Maxim Gorki
Drei Menschen
Maxim Gorki

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XXIII

Gawriks Schwester kam jetzt fast täglich in Lunews Laden. Sie schien beständig in Sorgen um irgend etwas, begrüßte jedesmal Ilja, schüttelte ihm kräftig die Hand, wechselte ein paar Worte mit ihm und verschwand dann, irgendeine neue Anregung für sein Denken zurücklassend. Eines Tages fragte sie ihn:

»Finden Sie Gefallen daran, Handel zu treiben?«

»Nicht besonders«, antwortete Lunew achselzuckend. »Aber irgendwie muß man sich doch ernähren . . .«

Sie schaute mit ihren ernsten Augen forschend in seine Züge, wobei ihr Gesicht noch gespannter erschien als sonst.

»Haben Sie es nie versucht, von irgendwelcher Arbeit zu leben?« fragte das Mädchen.

Ilja verstand ihre Worte nicht und fragte:

»Was sagten Sie?«

»Ich fragte, ob Sie jemals gearbeitet haben? . . .«

»Ich habe immer gearbeitet. Mein ganzes Leben lang. Jetzt treib' ich Handel . . .« versetzte Lunew, über ihre seltsame Frage verwundert.

Sie aber lächelte – und in ihrem Lächeln lag etwas, das IIja verletzte.

»Sie denken also, Handeltreiben sei Arbeit? Sie denken, das sei dasselbe?« fragte sie rasch.

»Natürlich!«

Er sah ihr ins Gesicht und fühlte, daß sie im Ernst sprach und nicht scherzte.

»O nein«, fuhr sie mit überlegenem Lächeln fort. »Von Arbeit kann man nur sprechen, wenn der Mensch etwas unter Anwendung seiner Kräfte hervorbringt . . . wenn er etwas erzeugt . . . Bänder, Borten, Stühle, Schränke . . . Verstehen Sie?«

Lunew nickte schweigend mit dem Kopf und errötete. Er schämte sich, zu gestehen, daß er sie nicht verstand.

»Der Handel – wie kann man den als Arbeit bezeichnen? Er gibt doch den Menschen nichts«, sprach das Mädchen überzeugt und schaute dabei Ilja prüfend an.

»Gewiß,« versetzte er langsam und vorsichtig – »Sie haben recht . . . Handeltreiben ist nicht sehr schwer, wenn man's versteht . . . Aber der Handel gibt doch dem Menschen etwas . . . nämlich einen Gewinn . . . Wenn er den nicht gäbe, wer würde wohl Handel treiben?«

Sie wandte sich schweigend von ihm ab, sprach mit ihrem Bruder und ging bald. Von Ilja verabschiedete sie sich nur durch ein Kopfnicken, ihr Gesicht war wieder frostig und stolz, wie es vor ihrer Bekanntschaft mit Mascha gewesen war. Ilja dachte nach, ob er sie nicht durch irgendein unvorsichtiges Wort verletzt hätte. Er rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was er zu ihr gesprochen hatte, und fand darin nichts Beleidigendes. Dann sann er über ihre Worte nach, die ihn lebhaft beschäftigten. Welchen Unterschied sah sie eigentlich zwischen Handel und Arbeit?

Er konnte nicht begreifen, warum ihr Gesicht immer so grimmig, so verbissen war, während sie doch von Herzen gut war und nicht nur die Menschen bedauerte, sondern ihnen auch zu helfen wußte. Pawel besuchte sie in ihrem Heim und rühmte sie wie das ganze Leben in ihrer Familie mit Begeisterung.

»Kommst du hin zu ihnen, dann heißt es: ›Ach, seien Sie uns willkommen!‹ Essen sie zu Mittag – gleich bitten sie dich zu Tisch. Trinken sie Tee – bist du von selbst eingeladen. Alles ist so einfach, und Menschen gibt es da – eine Unmenge! So vergnügt sind alle, singen, schreien, disputieren über Bücher. Bücher liegen bei ihnen herum, wie in einem Laden. Eng ist's wohl, sie stoßen sich gegenseitig und lachen dabei. Lauter gebildete Menschen – ein Advokat ist da, und noch ein anderer, der bald Doktor sein wird, und Gymnasiasten, und allerhand solche Leute. Du vergißt ganz, wer du bist, und du lachst, rauchst und plauderst mit ihnen um die Wette. Prächtige Leute – so vergnügt, und dabei so ernst . . .«

»Mich wird sie nicht einladen, siehst du . . .« sprach Lunew mürrisch. »Das stolze Fräulein!«

»Die soll stolz sein?« rief Pawel. »Ich sage dir – die Einfachheit selbst! Warte nicht erst, bis sie dich auffordert, sondern geh einfach hin . . . Kommst hin – und bist da! Abgemacht! Wie im Gasthaus ist's bei ihnen – bei Gott, so frei, sag' ich dir. Was bin ich zum Beispiel gegen sie? Aber wie ich kaum zweimal da war – gehörte ich mit dazu. Interessant ist's! Zum Spiel wird ihnen das Leben . . .«

»Na – und was macht Maschutka?« fragte Ilja.

