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12

Fischer, die nach bestandenem Sturm hinter dem deutschen Geschwader herum heimfuhren, sahen ihn in der hohen Dünung treiben, von seinem Ölrock und dem zerbrochenen Kartenhausdeck getragen. Der Mund war fast geschlossen, die schaumbedeckten Nüstern unnatürlich geweitet; in dem ganzen nach hinten geworfenen Gesicht stand ein Zug wilden, grausamen Willens; die linke Hand war so geballt, daß, als man sie auseinanderzog, in ihrer Fläche vier tiefe Wunden saßen. Da er soviel Willen in seinem toten Gesicht hatte und so jung war und gerade in ihrer Fahrt trieb, zogen sie ihn ins Boot und legten ihn neben die Luke des Fischkastens in Windschutz und Sonnenschein, der allmählich hervorbrach, und deckten ihn mit ihren alten Seeröcken zu, die sie auszogen, da die Böen aufgehört hatten.

Bei ihrem einsam gelegenen Dorf, südlich von Aschant, trugen sie ihn an Land, und ohne ihn hinzulegen, gleich weiter in das nächste Häuschen, das eine Fischerswitwe von noch guten Jahren mit ihren beiden halbwüchsigen Knaben bewohnte. Dort legten sie ihn auf die kleine gelbliche Lehmdiele, die tiefer ins Haus hinein, sich etwas verbreiterte und zur Küche wurde, und sagten mit gutmütigem Scherz zu der Witwe: »Wenn er wieder auflebt, Jeanette, sollst du ihn haben. Du mußt uns aber zur Hochzeit laden; denn wir haben ihn dir gebracht.« Dann gingen sie zu ihren Frauen.

Die Witwe fühlte, so gut sie es verstand, nach Puls und Atem, meinte, daß er mehr erschöpft und erstarrt als ertrunken wäre, und packte ihn warm mit allem zu, was sie an Decken hatte, und legte sieben große Steine vom Herd, die noch warm vom Morgenkaffee waren, dicht an seine Seite entlang, so daß es schon wie ein Grab, mit Steinen eingefriedigt, aussah. Dann ging sie mit ihren Knaben an die Arbeit auf ihr kleines Feld, die letzten Kartoffeln aufzunehmen, und dachte: ›Heute abend ist er tot,‹ und betete für seine in Dunkel wandernde Seele.

Als die Sonne hochkam, so um Mittag, und den kleinen gelben Raum milde wärmte, brach er einiges Wasser aus und wurde davon etwas wacher, und lag einige Zeit dumpf und stumpf, wie ein Mensch nach einem furchtbaren Sturz tun mag, und dachte so dumpfen Sinns weiter: es wäre in der Tat das Beste, er ginge auf einen Tramp. So lag er, stumm und dumpf, die Augen halb geschlossen.

Die Sonne stieg und kam in die halbgeöffnete Tür und legte sich als ein sauberer goldener Stab der Länge nach neben ihn, und rückte langsam und steif an ihn heran. Als sie soweit nahe gekommen war, daß sie die dunkelgrauen Herdsteine schon in helle und dunkle Hälften geteilt hatte, kam ein kleines vierjähriges Mädchen, sah ihn daliegen, und den Sonnenstab neben ihm und war wohl neugierig, was das werden würde, da der Liegende mit den Augen plinkte, setzte sich auf die Schwelle, und sah ihn eine ganze Weile unverwandt an. Sie hatte in ihrem kleinen Kopf eine Ahnung, daß der Sonnenschein durch die Tür beschnitten würde, und versuchte, die Tür weiter zu öffnen. Als sie es nicht vermochte, ging ihr die ganze Sache zu langwierig, und sie ging fort. Dann setzte sich eine Schwalbe dahin, wartete auch eine Weile, nickte und wippte stahlblau im Sonnenschein, und machte es dann ebenso.

