Johann Wolfgang von Goethe
Naturwissenschaftliche Schriften 1792 - 1797
Johann Wolfgang von Goethe

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Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt

Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in Bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nutzen oder schaden. Diese ganz natürliche Art, die Sachen anzusehen und zu beurteilen scheint so leicht zu sein als sie notwendig ist, und doch ist der Mensch dabei tausend Irrtümern ausgesetzt, die ihn oft beschämen und ihm das Leben verbittern.

Ein weit schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, die durch den Trieb nach Kenntnis angefeuert die Gegenstände der Natur an sich selbst und in ihren Verhältnissen unter einander zu beobachten streben, [denn] Von einer Seite verlieren sie den Maßstab der ihnen zu Hülfe kam, wenn sie als Menschen die Dinge in Bezug auf sich betrachteten. Eben den Maßstab des Gefallens und Mißfallens, des Anziehens und Abstoßens, des Nutzens und Schadens, diesem sollen sie ganz entsagen, sie sollen als gleichgültige und gleichsam göttliche Wesen suchen und untersuchen was ist und nicht was behagt. So soll den echten Botaniker weder die Schönheit noch die Nutzbarkeit einer Pflanze rühren; er soll ihre Bildung, ihre Verwandtschaft mit dem übrigen Pflanzenreiche untersuchen; und wie sie alle von der Sonne hervorgelockt und beschienen werden, so soll er mit einem gleichen ruhigen Blicke sie alle ansehen und übersehen, und den Maßstab zu dieser Erkenntnis, die Data der Beurteilung nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der Dinge nehmen die er beobachtet.

Wie schwer diese Entäußerung dem Menschen sei lehrt uns die Geschichte der Wissenschaften. Wie er auf diese Art zu Hypothesen, Theorien, Systemen und was es sonst für Vorstellungsarten geben mag, wodurch wir das Unendliche zu begreifen suchen, gerät und geraten muß, wird uns in der zweiten Abteilung dieses kleinen Aufsatzes beschäftigen. Den ersten Teil desselben widme ich der Betrachtung, wie der Mensch verfährt, wenn er die Kräfte der Natur zu erkennen sich bestrebt. Die Geschichte der Physik, die ich gegenwärtig genauer zu studieren Ursache habe, gibt mir oft Gelegenheit hier über zu denken, und so entspringt dieser kleine Aufsatz, in dem ich mir im allgemeinen zu vergegenwärtigen strebe, auf welche Weise vorzügliche Männer der Naturlehre genutzt und geschadet haben. Sobald wir einen Gegenstand in Beziehung auf sich selbst und in Verhältnis mit andern betrachten und denselben nicht unmittelbar entweder begehren oder verabscheuen: so werden wir mit einer ruhigen Aufmerksamkeit uns bald von ihm, seinen Teilen, seinen Verhältnissen einen ziemlich deutlichen Begriff machen können. Je weiter wir diese Betrachtungen fortsetzen, je mehr wir Gegenstände unter einander verknüpfen, destomehr üben wir die Beobachtungsgabe die in uns ist. Wissen wir in Handlungen diese Erkenntnisse auf uns zu beziehen, so verdienen wir klug genannt zu werden. Für einen jeden wohl organisierten Menschen, der entweder von Natur mäßig ist, oder durch die Umstände mäßig eingeschränkt wird, ist die Klugheit keine schwere Sache: denn das Leben weist uns bei jedem Schritte zurecht. Allein wenn der Beobachter eben diese scharfe Urteilskraft zur Prüfung geheimer Naturverhältnisse anwenden, wenn er in einer Welt in der er gleichsam allein ist, auf seine eigenen Tritte und Schritte acht geben, sich vor jeder Übereilung hüten, seinen Zweck stets im Auge haben soll, ohne doch selbst auf dem Wege irgend einen nützlichen oder schädlichen Beistand unbemerkt vorbei zu lassen, wenn er auch da, wo er von niemand so leicht kontrolliert werden kann, sein eigner strengster Beobachter sein und bei seinen eifrigsten Bemühungen immer gegen sich selbst mißtrauisch sein soll: so sieht wohl jeder wie streng diese Forderungen sind und wie wenig man hoffen kann sie ganz erfüllt zu sehen, man mag sie nun an andere oder an sich machen. Doch müssen uns diese Schwierigkeiten, ja man darf wohl sagen diese hypothetische Unmöglichkeit nicht abhalten das Möglichste zu tun, und wir werden wenigstens am weitsten kommen, wenn wir uns die Mittel im Allgemeinen zu vergegenwärtigen suchen, wodurch vorzügliche Menschen die Wissenschaften zu erweitern gewußt haben, wenn wir die Abwege genau bezeichnen, auf welchen sie sich verirrt, und auf welchen ihnen manchmal Jahrhunderte eine große Anzahl von Schülern gefolgt bis spätere Erfahrungen erst wieder den Beobachter auf den rechten Weg eingeleitet.

