du sie so unvorsichtig schlägst . . . sondern dein ganzes dunkles und trauriges Leben . . .«

»Das ist richtig,« ruft Jakob, »wir leben wirklich im Dunkeln wie im Wams beim Schornsteinfeger.«

»Du ärgerst dich über das ganze Leben, und deine Frau, der dir nächste Mensch, leidet darunter – und leidet schuldlos vor dir nur deshalb, weil du stärker bist als sie. Du hast sie immer unter der Hand, und sie kann nirgendhin vor dir. Siehst du, wie . . . ungereimt das ist!«

»Es ist so . . . hol' sie der Teufel! Aber was soll ich denn machen? Bin ich denn kein Mensch?«

»Ja, du bist ein Mensch! . . . Nun, was ich dir sagen will: mußt du sie schlagen – schlage, wenn du nicht anders kannst, aber schlage vorsichtig: bedenke, daß du ihrer Gesundheit oder der Gesundheit des Kindes schaden kannst. Niemals aber schlage sie auf Leib, Brust oder Seiten . . . schlage an den Hals, oder nimm einen Strick und . . . auf weiche Stellen . . .«

Der Redner beendete seine Rede, und seine tiefliegenden, dunklen Augen sahen auf das Publikum wie entschuldigend oder verlegen fragend.

Doch es lärmt neubelebt. Es versteht diese Moral des heruntergekommenen Menschen, die Moral der Schenke und des Unglücks.

»Nun, Bruder Jaschka, hast du verstanden?«

»Siehst du, was passieren kann!«

Jakob hatte verstanden: Die Frau unvorsichtig schlagen – bringt ihm Schaden.

Er schweigt, die Späße der Genossen mit verlegenem Grinsen beantwortend.

»Und wiederum, was ist die Frau?« philosophiert Mokej Anisimow; »die Frau ist – ein Freund, wenn man die Sache richtig auffaßt. Sie ist fürs ganze Leben wie mit einer Kette an dich geschmiedet . . . und ihr beide wie eine Art Galeerensträflinge. Sieh zu, daß du gleichen Schritt mit ihr hältst . . . kannst du's nicht, – fühlst du die Kette . . .«

»Halt,« sagt Jakob, »du schlägst deine doch auch –«

»Sag' ich denn – nicht? Ich schlage . . . Anders ist es nicht möglich. Soll man denn die Wand mit den Fäusten bearbeiten, wenn man die Geduld verliert?«

»Nun, sieh, so ich auch . . .« sagt Jakob.

»Was haben wir doch für ein enges Leben, Bruder, – nirgends kann man ordentlich ausholen!«

»Und das Weib sogar schlage einer mit Vorsicht!« klagt jemand humoristisch. Und in dieser Weise unterhalten sie sich bis spät in die Nacht oder bis zum Ausbruch von Händeln, die auf dem Boden der Trunkenheit und der Stimmungen entstehen, die diese Gespräche verursachen.

Hinter den Fenstern der Schenke regnet es; wild heult ein kalter Wind. In der Schenke ist es schwül und voll Tabaksrauch, aber warm; auf der Straße naß, kalt und dunkel. Der Wind schlägt ans Fenster, als riefe er herausfordernd all diese Leute hinaus und drohe ihnen, sie wie Staub über die Erde zu verwehen. Hin und wieder wird in seinem Geheul ein unterdrücktes, hoffnungsloses Stöhnen laut und dann ein kaltes, hartes Lachen. Diese Musik zwingt zu traurigen Gedanken an die Nähe des Winters, an die verfluchten kurzen Tage ohne Sonnenschein und die langen Nächte, an die Notwendigkeit, warme Kleidung und viel zu essen zu haben. Mit leerem Magen schläft es sich so schlecht in den endlosen Winternächten. Der Winter kommt, der Winter . . . Wie leben?

Diese unfrohen Gedanken riefen bei den Bewohnern der Wjesshaja verstärkten Durst hervor, und bei den »Ehemaligen Leuten« vermehrte sich die Zahl der Seufzer in ihren Reden und die Anzahl der Runzeln im Gesicht; die Stimmen wurden dumpfer, die Beziehungen zueinander stumpften sich ab. Und plötzlich loderte eine tierische Wut zwischen ihnen auf, erwachte die Erbitterung in diesen ausgestoßenen, von ihrem harten Schicksal gemarterten Leuten, oder die Nähe jenes unerbittlichen Feindes machte sich fühlbar, der ihr ganzes Leben in eine grausige Absurdität verwandelte. Und dieser Feind war ungreifbar, denn sie kannten ihn nicht.

Und dann schlugen sie einander; schlugen grausam, schlugen tierisch und tranken wieder, nachdem sie sich vertragen, alles vertrinkend, was der anspruchslose Wawilow als Pfand annehmen wollte.

So, in dumpfer Wut, in einer Angst, die ihnen das Herz zusammenpreßte, keinen Ausweg aus diesem abscheulichen Leben sehend, brachten sie die Herbsttage hin, die noch härteren Wintertage erwartend.

In dieser Zeit kam ihnen Kuwalda mit seiner Philosophie zu Hilfe.

»Nicht bekümmert sein, Brüder! Alles hat ein Ende. Das ist noch das beste im Leben. Der Winter geht vorüber, es wird wieder Sommer und herrliche Zeit, wenn, wie man sagt, auch die Sperlinge Bier haben.« Aber seine Reden wirkten nicht – ein Schluck des allerklarsten Wassers sättigt den Hungrigen nicht . . .

Auch der Diakon Taraß versuchte, das Publikum zu zerstreuen, indem er Lieder sang und seine Geschichten erzählte. Er hatte mehr Erfolg. Zuweilen führten seine Bemühungen dahin, daß plötzlich eine verzweifelte, verwegene Lustigkeit in der Schenke aufbrauste: sie tranken, tanzten, lachten und waren für einige Stunden wie Verrückte.

Und dann fielen sie wieder in gleichgültige, stumpfe Verzweiflung und saßen an den Tischen der Schenke im Tabaksdampf und Lampenqualm, finster, zerlumpt, wortkarg, dem triumphierenden Geheul des Windes lauschend, und dachten nur daran, sich am Schnaps zu betrinken, zu betrinken, bis sie die Empfindung verloren.

Und alle waren einander tief zuwider, und jeder hegte in sich einen sinnlosen Zorn gegen jeden.

* * *

Alles ist relativ in dieser Welt, und es gibt in ihr keine Lage für den Menschen, daß nicht eine andere noch schlimmer sein könnte.

Einst gegen Ende des Septembers saß der Rittmeister Aristid Kuwalda an einem klaren Tage in seinem Sessel vor der Tür des Asyls und sann, während er das vom Kaufmann Petunnikow errichtete, steinerne Gebäude betrachtete.

Das noch vom Baugerüst umgebene Gebäude war im voraus zu einer Lichtefabrik bestimmt und stach dem Rittmeister schon lange in die Augen durch die leeren, dunklen Höhlen der langen Fensterreihen und das Spinngewebe aus Holz, das es vom Fundament bis zum Dach umgab. Rot, wie mit Blut angestrichen, glich es einer grausigen, noch untätigen Maschine, die jedoch schon eine Reihe tiefer, gieriger Rachen aufsperrte, bereit, etwas zu schlucken, zu kauen und zu verschlingen. Wawilows graue, hölzerne Schenke mit dem schiefen, moosbewachsenen Dach, die sich an eine der Ziegelwände der Fabrik anlehnte, sah daneben aus wie ein großer Parasit, der sich festgesogen hatte.

Der Rittmeister dachte daran, daß sie bald auch auf der Stelle des alten Hauses anfangen würden zu bauen, und daß sie auch das Asyl abbrechen würden. Er muß dann ein anderes Unterkommen suchen, und solch bequemes, billiges ist nicht zu finden. Gewissermaßen ist es doch traurig, einen langgewohnten Ort zu verlassen, und verlassen muß er nur deshalb werden, weil ein gewisser Kaufmann Seife und Lichte produzieren will. Und der Rittmeister fühlt, daß, böte sich ihm die Gelegenheit, diesem Feinde durch irgend etwas das Leben nur für eine Zeit lang zu verderben, er – o, mit welchem Genuß! – es ihm verderben würde.

Gestern war der Kaufmann Iwan Andrejewitsch Petunnikow mit dem Baumeister und seinem Sohne auf dem Hofe des Asyls. Sie maßen den Hof aus und steckten überall Stäbchen in die Erde, die der Rittmeister, nachdem Petunnikow fortgegangen war, von Meteor ausziehen und fortwerfen ließ.

Vor den Augen des Rittmeisters stand dieser Kaufmann, – klein, dürr, in einem langschößigen Kleidungsstück, das ebenso einem Überrock wie einem Unterkleide glich, in einer Sammetmütze und blankgewichsten Stiefeln. Das knochige Gesicht mit grauem, keilförmigem Bart zeigte eine hohe, von Runzeln durchfurchte Stirn und kleine, zusammengekniffene, graue Augen, die stets nach etwas ausspähten . . . eine spitze, knorplige Nase und einen kleinen Mund mit dünnen Lippen . . . Im großen und ganzen hatte der Kaufmann ein fromm-raubgieriges, ehrwürdig-boshaftes Aussehen.

»Verfluchter Bastard von Fuchs und Schwein!« schimpfte der Rittmeister für sich und dachte an die erste Phrase Petunnikows, die ihn betraf. Der Kaufmann war mit einem Magistratsmitgliede gekommen, um dies Haus zu kaufen, und hatte seinen Begleiter, als er den Rittmeister erblickte, in der raschen Kostromaer Sprechweise gefragt:

»Dieser heruntergekommene Mensch da . . . Ihr Mieter?«

Und seitdem wetteiferten sie miteinander, wer es am besten verstand, den anderen zu kränken.

Und gestern kam es zwischen ihnen zu einer leichten Wortgefechtsübung, wie der Rittmeister seine Unterhaltungen mit dem Kaufmann nannte. Als er den Architekten begleitete, kam der Kaufmann zum Rittmeister heran.

»Du sitzest?« fragte er, indem er mit der Hand am Mützenschirm zupfte, so daß nicht zu erkennen war, ob er ihn zurechtrücken oder grüßen wollte.

»Du rennst umher?« fragte der Rittmeister in demselben Ton und machte eine Bewegung mit dem unteren Kinnbacken, wodurch sein Bart sich hob, was ein anspruchsloser Mensch als Gruß ansehen mochte oder auch, als wollte der Rittmeister die Pfeife aus einem Mundwinkel in den anderen schieben.

»Ich hab' viel Geld, drum muß ich hin und her rennen, das Geld will rollen, und ich lasse ihm den Lauf,« reizte der Kaufmann ein bißchen den Rittmeister und zwinkerte mit den kleinen Augen.

»Das heißt, der Rubel dient nicht dir, sondern du dem Rubel,« kommentierte Kuwalda, mit dem Verlangen kämpfend, dem Kaufmann einen Tritt vor den Leib zu versetzen.

»Ist das nicht einerlei? Mit Geld ist alles angenehm . . . Aber ohne . . .«

Und der Kaufmann betrachtet den Rittmeister mit herausforderndem Mitleid. Seine Oberlippe zuckt und läßt große Wolfszähne sehen.

»Mit Verstand und Gewissen kann man auch ohne Geld leben . . . Es erscheint gewöhnlich gerade dann, wenn das Gewissen beim Menschen zu verdorren beginnt . . . Des einen weniger und des anderen mehr . . .«

»Richtig . . . aber es gibt Leute, die weder Geld noch Gewissen haben . . .«

»Warst du schon von Jugend an so?« fragt Kuwalda gutmütig. Jetzt zittert Petunnikows Nase. Iwan Andrejewitsch seufzt, blinzelt und sagt:

»Ich mußte von Jugend an schwere Last tragen!«

»Das denk' ich . . .«

»Ich habe gearbeitet, o, wie hab' ich gearbeitet!«

»Und hast viele bearbeitet!«

»Solche wie du! Adlige? O ja . . . ihrer genug haben durch mich beten gelernt . . .«

»Umgebracht hast du nicht, nur beraubt!« setzt ihm der Rittmeister zu. Petunnikow wird grün und findet es nötig, das Thema zu wechseln.

»Du bist aber ein schlechter Wirt – du sitzest, und der Gast steht . . .«

»Mag er sich auch setzen,« gestattet Kuwalda.

»Es ist nichts da, siehst du . . .«

»Auf die Erde . . . die Erde nimmt allen Unrat an . . .«

»Das seh' ich an dir . . . Doch du schimpfst, ich gehe besser,« sagte der Kaufmann ruhig und gleichmütig, aber seine Augen gossen kaltes Gift über den Rittmeister.