»Ganz gut geht's ihr . . . Sie hat sich schon etwas erholt, sitzt da und lächelt. Sie kurieren sie mit irgend etwas . . . geben ihr Milch zu trinken. Chrjenow wird gründlich reinfallen – der Advokat meinte, sie würden ihm ordentlich was aufbrummen . . . Sie fahren immer mit Maschka zum Untersuchungsrichter. Was die Meinige betrifft, so kümmern sie sich auch, daß der Termin recht bald stattfinde . . . Nein, es ist wirklich hübsch bei ihnen. Die Wohnung ist recht klein, und Menschen gibt's drin wie Holz im Ofen, und sie glühen auch ebenso . . .«

»Und sie selbst – was macht sie?« erkundigte sich Lunew.

Von Ssonja konnte Pawel nicht anders erzählen als damals, in seiner Kindheit, von den Arrestanten, die ihn schreiben und lesen gelehrt hatten. Er strengte sich an, die lobendsten Ausdrücke zu finden, und mischte immer wieder begeisterte Ausrufe in seine Darstellung.

»Ich sag' dir, Bruder, die? Oho–o, was die alles gelernt hat! Und alle kommandiert sie, und wenn jemand etwas gesagt hat, was ihr nicht gefällt, dann macht sie gleich frrr! . . . Wie 'ne Katze . . .«

»Ich kenne sie von der Seite«, sagte Ilja lächelnd.

Er beneidete Pawel: gar zu gern wäre er bei der strengen Gymnasiastin eingeführt worden, aber seine Eigenliebe erlaubte ihm nicht, den einfachsten Weg zu wählen und ohne weiteres hinzugehen.

Er stand hinter seinem Ladentisch und dachte trotzig für sich:

»Da gibt es nun so viel Menschen, und jeder ist darauf aus, von den andern irgendeinen Vorteil zu ziehen. Und sie – was für einen Vorteil hat sie wohl davon, sich Maschutkas und Wjeras anzunehmen? . . . Sie ist arm . . . der Tee und jedes Stückchen Brot – alles kostet Geld . . . also muß sie wirklich sehr gut sein . . . Und wie behandelt sie mich? Wie spricht sie mit mir? . . . Worin bin ich schlechter als Pawel?«

Diese Gedanken beschäftigten Ilja so sehr, daß er sich gegen alles andere fast gleichgültig verhielt. In dem Dunkel seines Lebens hatte sich eine Spalte aufgetan, und durch diese sah oder vielmehr ahnte er in der Ferne ein Schimmern von etwas, das er noch nie erblickt hatte . . .

»Mein lieber Freund,« sprach Tatjana Wlaßjewna bei einem ihrer Besuche in trocken belehrendem Tone zu ihm – »das schmale Wollband muß wieder angeschafft werden . . . Besatz ist auch ausgegangen . . . Von dem schwarzen Zwirn Nummer fünfzig ist nur noch ganz wenig da . . . Perlmutterknöpfe hat uns eine Firma angeboten – der Agent ist bei mir gewesen, ich hab' ihn hierher geschickt. War er da?«

»Nein«, antwortete Ilja kurz.

Dieses Weib war ihm immer widerwärtiger geworden. Er hegte den Verdacht, daß Tatjana Wlaßjewna mit Korßakow, der kürzlich zum Bezirksaufseher ernannt worden war, angebändelt habe. Ihrem Kompagnon gab sie nur noch selten ein Stelldichein, obschon sie im übrigen ebenso freundlich und frei mit ihm verkehrte wie früher. Lunew aber ging auch diesen wenigen Rendezvous unter irgendeinem Vorwand aus dem Wege. Als er sah, daß sich Tatjana nichts weiter daraus machte, schalt er sie im stillen:

»Die Buhlerin . . . die schamlose Dirne! . . .«

Sie mißfiel ihm namentlich dann, wenn sie in den Laden kam, um den Warenbestand zu revidieren. Sie tänzelte im Zimmer herum wie ein Kreisel, sprang auf den Ladentisch hinauf, holte die Kartons aus den oberen Fächern herunter, nieste von dem Staub, den sie dabei aufwirbelte, schüttelte den Kopf und räsonierte über Gawrik.

