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Die goldene Hochzeit.

Erstes Capitel.

So lange unser ehrwürdiger Dom gestanden, – und das ist Jahrhunderte länger, als irgend ein heutigen Tages noch solides Gottes- oder Menschenhaus im Lande weit und breit, – hatte er keine Feierlichkeit erlebt gleich der, welche in der Mittagsstunde des ersten Junius (an dessen Abend ich diese Darstellung zu Papier bringe) in seinen Mauern begangen werden sollte.

Goldene Hochzeiten freilich sind nicht selten in der Gemeinde gefeiert worden; denn die Luft streift heilsam vom Gebirge herüber, die Landschaft ist fruchtbar, der Volksstamm wohlhabend und kräftig, war letzteres zumal in der guten alten Zeit, wo man mit seinen Genüssen noch mehr auf den Magen als auf den Kragen Rücksicht nahm, – daher es denn nicht als etwas Außerordentliches erscheinen kann, Einen oder den Andern das Alter des Psalmisten erreichen, wohl gar um ein Jahrzehnt überschreiten zu sehn.

Vielleicht mag es auch schon vorgekommen sein, daß ein derartiger Jubelbund vor dem Altare unseres Gotteshauses für die Ewigkeit erneuert worden ist; wenngleich Seine Hochwürden der Herr Oberdomprediger und Probst, Doctor Renatus Henrici, trotz gründlichster Forschung in schriftlicher wie mündlicher Ueberlieferung keine solche Begebenheit in seiner Domchronik hat verzeichnen können. Der Fall aber ist erweislich hier nicht dagewesen und wird muthmaßlich auch andernorts so leicht nicht dagewesen sein, der Fall sage ich: zum Ersten: daß die goldene Hochzeit, wie die grüne, von dem nämlichen Diener Gottes und an dem nämlichen Altare, will sagen an dem unseres Domes, eingesegnet worden ist. Zum Zweiten: daß Beide, der Jubelbräutigam und sein Seelenhirt, heute wie damals in dem nämlichen Amte fungiren, will sagen, jener als zweiter, dieser als erster Pfarrherr am Dom. Zum Dritten: daß auch die Brautjungfer noch am Leben ist und in keiner anderweitigen Stellung als vor fünfzig Jahren, will sagen: als Jungfrau und Wirthschaftsführerin ihres unbeweibten Herrn Bruders, des Herrn Oberdompredigers, Doctor Renatus Henrici. Und endlich zum Vierten: daß sogar Schreiber dieses, nämlich meine Wenigkeit, Zebedäus Gutedel, als Küster und Kirchner am Dom, die hohen Altarkerzen anzünden und das erste wie das letzte Trauungszeugniß seines Vorgesetzten in das Kirchenregister einzutragen berufen ist.

Rechnet man zu diesen vier Punkten noch das Ansehn, in welchem die beiden Domfamilien Henrici und Borsdorf über die Gemeinde hinaus, im ganzen Lande, ja bis zum Thron in die Höhe gestanden sind; rechnet man dazu, daß das Amt am Dom in diesen beiden Familien gleichsam erblich gewesen ist, indem schon der Großvater und Vater unseres Herrn Probstes – – –

Notabene: Ich werde, wohllautenden Wechsels halber, den Herrn Oberdomprediger Henrici einmal Herr Probst und ein anderes Mal Herr Doktor tituliren, indem selbiger die letztere Würde, beiläufig schon seit vierzig Jahren, auf Grund eines Ehrendiploms der hohen Universität Wittenberg bekleidet. Ich meine aber die eines Doctor theologiae, wie weiland der große Martinus Luther; beileibe nicht philosophiae, die ja jeder bedeutungslose Scribent um ein Dudeldei von Gelehrsamkeit und sogar gegen Geldspesen zu erlangen vermag. Des Herrn Doctors Amtsbruder, der Jubelbräutigam, passirt umschichtig als Domprediger, oder Herr Magister.