Und er ging fort, Kuwalda in dem angenehmen Bewußtsein zurücklassend, daß ihn der Kaufmann fürchtete. Fürchtete er ihn nicht, so hätte er ihn längst aus dem Asyl gejagt. Nicht um der monatlichen fünf Rubel willen tat er es nicht. Und es ist dem Rittmeister angenehm, Petunnikow nachzusehen, der sich langsam vom Hofe entfernt. Dann verfolgt er mit den Augen, wie Petunnikow um seine Fabrik geht und in dem Gerüst auf und nieder steigt, und er wünscht sehr, der Kaufmann möchte fallen und sich die Knochen zerbrechen. Wieviel scharfsinnige Kombinationen von Fall und Verkrüppelung hatte er schon gemacht, wenn er Petunnikow nachsah, der in dem Gerüst herumkletterte wie eine Spinne in ihrem Netz. Gestern schien es ihm sogar, als erzittere das Brett unter den Füßen des Kaufmanns, und er sprang vor Aufregung von seinem Platz auf . . . Aber nichts passierte.

Und heut wie gestern ragt das rote Gebäude vor Kuwaldas Augen, so dauerhaft, so stark, so fest an die Erde geklammert, als sauge es ihr schon den Saft aus. Es war, als lache es mit den weitoffenen Löchern seiner Wände kalt und finster über den Rittmeister. Die Sonne aber schüttete ihre herbstlichen Strahlen ebenso freigebig darüber wie über die ungestalteten Häuschen der Wjesshaja aus.

»Und plötzlich?« ruft der Rittmeister in Gedanken aus, mit den Augen die Wände der Fabrik messend. »Ach du, zum Teufel! Wenn es wäre . . .« Aufgeregt bei diesem Gedanken zusammenfahrend, sprang Aristid Kuwalda auf und ging eiligst nach Wawilows Schenke, indem er lächelte und etwas vor sich hinbrummte.

Wawilow empfing ihn hinter dem Büfett mit freundschaftlichem Ausruf:

»Guten Tag, Ew. Wohlgeboren!«

Von mittlerem Wuchs, mit einer Glatze in einem Kränzchen grauer Haare, rasierten Wangen und borstigem Schnurrbart, der einer Zahnbürste glich, aufrecht und behend, in fettiger Lederjacke, ließ er in jeder seiner Bewegungen den alten Unteroffizier erkennen.

»Jegor! Du hast die Eintragungsurkunde und den Riß vom Hause?« fragte ihn Kuwalda hastig.

»Ich habe sie.«

Wawilow kniff seine verschmitzten Augen zusammen und heftete sie fest auf des Rittmeisters Gesicht, in dem er etwas Besonderes sah.

»Zeig' her!« rief der Rittmeister, indem er mit der Faust auf den Ladentisch schlug und sich auf die Bank daneben niederließ.

»Aber wozu?« fragte Wawilow, beim Anblick von Kuwaldas Erregung entschlossen, die Ohren zu spitzen.

»Tölpel, gib schnell!«

Wawilow runzelte die Stirn und hob die Augen fragend zur Decke.

»Wo habe ich doch diese Papiere?«

An der Decke fanden sich auf diese Frage keine Hinweise; da richtete er die Augen auf seinen Leib und fing an, mit dem Ausdruck besorgten Nachdenkens auf dem Tische zu trommeln.

»Genug der Grimassen!« schrie ihn der Rittmeister an, der ihn nicht mochte, da er fand, daß sich der frühere Soldat mehr zum Diebe als zum Schenkwirt eignete.

»Ja, Ristid Fomitsch, es fällt mir schon ein. Mich deucht, sie sind auf dem Gericht geblieben. Als ich den Besitz antrat . . .«

»Jegorchen, laß das! Im Hinblick auf deinen Vorteil zeige mir gleich den Plan, den Kaufbrief und alles, was du hast. Vielleicht kannst du dabei ein paar hundert Rubel verdienen, – verstanden?«

Wawilow verstand nicht, aber der Rittmeister sprach so eindringlich, mit so ernster Miene, daß die Augen des Unteroffiziers in heftiger Neugier auffunkelten und, nachdem er gesagt, er werde sehen, ob diese Papiere nicht bei ihm verpackt seien, ging er durch die Tür hinter dem Büfett hinaus. Nach ein paar Minuten kam er mit den Papieren in der Hand zurück und mit dem Ausdruck äußerster Betroffenheit im Gesicht.

»Da hab' ich sie doch zu Hause, die verfluchten!«

»Ach du, Bajaz vom Balagan! Und ist Soldat gewesen . . .« ließ der Rittmeister nicht die Gelegenheit vorübergehen, ihm vorzuwerfen, nachdem er ihm die Kalikomappe mit dem blauen Aktenpapier aus den Händen gerissen hatte. Nachdem er die Papiere vor sich ausgebreitet und Wawilows Neugier aufs höchste gesteigert hatte, fing der Rittmeister an zu lesen, zu betrachten und bedeutungsvoll dabei zu brummen. Endlich stand er entschlossen auf und ging zur Tür, indem er die Papiere auf dem Ladentisch zurückließ und Wawilow zunickte:

»Warte . . . verwahr' sie nicht . . .«

Wawilow nahm die Papiere zusammen, legte sie in den Kasten des Zahltisches, schloß ihn ab und zog mit der Hand – war's auch gut verschlossen? Dann ging er, nachdenklich seine Glatze reibend, auf die Treppe hinaus. Da sah er, daß der Rittmeister, nachdem er die Vorderseite der Schenke schrittweis abgemessen hatte, mit den Fingern schnalzte und sorgfältig, aber befriedigt dieselbe Linie noch einmal maß.

Wawilows Gesicht spannte sich, zog sich in die Länge und leuchtete plötzlich froh auf.

»Ristid Fomitsch! Wär's möglich?« rief er, als der Rittmeister neben ihm war.

»Was sollt's nicht möglich sein?! Mehr als ein Arschin abgeschnitten. Das ist vorne, und in der Tiefe werde ich gleich sehen . . .«

»In der Tiefe? . . . Zehn Faden zwei Arschin!«

»Was, hast's erraten, rasierte Fratze?«

»Natürlich, Ristid Fomitsch! Aber Augen haben Sie – drei Arschin in die Erde hinein können Sie sehen!« rief Wawilow voll Entzücken.

Nach einigen Minuten saßen sie in Wawilows Stube einander gegenüber, und der Rittmeister, mit großen Schlucken Bier vertilgend, sagte zum Gastwirt:

»Und also – die ganze Wand der Fabrik steht auf deinem Grund. Handle ohne jede Schonung. Der Lehrer wird kommen, und wir klagen beim Kreisgericht. Den Klagewert beziffern wir sehr niedrig, um nicht Stempelkosten zu haben, aber wir ersuchen um Abbruch. Das, mein Freundchen, heißt Vernichtung der Grenzen fremden Eigentums . . . sehr angenehmes Ereignis für dich! Brich ab! Aber solche Maschine abbrechen oder weiterrücken – ist sehr teuer. Zum Friedensrichter! Da drücke den Judas gehörig! Wir berechnen ganz genau, wieviel der Abbruch kosten würde – mit den zerbrochenen Ziegeln, mit der Ausschachtung des neuen Fundaments . . . alles rechnen wir aus! Sogar die Zeit stellen wir in Rechnung! Und dann – bitte sehr, frommer Judas, zweitausend Rubel!«

»Er wird nicht geben!« sagte Wawilow unruhig mit den Augen blinzelnd, die voller Gier funkelten.

»Geschwätz! Er gibt! Rühr' dein Gehirn – was soll er machen? Abbrechen? Aber – sieh zu, Jegorchen, mach's nicht billiger! Er wird dich kaufen wollen – verkauf' dich nicht billig! Er wird dir Angst machen – fürcht' dich nicht! Verlaß dich auf uns . . .«

Die Augen des Rittmeisters funkelten in grimmiger Freude, und sein aufgeregt rotes Gesicht verzog sich krampfhaft. Die Habgier des Gastwirts war angefacht, und er ging in triumphierendem, unerbittlichem Grimm davon, nachdem er ihn überredet, so schnell wie möglich zu handeln.

* * *

Abends erfuhren alle »ehemaligen Leute« des Rittmeisters Entdeckung, und die künftigen Handlungen Petunnikows leidenschaftlich erörternd, malten sie in grellen Farben seine Betroffenheit und seinen Zorn an dem Tage, wo der Gerichtsbote ihm die Kopie der Klage zustellen würde. Der Rittmeister fühlte sich als Held. Er war glücklich und alle um ihn – zufrieden. In einem großen Haufen lagerten die dunklen, lumpenbekleideten Gestalten auf dem Hofe, lärmten und frohlockten, belebt von dem Faktum. Alle kannten den Kaufmann Petunnikow, der oft an ihnen vorüberging. Verächtlich die Augen zusammenkneifend, schenkte er ihnen dieselbe Aufmerksamkeit wie all dem anderen Gerümpel, das auf dem Hofe herumlag. Eine Sattheit ging von ihm aus, die sie reizte, und selbst aus seinen glänzenden Stiefeln sprach Geringschätzung für sie alle. Und jetzt versetzt ihm einer von ihnen einen tüchtigen Schlag auf Tasche und Eigenliebe. War das nicht schön?

Das Böse hatte in den Augen dieser Leute viel Anziehendes. Es war ihre einzige Waffe, die sie in ihrer Macht und zur Hand hatten. Jeder von ihnen hatte längst in sich halb unbewußt die dunkle Empfindung schroffen Hasses gegen alle die Leute großgezogen, die satt und nicht in Lumpen gekleidet waren, und in jedem von ihnen befand sich das Gefühl auf verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Das war es, was in allen »ehemaligen Leuten« brennendes Interesse an dem Kriege hervorrief, den Kuwalda dem Kaufmann Petunnikow erklärt hatte.

Zwei Wochen lebten die Asylbewohner in der Erwartung neuer Ereignisse, und in der ganzen Zeit erschien Petunnikow nicht einmal auf dem Bau. Sie erfuhren, daß er nicht in der Stadt war, und daß ihm die Klage noch nicht zugestellt worden sei. Kuwalda verdonnerte die Praktik der Zivilprozesse. Kaum mochte der Kaufmann jemals und von irgendwem mit solcher ungeduldigen Spannung erwartet worden sein, wie ihn jetzt die Landstreicher erwarteten.

»Er kommt nicht, er kommt nicht, mein Herzensfreund . . .«

»Ach, das heißt, er liebt mich nicht!« sang der Diakon Taraß, humoristisch-bekümmert nach dem Berge sehend.

Aber dann erschien mit einem Male gegen Abend Petunnikow. Er kam in einer soliden Telega mit dem Sohn als Kutscher – einem rotbäckigen, jungen Mann mit langem, kariertem Paletot und dunkler Brille. Sie banden das Pferd an das Gerüst; der Sohn nahm eine Roulette aus der Tasche, gab das Ende dem Vater, und sie fingen an, den Boden zu vermessen, beide schweigend und mit Sorgfalt.

»Aha–a!« rief der Rittmeister triumphierend. Alle gerade im Asyl Anwesenden kamen zum Vorschein und äußerten laut ihre Meinungen betreffs des Vorangegangenen.

»Das heißt: aus Gewohnheit stehlen – der Mensch stiehlt irrtümlicherweise selbst dann, wenn er nicht will, da er mehr zu verlieren riskiert, als er gewinnt . . .« sprach mitfühlend der Rittmeister, wodurch er Gelächter und eine Reihe ähnlicher Bemerkungen bei seinem Stabe hervorrief.

»Ei, ei, Bursche!« rief endlich Petunnikow, von den Spottreden aufgebracht, »sieh zu, daß ich dich für deine Worte nicht vor den Friedensrichter bringe!«

»Ohne Zeugen kommt nichts heraus. Und der leibliche Sohn kann nicht für den Vater zeugen . . .« beugte der Rittmeister vor.

»Nun, gib acht! Tapfrer Hetman, auch für dich findet sich Genugtuung.«

Und Petunnikow drohte mit dem Finger. Sein Sohn, ruhig in seine Berechnungen vertieft, beachtete den Haufen dunkler Leute nicht, die sich über seinen Vater lustig machten. Er sah nicht ein einziges Mal nach jener Seite.

»Die junge Spinne ist gut abgerichtet,« bemerkte Objedok, der genau alle Handlungen und Bewegungen des jungen Petunnikow verfolgte.

Nachdem alles Nötige ausgemessen war, machte Iwan Andrejewitsch ein finsteres Gesicht, setzte sich schweigend auf den Wagen und fuhr davon. Aber sein Sohn ging festen Schrittes nach Wawilows Schenke und verschwand darin.

»Oho! ein entschlossener junger Dieb . . . ja! Nun, was wird nun weiter?« fragte Kuwalda.

»Weiter kauft Petunnikows Sohn Jegor Wawilow,« sagte Objedok überzeugt und schnalzte mit den Lippen, mit dem Ausdruck vollster Befriedigung in seinem spitzen Gesicht.

»Freust du dich etwa darüber?« fragte Kuwalda finster.

