Friedrich Gerstäcker
Der Wilddieb
Friedrich Gerstäcker

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IX.

Weit drüben über der See, im amerikanischen Lande, in der reichen Niederlassung des Mississippi, die der »American Bottom« heißt, lag eine freundliche, von einem Deutschen bewirtschaftete Farm.

Sonst ging es hier gar geschäftig zu, denn der Eigentümer besaß ein treffliches Grundstück mit vielen Kühen und Pferden, und als er vor sieben Jahren einzog und ein Jahr später die reizende Tochter eines eingeborenen Nachbarn heimführte, waren Feste auf Feste in dem geräumigen, wohnlich eingerichteten Backsteinhaus gefeiert worden.

Heute hatten sich hier wieder viele Leute versammelt, aber, wie es schien, zu keinem Fest. Die Männer standen schweigend in kleinen Gruppen vor der Tür, in der manchmal Frauen mit verweinten Augen erschienen, und eine halbe Stunde später trug man einen Sarg heraus, dem sich die Versammelten anschlossen und ihn auf den kleinen, nicht sehr fernen Gottesacker begleiteten.

Dicht hinter dem Sarg ging ein Mann, ein kleines, etwa vierjähriges Mädchen an der Hand; aber in seinen totenbleichen, gramgefurchten Zügen lag mehr als Schmerz. Still und schweigend, die Lippen fest aneinander geschlossen, stierte er vor sich nieder auf den Boden, umschloß er mit seiner Rechten das Händchen des Kindes, das neben ihm herging und neugierig bald zu dem Vater, bald zu dem Sarge hinauf, bald zurück nach den hinterdrein Kommenden schaute.

Der Zug hatte den Gottesacker erreicht, und während der Sarg am Rande des Grabes stand, hielt der Geistliche eine lange Rede. Die Männer umringten ihn mit abgenommenen Hüten, und dicht vorüber rauschte zu deren Füßen der mächtige Strom seine dunkeln gelben Wellen dem Meere zu, flüsterte neben ihnen das Laub an den Zweigen und zwitscherten die munteren Vögel in den Ästen. Das alles glitt lautlos an dem Ohr des einen vorüber. Sein Blick haftete wohl an dem schwarzen Sarg, der die Leiche seines lieben Weibes aufgenommen hatte, aber sein Geist schweifte weit, weitab über das Meer hinüber in ein fernes Land.

– Nacht war es dort – nur der Mond stand am Himmel und warf seinen bleichen Strahl durch die blätterleeren Zweige des Herbstwaldes. – Totenstille herrschte umher, nur dort drüben auf dem offenen Schlag äste sich ein Rudel Wildbret und kam näher und näher heran zu dem Platze, wo der versteckte Schütze, das gespannte Gewehr fest in der Faust, des Wildes harrend, lag. – Jetzt dröhnte der Schuß durch den stillen Wald, und hei! wie das Rudel dort hinaufprasselte, durch trocknes Laub und Reisig hin, und nur das eine Stück, zum Tod getroffen von der Kugel, zurückblieb, taumelte und in den eigenen Fährten zusammenbrach. – Und jetzt? – Niemand sah den Wilderer, der lauernd seine Zeit im Dickicht abwartete, dann leise vorschlich und mit grimmer Freude das schwere Stück mit einem Ruck sich auf den Nacken lud. Jetzt hat er die schützende Dickung damit erreicht – noch wenige Schritte, und die düsteren Schatten der Kiefernbüsche decken ihren Schirm um ihn, da –

»Halt!« donnerte die Stimme des Priesters in sein Ohr, und mit dem Worte »Jesus!« sank der Mann zerbrochen, zitternd in die Knie und barg das bleiche Antlitz in den krampfhaft sich darüber krallenden Fingern.

»Halt ein! halt ein auf dem Weg zur Sünde!« fuhr der begeisterte Redner in seiner Mahnung fort, – »halt, da es noch Zeit ist, da die Posaune des letzten Gerichts noch nicht in dein Ohr dröhnt! Tut Buße, ihr alle, daß der Tod nicht unerwartet an eure Tür klopfe und die Pforten des Himmels euch verschlossen bleiben für ewige – ewige Zeiten!«

Weiter schmetterte die Rede – aber der Mann am Boden hörte und verstand nichts mehr. Vor seinem Ohr klang und dröhnte es und trieb ihm das Blut in wilden Schlägen durch die heißen, pochenden Adern, bis einer der Nachbarn seine Schulter berührte und ihn langsam und vorsichtig vom Boden aufhob.