Daß die Erfahrung, wie in allem was der Mensch unternimmt so auch in der Naturlehre, von der ich gegenwärtig vorzüglich spreche, den größten Einfluß habe und haben solle, wird niemand leugnen, so wenig man den Seelenkräften, in welchen diese Erfahrungen aufgefaßt, zusammengenommen, geordnet und ausgebildet werden, ihre hohe und gleichsam schöpferisch unabhängige Kraft nicht absprechen wird. Allein wie diese Erfahrungen zu machen und wie sie zu nutzen, wie unsere Kräfte auszubilden und zu brauchen, das kann weder so allgemein bekannt noch anerkannt sein.

Sobald scharfsinnige Menschen, und deren gibt es in einem mäßigen Gebrauche des Wortes viel mehr als man denkt, auf Gegenstände aufmerksam gemacht werden: so findet man sie zu Beobachtungen so geneigt als geschickt. Ich habe dieses oft bemerken können, seitdem ich die Lehre des Lichts und der Farben mit Eifer behandele und wie es zu geschehen pflegt, mich auch mit Personen, denen solche Betrachtungen sonst fremd sind, von dem, was mich eben so sehr interessiert, unterhalte. Sobald ihre Aufmerksamkeit nur rege war, bemerkten sie Phänomene, die ich teils nicht gekannt, teils übersehen hatte, und berichtigten dadurch gar oft eine zu voreilig gefaßte Idee, ja gaben mir Anlaß schnellere Schritte zu tun und aus der Einschränkung heraus zu treten, in welcher uns eine mühsame Untersuchung oft gefangen hält.

Es gilt also auch hier was bei so vielen andern menschlichen Unternehmungen gilt, daß das Interesse mehrerer auf Einen Punkt gerichtet etwas Vorzügliches hervor zu bringen im Stande ist. Hier wird es offenbar, daß der Neid, welcher andere so gern von der Ehre einer Entdeckung ausschließen möchte, daß die unmäßige Begierde etwas Entdecktes nur nach seiner Art zu behandeln und auszuarbeiten dem Forscher selbst das größte Hindernis sind.

Ich habe mich bisher bei der Methode mit Mehreren zu arbeiten zu wohl befunden, als daß ich nicht solche fortsetzen sollte. Ich weiß genau, wem ich dieses und jenes auf meinem Wege schuldig geworden und es soll mir eine Freude sein, es künftig öffentlich bekannt zu machen.

Sind uns nun bloß natürliche aufmerksame Menschen so viel zu nützen im Stande, wie allgemeiner muß der Nutzen sein, wenn unterrichtete Menschen einander in die Hände arbeiten. Schon ist eine Wissenschaft an und vor sich selbst eine so große Masse, daß sie viele Menschen trägt, wenn sie gleich kein Mensch tragen kann. Es läßt sich bemerken, daß die Kenntnisse gleichsam wie ein eingeschlossenes aber lebendiges Wasser, sich nach und nach zu einem gewissen Niveau erheben, daß die schönsten Entdeckungen nicht sowohl durch die Menschen als durch die Zeit gemacht worden wie denn eben sehr wichtige Dinge zu gleicher Zeit von zweien oder wohl gar mehr geübtem Denkern gemacht worden. Wenn also wir in jenem ersten Fall der Gesellschaft und den Freunden so vieles schuldig werden, so werden wir es in diesem der Welt und dem Jahrhundert, und wir können in beiden Fällen nicht genug anerkennen, wie nötig Mitteilung, Beihülfe, Erinnerung und Widerspruch sei, um uns auf dem rechten Wege zu erhalten und vorwärts zu bringen.

