Karl Gjellerup
Der goldene Zweig
Karl Gjellerup

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Siebentes Kapitel.

Im Schatten der Todessehnsucht.

Nach langem, qualvollen Schweigen erhebt der alte Rufus seine Stimme.

»Man hat geglaubt, sagtest du, daß ich mich im Tiber ertränkt habe. Viel hat daran scheinbar nicht gefehlt. Ich stand schon auf dem unterspülten Uferrand, bereit, in die schwarzen Strudel hinunterzuspringen – doch mir versagte der Mut. Nicht fürchtete ich die gischtgeschwollenen Wogen, noch den Tod selber. Aber gar zu furchtbar war mir der Gedanke, noch frisch mit dieser gänzlich ungesühnten Mordtat beladen vor dem jenseitigen Gerichte zu erscheinen.«

»Und dachtest du denn nicht an das irdische Gericht?«

»Ach, das war es ja eben! Hätte ich nur meinen Kopf zum Block tragen können! Aber der irdische Richter würde mich ja freisprechen. Und wie konnte ich ihm die Wahrheit sagen? Wie konnte ich meine Fulvia anklagen, ihren geliebten Namen der Schande übergeben? Nein, für mich gab es nur das eine: – mich hier zu begraben, wo mich niemand finden würde, wo ich einsamer als in der tiefsten Wüsteneinsamkeit meiner Buße leben konnte. Aber ach, wie schwer, vor allem wie lang sie werden sollte, das wußte ich noch nicht, als ich hier Zuflucht nahm ...

Wie oft stand ich dort auf jenem Felsenvorsprung und fragte mich, ob ich jetzt genug gelitten hätte, ob ich jetzt dem Begehr meines alten einsamen Herzens nachgeben dürfe und mich hinabstürzen in die lockende Tiefe, damit sie ihren grünen glasigen Schrein über mich und über mein Weh auf immer schlösse. Aber würde es denn auch auf immer sein? fragte dann mein Herz. Denn viele alte Weise lehren, daß der Tod die Toten ins Leben zurückstoße, so daß sie je nach ihren Taten zu neuen Prüfungen wiedergeboren werden. Und hat nicht der, den das Orakel den weisesten der Sterblichen nannte, noch am Tage seines Todes gesagt, die Menschen seien die Sklaven der Götter, und wie die menschlichen Herren zürnen, wenn ihre Sklaven weglaufen, so auch die Götter, wenn die Menschen, ohne gerufen worden zu sein, freiwillig das Leben verlassen? Wenn nun solche Zweifel und Bedenken sich regten, dann lehnte ich mich wohl dagegen auf: wer hat mich denn zum Sklaven der Götter gemacht? was haben sie mir Gutes getan, daß ich ihnen treu sein müßte? Soll man aber doch wiedergeboren werden, so kann man es ja darauf ankommen lassen. Wenn ich mich aber auch durch solche innere Aufruhrstimme befreit zu haben wähnte, so hielt mich doch immer noch eine geheime Macht zurück, ob innerer oder äußerer Art, warum und wozu, wußte ich nicht. Jetzt freilich weiß ich's.«

»Und ist es denn in den vielen Jahren niemals geschehen, wenn ein Schutzsuchender sich jenen goldenen Zweig gepflückt hatte und nach den sonderbaren Satzungen dieses Heiligtums sich im Ringkampfe seine Priesterwürde und sein Asylrecht erkämpfen mußte – ist es denn nie geschehen, daß das Los dich zu seinem Gegner erkor, so daß dir Gelegenheit wurde, ohne eigenes Zutun, nur dadurch, daß du deine ungeheure Körperkraft zu seinem Verderben nicht voll einsetztest, den ersehnten Tod zu erreichen?«

Rufus schüttelt bitter lächelnd den Kopf.

