Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[163] Frau von Epinay an Galiani

Den 29. Juli 1776

Unser Briefwechsel, mein reizender Abbé, ist gewiß einzig in seiner Art: wir schreiben uns allwöchentlich drei oder vier Seiten lange Briefe, in denen nichts steht, als: Es geht mir gut, ich bin heiter, ich bin traurig, es ist heiß, es ist warm, der ist abgereist und jener ist angekommen usw.; und wir sind zufrieden mit uns selber wie die Könige; wir halten uns für außerordentlich witzig. Wenn zufällig ein Brief ausbleibt, gibt es Klagen und ein Geschrei, als ob alles verloren wäre. Wissen Sie, daß ich anfange zu glauben, wir sind viel glücklicher, als wir es selber wissen? Da Ihre Gesundheit vortrefflich ist, behaupte ich, daß sie auf die »Robustizität« losmarschiert, und um Ihnen eine Neuigkeit zu sagen, füge ich hinzu, daß ich mich nicht an die Arbeit, wohl aber ans Denken mache; und wenn dieser befriedigende Zustand andauert, verzweifle ich nicht an der Fortsetzung meiner Gespräche über die Erziehung. Ich muß Ihnen einige der Ideen mitteilen, die mir wie ein Traum durch den Kopf gegangen sind.

Ich habe mich gefragt, warum die Tiere, die bis jetzt unsere sehr ergebenen Diener sind, mit dem ihnen eigenen Grad der Vervollkommnungsfähigkeit geboren werden, während die Menschen sich von der Geburt bis zum Tode abmühen, nur um den ihnen zugänglichen Grad zu erreichen; und hierauf habe ich mich gefragt, ob wir oder sie im Vorteil wären. Ehe ich Ihnen meine Antwort mitteile, sollen Sie wissen, daß ich meine zwei Fragen einem geistvollen Manne vorgelegt hatte, der mir anstatt einer Lösung des Problems die Antwort gab: »Lesen Sie das Werk von Bordeu, das eben erschienen ist ....« Ich soll lesen? habe ich gesagt; niemals. Man gebe mir Tatsachen nach Belieben; aber wenn es sich um Beweisführung handelt, halte ich mich nur an meinen eigenen Kopf. Ich habe alles erraten, was ich weiß, und ich werde alles erraten, was ich nicht weiß. Wahrhaftig, Abbé, es gibt Augenblicke, wo ich so töricht und eitel bin, zu glauben, daß ich die Welt durchschaut habe. Ich habe aber, für mich allein, nicht ganz die Antwort auf meine erste Frage erraten. Ich habe wohl behauptet: dies kommt daher, daß jede Tierart nur mit dem beschäftigt ist, was sie angeht; aber das befriedigt mich nicht. Ich habe mit dem Philosophen darüber gesprochen (dem Sie, nebenbei bemerkt, noch immer eine Antwort schuldig sind); er sagte mir: »Ich habe mehr als einen Tag darüber nachgedacht; jede Tierspezies hat ihr dominierendes Organ, unter dessen Zwang sie steht, während die des Menschen alle in einem Zustand verknüpfter Fähigkeiten vorhanden sind, deren Mittelpunkt der Kopf und das Denken sind.« Er führte ein Beispiel an; aber ich will es Ihnen nicht sagen, Sie werden es erraten. Vor zwanzig Jahren kamen, ich glaube in Amsterdam, Drillinge zur Welt; sie waren dumm, wild, unbezähmbar; ein einziges ihrer Organe war seit ihrem zehnten Jahre vollkommen ausgebildet und von ungeheuerlich vollkommener Bildung. Und welches Organ war dies? Erraten Sie es; denn dies will ich just nicht sagen. Nun, diese Drillinge waren ganz und gar nur zu einer Sache tauglich, und es gab keine menschliche Gewalt, die sie von der Erfüllung ihrer Bestimmung hätte abhalten können. Sie starben vorzeitig durch Erschöpfung usw. Wahrhaftig, gab ich ihm zur Antwort, dies gibt mir die Lösung eines ändern Problems, nämlich: warum die genialen Leute so dumm sind....

Was nun die Frage angeht, auf welcher Seite der Vorteil liegt, so entscheide ich mich für die Tiere; sie haben keine Todesangst, noch die Gier nach Reichtümern; sie bedürfen dieser nicht einmal.

Ach mein Gott, ich lasse meine Phantasie abschweifen, und ich verschweige, daß unser vortrefflicher dicker Pfarrer, den Sie gewiß nicht vergessen haben werden, Sie bittet, ob Sie ihm nicht einen Empfehlungsbrief an den Prälaten Filomarini geben können, der als Vizelegat nach Avignon kommt, wo unser guter Hirte wohnt. Er möchte ganz einfach in seine Nähe kommen; denn er ist glücklich, wohlhabend und will nichts von ihm, und Sie wissen, daß es der Abbé Martin ist...

Adieu, adieu, mein teurer Abbé, dies ist einer meiner längsten Briefe, den ich seit zwei Jahren geschrieben habe. Ich umarme Sie.


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