Man hat daher in wissenschaftlichen Dingen gerade umgekehrt zu verfahren, wie man es von Kunstwerken zu tun hat, denn ein Künstler tut wohl, sein Kunstwerk nicht öffentlich sehen zu lassen, bis er es vollendet hat, weil nicht leicht jemand raten noch Beistand tun kann; ist es hingegen vollendet, so hat er alsdenn den Tadel oder das Lob zu überlegen und zu beherzigen, solches mit seiner Erfahrung zu vereinigen und sich dadurch zu einem neuen Werke auszubilden und vorzubereiten. In wissenschaftlichen Dingen hingegen ist es schon nützlich, jede einzelne Erfahrung, wider Vermutung öffentlich mitzuteilen, ja es ist höchst rätlich, ein wissenschaftliches Gebäude nicht eher aufzuführen, bis der Plan dazu und die Materialien allgemein bekannt, beurteilt und ausgewählt sind.

Ich wende mich nun zu einem Punkte, der alle Aufmerksamkeit verdient, und zwar zu der Methode wie man am vorteilhaftesten und sichersten zu Werke geht.

Wenn wir die Erfahrungen welche vor uns gemacht worden, die wir selbst oder andere zu gleicher Zeit mit uns machen, vorsätzlich wiederholen und die Phänomene die teils zufällig teils künstlich entstanden sind, wieder darstellen, so nennen wir dieses einen Versuch.

Der Wert eines Versuchs besteht vorzüglich darinne, daß er, er sei nun einfach oder zusammen gesetzt, unter gewissen Bedingungen mit einem bekannten Apparat und mit erforderlicher Geschicklichkeit jederzeit wieder hervorgebracht werden könne, so oft sich die bedingten Umstände vereinigen lassen. Wir bewundern mit Recht den menschlichen Verstand, wenn wir auch nur obenhin die Kombinationen ansehen, die er zu diesem Endzwecke gemacht hat, und die Maschinen betrachten die dazu erfunden worden sind und man darf wohl sagen täglich erfunden werden.

So schätzbar aber auch ein jeder Versuch einzeln betrachtet sein mag, so erhält er doch nur seinen Wert durch Vereinigung und Verbindung mit andern. Aber eben zwei Versuche die mit einander einige Ähnlichkeit haben zu vereinigen und zu verbinden, gehört mehr Strenge und Aufmerksamkeit, als selbst scharfe Beobachter oft von sich gefordert haben. Es können zwei Phänomene mit einander verwandt sein, aber doch noch lange nicht so nah als wir glauben. Zwei Versuche können scheinen auseinander zu folgen, wenn zwischen ihnen noch eine große Reihe stehen sollte, um sie in eine recht natürliche Verbindung zu bringen.

Man kann sich daher nicht genug in acht nehmen, daß man aus Versuchen nicht zu geschwind folgere, daß man aus Versuchen nicht unmittelbar etwas beweisen, noch irgendeine Theorie durch Versuche bestätigen wolle: denn hier an diesem Passe, beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil, von der Erkenntnis zur Anwendung ist es, wo dem Menschen alle seine inneren Feinde auflauren, Einbildungskraft, die ihn schon da mit ihren Fittigen in die Höhe hebt, wenn er noch immer den Erdboden zu berühren glaubt, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefaßte Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Veränderlichkeit, und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heißen mag, alle liegen hier im Hinterhalte und überwältigen unversehens den handelnden so auch den stillen von allen Leidenschaften gesichert scheinenden Beobachter.

Ich möchte zur Warnung dieser Gefahr welche größer und näher ist als man denkt, hier eine Art von Paradoxon aufstellen, um eine lebhaftere Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wage nämlich zu behaupten: daß Ein Versuch, ja mehrere Versuche in Verbindung nichts beweisen, ja daß nichts gefährlicher sei als irgend einen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu wollen, und daß die größten Irrtümer eben dadurch entstanden sind, daß man die Gefahr und die Unzulänglichkeit dieser Methode nicht eingesehen. Ich muß mich deutlicher erklären, um nicht in den Verdacht zu geraten, als wollte ich dem Zweifel Tür und Tor eröffnen. Eine jede Erfahrung die wir machen, ein jeder Versuch, durch den wir sie wiederholen ist eigentlich ein isolierter Teil unserer Erkenntnis, durch öftere Wiederholung bringen wir diese isolierte Kenntnis zur Gewißheit. Es können uns zwei Erfahrungen in demselben Fache bekannt werden, sie können nahe verwandt sein aber noch näher verwandt scheinen, und gewöhnlich sind wir geneigt sie für näher verwandt zu halten als sie sind. Es ist dieses der Natur des Menschen gemäß, die Geschichte des menschlichen Verstandes zeigt uns tausend Beispiele und ich habe an mir selbst bemerkt, daß ich diesen Fehler fast täglich begehe.