»Ja freilich, einem solchen Flüchtling hätte die Glücksgöttin gelächelt, und gar leicht wäre er zu seinem Siegespreis gekommen. Ach, wie oft habe ich auf meinen Knien einsam die Schicksalsmächte, jedesmal wenn die Lose in die Urne gelegt wurden, gebeten, das Los auf mich fallen zu lassen – bis ich es aufgab, weil ich einsah, daß der Tod von mir nichts wissen wollte, denn ich hatte noch lange nicht genug gebüßt, so nämlich verstand ich es, wenn meine Hoffnung immer wieder und wieder getäuscht wurde. Ja, als gestern Nacht jener angekommen war, dem sie jetzt drinnen die Priesterweihe geben, und der Oberpriester in dem Rundtempelchen drüben im Lorbeergebüsche die Hand in die Urne tauchte, und alle Priester aufs höchste gespannt waren, stand ich völlig gleichgültig zur Seite; denn ich wußte ja, daß es mir nicht galt – und so war es auch. Und doch irrte ich mich andererseits, wie ich jetzt einsehe. Denn nicht deshalb wurde mir das befreiende Los vorenthalten, weil meine Buße noch nicht zu Ende war, sondern deshalb, weil ich nicht sterben durfte, bevor ich nicht die Botschaft hörte, die du mir jetzt gebracht hast. Und so danke ich jetzt der Schicksalshand, der ich gestern in gleichgültiger Verzweiflung nicht einmal mehr fluchen mochte, weil sie mein Los nicht aus der Urne zog.«

»O Titus! Du nimmst mir einen Stein vom Herzen mit diesen Worten. Denn mir war vorher zumute, als ob ich jetzt, nachdem ich durch meinen jugendlichen Leichtsinn so unsagbares Unheil angestiftet, nun auch durch mein Bekenntnis dich ganz in den Abgrund selbstquälerischer Verzweiflung gestürzt hätte. Und doch ließ die Pflicht, das Andenken meiner armen Schwester zu reinigen, mir keine andere Wahl.«

»Du hast mir damit eine größere Wohltat bereitet, als ich jemals von einem menschlichen Wesen erwarten durfte, Marcus. Wie du so plötzlich vor mir standest, begrüßte dich jubelnd mein Herz als Erlöser. Denn ein solcher bist du in der Tat, jedoch wie ganz anders als ich dachte! Jetzt segne ich deinen Mangel an Rachsucht, dem ich im ersten Augenblick bitter enttäuscht fluchte. Denn hättest du, wie ich hoffte, dein Schwert in mein Herz gestoßen und wäre ich so in meinem Wahn von hinnen geschieden, ohne daß du mir die Binde von den Augen gerissen – nimmermehr hätte ich Ruhe im Tode gefunden! so schaut mich nun freilich meine Missetat doppelt schwarz an. Daneben aber leuchtet gereinigt, im ursprünglichen Glanz der Unschuld, das Bild meiner Fulvia, und o, die Freude über diesen Anblick überstrahlt alles andere. Wie hätte ich je geglaubt, den Augenblick noch zu erleben, wo mir der Tod nicht die willkommenste aller Gaben wäre? Und einen solchen genieße ich jetzt. Willkommen heiße ich ihn zwar bald – noch heute, wenn er kommen will. Aber noch möchte ich einige kurze Stunden vor mir haben, um an Fulvia denken zu können, so wie sie jetzt vor mir steht, so wie du sie mir wiedergegeben hast.«

»Möchtest du das noch recht lange tun können und darin deinen Frieden finden!«

Mit einem milden, nachsichtigen Blicke schaut der Alte seinen Schwager an.