»Mir ist es angenehm, zu sehen, wie menschliche Berechnungen sich nicht bewahrheiten,« erklärte Objedok mit Vergnügen, indem er sich blinzelnd die Hände rieb.

Der Rittmeister spuckte ärgerlich aus und schwieg. Und alle am Tor des halb eingefallenen Hauses Stehenden schwiegen und sahen nach der Tür der Schenke. So verging eine Stunde und mehr in erwartungsvollem Schweigen. Dann öffnete sich die Tür, und Petunnikow kam ebenso ruhig heraus, wie er hineingegangen war. Er hielt einen Augenblick an, hustete, schlug den Paletotkragen hoch, warf einen Blick auf die ihn beobachtenden Leute und ging die Straße hinauf nach der Stadt.

Der Rittmeister folgte ihm mit den Augen und lachte, sich an Objedok wendend:

»Wahrscheinlich hast du recht, Sohn des Skorpions und der Assel . . . Du hast einen Spürsinn für alles Niederträchtige . . . ja . . . Schon an der Fratze dieses jungen Spitzbuben ist zu sehen, daß er dem Alten nachartet. Wieviel mag Jegor von ihnen genommen haben? Genommen hat er . . . Er ist eine Frucht von ihrem Felde. Genommen hat er, – mag ich dreimal verflucht sein! Das hab' ich ihm besorgt. Bitter für mich, meine Dummheit einzugestehen. Ja, das ganze Leben ist wider uns, ihr, meine Brüder – Schurken! Spuckt man selbst dem Nächsten in die Fratze, fliegt einem der Speichel in die eignen Augen.«

Nachdem er sich mit dieser Sentenz getröstet hatte, sah sich der ehrenwerte Rittmeister nach seinem Stabe um. Alle waren enttäuscht, denn alle fühlten, daß das, was sich zwischen Wawilow und Petunnikow zugetragen hatte, nicht ihren Erwartungen entsprach. Und das kränkte sie alle. Die Erkenntnis, nichts Böses tun zu können, ist dem Menschen kränkender als die Erkenntnis der Unmöglichkeit, Gutes tun zu können, weil Böses zu tun so leicht und einfach ist.

»Und also, was stehen wir hier noch? Wir haben nichts mehr zu erwarten . . . außer dem Gewinnanteil, den ich Jegorka abzwacken werde . . .« sagte der Rittmeister mit einem verdrießlichen Blick nach der Schenke . . . »Das Ende unseres friedlichen und glückseligen Lebens unter Judas' Dach ist da! Judas schiebt uns jetzt ab . . . wovon ich das mir anvertraute Departement der Sansculotten hiermit benachrichtige!«

Konez lachte finster.

»Warum lachst du, Gefängnisinspektor?« fragte Kuwalda.

»Wo geh' ich hin?«

»Das, mein Herz, ist die große Frage . . . Dein Schicksal antwortet dir darauf, sei unbesorgt,« sagte der Rittmeister tiefsinnig, indem er ins Asyl ging. Die »ehemaligen Leute« bewegten sich lässig hinter ihm her.

»Wir werden den kritischen Moment abwarten,« sagte der Rittmeister, unter sie tretend. »Jagen sie uns 'raus, suchen wir uns ein neues Loch. Bis dahin lohnt es nicht, sich das Leben mit solchen Gedanken zu verderben. In kritischen Momenten wird der Mensch energischer . . . und wäre das Leben in seiner Gesamtheit ein ununterbrochener kritischer Moment, wäre der Mensch jeden Augenblick gezwungen, für die Heilheit seines Schädels zu zittern . . . bei Gott, das Leben wäre mehr Leben und die Menschen interessanter!«

»Das heißt, um so ingrimmiger würden sie einander an die Kehle fahren,« kommentierte Objedok grinsend.

»Nun gewiß, – wie sonst?« rief der Rittmeister hitzig, der es nicht mochte, wenn seine Ideen kommentiert wurden.

»Macht nichts – das ist gut! Will man schneller irgendwohin, schlägt man die Pferde mit der Peitsche und treibt die Maschine mit Feuer an.«

»Nun ja! Mag alles zum Teufel fahren! Mir wär' es angenehm, ginge die Erde plötzlich in Flammen auf und spränge alles in Trümmer . . . wenn ich nur als letzter umkäme, nachdem ich erst noch die anderen gesehen . . .«

»Grimmig!« grinste Objedok.

»Wie denn? Ich bin – ein ehemaliger Mensch . . . ja? Ich bin ausgestoßen – das heißt, ich bin frei von allen Fesseln und Banden . . . das heißt, ich kann auf alles spucken! Wie mein Leben geartet ist, muß ich alles Alte von mir abtun . . . alle Manieren und Gewohnheiten im Umgange mit den Leuten, welche satt und elegant angezogen sind, und die mich verachten, weil ich ihnen an Sattheit und Kostüm nachstehe . . . und ich muß in mir etwas Neues großziehen – verstanden? So etwas, wißt, daß die an mir vorübergehenden Herren des Lebens von der Art Judas Petunnikows beim Anblick meiner repräsentablen Gestalt ein kaltes Grauen überläuft.«

»Sieh an, was du für eine tapfre Zunge hast,« sagte Objedok . . .

»Ach du! . . . Elender . . .« besah ihn Kuwalda verächtlich. »Was verstehst du davon? Was weißt du? Kannst du denken? Aber ich habe gedacht . . . ich habe Bücher gelesen, von denen du kein Wort verstehen würdest.«

»Das fehlte noch! Sollt' ich Kaffee mit dem Bastschuh schlürfen . . . Aber obwohl ich weder gedacht noch gelesen, weder das eine noch das andere getan habe, sind wir ziemlich gleich weit gekommen . . .«

»Geh' zum Teufel!« schrie Kuwalda.

Seine Gespräche mit Objedok endeten immer in dieser Weise. Überhaupt – er wußte das selbst – verdarben seine Reden ohne den Lehrer nur die Luft und verliefen ungeschätzt und unbeachtet, – aber nicht sprechen konnte er nicht. Jetzt, nachdem er auf seinen Genossen geschimpft hatte, fühlte er sich einsam unter diesen Leuten, aber sprechen mußte er, und er wandte sich deshalb an Ssimzow mit der Frage:

»Nun und du, Alexej Maximowitsch, wohin legst du dein graues Haupt?«

Der Alte lächelte gutmütig, rieb seine Nase mit der Hand und erklärte:

»Ich weiß nicht . . . werde noch sehen! Wir haben nicht viel nötig: zu trinken nur. Das ist alles.«

»Respektable, obwohl einfache Aufgabe! . . .« lobte ihn der Rittmeister.

Nach kurzem Schweigen fügte Ssimzow hinzu, daß er sich eher einrichten werde, als sie alle, denn ihn liebten die Weiber – und das war die Wahrheit. Der Alte hatte unter den Prostituierten immer zwei bis drei Liebsten, die ihn oft zwei bis drei Tage hintereinander von ihrem armseligen Verdienst unterhielten. Sie schlugen ihn häufig, aber er verhielt sich stoisch dagegen, und zuschanden schlugen sie ihn nicht, weil er ihnen wahrscheinlich leid tat. Er war ein leidenschaftlicher Weiberfreund und erzählte, daß die Weiber – die Ursache all seines Unglücks im Leben waren. Und jetzt, im Kreise seiner Gefährten, vor der Tür des Asyls auf der Erde sitzend, fing er prahlerisch an zu erzählen, daß ihn Rudka schon lange zu sich rufe, um bei ihr zu leben, aber daß er nicht gehe, weil er seine Gefährten nicht verlassen wolle.

Sie hörten ihm mit Interesse zu und nicht ohne Neid. Rudka kannten alle – sie wohnte nicht weit, unten am Berge, und hatte erst unlängst einige Monate wegen Diebstahls abgesessen. Es war eine »ehemalige« Amme, – ein großes, wohlbeleibtes Dorfweib mit pockennarbigem Gesicht und sehr schönen, obwohl immer trunkenen Augen.

»Ach du, alter Teufel!« schimpfte Objedok, indem er den selbstzufriedenen, lächelnden Ssimzow ansah.

»Und warum lieben sie mich? Weil ich weiß, was ihr Herz braucht . . .«

»Nun ja?« ruft Kuwalda fragend.

»Ich versteh's, daß sie mich bedauern müssen. Und das Weib, das bedauert, tötet aus Mitleid.«

»Ich töte auch!« erklärte Martjanow entschieden, indem er finster auflachte.

»Wen?« fragte Objedok, zur Seite rückend.

»Einerlei . . . Petunnikow . . . Jegorka . . . dich meinetwegen! . . .«

»Weshalb,« erkundigte sich Kuwalda mit großem Interesse.

»Ich will nach Sibirien . . . Ich hab's hier satt . . . dies niederträchtige Leben . . . Da wird man schon wissen, wie man leben soll . . .«

»J–ja, da zeigt man's gründlich,« stimmte der Rittmeister melancholisch bei.

Von Petunnikow und dem kommenden Verlassen des Asyls wurde nicht mehr gesprochen. Alle waren überzeugt, daß sie bald, vielleicht schon nach zwei bis drei Tagen, fort mußten und hielten es für überflüssig, sich mit Erörterungen über dies Thema zu beschweren. Sprechen besserte die Lage nicht, und schließlich war es noch nicht kalt, obwohl die Regenzeit bereits anfing – man konnte hinter dem ersten besten Erdhaufen jenseits der Stadt schlafen.

Nachdem sie sich im Kreise auf dem Rasen niedergelassen, führten sie lässig endlose Unterhaltungen über die verschiedensten Dinge, indem sie leicht von einem Thema zum anderen übergingen und den Worten der anderen nur soviel Aufmerksamkeit schenkten, als nötig war, um das Gespräch ununterbrochen fortzusetzen. Schweigen war langweilig und aufmerksames Zuhören ebenfalls. Diese Gesellschaft »ehemaliger Leute« hatte einen großen Vorzug: niemand gab sich Mühe, sich besser zu zeigen, als er war, oder ermunterte den anderen dazu, sich Gewalt anzutun.

Die Augustsonne suchte die Lumpen dieser Leute zu durchdringen, die ihr ihre Rücken und ungekämmten Köpfe zukehrten – eine chaotische Vermischung des Pflanzenreichs mit dem Tier- und Mineralreich. In den Hofwinkeln wuchs üppiges Steppengras – hohe Klettenstauden und noch andere niemand nötige Gewächse labten den Blick der niemand nötigen Leute.

* * *

In Wawilows Schenke aber hatte sich folgende Szene abgespielt.

Petunnikow der Jüngere kam herein, ohne sich zu beeilen, sah sich um, runzelte voll Ekel die Stirn und fragte, nachdem er langsam seinen grauen Hut abgenommen hatte, den ihm mit ehrerbietigem Gruß und liebenswürdigem Lächeln entgegenkommenden Wirt:

»Sie sind Jegor Terentjewitsch Wawilow?«

»So ist es!« antwortete der Unteroffizier, indem er sich mit beiden Händen auf den Ladentisch stützte, als wolle er hinüberspringen.

»Ich habe mit Ihnen zu tun,« erklärte Petunnikow.

»Äußerst angenehm . . . Bitte in die Stube!« Sie gingen in die Stube und setzten sich – der Gast auf den Wachstuchdiwan vor dem runden Tisch, der Wirt auf einen Stuhl ihm gegenüber. In einer Ecke der Stube brannte die Lampe vor dem großen dreiflügeligen Heiligenschrein, an der Wand daneben hingen auch Heiligenbilder. Ihre Gewänder waren blank und glänzten wie neu. In der dicht mit Kasten und alten, verschiedenartigen Möbeln bestellten Stube roch es nach Baumöl, Tabak und Sauerkohl. Petunnikow sah sich um und verzog wieder das Gesicht. Wawilow blickte mit einem Seufzer auf die Heiligenbilder, dann sahen sie einander unverwandt an und machten sich gegenseitig einen guten Eindruck. Petunnikow gefielen Wawilows offen-diebische Augen, Wawilow – das offene, kalte, entschlossene Gesicht Petunnikows mit den breiten, starken Backenknochen und den dichten, weißen Zähnen.

»Nun, Sie kennen mich natürlich und erraten, worüber ich mit Ihnen sprechen will!« fing Petunnikow an.

»Über die Klage . . . vermute ich,« sagte der Unteroffizier achtungsvoll.

»In der Tat! Angenehm zu sehen, daß Sie keine Grimassen machen, sondern an die Sache gehen wie ein gerader Mann,« spornte Petunnikow seinen Gesellschafter an.

»Ich bin Soldat . . .« sagte jener bescheiden.

»Das sieht man. Also führen wir die Sache gerade und einfach, um sie schneller abzumachen.«

»Genauso.«

»Gut . . . Ihre Klage ist vollkommen gesetzlich, und Sie gewinnen sie sicherlich – das halte ich vor allem für nötig, Ihnen mitzuteilen.«

»Danke ergebenst,« sagte der Unteroffizier und zwinkerte mit den Augen, um das Lächeln darin zu verdecken.