Ich wollte also sagen, daß bereits der Großvater und Vater unseres Herrn Probstes desselbigen Stellung am Dome inne gehabt haben, wie auch daß bereits der Vater der Jubelbraut: Magister David Adami, in dem zeitweiligen Amte ihres Ehegatten fungirte; daß aber besagter Ehegatte hinwiederum dem alten Oberdomprediger und Probst Henrici, Vater des jezeitigen, als Substitut zur Seite gestanden, bis nach des Ersteren Verscheiden, der Letztere – –

Aber mich bedünkt, als ob ich mich bei Aufzeichnung dieser geistlichen Erbfolge einigermaßen in's Unklare zu verwickeln im Begriffe sei, und ziehe ich zu richtigem Verständniß daher vor, einfach und sachgemäß die Stammtafel unseres ehrwürdigen Domchronisten zu copiren,insoweit nämlich solche Stammtafel die beabsichtigte Darstellung berührt oder correcter ausgedrückt, von selbiger Darstellung berühret wird. Demzufolge:

A. Oberdomprediger und Pröbste am Dome zu †:

a) Dr. Renatus Henrici von 1760 bis 1805.

b) Dr. Renatus Henrici, des Obigen Sohn, von 1805 bis dato.

B. Domprediger, das heißt zweite Prediger, am Dome von †:

a) Magister David Adami, von 1770 bis 1800.

b) Magister Renatus Henrici, nachheriger Oberdomprediger und Probst; von 1800 bis 1805.

c) Magister Christian Borsdorf von 1805 bis dato.

Alle diese Umstände in Betracht gezogen, wird nun die Behauptung keineswegs ungereimt erscheinen, daß das Greisengeschlecht in der alten Probstei am Dom – – –

Notabene: Erst unter dem gegenwärtigen Regiment ist die Probstei in zwei getrennte Behausungen abgetheilt, der innere Zusammenhang vermauert, eine besondere Eingangsthür von der Straßenseite für eine jede von ihnen angelegt, auch der ursprünglich gemeinsame Hof und südlich nach der Niederstadt sich absenkende Garten durch eine mannshohe Mauer separirt worden.

Aber, beiläufig: ich werde mich dieser erläutern den Randbemerkungen, Parenthesen und Notabenen in Zukunft zu entrathen suchen, da sie den zierlichen Fluß der Rede doch bemerkbarlich stören. Bin ich nur erst über die unerläßliche Einleitung hinweg, so spüre ich zum Voraus, welch unhemmbarer Zug aus dem bewegten Gemüth in meine Feder strömen wird.

Was ich also sagen wollte, war, daß männiglich das Patriarchengeschlecht in der grauen Probstei am Dom, inclusive des bescheidenen Anhängsels in der Küsterei, als leibhaftig mit dem hehren Tempel verwachsen betrachtet ward; vergleichbar dem Epheu, der im Laufe der Jahrhunderte zum Baume erstarkt und unlöslich in seine Fugen eingerankt, seinen Lebenssaft aus dem feuchten Gemäuer saugt. Was ich fernerhin sagen wollte, war: daß das heutige Jubelfest nicht nur als eine seltene, erfreuliche Familienfeier, sondern wie eine wunderbar erbauliche Begebenheit zur Gloria unseres weitberühmten Domes von Stadt und Landschaft verhandelt und mitgefeiert ward. In sämmtlichen Corporationen hatten sich glückwünschende Sendungen, in allen Familien der Gemeinde Spenden der Liebe und Hochschätzung vorbereitet. Die Kränze und Kronen, zum Schmucke des Altarplatzes gewunden, hatten zwar eiligst beseitigt werden müssen, da der gottselige Eifer des Herrn Probstes dieselbigen als eine weltliche, ja heidnische Zierrath, welche bereits die erste Christenheit aus ihren Erbauungsstätten verbannt hat, bezeichnete: sie waren jedoch, die Kränze und Kronen nämlich, bei stiller Nacht in sinniger Anordnung vor der Probstei befestigt worden. Der Herr Domrector hatte eine Cantate gedichtet und der Herr Domcantor sie kunstvoll in Musik gesetzt, die Damen und Herren der Stadt, bis zum hohen Adel hinaus, betheiligten sich an ihrer Ausführung. Eine Deputation des geistlichen Consistoriums war aus der Provinzial-Hauptstadt eingetroffen; durch alle Thore zogen die Herren Amtsbrüder der Ephorie, in feierlichem Ornate, dem gemeinschaftlichen Sammelplatze in der Domaula zu; alle Leute trugen Sonntagskleider; aus allen Thüren strömte ein Würzeduft festlicher Kuchen und Braten, denn da war wohl kaum ein Haus, das nicht einen Gast aus der Umgegend beherbergte. Vom frühesten Morgen ab wogte auf dem Domplatze ein froherwartungsvolles Treiben, und netto zwei Stunden, bevor der Domvoigt das große Portal auf der Westseite öffnete, lauerte vor demselben die liebe Menschheit Kopf bei Kopf gleich einer Mauer, um im ersehnten Augenblicke auf die gelegensten Schau- und Hörplätze vorzudringen.