»Du bist noch ein junger Mann, Marcus, da hat der Tod noch ein anderes Antlitz. Der Krieger blickt ihm gern in die Augen und blinzelt nicht. Aber mit freudigem Trotz: – ›komm nur an! nimm mich, wenn du kannst!‹ Nicht so der Alte, zumal wenn er wie ich im sehnsuchtsvollen Hinausspähen nach ihm ergraut ist: ›O komm bald! nimm mich mit von hier! Hebe die Atlaslast dieser Welt von meinen müden Schultern!‹ Denn keinen anderen Frieden konnte ich mir ja denken, als daß die Welle der Lethe über meinem Kopfe dahin rauschte, um die quälende Erinnerung wegzuspülen. Und in jenem kristallhellen smaragdgrünen Wasser des Dianaspiegels sah ich Tag um Tag die Letheische Welle mich locken. Aber wenn die Weisen recht haben, die von Pythagoras an gesagt haben, die Nacht des Todes sei nur der Übergang zu einem neuen Tag, da wäre freilich auch dort nicht der volle Frieden zu finden. Wie ich dir ja sagte: ich fühle, daß ich keine Ruhe im Tode gefunden hätte, wenn mir die Kunde verborgen geblieben wäre, die du mir brachtest. Dadurch habe ich aber bei lebendigem Leibe eine unverhoffte Friedenswonne gekostet. So mag es denn wohl sein, daß es eine Leidenserlösung gibt, die nicht in Tod und ewigem Vergessen besteht, sondern in verklärtem Leben und vervollkommnetem Wissen, so wenig ich dies auch fassen kann.«

Marcus nickt ihm freundlich zu. Er hat diesen alten Schwager, den er bis jetzt kaum gekannt hat, recht lieb gewonnen und sieht ihn gern vom trüben Todesgedanken los kommen.

Da er sich bewußt ist, kein Mann der Rede zu sein, legt er seine Hand auf die große adrige Faust des Greises, die die Rundung des marmornen Banksitzes umspannt, und sagt nur:

»Wir können nicht alles fassen, Titus. Es ist erlaubt zu hoffen, wenn auch vieles rätselhaft bleibt.«

»Ja rätselhaft! Und was ist wohl rätselhafter, als daß gerade das, wodurch meine Schuld ins Unabsehbare wächst, diese Schuld zu vermindern scheint? Nicht eine Schuldige, sehr zu Enschuldigende, habe ich erbarmungslos getötet – nein, eine Unschuldige habe ich in meiner Wut hingemordet! Und mir ist, als ob ihre Unschuld für meine Schuld aufkäme und sie tilgen wollte. Ist es denn so? – sind wir so tief verbunden, so inniglich im Unsichtbaren verflochten, daß unschuldiges Blut den Sünder entsühnen kann?«

Den Schwager scheint diese grüblerische Frage sehr zu verwundern. Er macht eine unwillkürliche Bewegung und sieht den Greis betroffen an.

Dieser lächelt.

»Na, Marcus, meine Rede mag dir wohl wirr erscheinen. Solche Erfahrungen sind tief und eigenartig und lassen sich nicht leicht in Worte kleiden, die uns doch einzig zur Verfügung stehen.«

»O nein, Titus, nicht das ist es, und deine Rede klingt mir nicht irre. Aber als ich dich so sprechen hörte, wollte es mir scheinen, als ob du dort hättest stehen sollen, wo ich vor kaum zwei Monaten stand.«

»Und wo hast du denn gestanden? Dein Blick und deine Worte sind seltsam; sie lassen dies alte Herz so erwartungsvoll klopfen, als ob es noch etwas zu erwarten und zu hoffen haben könne.«

»Ja, das mußt du mich wohl fragen. Und es fügt sich alles so seltsam ineinander – wie du selbst sehen wirst – daß wenn ich nicht dort gestanden hätte, ich jetzt auch nicht hier säße und du dann nimmer das erfahren hättest, was dir so zum Frieden gereicht. Wohlan, so werde ich dir denn ein Erlebnis von hoher und einziger Art erzählen, so gut ich kann, und das wird mangelhaft genug sein. Obgleich sich noch ein anderes daran schließt, das an sich so wunderbar und erschütternd ist, daß wohl wenige Sterbliche etwas Ähnliches aus eigener Erfahrung berichten können; im Vergleich mit jenem kommt mir jedoch dieses fast geringfügig und alltäglich vor.


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