Er sah das alles nicht, obgleich er die Augen schon halb öffnete. Er lag in dumpfen Sinnen, und quälte sich mit der Grausamkeit eines alten Mannes, der einen andern Greis mit einem brennenden Holzscheit schlug, und mit der Verruchtheit eines schmalen Menschen mit eiligen Bewegungen, der mit einer alten Frau verhandelte, und daß Gott zu dem allen nichts tat noch sagte, hinter eisernen Mauern wohnte und eiserne Ohren hätte, so groß wie eine Tür. Was sollte er anfangen, wenn es so mit der Welt und mit Gott stand? Was beginnen? In der Kirche auf Sylt sitzen, wie die beiden andern? Wer waren diese beiden andern? Woher kam der alte graue Seemann mit dem kleinen Gesicht und der zarte Knabe in sein Leben? Er wußte, daß sie seine unglücklichen Gefährten gewesen waren. Mehr wußte er nicht. Es war alles grau und wirr und kalt. Das einzige war und blieb, er nähme auf einem Tramp Heuer, wo die Heimatlosen immer bleiben und die andern wechseln. Er hatte ja nichts anderes gelernt als Seemann sein. Also weiter nach London. Warum hatte er seine Reise unterbrochen? Was lag er hier noch lange, als wäre er hierhergeworfen, zwischen Steinen?

Er warf die Decken zurück, daß die Steine zur Wand rollten, und stand taumelnd auf, und ging einige Schritte nach der Tür zu, völlig dumpf im Kopf. Er wunderte sich, daß die Reise nun plötzlich langsamer ging als vorhin, machte wieder einige Schritte und stand in der geöffneten Tür, die Augen noch halb geschlossen, die Zähne aufeinandergepreßt, einen dumpfen Fluch auf den blauen Lippen. In seinem trocken gewordenen rotblonden, wirren Haar spielte und jauchzte die Sonne.

In dem Augenblick kam die Frau mit ihren beiden Knaben vom Felde um die Ecke des Hauses. Sie ließen Spaten und Säcke fallen und schrien in Ausrufen, die er nicht verstand. Er sah sie gleichmütig an, über die plötzliche Begegnung etwas verwirrt, aber über ihre fremdartigen Gesichter und Kleider nicht weiter verwundert; denn er war ja unterwegs durch fremde Länder; aber verwundert, daß er nicht wußte, welche Richtung er nun gehn sollte. »Nach London,« sagte er, und deutete mit der Hand an, daß er die Richtung nicht wüßte.

Nun faßte die Frau sich so weit, daß sie ihm bedeutete, er solle erst essen und trinken, und nötigte ihn auf den Steinsitz am Herd, und machte sich eilig zu schaffen, ließ auch die Kinder laufen und springen und fachte mit einem Holzfächer das Feuer an, und wunderte sich zwischen all ihren Hantierungen nach Frauenweise mit vielem Händezusammenschlagen über die Begebenheit. Dann setzte sie ihm den heißen Kaffee vor und gab ihm schönes braunes Brot, und er aß und trank gewaltig, und atmete kräftiger und gewann mehr Leben. Aber seine Seele wühlte dumpf in ihren schweren Erlebnissen mit den beiden alten Leuten vor der Hütte und dem kleinen Mann im Gartenzimmer und vor den eisernen Mauern, die in der weiten dunkelgrauen Finsternis aufragten. Sie fragte ihn nach seinem Namen, indem sie auf sich und ihre Kinder deutend ihre Namen nannte; aber er wußte ihn nicht. Sie fragte ihn nach dem Namen des Schiffs, indem sie das hölzerne Schifflein ihrer Knaben, das an der Decke hing, mit Namen nannte; aber er wußte auch das nicht. In seiner Seele stand nur groß und breit das, was er mit seinen beiden armen Gefährten auf weiter Luftfahrt erlebt hatte, und aus diesem Erlebnis kam immer wieder der dumpfe, gleichmütige, mutlose Wille: Weiter, weiter! Nach London! und er fragte wieder, indem er sich nach Seemannsweise im fremden Land der englischen Sprache bediente, nach dem Weg zum nächsten Hafen und nach London.

Die Frau, sonst wehrhaft und nicht auf den Mund geschlagen, wußte nicht, was sie tun sollte, ihn noch zu halten. Sie gewann noch Überlegung und Zeit, ihm eine alte Wollmütze ihres Mannes auf den Kopf zu stülpen; dann mußte sie ihn gehn lassen.

Die Knaben liefen ihm auf ihr Geheiß eine ganze Stunde lang nach, wobei sie immer, wenn sie ihm näher kamen, furchtsam stillstanden, und dann, wenn die Entfernung zwischen ihnen größer geworden war, wieder vortrabten, und ihm zuriefen, wie er gehen solle. Dann zeigten sie ihm am letzten Kreuzweg die große Straße und die fernere Richtung. Er wurde in der schönen Abendluft soweit wach und der Dinge mächtig, daß er merkte, daß sie nun nicht weiter mit wollten, und daß er sich nun bedanken müßte. Er streckte die Hand nach ihnen aus, und versuchte, ihnen zu sagen, daß er wünschte, daß sie das nicht erlebten, was er erlebt hatte – wobei er wieder nur an die wilde Fahrt zu dreien dachte und an die jammervolle Erkenntnis, die sie gebracht hatte –; aber sie wichen furchtsam zurück und stoben davon, und verschwanden wie junge Pferde in einer Staubwolke.