»Ein Ladenbursche muß geschickt und zuvorkommend sein. Man gibt ihm doch nicht darum zu essen, daß er den ganzen Tag an der Tür sitzen und sich die Nase mit den Fingern putzen soll! Und wenn die Prinzipalin spricht, dann hat er aufmerksam zuzuhören und nicht wie ein Popanz dazustehen . . .«

Aber Gawrik hatte seinen eignen Charakter. Er hörte sich das Geplapper der Prinzipalin an und bewahrte dabei vollkommen seine Seelenruhe. Wenn sie irgendwo hinaufgekrochen war, um die oberen Fächer zu erreichen, und dabei ihre Röcke hoch emporhob, blinzelte er mit spitzbübischem Lächeln dem Prinzipal zu. Stets sprach er mit ihr grob, ohne jede Spur von Respekt. War sie dann fort, so sagte er zu Ilja:

»Der Kiebitz ist weggehopst!«

»So darf man von der Prinzipalin nicht sprechen«, sagte Ilja in tadelndem Ton, während er sich das Lachen zu verbeißen suchte.

»Was ist das für 'ne Prinzipalin!« protestierte Gawrik. »Kommt, schwatzt hier herum und hopst wieder weg . . . Der Prinzipal sind Sie!«

»Und sie auch . . .« suchte Ilja, der den soliden und offenherzigen Jungen gern hatte, schwach zu protestieren.

»Sie ist ein Kiebitz, nichts weiter«, sprach Gawrik und blieb bei seiner Meinung.

»Sie bringen dem Jungen nichts bei«, meinte die Awtonomowa einmal. »Und überhaupt . . . ich muß sagen, daß alles bei uns in der letzten Zeit . . . ohne Begeisterung betrieben wird, ohne Liebe zur Sache . . .«

Lunew schwieg. Er haßte sie von ganzer Seele und dachte:

»Meinetwegen kannst du dir das Bein verrenken, Satansweib, wenn du hierher trippelst!«

Von Onkel Terentij hatte Ilja um diese Zeit einen Brief erhalten, in dem jener schrieb, daß er nicht nur in Kiew, sondern auch im Kloster des heiligen Sergius und in Walaam gewesen sei. Beinahe wäre er auch nach Solowki an der Dwina gekommen, aber die Pilgerfahrt dahin lasse er vorläufig und gedenke bald wieder in der Heimat zu sein.

»Noch eine Annehmlichkeit«, dachte Ilja ärgerlich. »Jedenfalls wird er hier bei mir wohnen wollen . . .«

Kunden erschienen im Laden, und während er mit ihrer Abfertigung beschäftigt war, kam Gawriks Schwester. Ganz matt, nur mühsam atmend, begrüßte sie ihn und fragte, mit dem Kopfe nach der Tür seines Zimmers nickend:

»Ist da drinnen . . . Wasser?«

»Ich bringe Ihnen sogleich welches«, sagte Ilja.

»Lassen Sie . . . ich werde mich selbst bedienen . . .«

Sie ging in das Zimmer und blieb dort so lange, bis die Kunden fort waren und Lunew eintrat. Er traf sie vor den »menschlichen Altersstufen«, die sie prüfend betrachtete. Sie wandte den Kopf nach Ilja um, wies mit den Augen nach dem Bilde und sagte:

»Was für ein Schund . . .«

Lunew fühlte, daß ihre Bemerkung ihn betroffen machte, und er lächelte, wie wenn er sich einer Schuld bewußt wäre. Doch bevor er sie noch um eine Erklärung angehen konnte, war sie fort . . .

Ein paar Tage später brachte sie dem Bruder die Wäsche und machte ihm Vorwürfe darüber, daß er seine Kleider zu wenig schone, alles zerreiße und beschmutze.

»Nanu!« rief Gawrik störrisch – »jetzt wirst auch du noch auf mir rumhacken! Noch nicht genug, daß die Prinzipalin immer nörgelt, wirst du mich noch kujonieren! . . .«

»Was ist denn mit ihm? Ist er sehr ungezogen?« fragte die Gymnasiastin Ilja.

»Nicht mehr, als er darf . . .« antwortete Lunew freundlich.

»Ich bin doch ein ruhiger Mensch!« verteidigte sich der Junge.

»Seine Zunge ist etwas lose«, versetzte Ilja.

»Hörst du?« sprach Gawriks Schwester und zog die Brauen zusammen.

»Na, gewiß hör' ich's!« versetzte Gawrik ärgerlich.