»Aber sagen Sie, wozu hatten Sie es nötig, die Bekanntschaft mit uns, Ihren künftigen Nachbarn, so schroff anzufangen . . . direkt mit dem Gericht?«

Wawilow zuckte die Achseln und schwieg.

»Es wäre doch einfacher gewesen, zu uns zu kommen und alles friedlich abzumachen . . . ah? Wie meinen Sie?«

»Natürlich ist das angenehmer. Aber sehen Sie . . . da ist ein Haken . . . ich handle nicht aus eigenem Antriebe, sondern auf Anraten . . . Nachher hab' ich eingesehen, wie's besser gewesen wäre – nun ist es zu spät!«

»So . . . Ich vermute, irgendein Advokat hat es Ihnen geraten?«

»In der Art . . .«

»Aha! Nun, so wollen Sie die Sache friedlich abmachen?«

»Mit größtem Vergnügen!« rief der Soldat.

Petunnikow schwieg, sah ihn an und fragte plötzlich kalt und trocken:

»Und warum wünschen Sie das?«

Wawilow hatte diese Frage nicht erwartet und konnte nicht gleich antworten. Seiner Meinung nach war es eine leere Frage, und der Soldat, im Bewußtsein seiner Überlegenheit, lächelte Petunnikows Sohn ins Gesicht.

»Das ist doch erklärlich . . . man muß suchen, mit den Leuten in Frieden zu leben . . .«

»Nun,« unterbrach ihn Petunnikow, »das ist nicht ganz so. Wie ich sehe, ist es Ihnen nicht ganz klar, weshalb Sie wünschen, sich mit uns zu vertragen . . . Ich werde es Ihnen sagen.«

Der Soldat wunderte sich ein wenig. Dieser ganz in karierten Stoff gekleidete und ziemlich komisch darin aussehende junge Mann sprach so, wie früher der Kompagniechef Rakschin, der den Gemeinen, wenn er zornig war, drei Zähne auf einmal ausschlug.

»Sie müssen sich mit uns vertragen, weil unsere Nachbarschaft sehr vorteilhaft für Sie ist. Und vorteilhaft ist sie, weil in unserer Fabrik nicht weniger als anderthalbhundert Arbeiter beschäftigt sein werden, zeitweise – mehr. Wenn hundert von ihnen nach jeder wöchentlichen Auszahlung nur je ein Glas trinken, so heißt das, Sie werden monatlich 400 Glas mehr als jetzt verkaufen. Ich habe das Minimum angenommen. Außerdem haben Sie eine Gastwirtschaft. Mir scheint, Sie sind nicht dumm und ein erfahrener Mensch. Stellen Sie sich selbst vor, welche Vorteile Ihnen unsere Nachbarschaft bietet.«

»Das ist richtig . . .« nickte Wawilow, »das habe ich gewußt.«

»Und nun?« erkundigte sich der Kaufmann laut.

»Nichts . . . Vertragen wir uns . . .«

»Sehr angenehm, daß Sie sich so schnell entschließen. Hier habe ich eine Eingabe ans Gericht bereit, betreffend die Aufhebung Ihrer Forderungen an den Vater. Lesen Sie sie durch und unterschreiben Sie!«

Wawilow sah seinen Gesellschafter mit runden Augen an, und es durchfuhr ihn das Vorgefühl von etwas äußerst Schlimmem.

»Erlauben Sie . . . unterschreiben? Wieso?«

»Schreiben Sie einfach Namen und Familie hin, weiter nichts,« erklärte Petunnikow, verbindlich mit dem Finger hinzeigend, wo zu unterschreiben sei.

»Nein – was ist da – das! Das meine ich nicht . . . Nur, welche Entschädigung Sie mir für den Grund und Boden geben?«

»Aber dieser Grund und Boden hat ja keinen Nutzen für Sie!« sagte Petunnikow beruhigend.

»Jedoch, er gehört mir,« rief der Soldat aus.

»Allerdings . . . Und wieviel würden Sie wollen?«

»Wäre es nur . . . wie die Klage . . . wie's darin heißt,« erwiderte der Soldat befangen.

»Sechshundert?« Petunnikow lachte weich: »Ach, wunderlicher Kauz, Sie!«

»Ich bin im Recht . . . Ich kann auch zweitausend fordern . . . Kann darauf bestehen, daß Sie abbrechen . . . Und das will ich auch . . . Weil die Forderung der Klage so niedrig ist. Ich fordere – abbrechen!«

»Sehr bescheiden! . . . Vielleicht brechen wir auch ab . . . nach drei Jahren, nachdem wir Sie in große Gerichtskosten gestürzt . . . Und wenn wir bezahlt haben, machen wir eine eigene Schenke und Wirtschaft auf, besser als Ihre – und Sie sind verloren wie die Schweden bei Poltawa. Verloren, Täubchen, dafür werden wir dann schon sorgen. Wir könnten schon jetzt mit der Schenke anfangen, uns alles besorgen, aber die Last damit und – die Zeit ist uns teuer. Auch ist es uns leid um Sie – wozu einem Menschen um nichts und wieder nichts das Brot wegnehmen?«

Jegor Terentjewitsch sah seinen Gast an, fest die Zähne zusammenbeißend, und fühlte, daß der Gast – Herr seines Schicksals sei. Wawilow tat sich selber leid angesichts dieser kalt-ruhigen, unerbittlichen Gestalt in dem lächerlichen, karierten Kostüm.

»Aber in solcher nahen Nachbarschaft und in gutem Einvernehmen mit uns lebend, könnten Sie gut verdienen, Kamerad, dafür würden wir dann auch schon sorgen. Ich z. B. empfehle Ihnen sogar, gleich einen kleinen Laden aufzumachen. Wissen Sie – Tabak, Streichhölzer, Brot, Gurken usw . . . Alles das würde einen guten Absatz haben.«

Wawilow hörte zu und begriff als geriebener Bursche, daß es das beste sei, sich der Großmut des Feindes zu ergeben. Eigentlich hätte er damit anfangen sollen. Und da er nicht wußte, wohin mit seinem Ärger und Zorn, schalt er laut auf Kuwalda:

»Säufer, verfluchter, zum Teufel mit dir!«

»Das gilt dem Advokaten, der Ihnen die Klage aufgesetzt hat?« fragte Petunnikow ruhig und fügte mit einem Seufzer hinzu: »In der Tat, er hätte Ihnen einen schlimmen Streich spielen können . . . wenn Sie uns nicht leid täten.«

»Ach!« machte der erbitterte Soldat eine Handbewegung, »es sind ihrer zwei . . . der eine hat's herausgefunden, der andere geschrieben . . . Verfluchter Korrespondent!«

»Warum denn Korrespondent?«

»Schreibt an der Zeitung . . . Alles Ihre Mieter . . . Das sind Leute! Werft sie 'raus, jagt sie um Gottes willen fort! Räuber! Hetzen hier alle in der Straße auf, machen Streiche, – das Leben verleiden sie einem . . . verfluchte Leute – gebt acht, daß sie nicht rauben und brandstiften . . .«

»Und der Korrespondent? . . . wer ist das?« fing Petunnikow an sich zu interessieren.

»Der? Ein Säufer! War Lehrer – wurde fortgejagt. Hat sich dem Trunk ergeben und . . . schreibt jetzt an der Zeitung, setzt Eingaben auf . . . Niederträchtiger Mensch!«

»Hm! Der hat Ihnen auch die Eingabe gemacht? So–o–o! Wahrscheinlich hat der auch von den Unregelmäßigkeiten beim Bau geschrieben, – fand das Gerüst nicht richtig aufgestellt . . .«

»Der ist es! Ich weiß es, – der Hund! Selbst hat er's hier vorgelesen und geprahlt – da hab' ich Petunnikow mal geschadet . . .«

»Nun ja . . . Haben Sie denn die Absicht, sich zu vertragen?«

»Vertragen?«

Der Soldat neigte den Kopf und dachte nach.

»Ach du, unser dunkles Leben!« rief er in bitterem Tone, sich den Nacken kratzend.

»Man muß lernen,« empfahl ihm Petunnikow, indem er eine Papyros anrauchte.

»Lernen? darum handelt sich's nicht, mein Herr! Keine Freiheit, das ist's! Was für ein Leben führe ich? Immer in Furcht . . . in einem beständigen Umsehen, ganz und gar unfrei in dem, was ich tun möchte! Und warum? Weil ich mich fürchte . . . Dies Gespenst von Lehrer schreibt in den Zeitungen über mich, schafft mir die Sanitätskontrolle auf den Hals . . . ich muß Strafe zahlen . . . Man muß sich vorsehen, Ihre Mieter brandstiften, schlagen tot, stehlen . . . Was kann ich gegen sie? Sie haben keine Angst vor der Polizei . . . Werden sie ins Gefängnis gesetzt – freuen sie sich sogar – dann haben sie's Brot umsonst . . .«

»Wir schieben sie ab . . . wenn wir uns mit Ihnen geeinigt haben,« versprach Petunnikow.

»Wie werden wir uns einigen?« fragte Wawilow beunruhigt, mit finsterer Miene.

»Nennen Sie Ihre Bedingungen.«

»Ja denn! Geben Sie – 600, wie in der Klage . . .«

»Nehmen Sie nicht hundert Rubel?« fragte der Kaufmann ruhig, indem er seinen Gesellschafter angelegentlich betrachtete, und fügte weich lächelnd hinzu: »Mehr gebe ich keinen Rubel . . .«

Dann nahm er seine Brille ab und fing langsam an, die Gläser mit dem aus der Tasche gezogenen Tuch abzureiben.

Wawilow sah ihn unruhigen Herzens an, doch zugleich von Achtung für ihn durchdrungen. In dem ruhigen Gesicht des jungen Petunnikow, in seinen großen, grauen Augen, den breiten Backenknochen, der ganzen untersetzten Gestalt lag viel selbstvertrauende und vom Verstand gut disziplinierte Kraft. Auch gefiel es Wawilow, wie Petunnikow mit ihm sprach, einfach, mit freundschaftlichem Ton, ohne jedes Herauskehren des Herrn, wie mit seinesgleichen, obwohl Wawilow sehr wohl einsah, daß er, der Soldat, diesem Menschen nicht gleichstand. Ihn betrachtend und sich fast seiner freuend, konnte der Soldat es schließlich nicht aushalten, und einem Andrang heißer Neugier nachgebend, die für einen Augenblick alle übrigen Empfindungen in ihm betäubte, fragte er Petunnikow ehrerbietig:

»Wo haben Sie studiert?«

»Im technologischen Institut. Warum?« richtete jener einen lächelnden Blick auf ihn.

»Nur so . . . entschuldigen Sie!« Der Soldat senkte den Kopf und rief plötzlich mit Bewunderung, Neid, ja selbst Begeisterung: »Ja, ja! das ist die Bildung! Ein Wort, – Wissen – Licht! Aber unsereins, – wie die Eule vor der Sonne in dieser Welt . . . Ach, ach! – Ew. Wohlgeboren! Lassen Sie uns mit unserem Geschäft zu Ende kommen!«

Mit entschlossener Gebärde streckte er Petunnikow die Hand hin und sagte gepreßt:

»Nun . . . fünfhundert?«

»Nicht mehr als hundert Rubel, Jegor Terentjewitsch,« erwiderte Petunnikow achselzuckend, als bedauere er, daß er nicht mehr geben könne, und schlug mit seiner weißen, großen Hand auf die behaarte des Soldaten.

Sie kamen bald überein, denn der Soldat kam Petunnikows Wünschen in großen Sätzen entgegen, während jener unbeweglich fest blieb. Als Wawilow die hundert Rubel bekommen und das Papier unterschrieben hatte, warf er die Feder erbittert auf den Tisch und rief:

»Nun, jetzt hab' ich's mit der ›goldenen Rotte‹ zu tun! Die Teufel werden lachen und mich verhöhnen!«

»Sagen Sie ihnen doch, daß ich Ihnen die ganze Forderung ausgezahlt habe,« schlug Petunnikow vor, indem er ruhig seine Rauchwölkchen aus dem Munde ließ und ihnen nachsah.

»Als würden sie das glauben! Das sind geriebene Spitzbuben, nicht schlechter . . .«

Wawilow hielt rechtzeitig inne, betroffen von dem fast ausgesprochenen Vergleich und sah den Kaufmannssohn beunruhigt an. Der aber rauchte und schien von dieser Beschäftigung ganz eingenommen. Bald ging er, Wawilow zum Abschied noch versprechend, das Nest der unruhigen Leute zu stören.

Wawilow sah ihm nach und seufzte, den heftigen Wunsch in sich spürend, etwas Böses und Beleidigendes hinter diesem Menschen herzurufen, der mit festen Schritten den grubendurchwühlten, schuttbeschmutzten Weg hinauf zum Berge ging.