Es ist dieser Fehler mit einem andern nahe verwandt, aus dem er auch meistenteils entspringt. Der Mensch erfreut sich nämlich mehr an der Vorstellung als an der Sache, oder wir müssen vielmehr sagen: der Mensch erfreut sich nur einer Sache, in so fern er sich dieselbe vorstellt, sie muß in seine Sinnesart passen, und er mag seine Vorstellungsart noch so hoch über die gemeine erheben, noch so sehr reinigen, so bleibt sie doch gewöhnlich nur eine Vorstellungsart; das heißt, ein Versuch viele Gegenstände in ein gewisses faßliches Verhältnis zu bringen, das sie, streng genommen, unter einander nicht haben, daher die Neigung zu Hypothesen, zu Theorien, Terminologien und Systemen, die wir nicht mißbilligen können, weil sie aus der Organisation unsers Wesens notwendig entspringen müssen.

Wenn von einer Seite eine jede Erfahrung, ein jeder Versuch ihrer Natur nach als isoliert anzusehen sind, von der andern Seite die Kraft des menschlichen Geistes alles was außer ihr ist und was ihr bekannt wird mit einer Ungeheuern Gewalt zu verbinden strebt, so sieht man die Gefahr leicht ein, welche man läuft, wenn man mit einer gefaßten Idee eine einzelne Erfahrung verbinden oder irgend ein Verhältnis, das nicht ganz sinnlich ist, das aber die bildende Kraft des Geistes schon ausgesprochen hat, durch einzelne Versuche beweisen wollen.

Es entstehen durch eine solche Bemühung meistenteils Theorien und Systeme, die dem Scharfsinn der Verfasser Ehre machen, die aber, wenn sie mehr als billig ist Beifall finden, wenn sie sich länger als recht ist erhalten, dem Fortschritte des menschlichen Geistes, den sie im gewissen Sinne befördern sogleich wieder hemmen und schädlich werden.

Man wird bemerken können, daß ein guter Kopf nur destomehr Kunst anwendet, je weniger Data vor ihm liegen, daß er gleichsam seine Herrschaft zu zeigen, selbst aus den vorliegenden Datis nur wenige Günstlinge herauswählt die ihm schmeicheln, daß er die übrigen so zu ordnen weiß, daß sie ihm nicht geradezu widersprechen und daß er die feindseligen zuletzt so zu verwickeln, zu umspinnen und bei Seite zu bringen weiß, daß wirklich nunmehr das Ganze nicht mehr einer freiwirkenden Republik sondern einem despotischen Hofe ähnlich wird.

Einem Mann der so viel Verdienst hat kann es an Bewunderern und Schülern nicht fehlen, die ein solches Gewebe historisch kennen lernen und bewundern und, in so fern es möglich ist, sich die Vorstellungsart ihres Meisters eigen machen. Oft gewinnt eine solche Lehre dergestalt die Überhand, daß man für frech und verwegen gehalten würde, wenn man an ihr zu zweifeln sich erkühnte. Nur spätere Jahrhunderte würden sich an ein solches Heiligtum wagen, den Gegenstand einer Betrachtung dem gemeinen Menschensinn wieder vindizieren, und die Sache etwas leichter nehmen, und von dem Stifter einer Sekte das wiederholen, was ein witziger Kopf von einem großen Naturlehrer gesagt: er wäre ein großer Mann gewesen, wenn er nicht so viel erfunden hätte.

Es möchte aber nicht genug sein, die Gefahr anzuzeigen und vor derselbigen zu warnen. Es ist billig, daß man wenigstens seine Meinung eröffne und zu erkennen gebe, wie man selbst einen solchen Abweg zu vermeiden glaubt, oder ob man gefunden, wie ihn ein anderer vor uns vermieden habe.