»Es macht weiter nichts aus«, meinte Ilja gutmütig. »Ein Mensch, der wenigstens zu beißen versteht, ist immer besser dran als die andern . . . Andere lassen sich schlagen und schweigen dazu . . . steigen ins Grab, ohne ein Wort über das Unrecht zu sagen, das ihnen angetan ward . . .«

Die Gymnasiastin hörte seine Worte, und über ihr Gesicht huschte ein beifälliges Lächeln. Ilja bemerkte das und fuhr unsicher fort:

»Was ich Sie fragen wollte . . .«

»Was denn?«

Sie trat ganz dicht an ihn heran und sah ihm in die Augen. Er vermochte ihren Blick nicht auszuhalten, ließ den Kopf sinken und sagte:

»Soviel ich verstanden habe, lieben Sie die Kaufleute nicht?«

»Nicht sehr . . .«

»Und warum nicht?«

»Sie leben von fremder Arbeit . . .« erklärte sie scharf betonend.

Ilja warf den Kopf in die Höhe und zog die Augenbrauen empor. Ihre Worte setzten ihn nicht nur in Erstaunen, sondern beleidigten ihn geradezu. Und sie hatte sie so einfach, wie etwas Selbstverständliches, hingesprochen . . .

»Das ist . . . nicht wahr«, erklärte Lunew laut, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte.

Jetzt zuckte es über ihr Gesicht, und sie errötete.

»Wie teuer kommt Sie dieses Band da zu stehen?« fragte sie frostig und streng.

»Das Band? Dieses hier? . . . Siebzehn Kopeken der Arschin . . .«

»Und wie teuer verkaufen Sie es?«

»Zu zwanzig Kopeken . . .«

»Na also . . . Die drei Kopeken, die Sie mehr nehmen, gehören nicht Ihnen, sondern dem, der das Band verfertigt hat. Verstehen Sie?«

»Nein!« gestand Lunew offen.

Da blitzte es in ihren Augen feindselig auf. Ilja sah das und ward kleinlaut, ärgerte sich jedoch gleich darauf über sich selbst wegen seiner Unbeholfenheit.

»Ich dachte mir's wohl, daß es Ihnen nicht leicht werden wird, diesen Gedanken zu begreifen«, sagte sie und entfernte sich vom Ladentisch nach der Tür zu. »Sie müssen sich nur vorstellen, daß Sie der Arbeiter sind, der alle diese Dinge hier hervorbringt . . .«

Sie wies mit der Hand auf die Waren ringsum und fuhr fort, ihm darzulegen, wie die Arbeit alle bereichere außer demjenigen, der arbeite. Anfangs sprach sie so wie immer – frostig, mit deutlicher Betonung, und ihr unschönes Gesicht blieb dabei unbeweglich. Dann aber zuckten ihre Augenbrauen, die Stirn legte sich in Falten, die Nasenflügel blähten sich, und während sie den Kopf noch höher emporreckte, warf sie IIja trotzig wuchtige Worte hin, die ganz durchdrungen waren von jugendlicher, unerschütterlicher Überzeugung.

»Der Handel steht zwischen dem Arbeiter und dem Käufer, er tut nichts weiter, als daß er den Preis der Ware erhöht . . . Der Handel ist gesetzlich erlaubter Diebstahl . . .«

Ilja fühlte sich beleidigt, doch fand er keine Worte, um dieses kecke Mädchen zu widerlegen, das ihm ins Gesicht sagte, er sei ein Nichtstuer und Dieb. Er preßte die Zähne aufeinander, hörte auf ihre Worte und glaubte ihnen nicht, konnte ihnen nicht glauben. Und während er nach einem Worte suchte, das alle ihre Ausführungen mit einemmal widerlegte und sie zum Schweigen brächte, hatte er zugleich seine Freude an ihrer Kühnheit.

»Das stimmt alles nicht«, unterbrach er sie schließlich mit lauter Stimme. Er fühlte, daß er ihre Darlegungen nicht länger anhören konnte, ohne zu antworten: »Nein . . . ich bin nicht dieser Meinung!« In seiner Brust wallte es stürmisch auf, und auf sein Gesicht traten rote Flecke.

»Widerlegen Sie mich doch«, sagte sie ruhig, während sie auf dem Taburett Platz nahm und mit ihrem langen Zopfe spielte, der über ihre Schulter herabhing.

Lunew wandte sich ab, um ihrem angriffslustigen Blicke nicht zu begegnen.

»Ich werde Sie schon widerlegen«, platzte er laut heraus. »Durch mein ganzes Leben werde ich Sie widerlegen! Ich habe vielleicht einmal . . . eine große Sünde begangen, früher, bevor ich das hier erreichte . . .«

»Um so schlimmer . . . aber das ist keine Widerlegung«, sprach das Mädchen, und ihre Worte wirkten auf Lunew abkühlend wie ein Wasserstrahl. Er stützte sich mit den Armen auf den Ladentisch, beugte sich vor, als ob er hinüberspringen wollte, schüttelte seinen Lockenkopf und sah sie ein paar Augenblicke schweigend an. Er war zwar durch ihr Auftreten gekränkt, aber er staunte doch über ihre Ruhe, und ihr unbeweglicher, überzeugungsvoller Blick hielt seinen Zorn im Zaume. Aus ihrem ganzen Auftreten fühlte er etwas Kraftvolles, Furchtloses heraus, und die Worte, mit denen er sie zu widerlegen gedacht, wollten nicht über seine Lippen.