Abends erschien der Rittmeister in der Schenke. Seine Brauen waren finster zusammengezogen und die rechte Hand energisch zur Faust geballt. Wawilow lächelte ihm verlegen entgegen.

»Nun, würdiger Nachkomme Kains und Judas', erzähle . . .«

»Abgemacht . . .« sagte Wawilow seufzend und schlug die Augen nieder.

»Daran zweifle ich nicht . . . Wieviel Silberlinge hast du bekommen?«

»Vierhundert . . .«

»Das lügst du ganz gewiß . . . Aber für mich um so besser. Ohne weitere Worte, Jegorka, zehn Prozent mir für die Entdeckung und einen Fünfundzwanziger dem Lehrer für das Schreiben der Eingabe, für uns alle einen Eimer Schnaps und einen anständigen Imbiß. Das Geld gib gleich, den Schnaps und das übrige um acht Uhr.«

Wawilow wurde grün und starrte mit weitgeöffneten Augen auf Kuwalda:

»Was sind das für . . . Das ist Raub! Ich gebe nichts . . . Was wollen Sie, Aristid Fomitsch? Nein, sparen Sie Ihren Appetit zum nächsten Feiertag auf! Was wollen Sie? Nein, jetzt hab' ich die Möglichkeit, Sie nicht zu fürchten! Jetzt . . . ich . . .«

Kuwalda sah nach der Uhr.

»Ich gebe dir zehn Minuten für dein nichtsnutziges Gerede, Jegorka. In dieser Zeit komm' zu Ende und gib, was ich verlange. Gibst du nicht – verderbe ich dich! Konez hat dir was verkauft! Hast du in der Zeitung was vom Diebstahl bei Bassow gelesen? Verstehst du? Verstecken kannst du nichts – das wissen wir zu verhindern. Und heute nacht . . . Verstanden?«

»Aristid Fomitsch! Weshalb?« heulte der ehemalige Soldat.

»Ohne Worte! Verstanden oder nicht?«

Der große, graue Kuwalda mit dem finsteren Gesicht sprach halblaut, und sein heiserer Baß schallte unheilkündend in der leeren Schenke. Wawilow fürchtete ihn immer etwas als früheren Soldaten und Menschen, der nichts zu verlieren hat. Jetzt erschien er ihm in neuer Gestalt; er redete nicht viel und komisch wie sonst, und aus dem Tone eines vom Gehorsam überzeugten Kommandierenden, in dem er sprach, klang keine scherzhafte Drohung. Wawilow fühlte, daß der Rittmeister ihn verderben könne, wenn er wolle, und mit Vergnügen verderben würde. Er mußte der Gewalt nachgeben. Mit schlimmer Angst im Herzen versuchte der Soldat noch einmal, der Strafe zu entgehen. Er seufzte tief auf und sagte demütig:

»Man sieht, es heißt ganz richtig: wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein . . . Ich habe Ihnen etwas vorgelogen, Aristid Fomitsch . . . ich wollte klüger scheinen, als ich bin . . . Ich habe nur hundert Rubel bekommen . . .«

»Weiter . . .« warf ihm Kuwalda hin.

»Und nicht vierhundert, wie ich Ihnen sagte . . . das heißt . . .«

»Das heißt nichts. Ich weiß nicht, wann du gelogen hast, jetzt oder vorhin. Ich bekomme von dir fünfundsechzig Rubel. Das ist bescheiden . . . Nicht wahr?«

»Ach, mein Gott! Aristid Fomitsch! Ich habe Ew. Wohlgeboren immer soviel Aufmerksamkeiten erwiesen, als ich nur konnte.«

»Laß die Worte, Jegorka, Urenkel Judas'!«

»Es sei . . . ich gebe . . . Aber Gott wird Sie dafür strafen!«

»Schweig, du – Pestbeule auf Erden!« brüllte ihn der Rittmeister an, grimmig die Augen rollend. »Ich bin von Gott gestraft . . . Er hat mich in die Notwendigkeit versetzt, dich zu sehen und mit dir zu sprechen . . . Ich schlage dich auf der Stelle tot wie eine Fliege!«

Er schüttelte seine Fäuste vor Wawilows Nase und knirschte mit den entblößten Zähnen.

Als er gegangen war, lachte Wawilow verzerrt und zwinkerte mit den Augen. Dann rollten ihm zwei große Tränen über die Wangen. Sie sahen ganz grau aus, und als sie sich in seinem Schnurrbart versteckten, erschienen zwei andere an ihrer Stelle. Da ging Wawilow in seine Stube, stellte sich vor die Heiligenbilder und stand lange so, ohne zu beten, ohne sich zu rühren und ohne sich die Tränen von seinen runzeligen, braunen Wangen abzuwischen.

Der Diakon Taraß, den es immer nach Wald und Wiese zog, hatte den »ehemaligen Leuten« den Vorschlag gemacht, aufs Feld zu gehen und dort in einer Schlucht, im Schoße der Natur, Wawilows Schnaps auszutrinken. Aber der Rittmeister und alle übrigen schalten einstimmig auf den Diakon und die Natur und entschieden sich dafür, den Schnaps auf ihrem Hofe zu trinken.

»Eins, zwei, drei,« zählte Aristid Fomitsch, »wir sind unserer dreizehn dazu; der Lehrer ist nicht da . . . nun, einige kommen wohl noch . . . Rechnen wir zwanzig Personen. Auf jeden zwei und eine halbe Gurke, ein Pfund Brot und Fleisch . . . nicht übel! Wodka je eine Flasche . . . außerdem Sauerkohl, Äpfel und drei Melonen. Was wollt ihr weiter, Brüder! Also machen wir uns daran, Jegor Wawilow zu verzehren, denn alles dies – ist sein Blut und Fleisch!«

Auf der Erde breiteten sie einige Fetzen von Kleidungsstücken aus, stellten die Getränke und eßbaren Dinge darauf und setzten sich herum, setzten sich ehrbar und schweigend, kaum das gierige Verlangen zu trinken unterdrückend, das ihnen allen aus den Augen funkelte.

Der Abend brach herein. Seine Schatten senkten sich auf den verunzierten Boden des Asylhofes, und die letzten Sonnenstrahlen beleuchteten das Dach des halb eingefallenen Hauses. Es war frisch und still.

»Ans Werk, Brüder!« kommandierte der Rittmeister. »Wieviel Becher haben wir? Sechs . . . und wir sind dreizehn . . . Alexej Maximowitsch, gieß ein! Fertig? Nun, der errrste Zug! . . .«

Sie tranken, räusperten sich und fingen an zu essen.

»Der Lehrer fehlt . . . schon seit drei Tagen hab' ich ihn nicht gesehen. Hat ihn niemand gesehen?« fragte Kuwalda.

»Niemand . . .«

»Das entspricht gar nicht seinem Charakter! Nun, einerlei . . . Trinken wir noch einmal! Trinken wir auf Aristid Kuwaldas Gesundheit, meines einzigen Freundes, der mich mein Lebtag nicht eine Minute allein gelassen hat. Obwohl es, hol' ihn der Teufel! vielleicht vorteilhaft für mich gewesen wäre, hätte er mich manchmal seiner Gesellschaft beraubt . . .«

»Das ist geistreich,« sagte Objedok und fing an zu husten.

Der Rittmeister sah auf seine Gefährten mit dem Bewußtsein der Überlegenheit, sagte aber nichts, sondern aß. –

Nachdem sie zweimal ausgetrunken hatten, wurde die Gesellschaft lebhaft – die Portionen hatten Eindruck gemacht. Anderthalb Taraß äußerte den schüchternen Wunsch, eine Geschichte zu hören, aber der Diakon war mit Kubar in einen Streit geraten über die Vorzüge magerer Frauen vor dicken und beachtete die Worte des Freundes nicht, indem er Kubar seine Ansicht mit dem Eifer und der Leidenschaft eines Menschen darlegte, der tief von der Richtigkeit derselben überzeugt ist. Die naive Fratze Meteors, der neben ihm auf dem Bauche lag, drückte Wohlgefallen aus, indem er die kräftigen Worte des Diakons genoß. Martjanow, der sein Knie mit seinen großen, schwarzbehaarten Händen umfaßte, sah finster und schweigend die Schnapsflasche an und haschte mit der Zunge nach seinem Schnurrbart, den er sich abzubeißen bemühte. Objedok hänselte Tjapa.

»Ich habe wohl gesehen, wo du dein Geld versteckt hast, Zauberer!«

»Dein Glück . . .« sagte Tjapa heiser.

»Ich mause es dir doch nicht weg, Bruder!«

»Nimm . . .«

Kuwalda war es unter diesen Leuten langweilig: nicht einer war dabei, würdig, seine Rhetorik zu hören und fähig, ihn zu verstehen.

»Wo kann nur der Lehrer sein?« dachte er laut. Martjanow sah ihn an und sagte:

»Er kommt . . .«

»Ich bin überzeugt, daß er kommt, aber nicht im Wagen. Trinken wir auf deine Zukunft, künftiger Galeerensträfling! Wenn du einen Geldmann totschlägst, kannst du mit mir teilen. Ich gehe dann nach Amerika, Brüder, nach den . . . wie heißen sie doch? Lampas . . . Pampas! Und bringe es da bis zum Präsidenten der Staaten, dann erkläre ich ganz Europa den Krieg und blase es auf . . . Eine Armee kaufe ich . . . auch in Europa . . . Ich fordere Türken, Franzosen, Deutsche usw. auf und schlage sie mit ihren Verwandten . . . wie Ilja Murometz die Tataren durch die Tataren schlug. Mit Geld kann man auch Ilja sein . . . und Europa vernichten und sich Judas Petunnikow als Lakaien mieten . . . Er tut's . . . wenn man ihm hundert Rubel monatlich gibt . . . tut er's. Aber er wird ein schlechter Lakai, denn er stiehlt . . .«

»Auch deshalb ist ein mageres Weib besser als ein dickes, weil es weniger kostet,« sagte der Diakon mit Überzeugung. »Meine erste Diakoniza brauchte zwölf Arschin zum Kleide, die zweite zehn . . . Ebenso ist es mit dem Essen . . .«

Poltora Tarassa lächelte verlegen, drehte seinen Kopf nach dem Diakon um, heftete sein eines Auge auf dessen Gesicht und sagte konfus:

»Ich habe eine Frau gehabt . . .«

»Das kann jedem passieren,« bemerkte Kuwalda, »weiter! . . .«

»Sie war mager, aber sie aß viel . . . Und starb sogar daran . . .«

»Du hast sie vergiftet, Einäugiger,« sagte Objedok überzeugt.

»Nein, bei Gott! Sie hat zuviel Stör gegessen,« erzählte Poltora Tarassa.

»Und ich sage, du hast sie vergiftet!« sagte Objedok entschieden.

So war es oft mit ihm: hatte er erst eine dumme Bemerkung gemacht, so wiederholte er sie, ohne einen Grund zu ihrer Bekräftigung anzuführen und geriet, zuerst in launisch-kindischem Tone sprechend, nach und nach bis zur Raserei.

Der Diakon trat für ihn ein.

»Nein, wie konnte er sie vergiften . . . er hatte ja keinen Grund . . .«

»Und ich sage – er hat sie vergiftet!« brüllte Objedok.

»Schweigen!« schrie der Rittmeister drohend. Seine Langweile wuchs zu banger Erbostheit an. Mit ingrimmigen Augen sah er auf seine Gefährten, und da er in ihren halbtrunkenen Gesichtern nichts fand, das seinem Zorn weitere Nahrung gegeben hätte, – neigte er den Kopf auf die Brust, saß so einige Minuten und legte sich dann auf die Erde, mit dem Gesicht nach oben. Meteor zerbiß Gurken. Er nahm sie in die Hand, ohne sie anzusehen, steckte sie halb in den Mund und biß sie mit den großen, gelben Zähnen durch, daß der Saft nach allen Seiten spritzte und seine Wangen benetzte. Essen mochte er augenscheinlich nicht, aber dieser Prozeß zerstreute ihn. Martjanow saß unbeweglich wie eine Bildsäule, in derselben Pose, in der er sich auf die Erde niedergelassen hatte, und sah noch ebenso konzentriert und finster die Halbeimerflasche an, die schon halb geleert war. Tjapa blickte auf den Boden und kaute laut an dem Fleisch, das seinen alten Zähnen widerstand. Objedok lag auf dem Bauche und hustete, seinen ganzen kleinen Leib zusammenpressend. Die übrigen – lauter schweigende, dunkle Gestalten – saßen und lagen in verschiedenen Stellungen, und all diese Leute insgesamt, mit ihren Lumpen und abendlichem Dunkel umhüllt, hoben sich kaum von den Schutthaufen ab, die auf dem Hofe lagen und mit Steppengras bewachsen waren. Die nachlässige Haltung und die Lumpen machten sie mißgestalteten Tieren ähnlich, die rohe, phantastische Kraft dem Menschen zum Spott geschaffen.