Ich habe vorhin gesagt, daß ich die unmittelbare Anwendung eines Versuchs zum Beweis irgend einer Hypothese für schädlich halte, und habe dadurch zu erkennen gegeben, daß ich eine mittelbare Anwendung derselben für nützlich halte, und da auf diesen Punkt alles ankommt, so ist es nötig sich deutlich zu erklären.

In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe, und wenn uns die Erfahrungen nur isoliert erscheinen, wenn wir die Versuche nur als isolierte Fakta anzusehen haben, so wird dadurch nicht gesagt, daß sie isoliert seien, es ist nur die Frage: wie finden wir die Verbindung dieser Phänomene dieser Begebenheit?

Wir haben oben gesehen, daß diejenigen am ersten dem Irrtume unterworfen waren, welche ein isoliertes Faktum mit ihrer Denk- und Urteilskraft unmittelbar zu verbinden suchten. Dagegen werden wir finden, daß diejenigen am meisten geleistet haben, welche nicht ablassen alle Seiten und Modifikationen einer einzigen Erfahrung eines einzigen Versuches nach aller Möglichkeit durchzuforschen und durchzuarbeiten.

Es verdient künftig eine eigene Betrachtung, wie uns auf diesem Wege der Verstand zu Hülfe kommen könne. Hier sei nur soviel davon gesagt, da alles in der Natur, besonders aber die gemeinern Kräfte und Elemente in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von einem jeden Phänomene sagen, daß es mit unzähligen andern in Verbindung stehe, wie wir von einem frei schwebenden leuchtenden Punkte sagen, daß er seine Strahlen auf allen Seiten aussendet. Haben wir also einen solchen Versuch gefaßt, eine solche Erfahrung gemacht, so können wir nicht sorgfältig genug untersuchen, was unmittelbar an ihn grenzt, was zunächst aus ihm folgt, dieses ists, worauf wir mehr zu sehen haben, als was sich auf ihn bezieht. Die Vermannigfaltigung eines jeden einzelnen Versuches ist also die eigentliche Pflicht eines Naturforschers. Er hat gerade die umgekehrte Pflicht eines Schriftstellers, der unterhalten will. Dieser wird Langeweile erregen, wenn er nichts zu denken übrig läßt, jener muß rastlos arbeiten, als wenn er seinen Nachfolgern nichts zu tun übrig lassen wollte, wenn ihn gleich die Disproportion unseres Verstandes zu der Natur der Dinge zeitig genug erinnern wird, daß kein Mensch Fähigkeiten genug habe in irgend einer Sache abzuschließen.

Ich habe in den zwei ersten Stücken meiner optischen Beiträge eine solche Reihe von Versuchen aufzustellen gesucht, die zunächst an einander grenzen und sich unmittelbar berühren, ja, wenn man sie alle genau kennt und übersieht, gleichsam nur Einen Versuch ausmachen, nur Eine Erfahrung unter den mannigfaltigsten Ansichten darstellen.

Eine solche Erfahrung, die aus mehreren andern besteht, ist offenbar von einer höhern Art. Sie stellt die Formel vor unter welcher unzählige einzelne Rechnungsexempel ausgedruckt werden. Auf solche Erfahrungen der höheren Art los zu arbeiten halt' ich für die Pflicht des Naturforschers, und dahin weist uns das Exempel der vorzüglichsten Männer, die in diesem Fache gearbeitet haben und die Bedächtlichkeit nur das Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen, selbst da, wo wir uns an keine Rechnung wagen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären.

Denn eigentlich ist es die mathematische Methode welche wegen ihrer Bedächtlichkeit und Reinheit gleich jeden Sprung in der Assertion offenbart und ihre Beweise sind eigentlich nur umständliche Ausführungen, daß dasjenige, was in Verbindung vorgebracht wird, schon in seinen einfachen Teilen und in seiner ganzen Folge dagewesen in seinem ganzen Umfange übersehen und unter allen Bedingungen richtig und unumstößlich erfunden worden. Und so sind ihre Demonstrationen immer mehr Darlegungen, Rekapitulationen als Argumente. Da ich diesen Unterschied hier mache, so sei es mir erlaubt einen Rückblick zu tun.