»Nun, was haben Sie also zu sagen?« fragte sie ihn kühl und herausfordernd. Dann lächelte sie und rief triumphierend:

»Ich wollte eigentlich mit Ihnen gar nicht streiten, denn was ich sagte, war die reine Wahrheit!«

»Sie wollen mit mir nicht streiten? Wirklich nicht?« versetzte Lunew mit dumpfer Stimme.

»Nein, wirklich nicht! Was können Sie überhaupt dagegen sagen?«

Und wiederum lächelte sie so überlegen.

»Auf Wiedersehen!« sagte sie darauf.

Und sie ging fort und trug den Kopf noch höher als sonst.

»Ist ja alles Unsinn! Ist nicht richtig!« schrie Lunew hinter ihr her. Aber sie beachtete seinen Widerspruch nicht weiter.

Ilja ließ sich auf das Taburett nieder. Gawrik, der an der Tür stand, schaute ihn an und schien mit dem Auftreten seiner Schwester sehr zufrieden – sein Gesicht hatte einen feierlichen, triumphierenden Ausdruck.

»Was guckst du denn?« rief Lunew ärgerlich, durch das Anstarren des Knaben unangenehm berührt.

»Nichts . . . nur so . . .« antwortete der Knabe.

»Laß das lieber«, sprach Lunew unwirsch und schwieg ein Weilchen. Und dann sagte er:

»Kannst spazierengehen . . .«

Auch dann, als er allein war, vermochte er mit seinen Gedanken nicht ins reine zu kommen. Er konnte sich in den tieferen Sinn dessen, was das Mädchen gesagt hatte, nicht hineindenken und empfand vor allem etwas persönlich Verletzendes in ihren Worten.

»Was habe ich ihr getan? . . . Kommt, hunzt mich herunter und geht wieder . . . Wart', komm mir noch einmal her! Dir will ich antworten . . .«

Er drohte ihr, suchte aber zugleich in sich die Schuld zu entdecken, um deretwillen sie ihn beleidigt hatte. Er erinnerte sich dessen, was Pawel über ihren scharfen Verstand und ihre Einfachheit erzählt hatte.

»Den Paschka beleidigt sie nicht!« dachte er.

Und er hob den Kopf auf und sah sein Bild im Spiegel. Die Spitzen seines schwarzen Schnurrbärtchens zuckten, die großen Augen schauten müde, und über den Backenknochen brannte helle Röte. Aber selbst jetzt war, trotz des unruhigen, finstern Ausdrucks, sein Gesicht immer noch hübsch, von einer derben Schönheit, und jedenfalls anziehender als das krankhafte, gelbe, knochige Gesicht Pawel Gratschews.

»Sollte ihr Paschka wirklich besser gefallen als ich?« dachte er, aber sogleich gab er sich selbst die Antwort auf diese Frage:

»Was geht sie denn schließlich mein Gesicht an? Ich bin doch kein Freier für sie . . .«

Er ging in sein Zimmer, trank ein Glas Wasser und sah sich um. Das grelle Bild an der Wand fiel ihm in die Augen. Er musterte diese genau abgemessenen »menschlichen Altersstufen« und dachte:

»Es ist doch Schwindel . . . Leben denn die Menschen so?«

Und nach kurzem Nachdenken sagte er sich:

»Wenn's auch der Fall wäre – so wäre es doch recht langweilig!«

Er ging langsam auf die Wand zu, riß das Bild herab und trug es in den Laden. Dort legte er es auf den Ladentisch, begann von neuem die »Altersstufen des Menschen« zu betrachten und lächelte jetzt schon spöttisch darüber. Schließlich bekam er von den grellen Farben ein Flimmern vor den Augen.

Er knüllte das Bild zusammen und warf es unter den Ladentisch; doch es rollte wieder vor, gerade vor seine Füße. Dadurch aufgebracht, hob er es nochmals auf, knüllte es noch fester zusammen und warf es durch die Tür auf die Straße.

