Bruno Frank
Cervantes
Bruno Frank

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Lügenbank

Als er in Madrid die Hofwohnung hinter der Calle de Atocha aufsuchte, wohnten fremde Leute darin, ein Schuhmacher mit seiner Familie. Man gab ihm Bescheid: wieder waren die Eltern verzogen, nach Toledo diesmal. Gott mochte wissen, ob der Vater dort als Quacksalber oder als Winkeladvokat neue Hoffnungen ersah. Ein Bündel mit Miguels Habseligkeiten war zurückgelassen. Er nahm es, dankte und ging.

Er fand eine Kammer am Matute-Platz, gleich hinter dem Kollegium von Loreto. Hier mietete er, ohne zu wissen, wie er bezahlen sollte. Als er sein Bündel auseinandernahm, lag obenauf seine rote Sklavenmütze aus Algier.

Er setzte sie auf und betrachtete sich in einem zersprungenen Spiegel, der dahing. Sein Gesicht sah recht eingefallen und welk aus, im Kinnbart und an den Schläfen schimmerte es schon grau. Er trug seine Mütze noch immer zu Recht, sie war mehr als ein Andenken. Er hatte wahrhaftig nur eine Sklaverei gegen die andere eingetauscht. Auf unabsehbare Zeit wußte er sich verschuldet. Verschuldet, tief, an die Eltern, an die arme Andrea, an die Oberen der frommen Schwester im Kloster, an die Leute in Portugal. Verschuldet an die trinitarische Brüderschaft, die ihn freigekauft, verschuldet für das Schiff, das einst Bruder Rodrigo gechartert, verschuldet an den Kaufmann Exarque für seine Fregatte. Verschuldet, verschuldet, verschuldet. Mit einer Art von satirischer Selbstquälerei ließ er auch die entferntesten Gläubiger 242 aufmarschieren, während er das graue Gesicht unter der roten Kappe beschaute. Er wußte sehr genau, daß keine Rede davon war, sie je zu bezahlen. Ihm fehlte für morgen das Brot.

Es war eine seltsame Gegend, in der er gemietet hatte. Der kleine Platz gleich in der Nähe hieß neuerdings »Lügenbank der Komödianten«. Ganz offiziell hieß er so. Ein Bohêmeviertel war hier aufgeschossen. Der Spielhof zum Kreuz lag nicht weit. Eine zweite Bühne, das »Fürstentheater«, war eben eröffnet worden. Es war täglich voll wie das erste. Ein Schwarm von Schauspielern, bettelhaft, bunt und lärmend gesellig, besiedelte all diese Gassen. Musikanten, Tänzer, Gaukler und ein überaus zahlreicher weiblicher Anhang wirbelten her. Literaten gab es zu Hauf. Alles lebte von Zufallsgewinn, borgte, saß in den Kneipen herum und spielte sich auf.

Eine scharfe Note gab dieser Bohême der landesübliche Ehrenpunkt. Überall war ja das alte Rittergefühl schon ganz ins Äußerliche gewendet. Für einen schiefen Blick fuhren die Degen aus der Scheide; alle paar Tage fand man frühmorgens Edelleute erstochen im Straßenschmutz. Aber hier um die »Lügenbank« war man womöglich noch kitzliger. Hysterische Eitelkeiten rächten sich blutig. Ein Schauspieler, dem der andere die Rolle wegspielte, ein Versemacher, den der Kollege hämisch glossiert hatte, hielt einen Dolchstich für die bündigste Widerlegung. Die Ehre irgendeiner leichten Person, mit der man seit zwei Wochen lebte, wurde verteidigt wie die einer 243 jungfräulichen Herzogin. Ein unzähmbarer Snobismus schnitt seine Grimassen. Falschspieler, die einander die Tricks ablernten, grüßten mit langen Zeremonien, nannten sich Euer Gnaden und sprachen nur in der dritten Person. Die Renommage vollends kannte kein Maß. Ein jeder von diesen Läpperpoeten und Reimschmieden hatte Iliaden und Äneiden auf seinem Amboß. Man log einander schamlos ins Gesicht, jeder tat, als glaube er dem andern, und erwartete sich ein Gleiches. Das Theater aber war für alle die große Hoffnung, war der reale Magnet. Denn dort war ja ernstlich Geld zu verdienen, fünfzig, siebzig Taler für ein einziges Stück.

Nur, wahrhaftig, das Publikum war allzu schwierig! Und also waren die Direktoren es auch. Selbst Autoren von Namen, ein Artieda oder Armendariz, brachten es selten dahin, daß man sie spielte. Eigentlich gab es nur Lope.