Man sieht den großen Unterschied zwischen einer mathematischen Demonstration welche die ersten Elemente durch so viele Verbindungen durchführt, und zwischen dem Beweis, den ein kluger Redner aus Argumenten führen könnte. Argumente können ganz isolierte Verhältnisse enthalten, und dennoch durch Witz und Einbildungskraft auf Einen Punkt zusammen geführt und der Schein eines Rechts oder Unrechts, eines Wahren oder Falschen überraschend genug hervorgebracht werden. Eben so kann man zu Gunsten einer Hypothese oder Theorie die einzelnen Versuche gleich Argumenten zusammen stellen und einen Beweis führen der mehr oder weniger blendet.

Wem es dagegen zu tun ist mit sich selbst und andern redlich zu Werke zu gehen, der wird durch die sorgfältigste Ausbildung einzelner Versuche die Erfahrungen der höheren Art auszubilden suchen. Diese lassen sich durch kurze und faßliche Sätze aussprechen, neben einander stellen und je mehr ihrer ausgebildet werden, können sie geordnet und in ein solches Verhältnis gebracht werden, daß sie so gut als mathematische Sätze entweder einzeln oder zusammengenommen unerschütterlich stehen. Die Elemente dieser Erfahrungen der höheren Art, welches viele einzelne Versuche sind, können alsdann von jedem untersucht und geprüft werden und es ist nicht schwer zu beurteilen, ob die vielen einzelnen Teile durch einen allgemeinen Satz ausgesprochen werden können, denn hier findet keine Willkür statt.

Bei der andern Methode aber, wo wir irgend etwas, was wir behaupten, durch isolierte Versuche gleichsam als durch Argumente beweisen wollen, wird das Urteil öfters nur erschlichen, wenn es nicht gar in Zweifel stehen bleibt. Hat man aber eine Reihe Erfahrungen der höheren Art zusammengebracht, so übe sich alsdann der Verstand, die Einbildungskraft, der Witz an denselben wie er nur mag. Dieses wird nicht schädlich, ja es wird nützlich sein. Jene erste Arbeit kann nicht sorgfältig, emsig, streng, ja pedantisch genug vorgenommen werden; denn sie wird für Welt und Nachwelt unternommen. Aber diese Materialien müssen in Reihen geordnet und niedergelegt sein, nicht auf eine hypothetische Weise zusammengestellt, nicht zu einer systematischen Form verwendet. Es steht alsdenn einem jeden frei sie nach seiner Art zu verbinden und ein Ganzes daraus zu bilden, das der menschlichen Vorstellungsart überhaupt mehr oder weniger bequem und angenehm sei. Auf diese Weise wird unterschieden, was zu unterscheiden ist, und man kann die Sammlung von Erfahrungen viel schneller und reiner vermehren, als wenn man die späteren Versuche, wie Steine die nach einem geendigten Bau herbeigeschafft werden, unbenutzt bei Seite legen muß.

Die Meinung der vorzüglichsten Männer und ihr Beispiel läßt mich hoffen daß ich auf dem rechten Wege sei und ich wünsche daß mit dieser Erklärung meine Freunde zufrieden sein mögen, die mich manchmal fragen: was denn eigentlich bei meinen optischen Bemühungen meine Absicht sei? Meine Absicht ist alle Erfahrungen in diesem Fache zu sammlen, alle Versuche selbst anzustellen und sie durch ihre größte Mannigfaltigkeit durchzuführen, wodurch sie denn auch leicht nachzumachen und nicht aus dem Gesichtskreise so vieler Menschen hinausgerückt seien. Sodann die Sätze in welchen sich die Erfahrungen von der höheren Gattung aussprechen lassen, aufzustellen und abzuwarten, in wie fern sich auch diese unter ein höheres Prinzip rangieren. Sollte indes die Einbildungskraft und der Witz ungeduldig manchmal voraus eilen, so gibt die Verfahrungsart selbst den Maßstab des Punktes an, wohin sie wieder zurück zu kehren haben.

D. 28. Apr. 1792.

 

[Reine Begriffe]

Es ist offenbar, daß eine jede Entdeckung irgendeines Mittels, dessen sich die Natur bedient, um ein Resultat hervorzubringen, die Wissenschaften mehr vorwärts bringt, als die Bemühung, ein Resultat mit unserer Vorstellung zu verbinden.

Zwar ist dieses ein sehr feiner Punkt, und ich werde mich in der Folge bemühen, auch darüber meine Gedanken so deutlich als möglich darzulegen.