So kam er nach dem nächsten Hafen und von da nach Brest. Er sagte unterwegs immer nur den Namen der Stadt, wohin er strebte, er hatte aber noch keine Erkenntnis davon, wo er wäre. Von Brest fuhr er als Matrose auf einem kleinen schmutzigen Stückgutdampfer nach Plymouth. Wenn die Schiffsgenossen ihn fragten, woher er käme, sagte er in einem Ton, in dem seine trostlosen und überlegenen Erfahrungen sich ausdrückten: »Weither.« Wenn sie weiter in ihn drangen, wehrte er kurz ab, wie ein Mensch, der kraft dieser großen Erfahrungen das Recht zu haben glaubte, kurz zu sein. So gelangte er am achten Tage seiner Reise, ohne ein Stück Geld zu brauchen, nach London, völlig dumpfen traumhaften Geistes in bezug auf alle Vergangenheit, die vor Untergang der Anna Hollmann lag, die ganze Seele erfüllt und in Beschlag genommen und zerquält von dem schweren Erlebnis der Fahrt zu dreien. Diese, mit ihrer bösen Erfahrung von Gott und Gerechtigkeit und Menschenseele, stand breit und finster in der Seele. Seine Sprache war gleichmütig und dumpf, der volle schöne Klang, der sonst in schönem Glockenton in ihr mitgesungen hatte, war verschwunden.

Er sah weder links noch rechts, und suchte den Hafen ab, einen Tramp zu finden, der ihn mitnähme. Er fragte auf einigen vergebens an, da er seinen Namen und Herkunft nicht nennen konnte und mit einer Art von stumpfem Eigensinn und starrer Selbstverständlichkeit darauf bestand, als Offizier zu fahren. Zuletzt kam er auf einen gewaltigen Dampfer von sehr ödem Aussehn, der mit Stückgut nach Port Adelaide in Australien ging, wo er neue Order empfangen sollte.

Sie wollten ihn als Matrosen mitnehmen; aber da er sich nicht auf seinen Namen besinnen konnte und weiter nichts wußte, als daß er von Plymouth käme, und nicht die geringste Auskunft sonst geben konnte, gab es Schwierigkeiten. Aber der erste Offizier, der ein Sportsman war und die Wände seiner Kabine mit fünfzig Preisen geziert hatte, die er von London bis Singapore und von Kapstadt bis San Franzisko auf dem grünen Rasen erworben hatte, sagte in der frischesten englischen Art: »Was schiert uns das, Kaptän? Der Junge hat eine gute Haltung, und hat rotblondes Haar. Die Rotblonden haben uralte Rasse und altes Feuer, noch vom Heidentum her. Sehn sie nur das Gesicht!«

So fuhr er als Matrose auf der Alberta wieder in See.

Die Mannschaft hatte ihn gern und war freundlich mit ihm. Sie nannten ihn »Tom Ginger«, wie der englische Seemann die Rotköpfe nennt, weil sie die Farbe des eingemachten Ingwer haben, hatten Spaß an dem Namen und kümmerten sich im übrigen nicht viel um den wunderlichen Fall. Der Erste aber hatte weiter ein scharfes Interesse an ihm, das noch wuchs, als er feststellte, daß der Fremdling eine gute Schulbildung hatte und ein tüchtiger Navigateur war.

Nach drei Wochen begab es sich, daß der dritte Offizier, der mit dem Keim einer schweren Krankheit an Bord gekommen war, sich hinlegte und starb. Da schlug der Erste dem Kapitän vor, daß sie den Fremden in die Kajüte nähmen, indem er sagte: »Wert ist er es, Kaptän; dafür bürge ich. Und ich glaube, wir tun auch sonst ein gutes Werk. Was mag der arme Mensch schweres erlebt haben, daß ihm die ganze Vergangenheit verschüttet ist!«

So wurde »Tom Ginger« dritter Offizier, und machte im folgenden Jahr, nachdem sein Gönner ihn eifrig in Sprache und Schrift unterrichtet hatte, sein englisches Examen, und fuhr wieder auf der Alberta.


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