Die Grabrede war vorüber – der Sarg in die Gruft gesenkt und die Männer sprachen ein leises Gebet der Geschiedenen nach. Jetzt rollte die schwere Erde nieder – Schaufel nach Schaufel folgte, und während die Totengräber ihr trauriges Amt vollendeten, wandte sich der Zug langsam nach dem Hause zurück.

Zuerst bereiteten freilich noch die Frauen ein einfaches Mahl für die Gäste, an dem der Hausherr aber keinen Anteil nahm. Dann holten die Trauergäste ihre Pferde und ritten davon – die Männer und die Frauen – einer nach dem andern, und immer stiller, öder wurde es im Hause. Nur eine alte Wirtschafterin blieb zurück, die wieder etwas Ordnung stiftete und heimlich in der Küche von dem übriggebliebenen Wein trank, und unten im Zimmer saß der Mann, hatte das kleine Mädchen auf dem Knie und starrte still und schweigend vor sich nieder.

So saß er viele Stunden – das Kind war müde geworden, es entschlief in seinem Arm – er wußte es nicht. Eintönig pickte die Uhr an der Wand ihre monotonen Schläge – er hörte sie nicht. Die Alte kam herein – einmal, zweimal, dreimal, und immer saß der Witwer noch, wie er vorher gesessen, das Kind im Arme. Sie wagte nicht, ihn zu stören.

Drüben, über dem niedern langen Waldstreifen, der das andere Ufer des Mississippi begrenzte, sank die Sonne. Es wurde Nacht draußen; der Whip-poor-will schlug im Busch sein monotones Lied, und lange Züge von Wildenten strichen schwirrend über die düstere Wasserfläche dahin. Es schlug neun und zehn auf der alten Uhr, und noch immer hielt der Unglückliche das schlafende Kind in den Armen und blickte stier in die ihn umlagernde Dunkelheit, bis die alte Haushälterin endlich so müde wurde, daß sie selber die Augen nicht mehr offen halten konnte.

Da trat sie leise hinein in das Zimmer, sie hatte die Schuhe ausgezogen, um kein Geräusch zu machen, denn sie glaubte, der Herr schliefe ebenfalls, und nahm das müde Kind aus seinen Armen. Er schaute sie dabei an, aber rührte sich nicht, bis sie sich ebenso geräuschlos mit der Kleinen entfernen wollte, sie zu Bett zu bringen.

»Wieviel Uhr ist's, Dorothea?«

»Herr, du meine Güte, wie Sie mich erschreckt haben!« rief die Alte zusammenfahrend, und setzte dann ruhiger hinzu: »Zehn Uhr ist's vorbei, Master – es geht stark auf elf. Die Leute sind schon seit ein paar Stunden im Bett. Das arme Kind hat hier nur zu lange in seinem dünnen Kleidchen gelegen, und beide Eckfenster offen dabei. Das Köpfchen brennt ihm wie eine glühende Kohle – wenn's ihm nur um Gottes willen nichts geschadet hat.«

»Bringt das Mädchen zu Bett, Dorothea,« erwiderte der Mann und winkte ihr mit der Hand, daß sie hinausgehen sollte. Er selber stand auf, schloß die Fenster und sank dann wieder in seinen Stuhl zurück.

Der nächste Morgen fand ihn mit Tagesanbruch auf und im Wald draußen; als er aber zurückkehrte, kam ihm Dorothea mit ängstlichem Gesicht entgegen und meldete ihm, daß die Kleine erkrankt sei. Sie liege im Fieber.

In derselben Stunde noch sprengte einer der Knechte mit verhängtem Zügel der nächsten Stadt zu, um einen Arzt herbeizuholen. Der Arzt traf ein, aber des Kindes Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag, und acht Wochen später kamen die Nachbarn wieder zusammen wie damals, nur daß sie diesmal einem Kindersarg zum Kirchhof folgten. Der Vater selbst fehlte im Zug. Er lag krank zu Bett. Als er sich nach Wochen daraus erhob, war er nicht wieder zu erkennen, so elend und ineinandergebrochen sah er aus.