Er war ein ungeheuerlicher Einzelfall. Das ganze Theater der Zeit begann von dem einen Jüngling zu leben. Sechs Schauspielertruppen, die Spanien durchzogen, spielten beinahe nur ihn. In Valencia, Sevilla, Burgos, beherrschte er das Repertoire. Theaterkönig, Wunder der Natur, Phoenix von Spanien hieß er den Leuten. Die Direktoren schickten ihm von weither Boten ins Haus, mit Bestellungen, Mahnungen, Bargeld. Diese Boten belagerten seine Wohnung, sie warteten hinten im Gärtchen, bis sein Stück fertig war. Er stand erst am Beginn seiner Laufbahn und fing schon an, sprichwörtlich zu werden. »Wie von Lope«, 244 hieß es von einer Sache, die besonders gut aussah, klang oder schmeckte. Auch Leute gebrauchten den Ausdruck, die garnicht recht wußten, wer Lope und was ein Theater war.

Cervantes sah ihn beinahe täglich. Denn was am unbegreiflichsten schien: der Mann brachte es fertig, zwischen zwei Sonnenaufgängen ein Stück von dreitausend Versen zu vollenden, in weniger Zeit als ein Abschreiber brauchte, um solch einen Text zu kopieren, und dabei blieb ihm noch Muße zu leben! Seine Weibergeschichten kursierten rings um die Lügenbank. Sie waren zahlreich, trotz seiner Beziehung zu der üppigen Elena Velazquez, die übrigens geheiratet hatte und jetzt Osorio hieß. Täglich saßen die Beiden im »Wappen von Leon«, und nie sah es aus, als ob Lope nach Haus und vors Tintenfaß drängte. Im Gegenteil: er gefiel sich hier. Der Brodem von unterwürfigem Neid, der ihm entgegenschlug, schien seinen Nüstern zu schmeicheln. Den eher stillen Miguel Cervantes hatte er zuerst überhaupt nicht beachtet, es saß da irgendein älterer Mann mit nur einer Hand, ohne erkennbare Profession. Auch als man einander häufiger traf und sich Gespräche ergaben, bezeigte Lope geringe Sympathie. Irgend etwas an Cervantes bereitete ihm Unbehagen.

Miguel bedauerte das. Er bewunderte den Berühmten aufs höchste. Jenem ersten Theatereindruck waren stärkere gefolgt. Außerdem erschien von Lope alle paar Wochen ein neuer Band, mit zwölf Stücken jeder. Wahrhaftig, hier war Genialität! Möglich zwar, daß keines von allen diesen 245 Schauspielen die Vollendung erreichte, aber alle enthielten zum mindesten Szenen, vor deren echter und großer Poesie das Herz einem aussetzte. Alles war da, was den Menschen bewegt und erheitert, ein breiter und schäumender Strom von Tragik, Humor, Narrheit, Weisheit, Phantastik und realistischer Klugheit zog vorbei. Nichts glich dieser Vielfalt. Der Mann nahm seine Stoffe, wo er sie auftrieb. Ihm war jeder Anlaß gleich gut: ein Königsmord oder eine Novelle oder ein Stadtklatsch vom gestrigen Tag, Ariost oder Tasso, ein illustriertes Flugblatt, eine Heiligenlegende oder ein grober Spaß, den ein Kneipengenosse erzählte; Spanien, Griechenland, Deutschland, Persien, Polen, Amerika, jedes Land war ihm recht.

Nichts von Würde war an dem jungen Mann. Jäh wechselten seine Launen, in nichts hielt er Maß, jeden Augenblick gab es Skandal wegen der schönen Osorio, eitel war er bis zum Absurden, keine Schmeichelei erschien ihm zu plump, gutherzig und freigebig zeigte er sich im einen Moment und gleich darauf von giftiger Bosheit. Stellte man ihn, so kostete es ihn wenig, das eigene Wort zu verleugnen. Schon wußte er nichts mehr davon. Das hatte ein Andrer gesagt... Ein Andrer war er wirklich von Stunde zu Stunde, ein hundertgestaltiger Proteus.

So erschien auch sein Schöpfertum dem Cervantes. Ihm war, als habe man es bei dieser ungeheuerlich flutenden Zeugung garnicht mehr mit einem Schriftsteller und mit einzelnen Werken zu tun. Dies wirkte weit eher wie eine 246 ununterbrochene Eruption der Natur selbst, die ja auch nicht auf Grenzen und Folge bedacht ist, sondern aus ihrem strudelnden Schoß die Larve und das Geschöpf verantwortungslos und unversieglich hervorwirft.