Auf der Straße ging es lärmend her. Diesseits auf dem Bürgersteig schritt jemand mit einem Knüttel in der Hand daher. Der Knüttel schlug auf die Fliesen auf, nicht im Takt zu den Schritten, so daß es schien, als ob der Daherschreitende drei Beine hätte. Die Tauben gurrten. Man hörte ein metallenes Klirren – ein Schornsteinfeger ging über das Dach. Eine Droschke fuhr an dem Laden vorüber. Ilja ward schläfrig und begann einzunicken. Alles rings um ihn schien zu schwanken. Er nahm halb im Schlafe die Rechenmaschine und zählte daran ab – zwanzig Kopeken. Davon zog er ab – siebzehn Kopeken. Es blieben drei Kopeken. Er knipste mit den Fingern nach den Kugeln, und diese drehten sich mit einem leisen Geräusch auf dem Draht, rückten auseinander und blieben stehen.

Ilja seufzte, stellte die Rechenmaschine beiseite, legte sich mit der Brust auf den Ladentisch, verharrte in dieser Haltung ganz still und lauschte auf das Klopfen seines Herzens.

Am nächsten Tage erschien Gawriks Schwester von neuem. Sie sah ganz so aus wie immer, trug dasselbe alte Kleid und hatte denselben Ausdruck im Gesicht.

»Ach, du!« sagte Lunew sich im stillen, während er sie von seinem Zimmer aus feindselig beobachtete. Auf ihren Gruß antwortete er widerwillig, indem er gleich ihr den Kopf neigte. Sie ließ plötzlich ein gutmütiges Lachen hören und fragte freundlich:

»Sie sind ja so blaß! Sind Sie krank?«

»Ich bin gesund«, antwortete Ilja kurz. Er bemühte sich, das durch ihre teilnehmende Frage in ihm hervorgerufene Gefühl vor ihr zu verbergen. Und dieses Gefühl war von angenehmer, freudiger Art. Das Lächeln und die freundlichen Worte des Mädchens hatten sein Herz weich und warm berührt, doch er war entschlossen, ihr zu zeigen, daß er sich verletzt fühle, und hoffte dabei im stillen, daß sie noch einmal so lächeln, noch ein zweites so freundliches Wort zu ihm reden würde. Und er wartete voll Spannung, ohne sie anzusehen.

»Es scheint, daß Sie auf mich böse sind . . . daß Sie sich gekränkt fühlen?« ließ sich ihre Stimme vernehmen.

Ihre Worte klangen diesmal ganz anders als vorher, so hart und streng, daß Ilja sie verwundert anblickte. Sie war wieder ganz so herb wie sonst, und etwas Hochfahrendes, Abweisendes lag in ihren dunklen Augen.

»Ich bin an Kränkungen gewöhnt«, sagte Lunew und lachte sie herausfordernd an, während ein kaltes Gefühl der Enttäuschung seine Brust erfüllte.

»Du scheinst mit mir spielen zu wollen«, sagte er sich. »Erst streichelst du, und dann schlägst du! Nein, das paßt mir nicht . . .«

»Ich wollte Sie doch nicht beleidigen . . .«

»Sie können mich auch schwerlich beleidigen«, versetzte er laut und schroff. »Ich weiß doch, was Sie wert sind: Sie sind ein Vogel, der nicht hoch fliegt.«

Ganz erstaunt richtete sie sich bei diesen Worten empor, doch Ilja sah schon nichts mehr: ein heißer Drang, ihr zu vergelten, was sie ihm zugefügt, hatte ihn erfaßt, und langsam, absichtlich zögernd, warf er ihr harte, rohe Worte zu:

»Ihr Vornehmtun, dieser Stolz . . . die kosten Sie nicht viel . . . In den Gymnasien kann jeder sich das aneignen . . . Ohne das bißchen Gymnasium wären Sie eine einfache Näherin oder ein Stubenmädchen . . . Bei Ihrer Armut könnten Sie doch nichts anderes werden!«

»Was reden Sie da?« rief sie leise, wie vom Schreck gelähmt.

Ilja schaute ihr ins Gesicht und sah mit Vergnügen, wie ihre Nasenflügel bebten und ihre Wangen sich röteten.

»Ich sage nur, was ich denke, und ich denke, daß Ihre ganze Vornehmheit für'n Groschen zu haben ist . . .«

»Ich weiß nichts von Vornehmheit«, rief das Mädchen mit gellender Stimme. Ihr Bruder kam zu ihr heran, faßte ihre Hand und sagte, während er mit haßerfüllten Augen auf seinen Prinzipal sah:

»Komm, Ssonjka, laß uns von hier fortgehen!«

Lunew sah sie an und sprach:

»Ja – geht nur! Ich brauch' euch so wenig, wie ihr mich braucht! . . .«

Er sah sie beide noch einen Augenblick wie durch einen Nebel, worauf sie verschwanden. Er lachte hinter ihnen her. Dann, als er allein im Laden war, stand er ein paar Minuten unbeweglich, in dem herben Wohlgefühl befriedigter Rache schwelgend. Das verwirrte, von Zweifel erfüllte, leicht erschreckte Gesicht des Mädchens hatte sich tief in sein Gedächtnis eingeprägt.