Die Nachbarn hatten anfangs gerechtes Mitleiden mit dem Mann, der in einem Jahr seine Kinder und seine Frau verloren. Sie suchten ihn aufzuheitern, aber er wich ihnen aus, und an dem zähen Widerstand, den er ihren freundlichen Bemühungen leistete, scheiterte zuletzt ihre Langmut. Sie ließen ihn seinen eigenen Weg gehen, da er es denn einmal nicht anders haben wollte. Hätten sie gewußt, wie einsam er sich fühlte und wie es in seinem Herzen arbeitete und nagte! – aber keiner Seele hatte sich der Unglückselige je vertraut, selbst nicht seiner Frau, die mit treuer Liebe an ihm gehangen. Allein war er seine dunkle Bahn durchs Leben gegangen, allein hatte er bisher ertragen, was endlich unerträglich wurde: die nie rastenden Folterqualen eines blutbefleckten Gewissens. Es war eine Riesenlast. Am Grabe der Frau hatte sie ihn zum erstenmal zu Boden gedrückt, und nachdem er seitdem auch noch sein Kind – das letzte – verloren, so war die Spannkraft seines Wesens unwiederbringlich dahin, und der Schuldbeladene müde, recht todmüde geworden.

Sein Leben war gleichsam nur noch ein mechanisches, ein Leben aus Gewohnheit. – So kam der Winter heran, aber mit ihm keine Ruhe für den Gequälten. Ja, je kürzer und trüber die Tage wurden, desto ängstlicher wurde er noch, desto schweigsamer und starrer saß er zu Haus; den Schlaf schien er zu fliehen, der Nahrung kaum noch zu bedürfen. – Die alte Haushälterin begriff nicht, wie nur sein Körper solchen Mißhandlungen auf die Länge der Zeit widerstehen könne. Hätte sie geahnt, was seinen Geist zermarterte, sie würde es noch viel weniger begriffen haben.

Als aber der Frühling wieder ins Land kam, konnte er die Qual nicht länger aushalten, die an seinem Herzen fraß. Dennoch schien plötzlich eine segensreiche Veränderung mit ihm vorgegangen zu sein. Der Mann wirtschaftete wieder wie vorher auf seinem Gut herum, erkundigte sich nach dem und jenem, um das er sich schon seit langer Zeit nicht mehr bekümmert hatte, und unterhielt sich sogar mit der alten Dorothea.

»Gott sei ewig gedankt, mein lieber Herr,« rief diese mit gefalteten Händen, indem sie vor ihm stehen blieb und ihn mit ihren freundlichen, klaren Augen betrachtete, »daß Sie sich endlich einmal zusammengerafft haben und wieder Sie selbst geworden sind. Sie hat lange gedauert, diese verzweiflungsvolle Trauerzeit. Jetzt aber wird hoffentlich alles wieder gut werden.«

»Ja, Dorothea,« sagte der Mann mit leiser, tonloser Stimme – »das hoffe ich auch – es muß jedenfalls anders werden.«

»Es muß anders werden!« wiederholte er, als er bald darauf allein, wie er pflegte, im Walde wandelte. »Leben? – was liegt mir am Leben! Ich will nicht länger leben, aber ich darf noch nicht sterben. Erst muß ich sühnen, was ich getan – erst muß ich büßen. Dann erst kann der gerechte Gott sein Erbarmen mit mir haben, dann erst werden die Stimmen, die furchtbaren, in meinem Busen wider mich schreienden Stimmen verstummen. Ich will sterben, aber erst muß ich mein Gewissen zum Schweigen gebracht haben, daß ich nicht mit dem Ankläger auch noch vor die Schranken des Ewigen trete.«

Zum erstenmal seit vielen, langen Monden bestieg er am nächsten Morgen wieder ein Pferd und ritt in die Stadt, um sein Gut zum Verkauf anzubieten. Acht Tage später war auch schon der Handel darüber abgeschlossen und die Farm gehörte einem andern Herrn. Nachdem der bisherige Eigentümer das Los der alten Dorothea auch nach dieser Veräußerung sichergestellt hatte, ging er an Bord eines der zahlreichen Dampfboote, von denen der Mississippi durchfurcht wird.

Das Schiff schwenkte, vom Ufer sich drehend, in die Strömung des mächtigen Flusses hinein. Der Farmer aber stand vorn am Bug des Fahrzeugs, das Gesicht bleich, den Mund geschlossen, das Auge stier und mit trotziger Entschlossenheit an der Ferne haftend. Leise, wie eine Beschwörungsformel für das ängstlich pochende Herz, murmelten die Lippen dazu:

»Nach Haus! – nach Haus!«

 


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