Denn da die einfacheren Kräfte der Natur sich oft unsern Sinnen verbergen, so müssen wir sie freilich durch die Kräfte unseres Geistes zu erreichen suchen und ihre Natur in uns darstellen, da wir sie außer uns nicht erblicken können. Und wenn wir dabei recht rein zu Werke gehen, so können wir zuletzt wohl sagen, daß, so wie unser Auge mit den sichtbaren Gegenständen, unsre Ohren mit den schwingenden Bewegungen erschütterter Körper völlig harmonisch gebaut sind, daß auch unser Geist mit den tiefer liegenden einfachern Kräften der Natur in Harmonie steht und sich solche ebenso rein vorstellen kann, als in einem klaren Auge sich die Gegenstände der sichtbaren Welt abbilden.

Von den Hindernissen, die sich uns in den Weg stellen, diese reinen Begriffe zu erlangen oder sie zu erhalten, sei ein andermal die Rede. Jetzt glaube ich Dank zu verdienen, wenn ich eine schöne zugunsten der menschlichen Vorstellungsart die natürlichen Wissenschaften beschreibende Stelle hier anführe und damit schließe.

[»Es ist wahr: die Bewegung, welche ein äußerer Körper den Sinnen mitteilet, wird bis ins Gehirn fortgepflanzt; allein diese Bewegung selbst, diese Schwingungen des Schalls, diese Brechung der Lichtstrahlen, sind das nicht, was sich die Seele vorstellt; ihr Begriff ist etwas von dieser Bewegung ganz Verschiedenes. Es ist durch ein Wechselgesetz vom Schöpfer so veranstaltet worden: daß mit gewissen Veränderungen, die zuerst im Nerven und nach diesem in dem allgemeinen Wohnort der Empfindungen (sensorium commune) entstanden waren, auch zugleich neue und bestimmte Gedanken in der Seele entstehen sollten, und dieses Band, wodurch er solches erhielte, sollte beständig sein. Nun steht es zwar in unserer Willkür, was wir uns von der Welt vorstellen wollen? Die Vorstellung selbst aber kann nicht falsch sein, weil wir bei ähnlichen Nervenberührungen auch dieselben Gedanken erhalten; und weil, unter denselben Umständen, sowohl zu derselben, als zu verschiedenen Zeiten, in allen Menschen eben dergleichen Begriffe erzeugt werden.«

Albrecht von Haller.]

 

[Geplante Versuche]

Die Versuche, wo das Auge offenbar ohne Mittel Farbenerscheinungen sieht, wären sorgfältig zu wiederholen, zu analysieren und in eine gewisse Ordnung zu bringen. Man müßte sie so oft drehen und wenden als möglich, auch weil sie subjektiv sind, müßte man sie von mehreren Personen sehen lassen.

 

Erster Versuch. Fig. I

Wenn das Auge durch das Loch im Kartenblatt sieht.

Ich habe diesen Versuch nur von oben herunter gemacht; man müßte [ihn] nun auch horizontal und auf andere Weise wiederholen.

Zeichnung: Goethe

 

Zweiter Versuch. Fig. 2

Durch das Rohr ohne Gläser zu sehen

Da die Farben bei diesem Versuche umgekehrt erscheinen, so ist es wahrscheinlich, daß die Entfernung der Querbalken oder der Öffnung vom Auge etwas beiträgt. Es wäre daher dieser Versuch in verschiedenen Entfernungen zu wiederholen und mehrere Augen in gleichen Entfernungen zu Rate zu ziehen.

Zeichnung: Goethe

 

Dritter Versuch. Fig. 3

Das durch das obere Augenlid zugedeckte Auge siehet nach entgegengesetzten Rändern, gleichfalls das unterwärts zugedeckte Auge Fig. 4.

Zeichnung: Goethe

 

Vierter Versuch. Fig. 5

Vor das grad hinschauende Auge werden Ränder von oben herunter oder von unten hinauf geschoben.

Zeichnung: Goethe

 

Fünfter Versuch. Fig. 6

NB. Der Versuch 1 wäre unter Wasser zu wiederholen und nach Fig. 6 zu berichtigen. Der Versuch 2 sowie die übrigen mit den Versuchen der Inflexion, wo gleichfalls kein Medium ist, zu vergleichen. Haupt-Subjektiver Versuch.