Der Diakon fing halblaut an zu singen, indem er Alexej Maximowitsch umarmte und ihm selig ins Gesicht lächelte. Poltora Tarassa kicherte wollüstig.

Die Nacht brach herein. Am Himmel flimmerten still die Sterne, auf dem Berge in der Stadt – die Lichter der Laternen. Das melancholische Pfeifen der Dampfer tönte vom Flusse herüber; knarrend und scheibenklirrend öffnete sich die Tür von Wawilows Schenke. Zwei dunkle Gestalten kamen in den Hof, näherten sich der Gruppe um die Flasche, und einer von ihnen fragte heiser:

»Trinkt ihr?«

Auch die andere Gestalt ließ sich voll Freude und Neid vernehmen:

»Seh' einer die Teufel!«

Dann streckte sich eine Hand über des Diakons Kopf herüber, ergriff die Flasche, und das charakteristische Glucksen des Schnapses wurde hörbar, der aus der Flasche ins Glas gegossen wurde. Darauf ein lautes Räuspern . . .

»Na, Einäugiger!« rief der Diakon, »laß uns der alten Zeiten gedenken, laß uns singen – An den Wassern Babylons!«

»Kann er denn singen?« fragte Ssimzow.

»Der? Bruder, der war Solist im Kirchenchor . . . Nun . . . An den Wa–as–sern . . .«

Die Stimme des Diakons war rauh, heiser, kurzatmig, und sein Freund sang in weinerlichem Falsett. Es war, als nähme das von Finsternis umfangene, ausgestorbene Haus an Umfang zu oder rücke mit der ganzen Wucht halbverfaulten Holzes näher an diese Leute heran, deren wildes Geheul ein dumpfes Echo in ihm weckte. Eine prächtige, dunkle Wolke zog langsam über ihnen am Himmel dahin. Einer der »ehemaligen Leute« schnarchte, die anderen, alle noch nicht ganz betrunken, aßen und tranken schweigend oder sprachen halblaut in langen Pausen miteinander. Allen ungewohnt war diese gedrückte Stimmung bei einem an Schnaps und eßbaren Dingen so selten reichen Mahle. Es wollte sich heut lange nicht jene ungestüme Lebhaftigkeit entwickeln, die den Asylbewohnern sonst bei der Flasche eigen war.

»Hunde, – ihr! laßt das Heulen . . .« sagte der Rittmeister zu den Singenden, indem er den Kopf aufrichtete und horchte. »Es kommt jemand gefahren . . . mit einer Droschke . . .«

Eine Droschke in der Wjesshaja und um diese Zeit war etwas, das allgemeine Aufmerksamkeit erregte. Wer aus der Stadt mochte es riskieren, durch die Wasserlöcher und Vertiefungen der Straße zu fahren, wer und weshalb? Alle hoben die Köpfe und horchten. Durch die Stille der Nacht war deutlich das Knarren der Räder zu hören, die an die Schutzbleche des Wagens anstießen. Es kam immer näher. Eine Stimme ertönte – grob . . . fragend:

»Nun, wo denn?«

Irgendwer antwortete:

»Da, in jenem Hause wahrscheinlich . . .«

»Weiter fahr' ich nicht . . .«

»Das ist zu uns!« rief der Rittmeister.

»Die Polizei!« flüsterte es aufgeregt.

»Per Droschke! Narr!« sprach Martjanow dumpf.

Kuwalda stand auf und ging vor die Tür.

Objedok, den Kopf hinter ihm vorbeugend, lauschte.

»Ist das das Nachtasyl?« fragte jemand mit dröhnender Stimme.

»Ja, von Aristid Kuwalda . . .« ertönte dumpf der unzufriedene Baß des Rittmeisters.

»So, so . . . wohnte hier der Reporter Titow?«

»Aha! haben Sie ihn gebracht?«

»Ja . . .«

»Betrunken?«

»Krank!«

»Das heißt – stark betrunken. Ha, Lehrer! Nun, steh' doch auf!«

»Warten Sie! Ich helfe Ihnen . . . er ist sehr krank. Er hat zwei Tage bei mir gelegen. Fassen Sie unter die Schultern . . . Der Doktor war da. Sehr schlimm . . .«

Tjapa stand auf und kam langsam vor die Tür, Objedok aber grinste und trank.

»Zündet dort Licht an!« rief der Rittmeister. Meteor ging ins Asyl und zündete die Lampe an. Da zog sich ein breiter Lichtstreifen von der Tür über den Hof, und in demselben führten der Rittmeister und ein kleiner Mann den Lehrer ins Asyl. Sein Kopf hing matt auf die Brust herab, die Füße schleppten auf der Erde und die Arme hingen wie gebrochen in der Luft. Mit Tjapas Hilfe wälzten sie ihn auf das Lager, und er streckte sich, am ganzen Leibe zitternd, mit leisem Stöhnen darauf aus.

»Ich arbeite an derselben Zeitung mit ihm . . . Ein sehr Unglücklicher . . . Ich sage . . . bitte, liegen Sie bei mir, Sie genieren mich nicht . . . Aber er bittet mich: bringen Sie mich nach Hause! Er regte sich auf . . . ich dachte, das könnte ihm schaden und wollte ihn nach Hause bringen! Das ist doch hier . . . ja?«

»Hat er Ihrer Meinung nach noch sonstwo ein Haus?« fragte Kuwalda grob, indem er seinen Freund unverwandt ansah.

»Tjapa, geh', hol' kaltes Wasser!«

»Nun bin ich wohl überflüssig,« sagte der Fremde. »Er braucht mich wohl nicht mehr?«

»Sie?« sah ihn der Rittmeister kritisch an.

Der fremde Mann war mit einem sehr abgetragenen Jackett bekleidet, das sorgfältig bis zum Kinn zugeknöpft war. Seine Hosen waren ausgefasert, der Hut verschossen vor Alter und ebenso abgegriffen wie sein verhungertes, mageres Gesicht.

»Nein, er braucht Sie nicht . . . solche wie Sie sind hier viele . . .« sagte der Rittmeister und wandte sich von ihm ab.

»Also auf Wiedersehen!« Der Fremde ging bis zur Tür und fragte von dort leise:

»Wenn etwas passiert . . . benachrichtigen Sie die Redaktion . . . Mein Name ist – Ryshow. Ich würde ihm einen kleinen Nekrolog schreiben . . . er war trotz alledem, wissen Sie, ein Mann der Presse . . .«

»Hm! Nekrolog sagen Sie? Zwanzig Zeilen – vierzig Kopeken? Ich werde Besseres tun: wenn er stirbt, schneide ich ihm ein Bein ab und schicke es auf Ihren Namen an die Redaktion . . . Das ist vorteilhafter für Sie als ein Nekrolog, für drei Tage reicht's etwa . . . er hat dicke Beine . . . Habt Ihr ihn dort lebendig gefressen, freßt Ihr wohl auch den Toten . . .«

Der fremde Mann schnaubte eigentümlich und verschwand. Der Rittmeister setzte sich neben seinen Freund auf das Lager, befühlte mit der Hand Stirn und Brust und rief:

»Philipp!«

Dumpf hallte der Ton von den schmutzigen Wänden des Asyls wieder und erstarb.

»Das ist nicht recht, Bruder!« sagte der Rittmeister, leise mit der Hand über die zerzausten Haare des Lehrers fahrend. Dann horchte er auf seinen heißen, aussetzenden Atem, sah ihm in das eingefallene, erdfahle Gesicht, seufzte und sah sich um, streng die Brauen zusammenziehend.

Die Lampe war schlecht: ihr Licht flackerte, und an den Wänden entlang huschten schwarze Schatten. Der Rittmeister betrachtete starr ihr stummes Spiel und strich sich den Bart.

Tjapa kam mit einem Eimer Wasser, stellte ihn an das Lager neben den Kopf des Lehrers und, nachdem er seine Hand ergriffen, hob er sie mit der seinen, als wöge er sie.

»Das Wasser ist unnötig,« winkte der Rittmeister mit der Hand.

»Der Pope ist nötig,« sagte der alte Lumpensammler überzeugt.

»Nichts ist nötig,« entschied der Rittmeister.

Sie schwiegen, indem sie den Lehrer ansahen.

»Komm, wir wollen trinken, alter Teufel!«

»Und er?«

»Kannst du ihm helfen?«

Tjapa drehte dem Lehrer den Rücken zu, und beide gingen auf den Hof zu ihren Genossen.

»Was ist?« fragte Objedok, dem Rittmeister seine spitze Schnauze zuwendend.

»Nichts Besonderes . . . ein Mensch stirbt . . .« antwortete der Rittmeister kurz.

»Haben sie ihn zuschanden geschlagen?« interessierte sich Objedok.

Der Rittmeister antwortete nicht, sondern trank – trank Schnaps währenddessen.

»Als hätte er gewußt, daß wir etwas haben, seine Totenfeier zu begehen,« sagte Objedok, indem er eine Zigarette anrauchte.

Jemand lachte, ein anderer seufzte schwer. Im ganzen aber machte das Gespräch des Rittmeisters und Objedoks auf diese Leute keinen merklichen Eindruck, wenigstens sah man nicht, daß es irgendwen bewegte, interessierte oder zum Nachdenken veranlaßte. Sie hatten den Lehrer alle für einen nicht gewöhnlichen Menschen gehalten, jetzt aber waren viele schon betrunken, und andere blieben absichtlich ruhig. Nur der Diakon nahm sich plötzlich zusammen, schnalzte mit den Lippen, rieb sich die Stirn und winselte laut:

»Herr, gib dem Gerechten die ewige Ruhe!«

»Du!« zischte Objedok, »was brüllst du?«

»Gib ihm eins in die Fratze!« riet der Rittmeister.

»Narr!« ertönte Tjapas heisere Stimme. »Wenn ein Mensch stirbt, soll man schweigen, daß es still ist.«

Es war still genug: am Himmel, den regendrohende Wolken bedeckten, und auf der Erde, die die trübe Finsternis der Herbstnacht einhüllte. Zeitweise wurde das Schnarchen der Eingeschlafenen, das Glucksen eingegossenen Schnapses und Schmatzen hörbar. Der Diakon murmelte etwas. Die Wolken zogen so niedrig, daß es war, als müßten sie gleich das Dach des alten Hauses berühren und es auf die Gruppe dieser Leute niederwerfen.

»Ah . . . wie schlimm ist einem zumute, wenn ein naher Mensch stirbt . . .« sagte der Rittmeister stammelnd vor sich hin und neigte den Kopf auf die Brust.

Niemand antwortete ihm.

»Unter uns – war er der Beste . . . der Klügste und Ordentlichste . . . Es ist mir leid um ihn . . .«

»Ge–eh zu den Heiligen ei–ein . . . – sing', einäugiger Spitzbube!« fing der Diakon an zu toben, seinen neben ihm schlummernden Freund in die Seite stoßend.

»Schweigen! . . . Du!« rief Objedok in ärgerlichem Flüstertone, auf die Füße springend.

»Ich geb' ihm eins auf den Kopf,« schlug Martjanow vor, indem er den Kopf aufrichtete.

»Du schläfst nicht?« sagte Aristid Fomitsch ungewöhnlich freundlich. »Hast du gehört? Unser Lehrer . . .«

Martjanow warf sich schwer herum, stand auf, besah die Lichtstreifen, die aus Tür und Fenstern des Asyls kamen, schüttelte den Kopf und setzte sich schweigend neben den Rittmeister.

»Trinken wir!« schlug er vor.

Nachdem sie tastend Gläser gesucht, tranken sie.

»Ich will gehen und nachsehen . . .« sagte Tjapa, »vielleicht braucht er etwas.«

»Einen Sarg braucht er . . .« lachte der Rittmeister.

»Sprecht nicht davon,« bat Objedok mit dumpfer Stimme.

Nach Tjapa erhob sich Meteor von der Erde. Der Diakon wollte auch aufstehen, warf sich aber auf die andere Seite und schimpfte laut.

Nachdem Tjapa gegangen war, schlug der Rittmeister Martjanow auf die Schulter und fing halblaut zu sprechen an:

»So ist's, Martjanow . . . Du müßtest es mehr als die anderen fühlen . . . Du warst auch . . . übrigens zum Teufel damit! Tut dir Philipp leid?«

»Nein,« antwortete der frühere Gefängnisinspektor nach kurzem Schweigen.

»Ich fühle nichts dergleichen, Bruder . . . ich hab's verlernt . . . Abscheulich, so zu leben . . . Ich sag's im Ernst, ich schlage einen tot . . .«

»Ja?« entgegnete der Rittmeister unbestimmt. »Nun . . . denn! Trinken wir noch einmal!«

»Wir brauchen nicht viel . . . trinken – und scho–on!«

Ssimzow war erwacht und sang so mit seliger Stimme.

»Brüder! Wer ist da? Gießt dem Alten ein Glas ein!«

Ihm wurde eingegossen und gegeben. Nachdem er getrunken, warf er sich wieder auf die Seite, indem er mit dem Kopfe jemand in die Seite stieß.