Aber Natur oder nicht, gewiß war, daß diese Produktion den Zeitgenossen und ihm den Weg zur Bühne versperrte. Längst natürlich hatte er die Bekanntschaft des Unternehmers Velazquez gemacht und auch die seines Konkurrenten Gaspar de Porres. Aber sprach er ihnen schüchtern von seinen Arbeiten, einem Verwandlungsstück »Die Verwirrte«, das halbfertig dalag, einer in Konstantinopel spielenden Tragödie »Selims Tod«, so blickten sie ihn wohlwollend an und gedachten der fünf oder zehn türkischen und Verwandlungsstücke, die von Lope in Aussicht standen. Seine Lage wurde immer bedenklicher. Der Wirt zum »Wappen von Leon« schenkte ihm den Becher nur noch halb voll. Schon dachte er wieder daran, seine Briefschreiberkünste fruchtbar zu machen, aber wer, der nicht schreiben konnte, korrespondierte in Madrid! Ab und zu verdiente er sich ein paar Realen mit Lobgedichten, wie sie die Schriftsteller ihren Büchern als Einleitung voransetzten. Er schrieb eines für einen dichtenden Karmeliterpater, eines auch für einen Menschen namens Juan Rufo, der das Leben des Don Juan d'Austria in langweilige Verse gebracht hatte. Fünf endlose Gesänge waren allein dem Sieg von Lepanto gewidmet... Es war ein wenig peinlich für Cervantes, als sich nachher das ganze Epos, das er 247 überschwänglich gepriesen, als ein ziemlich schamloses Plagiat herausstellte. So ging es nicht weiter.

Er faßte sich ein Herz und suchte aufs neue Herrn Robles auf. Der wohlwollende Kaufmann überlegte ein wenig. Ob er schon einmal daran gedacht habe, einen Schäferroman zu verfassen? Nein, kein Gedicht, einen Roman in der Art der berühmten »Diana«. Davon könne das Publikum noch immer nicht genug bekommen. Von der Diana seien erst kürzlich wieder drei Neudrucke erschienen, und bei den Fortsetzungen und Nachahmungen sei der Erfolg nicht geringer. Die von Gil Polo liege jetzt schon in fünf oder sechs Sprachen vor. Sogar eine lateinische Übersetzung werde vorbereitet, für die Klöster vermutlich. Ob Cervantes sich dergleichen zutraue? Es empfehle sich nur, auf alle Fälle einen klassischen Weibernamen als Titel zu wählen, damit sich jeder sofort an die unerreichliche »Diana« erinnert fühle.

Eine Art Vertrag kam zustande. Cervantes erhielt einen kleinen Vorschuß.

Er ging sogleich ans Werk. In seiner halbdunklen Kammer versaß er die Tage und feilte an Prosa und Vers, denn diese »Galatea« sollte nach bewährter Tradition eine Mischform von beidem darstellen. Freude machte die Arbeit nicht. Diese parfümierte Welt ohne Wirklichkeit, dies falsche Arkadien, bot keine Atemluft, diese lüstern züchtigen Nymphen mit Bogen und Schleier, diese girrenden Schäfer waren ein trostloser Umgang. Während er süßliche Reize ausformte und seine 248 Paare spitzfindige Dialoge führen ließ, wußte sein Blut nicht, wovon die Rede war. Mit Leidenschaft, wie der Mann sie fühlt, hatte dies preziöse Gezirp und Gejammer, hatte diese pedantische Liebesrhetorik nichts zu tun. Er stellte Modeware her. Er hätte lieber Schuhsohlen geschnitten, wenn er's gekonnt hätte.

Er ging gegen die Vierzig. Sein Leben war leer gewesen von Liebe. Enttäuschungen seiner Jugend lagen weit. Er hatte Weiber umarmt in allen Städten, in die ihn das Abenteuer verschwemmte. Meist waren es solche, die man vergaß, noch während sie einem an der Brust lagen. Spürte er, daß eine sich an ihn schloß, die ihm gefiel, so riß er sich los. Das war nicht zu brauchen, was sollte der Soldat, Krüppel, Bettler, mit Anhang und Fessel.

Jetzt aber, gerade jetzt, während er um des Brotes willen dies leere Geliebel reimte und leimte, schoß wie ein Raubvogel aus dunklem Gewölk die Liebe auf ihn hernieder und schlug ihm die Fänge ins Herz. 249

 


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