»Aber dieser Bengel . . . wie der gleich Partei nahm!« ging's ihm plötzlich durch den Kopf. Gawriks Verhalten war ihm wider den Strich, es störte seine Stimmung.

»Ein hochmütiges Pack!« dachte er und lachte für sich. »Jetzt müßte noch Tanitschka kommen . . . der würde ich auch gleich heimleuchten! . . .«

Er verspürte in sich den Drang, alle Menschen von sich wegzustoßen, auf rücksichtsloseste, gröbste Art, ohne jede Schonung.

Doch Tanitschka kam nicht – den ganzen Tag war er allein, und dieser Tag erschien ihm schrecklich lang. Als er sich schlafen legte, kam er sich tief vereinsamt vor, und diese Vereinsamung erschien ihm noch peinlicher, noch verletzender als die Worte des Mädchens. Er schloß die Augen, horchte auf die Stille der Nacht und lauerte förmlich auf jeden Laut, und wenn ein Laut sich vernehmen ließ, erbebte er, hob ängstlich den Kopf vom Kissen empor und schaute mit weitgeöffneten Augen in die Finsternis. Bis zum Morgen vermochte er nicht einzuschlafen, sondern erwartete immerfort etwas, fühlte sich wie in einen Keller eingesperrt und erstickte in der Hitze beinahe unter der Last seiner wirren, zusammenhangslosen Gedanken. Er erhob sich mit schwerem Kopfe und wollte sich den Samowar bereitstellen, tat es jedoch nicht, sondern trank nur einen Krug Wasser, wusch sich und öffnete den Laden.

Gegen Mittag erschien Pawel, ärgerlich, mit finstern Brauen. Ohne den Freund zu grüßen, fragte er kurz:

»Was für ein Hochmutsteufel ist in dich gefahren?«

Ilja begriff, wovon er sprach, schüttelte resigniert den Kopf und dachte im stillen:

»Auch der ist gegen mich . . .«

»Warum hast du Ssofia Nikonowna beleidigt?« fragte Pawel streng, während er sich vor ihn hinstellte. In Gratschews zornigem Gesicht und seinen vorwurfsvoll blickenden Augen las Ilja seine Verurteilung, doch verhielt er sich gleichgültig dagegen.

Langsam, mit müder Stimme sprach er:

»Du solltest erst grüßen, wenn du hereinkommst . . . und die Mütze abnehmen. Dort ist ein Heiligenbild.«

Aber Pawel faßte seine Mütze am Schirm und zog sie noch tiefer in die Stirn, wobei er höhnisch den Mund verzog und hitzig, voll Empörung, mit bebender Stimme ihm zurief:

»Spiel' dich noch auf! Protz! Hast dich satt gefüttert! . . . Solltest dich erinnern, wie du mal sagtest: es gibt keinen Menschen, der sich unser annimmt! . . . Und jetzt, da er sich gefunden hat, jagst du ihn fort! . . . Ach, du Krämer!«

Ein stumpfes Gefühl der Schlaffheit hinderte Lunew, auf die Worte des Kameraden zu erwidern. Zerstreut schaute er auf das entrüstete, von Hohn erfüllte Gesicht Pawels und hatte dabei die Empfindung, daß die Vorwürfe des Freundes auf seine Seele gar keinen Eindruck machten. Er betrachtete Gratschews mageres Gesicht mit dem dünnen, gelben Bartwuchs, der auf Kinn und Lippe sproßte, und dachte:

»Hab' ich sie wirklich so tief gekränkt? Ich hätt's schlimmer machen können! . . .«

»Sie versteht alles, vermag alles zu erklären . . . und du benimmst dich gegen sie . . . ach!« sprach Pawel, seine Rede immer wieder durch Ausrufe unterbrechend.

»Hör' auf!« sprach Lunew langsam. »Hast du mir Belehrungen zu geben? Ich tu', was ich will, und lebe, wie ich will. Zuwider seid ihr mir alle miteinander . . . rennt hin und her und schwatzt nur!«

Und gegen das Warenregal gelehnt, sprach er nachdenklich, wie wenn er sich selbst eine Frage vorlegte:

»Was könnt ihr mir schließlich Neues sagen?«

»Sie kann alles«, rief Pawel im Ton tiefster Überzeugung und hob dabei unwillkürlich wie zum Schwur die Hand empor. »Sie wissen dort alles . . .«

»Na, dann geh doch zu ihnen!« riet Ilja ihm trocken.