Ein paar Minuten dauerte das Schweigen, dunkel und schwer wie die Herbstnacht. Dann fing jemand an zu flüstern . . .

»Was?« ertönte eine Frage.

»Ich sage . . . ein prächtiger Bursche . . . war er . . . Ein Kopf, – solch ein Stiller . . .« sprachen sie halblaut.

»Ja, und Geld hatte er auch . . . und gab gern unsereinem . . .« Und wieder trat Schweigen ein.

»Er stirbt!« erschallte Tjapas Ruf über dem Kopf des Rittmeisters.

Aristid Fomitsch stand auf und ging, indem er sich anstrengte, sicher aufzutreten, ins Asyl.

»Weshalb kommst du?« hielt ihn Tjapa zurück. »Tu's nicht! Du bist ja betrunken . . . Das ist nicht gut!«

Der Rittmeister blieb stehen und überlegte.

»Ach, was ist gut auf dieser Welt? Geh' zum Teufel, du!« und er stieß Tjapa beiseite.

Noch immer huschten Schatten über die Wände des Asyls, als kämpften sie schweigend miteinander. Auf der Pritsche, in voller Länge hingestreckt, lag der Lehrer und röchelte. Seine Augen waren weit geöffnet, die entblößte Brust hob sich heftig, in den Mundwinkeln stand Schaum, und auf dem Gesicht lag ein gespannter Ausdruck, als strenge er sich an, etwas Großes, Schweres auszusprechen und – könne nicht und litte unsäglich darunter.

Der Rittmeister stellte sich neben ihn, die Hände auf dem Rücken, und sah ihn minutenlang schweigend an. Dann sprach er, indem er schmerzlich die Stirn kraus zog:

»Philipp! Sag' etwas zu mir . . . ein Wort des Trostes dem Freunde . . . Sprich! . . . Ich habe dich lieb, Bruder . . . Sie alle sind – Tiere, du warst für mich – Mensch . . . trotzdem du trankst! Ach, wie hast du doch getrunken, Philipp! Und das eben hat dich zugrunde gerichtet . . . Du hättest dich beherrschen und mir folgen sollen. Hab' ich dir denn nicht oft gesagt . . .«

Die geheimnisvolle, alles vernichtende Macht, Tod genannt, entschloß sich, wie beleidigt durch die Gegenwart dieses betrunkenen Menschen bei dem düsteren, feierlichen Akt ihres Kampfes mit dem Leben, ihr mitleidloses Werk schneller zu vollenden. Nachdem der Lehrer tief aufgeatmet, stöhnte er leise, ein Schauder überflog ihn, er streckte sich aus und starb.

Der Rittmeister schwankte auf seinen Füßen, während er seine Rede fortsetzte.

»Was ist dir? Willst du, ich bring' dir Schnaps? Aber besser, du trinkst nicht, Philipp . . . sei fest . . . bezwing' dich! Sonst trinke . . . Wozu, gradaus gesagt, sich bezwingen . . . Wozu, Philipp? Nicht wahr? Wozu? . . .«

Er nahm seinen Fuß und zog ihn an sich.

»Ach, du bist eingeschlafen, Philipp? Nun . . . schlaf' . . . Gute Nacht . . . Morgen erkläre ich dir alles, und du überzeugst dich, daß man sich nichts versagen muß . . . jetzt aber schlaf' . . . wenn du nicht tot bist . . .«

Er ging hinaus, von Schweigen begleitet, und teilte draußen den Seinen mit:

»Er ist eingeschlafen . . . oder gestorben . . . Ich weiß nicht . . . Ich . . . ich bin . . . ein b–bißchen betrunken . . .«

Tjapa schrumpfte noch mehr zusammen, indem er sich bekreuzte, und legte sich auf die Erde. Meteor, der dumme Bursche, fing an zu schluchzen, leise und kläglich, wie ein wehleidiges Frauenzimmer. Objedok wälzte sich unruhig auf der Erde, indem er halblaut in zornig-bekümmertem Tone sprach:

»Hol' euch alle der Teufel! Peiniger, ihr! Nun, er ist gestorben! Nun denn! Wozu . . . wozu muß ich das wissen? Wozu mir davon erzählen? Die Zeit kommt – und ich sterbe auch . . . nicht schlechter als er . . . Nicht schlechter ich als andere.«

»Recht so!« sagte der Rittmeister laut, indem er sich schwer auf die Erde niederließ. »Es kommt die Zeit, und wir alle sterben nicht schlechter als andere . . . ha–ha! Wie wir leben . . . Unsinn! Aber wir sterben – wie alle. Das ist – des Lebens Ziel, glaubt meinem Worte. Der Mensch lebt, um zu sterben. Und er stirbt . . . Ist's aber so, ist es dann nicht einerlei, woran und wie er stirbt, und wie er lebte? Martjanow, hab' ich recht? Trinken wir noch mal . . . und noch mal, so lang' wir noch leben . . .«

Ein Regenschauer rieselte nieder. Dichte, dumpfe Dunkelheit umhüllte die vom Schlaf oder Rausch zusammengeballten, sich auf der Erde wälzenden Leute. Der aus dem Asyl kommende Lichtstreifen verblaßte, zitterte und verschwand plötzlich. Wahrscheinlich hatte der Wind die Lampe ausgelöscht, oder das Petroleum war ausgebrannt. Scheu und unsicher schlugen die Regentropfen auf das eiserne Dach des Asyls. Vom Berge her, aus der Stadt, klangen einzelne, melancholische Glockenschläge. Die Kirchenwächter schlugen an.

Der Kupferklang, vom Glockenturm herniedertönend, schwebte still durchs Dunkel und erstarb langsam darin, aber noch ehe die Finsternis seine letzte, zitternd ausatmende Note verschlungen, erstand ein neuer Ton, und wieder zog des Metalls melancholischer Seufzer durch die Stille der Nacht.

* * *

Tjapa erwachte morgens als erster.

Nachdem er sich auf den Rücken gedreht, sah er zum Himmel auf – sein mißgestalteter Hals erlaubte ihm nur in dieser Lage, den Himmel über sich zu sehen.

An diesem Morgen war der Himmel einförmig grau. Feuchte, kalte Dämmerung hatte sich dort oben verdichtet, sie löschte die Sonne aus und breitete, die blaue Unendlichkeit verhüllend, auf Erden Melancholie aus. Tjapa bekreuzte sich und stützte sich auf die Ellbogen, um zu sehen, ob nicht Schnaps übrig geblieben war. Die Flasche war da, aber leer. Über die Gefährten kletternd, fing Tjapa an, die Becher nachzusehen, aus denen sie getrunken hatten. Einen fand er fast voll, trank ihn aus, wischte sich die Lippen mit dem Ärmel ab und rüttelte den Rittmeister an der Schulter.

»Steh' auf . . . he! hörst du?«

Der Rittmeister hob den Kopf und sah ihn mit trüben Augen an.

»Die Polizei muß benachrichtigt werden . . . na, steh' doch auf!«

»Was ist denn?« fragte der Rittmeister verschlafen und ärgerlich.

»Daß er gestorben ist . . .«

»Wer?«

»Der Gelehrte da . . .«

»Philipp? Ach ja!«

»Du hast das vergessen . . . ach du!« sagte Tjapa vorwurfsvoll mit seiner heiseren Stimme.

Der Rittmeister stellte sich auf die Füße, gähnte laut und reckte sich so, daß die Knochen knackten.

»Geh' du denn, zeig' es an . . .«

»Ich geh' nicht . . . ich mag sie nicht,« sagte Tjapa mürrisch.

»Nun, weck' den Diakon auf . . . Ich will nachsehen.«

»Meinst du? . . . Diakon, steh' auf!«

Der Rittmeister ging ins Asyl und stellte sich zu Füßen des Lehrers hin. Der Tote lag in seiner ganzen Länge ausgestreckt: die Linke auf der Brust, die Rechte so hingeworfen, als hätte er ausholen wollen, um jemand zu schlagen. Der Rittmeister dachte, daß, wenn der Lehrer jetzt stände, er so groß wie Poltora Tarassa wäre. Dann setzte er sich auf die Pritsche zu Füßen seines Freundes und seufzte, indem er daran dachte, daß sie fast drei Jahre zusammen verlebt hatten. Tjapa trat ein, den Kopf wie ein Bock haltend, der stoßen will. Er setzte sich auf die andere Seite zu Füßen des Lehrers, sah in sein dunkles, ruhiges, ernstes Gesicht mit den festgeschlossenen Lippen und fing mit seiner heiseren Stimme zu sprechen an.

»Ja . . . nun ist er tot . . . und ich sterbe auch bald . . .«

»Für dich wird's Zeit,« sagte der Rittmeister finster.

»Es ist Zeit!« stimmte Tjapa bei, »für dich wär's auch besser, zu sterben . . . Alles ist besser, als so . . .«

»Vielleicht auch schlechter. Wieso weißt du's?«

»Schlimmer wird's nicht. Wenn man stirbt – hat man's mit Gott zu tun . . . hier aber mit den Leuten . . . Und die Leute – was das bedeutet . . .?«

»Schon gut, sei still . . .« unterbrach ihn Kuwalda ärgerlich.

Und in dem Dämmerlicht, das das Asyl erfüllte, wurde es eindringlich still.

Lange saßen sie schweigend zu Füßen des toten Gefährten und sahen ihn dann und wann an, beide tief in Gedanken versunken. Dann fragte Tjapa:

»Läßt du ihn begraben?«

»Ich? Nein! Mag ihn die Polizei begraben lassen.«

»Na! Man sollte meinen, du wirst's tun, – du hast doch von Wawilow sein Geld für die Klage genommen . . . Ich gebe, wenn's nicht reicht . . .«

»Sein Geld hab' ich . . . aber begraben lass' ich ihn nicht.«

»Nicht, gut so! Du bestiehlst einen Toten. Und ich sag' es allen, daß du sein Geld auffressen willst . . .« drohte Tjapa.

»Du bist dumm, alter Teufel,« sagte Kuwalda verächtlich.

»Ich bin nicht dumm . . . Aber es ist nicht gut, sag' ich, nicht wie ein Freund handelt . . .«

»Na, schon gut! Pack' dich!«

»Seh einer! Und wieviel Geld ist es?«

»Fünfundzwanzig . . .« sagte Kuwalda zerstreut.

»Sieh mal! . . . Gäbst du mir bloß ein Fünftel . . .«

»Was für ein Schurke du bist, Alter . . .« schalt der Rittmeister, Tjapa gleichgültig ins Gesicht sehend.

»Wieso? Wirklich, gib doch . . .«

»Geh' zum Teufel! . . . Ich lass' ihm für das Geld ein Denkmal setzen.«

»Was soll ihm das?«

»Ich kaufe einen Mühlstein und einen Anker, – den Mühlstein lege ich aufs Grab und den Anker schmiede ich mit einer Kette fest . . . das wird sehr schwer . . .«

»Wozu? Du spaßest . . .«

»Nun . . . das ist meine Sache!«

»Sieh zu, ich sag's . . .« drohte Tjapa von neuem. Aristid Fomitsch sah ihn stumpf an und schwieg. Und wieder saßen sie lange in einem Schweigen, das durch die Gegenwart des Toten eine eindringlich geheimnisvolle Stimmung annahm.

»Hör' . . . sie kommen!« sagte Tjapa, stand auf und verließ das Asyl.

Bald erschienen der Bezirkspristav, der Untersuchungsrichter und der Doktor. Alle drei traten der Reihe nach an den Lehrer heran und gingen zurück, nachdem sie ihn angesehen, Kuwalda mit argwöhnischen Blicken musternd. Er saß, ohne sie zu beachten, bis ihn der Pristav, mit einer Kopfbewegung nach dem Lehrer deutend, fragte:

»Woran ist er gestorben?«

»Fragt ihn . . . Ich meine, an Ungewohntheit . . .«

»Was soll das heißen?« fragte der Untersuchungsrichter.

»Ich sage – meiner Meinung nach ist er gestorben, weil er die Krankheit nicht gewohnt war, an der er litt . . .«

»Hm . . . ja! Kränkelte er lange?«

»Er sollte hinausgeschafft werden, hier kann man nichts sehen,« schlug der Arzt in gelangweiltem Tone vor. »Vielleicht sind Anzeichen da . . .«

»Nun denn, rufen Sie jemand her, ihn hinauszutragen,« gebot der Pristav Kuwalda.

»Rufen Sie selbst . . . Mich stört er hier nicht . . .« entgegnete der Rittmeister gleichgültig.

»Nun!« rief der Polizeibeamte und machte ein grimmiges Gesicht.

»Brr!« parierte Kuwalda, ohne sich vom Platze zu rühren, in stillem Zorn und zeigte die Zähne.

»Zum Teufel! . . . ich . . . ich lasse Ihnen das nicht hingehen! Ich . . .« schrie der Pristav so voll Wut, daß ihm das Blut ins Gesicht stieg.