 

Sechster Versuch. Fig. 7

Durch die kleine Öffnung der Camera obscura das umgekehrte Bild äußerer Gegenstände durch eine Spiegelfläche a b aufzufangen und die Deutlichkeit des Bildes auch ohne Linse zu beobachten.

Zeichnung: Goethe

 

Versuch Sieben. Fig. 8

Das auf eben die Weise in die Camera obscura auffallende Bild durch ein Linsenglas auf ein weiß Papier fallen zu lassen und die erscheinenden Farbenränder so genau als möglich zu beobachten. Sie haben mir immer geringer geschienen als durch ein gewöhnlich Perspektiv, bei welchem mir sehr viel von der Farbenerscheinung in den Okularen zu liegen scheint; indem diese so sehr nahe an dem Auge sich befinden.

Zeichnung: Goethe

 

Achter Versuch. Fig. 9 et 10

Die farbenaufhebende Kraft der verschiedenen Glasarten gegeneinander ohne viele Umstände durch Verbindung des objektiven und subjektiven Versuchs auszufinden.

Dieser Punkt ist sorgfältig auszuarbeiten und genau zu beschreiben, auch müssen die folgenden und noch andere vorhergehen.

Zeichnung: Goethe

 

Neunter Versuch. Fig. 11

Ein umgekehrtes Prisma in einem prismatischen Gefäße.

Man müßte das innre mit Bleizucker-Wasser füllen und den Winkel suchen, den es haben müßte.

Die Strahlen werden durch beide gebrochen, jedoch die Farbenerscheinung aufgehoben. Man kann bei diesen wie bei den vorhergehenden annehmen, daß die beiden Mittel gleiche Brechungskraft haben.

Zeichnung: Goethe

 

Zehnter Versuch. Fig. 12

Eigentlich der erste von diesen dreien ist umständlich und sorgfältig mit der Lehre von der Brechung zu verbinden. Vide die große Zeichnung.

Zeichnung: Goethe

 

Elfter Versuch. Fig. 13

Mit allem, was in den zwei ersten Stücken meiner optischen Beiträge enthalten ist, muß sogleich hierauf folgen. Eigentlich liegt der Grund von allem diesen in der Ausarbeitung der Fig. 6.

Zeichnung: Goethe

 

Zwölfter Versuch. Fig. 14

Zwei verschieden Farb hervorbringende Mittel in gleichen Massen aneinander gebracht und den Lichtstrahl durchfallen lassen.

Zeichnung: Goethe

 

Dreizehnter Versuch. Fig. 15

Derselbe Versuch, nur das stärkere Mittel oben.

Zeichnung: Goethe

 

Vierzehnter Versuch. Fig. l6

Derselbe Versuch, nur die verschiedenen Mittel in Gleichheit gesetzt.

Zeichnung: Goethe

 

Fünfzehnter Versuch. Fig. 17

Derselbe Versuch, nur das schwächere Mittel oben.

NB. Bei allen diesen Versuchen ist angenommen, daß die beiden Mittel gleiche refrangierende Kraft haben, welches ein möglicher Fall ist, und hier die Zeichnung den Hauptbegriff erleichtert.

Als höchst merkwürdig bei diesen Versuchen ist zu beobachten, ob nicht auch das Lichtfeld, wie aus der Zeichnung zu vermuten, bei Fig. 15 und 16 farblos und doch verbreitert sei.

Zeichnung: Goethe

 

Sechzehnter Versuch. Fig. 18

Das prismatische Farbenbild durch die Linse fallen zu lassen und zu zeigen, daß dadurch die entgegengesetzten Ränder geschieden und an den Rand geworfen, keineswegs aber vermischt werden.

Zeichnung: Goethe

 

Siebzehnter Versuch. Fig. 19

Ein ander Bild durch die Linse auf das weiße Papier zu werfen und den Effekt mit dem Farbenbilde zu vergleichen. Es wird auch auseinandergerissen, an die Ränder geworfen und umgekehrt.

Zeichnung: Goethe

 

Achtzehnter Versuch

Fazettierte Stahlknöpfe, ob sie ins Sonnenlicht gehalten farbige Bilder reflektieren und was für.

 

Neunzehnter Versuch

Durch angelaufne Fensterscheiben die schwarz und weiß angestrichne Scheibe zu betrachten.

 

Zwanzigster Versuch

Newtons fünften Versuch zu wiederholen. NB. mit keilförmigen Prismen.

 


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