Pawels Worte, wie überhaupt seine Begeisterung, waren ihm unangenehm, doch verspürte er keine Neigung, dem Freunde zu widersprechen. Eine dumpfe, öde Langeweile hinderte ihn, zu reden und zu denken, und fesselte ihn gleichsam.

»Ich geh' schon«, sprach Pawel düster. »Ich gehe, weil mir klar ist, daß ich nur mit jenen zusammenleben kann . . . Bei ihnen kann man alles finden, was einem nottut, ja!«

»Brülle nicht so laut!« sprach Lunew leise, mit kraftloser Stimme.

Ein kleines Mädchen betrat den Laden und verlangte ein Dutzend Hemdknöpfe. Ilja gab ihr, ohne sich zu beeilen, das Verlangte, nahm ihr das Zwanzigkopekenstück ab, das sie in der Hand hielt, rieb es mit den Fingern und gab es dem Mädchen wieder zurück.

»Ich kann nicht herausgeben, bring das Geld später«, sagte er.

Er hatte wohl Kleingeld in seiner Kasse, aber der Schlüssel zu dieser lag in seinem Zimmer, und Lunew wollte ihn nicht holen. Als das Mädchen fort war, nahm Pawel das Gespräch nicht wieder auf. Er stand am Ladentisch, klopfte sich mit der Mütze, die er abgenommen, aufs Knie und sah Lunew an, als ob er von ihm etwas erwartete. Aber dieser hatte sich abgewandt und pfiff leise eine Melodie durch die Zähne.

»Nun, was hast du mir zu sagen?« fragte Pawel herausfordernd.

»Nichts«, sagte Lunew nach kurzem Besinnen.

»Wirklich – also gar nichts?«

»Laß mich um Christi willen!« rief Lunew ungeduldig.

Gratschew setzte die Mütze auf und entfernte sich. Ilja begleitete ihn mit den Augen und begann dann wieder zu pfeifen.

Ein großer roter Hund sah zur Tür herein, wedelte mit dem Schweife und verschwand. Dann sprach eine Bettlerin mit großer Nase vor. Sie verbeugte sich und sprach halblaut:

»Gebt mir doch, Väterchen, ein Almosen! . . .«

Lunew schüttelte schweigend den Kopf – er gab ihr nichts. Auf der Straße wogte in der glühenden Luft das lärmende Treiben des Wochentags. Es war, als wenn ein gewaltiger Ofen geheizt würde, als wenn die vom Feuer verzehrten Holzstücke darin prasselten und eine heiße Glut ausströmten. Ein Karren mit langen Eisenstäben fährt vorüber: die Enden der elastischen Stäbe senken sich hinten bis zur Erde und schlagen klirrend auf das Pflaster auf. Ein Scherenschleifer schärft ein Messer: der böse, zischende Laut durchschneidet die Luft . . .

Jede Minute bringt etwas Neues, Unerwartetes, und das Leben überrascht das Ohr durch die Mannigfaltigkeit seiner Laute, die Unermüdlichkeit seiner Bewegungen, die Fülle Seiner unerschöpflichen Schaffenskraft. Aber in Lunews Seele ist alles stehen geblieben – keine Gedanken, keine Wünsche sind darin, sondern nur eine schwere, dumpfe Müdigkeit. In diesem Zustande brachte er wie unter einem Alpdruck den ganzen Tag und auch die folgende Nacht zu . . . und noch viele Tage und Nächte. Leute kamen, kauften, was sie brauchten, und gingen wieder, und Ilja begleitete sie hinaus mit dem kühlen Gedanken:

»Sie brauchen mich nicht, und ich brauche sie nicht . . . Ganz allein für mich will ich leben . . .«

An Gawriks Stelle besorgte ihm die Köchin des Hauswirts, eine finstere, hagere Person mit rotem Gesichte, den Tee und das Mittagessen. Ihre Augen waren farblos, starr. Zuweilen, wenn Lunew sie ansah, war's ihm, als ob sich in der Tiefe seiner Seele etwas empörte:

»Soll ich denn niemals im Leben etwas Schönes sehen?«

Er hatte bisher unter dem Einfluß all der mannigfachen Eindrücke gelebt, die der Verkehr mit den Menschen mit sich brachte, und wenn er auch oft durch sie zu Zorn und Widerspruch gereizt worden war, so hatte er sich doch dabei wohler befunden. Jetzt hatten die Menschen sich von ihm zurückgezogen – nur die Kunden waren geblieben. Das Gefühl der Einsamkeit und die Sorge um ein ruhiges, behagliches Dasein, die ihn früher erfüllt hatten, waren gleichsam in einer völligen Gleichgültigkeit gegen alles versunken. Und wieder gingen nun, wie in stickiger Schwüle, seine Tage träg und langsam dahin . . .


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