»Guten Tag wünsch' ich, verehrte Herren!« sagte, in der Tür erscheinend, der Kaufmann Petunnikow mit süßer Stimme.

Mit seinem scharfen Blick alle zugleich überfliegend, fuhr er plötzlich zusammen, trat einen Schritt zurück und bekreuzte sich inbrünstig, nachdem er die Mütze abgenommen. Dann überflog ein Lächeln schadenfrohen Triumphes sein Gesicht, und er fragte, den Rittmeister fest ansehend:

»Was ist geschehen? – haben sie hier gar einen Menschen umgebracht?«

»Etwas der Art,« antwortete der Untersuchungsrichter.

Petunnikow seufzte tief auf, bekreuzte sich wieder und fing in erbittertem Tone zu sprechen an:

»Ach, mein Gott! Wie hab' ich das gefürchtet! Immer, wenn man herkam und sah . . . ei, ei, ei! Und zu Hause stand es einem immer vor Augen . . . Gott beschütze jeden! . . . Wie oft hab' ich diesem Herrn da – dem Hauptkommandierenden der goldenen Rotte – das Quartier kündigen wollen, aber ich hatte immer Furcht . . . wissen Sie . . . solch Volk! . . . besser nachgeben, dachte ich, damit nicht noch . . .«

Er fuhr leicht mit der Hand durch die Luft, dann strich er sich damit über das Gesicht, nahm den Bart in die Hand und seufzte wieder.

»Gefährliche Leute! Und dieser Herr, eine Art Chef von ihnen . . . geradezu ein Räuberhauptmann.«

»Wir befühlen ihn schon noch,« sagte der Pristav in vielversprechendem Tone, dem Rittmeister einen rachsüchtigen Blick zuwerfend. »Er ist mir auch gut bekannt! . . .«

»Ja, wir sind alte Bekannte, Bruder . . .« bestätigte Kuwalda in familiärem Tone. »Wieviel Sporteln hab' ich dir und deinem Seligen für Schweigen gezahlt! . . .«

»Meine Herren,« rief der Pristav, »Sie haben gehört? Bitte, es zu behalten! Ich lasse das nicht hingehen . . . Ah . . . ah! So also? Nun, du wirst an mich denken! Ich . . . besorg' es dir, mein Freund . . .«

»Rühme dich nicht des kommenden Kampfes . . . mein Freund,« sagte Aristid Fomitsch ruhig.

Der Doktor, ein junger Mann mit einer Brille, betrachtete ihn mit Neugier, der Untersuchungsrichter mit unheilkündender Aufmerksamkeit, Petunnikow voll Triumph, und der Pristav schrie, sich drehend und wendend, und wollte auf ihn losstürzen.

In der Tür erschien Martjanows finstere Gestalt. Er kam leise näher und stellte sich hinter Petunnikow, so daß sich sein Kinn über dem Scheitel des Kaufmanns befand.

Seitwärts hinter ihm blickte der Diakon hervor, seine kleinen, verschwollenen, roten Augen weit öffnend.

»Allein, tun wir denn etwas, meine Herren!« schlug der Doktor vor.

Martjanow schnitt eine schreckliche Grimasse und – nieste plötzlich, gerade über Petunnikows Kopf. Der schrie auf, hockte sich nieder und sprang zur Seite, fast den Pristav umreißend, der ihn noch gerade in seinen Armen auffing.

»Sehen Sie?« sagte der Kaufmann aufgeregt, indem er auf Martjanow deutete. »Solche Leute sind das! Ah?«

Kuwalda lachte laut auf. Der Doktor und der Untersuchungsrichter lächelten, und an der Tür erschienen immer neue und neue Gestalten.

Die halb verschlafenen, verschwollenen Physiognomien mit roten, entzündeten Augen und struppigen Haaren betrachteten ganz ungeniert den Doktor, den Richter und den Pristav.

»Wo wollt ihr hin!« redete sie der Polizist an, indem er sie an den Lumpen zerrte und von der Tür forttrieb. Aber er war nur einer, und sie waren ihrer viele, und sie kamen herein, ohne seiner zu achten, – schnapsatmend, schweigend, unheilkündend. Kuwalda sah sie an und dann die Beamten, die von der reichlichen Zahl dieses unerfreulichen Publikums ein wenig betroffen waren, und sagte lachend zu letzteren:

»Meine Herren, vielleicht wünschen Sie die Bekanntschaft meiner Mieter und Freunde zu machen? Wünschen Sie es? Gleichviel – früher oder später müssen Sie doch aus Amtspflicht ihre Bekanntschaft machen . . .«

Der Doktor lächelte unruhig. Der Richter biß fest die Lippen aufeinander, und dem Pristav fiel ein, was zu tun sei. Er rief auf den Hof hinaus:

»Sidorow! Pfeife . . . sag', wenn sie kommen, daß ein Wagen besorgt wird . . .«

»Nun, und ich gehe!« sagte Petunnikow, aus einem Winkel hervorkommend. »Das Quartier ist noch heute zu räumen, Herr . . . Ich breche diese Kate ab . . . Tragen Sie Sorge dafür . . . sonst wende ich mich an die Polizei.«

Auf dem Hofe ertönte der durchdringende Pfiff des Polizisten, an der Tür des Asyls standen dicht gedrängt, gähnend und sich kratzend, seine Bewohner.

»Also wollen Sie nicht ihre Bekanntschaft machen? . . . Unhöflich! . . .« lachte Aristid Kuwalda.

Petunnikow holte seine Börse aus der Tasche, wühlte darin herum, zog zwei Fünfer heraus und legte sie, sich bekreuzend, dem Verstorbenen zu Füßen.

»Segne's Gott . . . zur Beerdigung des sündigen Staubes . . .«

»Wa–as?« brüllte der Rittmeister los. »Du? Zur Beerdigung? Nimm's fort! Nimm's fort, sag' ich dir . . . Schurke! Du wagst es – zum Begräbnis eines ehrlichen Menschen deine Diebesgroschen zu geben? . . . Ich schlage dich nieder . . .«

»Ew. Wohlgeboren!« rief der Kaufmann erschrocken, den Pristav am Ellbogen ergreifend. Der Doktor und der Richter sprangen auf, – der Pristav rief laut:

»Hierher, Sidorow!«

Die »ehemaligen Leute« standen wie eine Mauer in der Tür und sahen und hörten mit einem Interesse zu, das ihre welken Gesichter belebte.

Kuwalda brüllte, wie ein Tier die blutunterlaufenen Augen rollend, und schüttelte die Fäuste über Petunnikows Kopf.

»Schurke – Dieb! Nimm das Geld! Niederträchtige Kreatur – nimm, sag' ich . . . sonst schlag' ich sie dir ins Gesicht, – nimm!«

Petunnikow streckte die zitternde Hand nach seinem Scherflein aus und sagte, sich mit der anderen vor Kuwaldas Faust schützend:

»Sie sind Zeugen . . . Herr Pristav, und ihr, guten Leute!«

»Wir sind böse Leute, Kaufmann,« ertönte Objedoks schrille Stimme.

Der Pristav, das Gesicht aufgepustet wie eine Blase, pfiff wütend und hielt seine andere Hand in der Luft über Petunnikows Kopf, der sich so vor ihm wand, als wolle er ihm in den Leib kriechen.

»Willst du, Natter – gemeine, ich zwing' dich, diesem Leichnam die Füße zu küssen, – w–willst du?«

Und sich in Petunnikows Kragen einkrallend, schleuderte er ihn wie eine Katze an die Tür.

Die »ehemaligen Leute« traten schnell auseinander, um dem Kaufmann Raum zum Fallen zu lassen. Und er streckte sich zu ihren Füßen hin, erschrocken und wütend heulend:

»Sie bringen mich um! Zu Hilfe . . . sie bringen mich um!«

Martjanow hob langsam seinen Fuß, auf den Kopf des Kaufmanns zielend, und Objedok spie mit wollüstigem Ausdruck seiner Physiognomie dem Kaufmann ins Gesicht. Petunnikow machte ein kleines Häufchen aus sich und kollerte auf den Hof, lachend angespornt, indem er sich mit Händen und Füßen stützte. Auf dem Hofe erschienen aber schon zwei Polizisten, und der Pristav rief triumphierend, auf Kuwalda deutend:

»Arretieren! Binden!«

»Bindet ihn, Täubchen!« bat Petunnikow.

»Wagt es nicht! Ich lauf' nicht davon . . . ich geh' von selbst, wohin ich muß . . .« sagte Kuwalda, die heraneilenden Polizisten abwehrend.

Einzeln verschwanden die »ehemaligen Leute«. Ein Wagen fuhr auf den Hof. Einige traurige Zerlumpte schleppten bereits den Lehrer hinaus.

»Ich werde dir, Täubchen . . . warte!« drohte der Pristav Kuwalda.

»Nun, was, Räuberhauptmann? . . .« fragte Petunnikow hämisch, aufgeregt und glücklich beim Anblick des Feindes, dem die Hände gebunden wurden. »Was? Angelaufen? Wart', was noch wird! . . .«

Aber Kuwalda schwieg. Aufrecht und schrecklich stand er zwischen zwei Polizisten und sah zu, wie sie den Lehrer auf den Wagen luden. Der Mensch, welcher die Leiche unter den Schultern hielt, war von kleinem Wuchs und konnte den Kopf des Lehrers nicht in dem Moment niederlegen, als seine Beine schon auf den Wagen geworfen waren. Einen Moment sah es so aus, als wolle sich der Lehrer kopfüber aus dem Wagen stürzen und sich in der Erde vor all diesen bösen und dummen Menschen verstecken, die ihm keine Ruhe ließen.

»Führt ihn,« kommandierte der Pristav, auf den Rittmeister zeigend.

Ohne zu protestieren, bewegte sich Kuwalda schweigend, mit finster zusammengezogener Stirn, vom Hofe und neigte, als er beim Lehrer vorbeikam, den Kopf, doch ohne ihn anzusehen. Martjanow mit dem versteinerten Gesicht ging hinter ihm. Der Hof des Kaufmanns leerte sich schnell.

»Zu!« schwenkte der Kutscher die Zügel über dem großen Pferde.

Der Wagen setzte sich auf dem unebenen Boden des Hofes in rüttelnde Bewegung. Der Lehrer, mit irgendwelchen Lumpen zugedeckt, lag ausgestreckt, mit der Brust nach oben, darauf, und sein Leib zitterte. Es war, als lache er leise und zufrieden aus Freude darüber, daß er endlich das Asyl verläßt und niemals mehr dahin zurückkehrt, – niemals mehr . . .«

Petunnikow, der ihm mit den Blicken folgte, bekreuzte sich fromm und fing dann an, mit seiner Mütze den Staub und Schmutz, der an seinen Kleidern haftete, sorgfältig abzuklopfen. Und wie der Staub auf seinem Rock verschwand, erschien auf seinem Gesicht wieder der ruhige Ausdruck des Selbstvertrauens und der Zufriedenheit mit sich selbst. Vom Hofe aus konnte er sehen, wie der Rittmeister Aristid Fomitsch Kuwalda die Straße entlang nach dem Berge ging, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, hoch und grau, in einer Mütze mit rotem Rande, gleich einem Blutstreifen.

Petunnikow lächelte mit dem Lächeln des Siegers und ging ins Asyl, aber plötzlich blieb er zusammenfahrend stehen. In der Tür ihm gegenüber stand, mit einem Stock in der Hand und einem großen Sack auf dem Rücken, ein schrecklicher Greis, starrend in Lumpen, die seinen langen Körper bedeckten, gebeugt von der Schwere der Last, und den Kopf so auf die Brust gesenkt, als wolle er sich auf den Kaufmann stürzen.

»Wer bist du?« rief Petunnikow. »Wer bist du?«

»Ein Mensch . . .« ertönte dumpf eine heisere Stimme.

Petunnikow erfreute diese Stimme, und er beruhigte sich. Er lächelte sogar:

»Ein Mensch! Ach du . . . gibt's denn solche Menschen?«

Und zur Seite tretend, ließ er den Alten an sich vorbei, der gerade auf ihn zuging und dumpf murmelte:

»Verschiedene gibt's . . . wie Gott will . . . Und schlimmere als mich . . . noch schlimmere gibt's . . . ja!«

Schweigend blickte der trübe Himmel auf den schmutzigen Hof und den reinlichen Menschen mit dem spitzen, grauen Bärtchen, der darüber ging und mit seinen Schritten und scharfen Augen etwas ausmaß. Auf dem Dach des alten Hauses saß eine Krähe und krächzte triumphierend, indem sie den Hals ausreckte und sich schüttelte.

Etwas Gespanntes, Unerbittliches lag in den grauen, strengen Wolken, die dicht den Himmel bedeckten, als schickten sie sich an, sich in strömenden Regen zu verwandeln, fest entschlossen, allen Schmutz von dieser unglücklichen, gepeinigten, traurigen Erde zu waschen . . .

 


 


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