Ueber dieses Portal, das von Kennern als ein Musterwerk fälschlich »altdeutsch« benamseten Baustyles gepriesen wird, wie auch von dem Dom in seiner Gesammtheit muß befürwortet werden, daß lange vor dem heutigen Jubeltage der Zahn der Zeit bedenklich an ihnen zu nagen begonnen hatte. Seit Jahren war von einer gründlichen Renovation die Rede gewesen. An Mitteln fehlte es bei dem beträchtlichen Kirchenvermögen nicht.

Die städtischen Behörden wie das geistliche Consistorium der Provinz hatten das Unternehmen wiederholentlich in Anregung gebracht; ein hoher Landtag sich damit beschäftigt. Seine Majestät der König, auch im Kunstgebiet, wie männiglich bekannt, der Erste seines Reichs, hatte diese Restauration »eine Herzenssache« für Allerhöchstdieselben genannt. Weltberühmte Künstler vom Baufach waren entsendet, Gutachten, Pläne, Anschläge eingereicht worden, – dennoch aber die dringliche Angelegenheit seit einem vollen Jahrzehent schlechthin gescheitert, gescheitert an dem Widerspruche und Widerstande des gewaltigen Henrici, der, ich weiß mich nicht faßlicher auszudrücken, in seinem Regimente ein Autokrat war und den Dom gleichsam als ein seiner Treue anvertrautes Dominium betrachtete.

Herstellung der Baufälligkeiten genehmigte, ja heischte, jedwede Neuerung verweigerte er. Jedweder neue Stein sollte genau in die alte Fuge passen, jedweder Schnörkel, jedwedes Ornament genau nach dem alten Muster gemeißelt, kein Chorstuhl verrückt, kein Nebenaltar beseitigt werden. Nicht eine der Privatkapellen auf und unter den Emporen durfte fallen, noch viel weniger diese Emporen selber. Die kleinen Betkäfige und Andachtslauben, die sich trennend zwischen der vorderen Tauf- und mittleren Predigtkirche eingenistet hatten, galten, als Denkmale protestantischer Versenkung, ihm höchlichst erhaltenswerth; – eher aber würde der außerordentliche Mann sein Regiment, ja sein Leben geopfert haben, als die durchbrochene Steinwand, – obschon mahnend an die katholische Vorzeit, – die gleich einem kunstvoll gewebten Vorhang, das Heilige von dem Allerheiligsten scheidet. Alles sollte erhalten oder wiederhergestellt werden, wie es gewesen oder geworden war. »Zuthaten, nicht Zerstörungen!« herrschte der Probst. Man munkelte von gar eifermüthigen Auftritten zwischen Kunstjüngern und Behörden einerseits und dem Domrepräsentanten andrerseits; man wußte von hemmenden Gewalteingriffen, die zuverlässig keinem Anderen als diesem allerhöchstbegünstigten Greise zu Gute gehalten worden wären, bis dann schließlich ein königlicher Cabinetsbefehl die heikle Angelegenheit vorderhand in den Ruhestand versetzte.

Lieber Himmel! Wir kleinen Leute sehen und hören gewisse Dinge in einem weit schärferen Lichte als die Hauptpersonen, vor welchen bemäntelnd hinter dem Berge gehalten wird. Mir, dem Küster, ist die Allerhöchste Absicht so wenig wie die allgemeine Ansicht von der Sache entgangen: der Aufschub erfolgte nicht als Bewilligung, sondern aus Schonung für unseren alten Herrn.«

Wie lange konnte er es denn noch treiben in seinem Regiment? Der Bau erforderte Jahre. Sollte man den Greis per fas et nefas aus seinem urväterlichen Heiligthum in ein bescheidenes Interimskirchlein der Vorstadt verweisen? Ihn wohl gar aus der Probstei vertreiben, in welcher seine und seiner Ahnen Wiege gestanden hatte, und welche nach dem in der Stille von Oben her angenommenen Plane sammt der anklebenden Umgebung, – auch der Küsterei! – der Erde gleich gemacht werden mußte, um dem Gotteshause eine freie Anschau und Umschau zu gewähren? Nein. Wir Alten sollten von der Bühne erst abtreten, bevor das Neue in's Leben gerufen ward.

Aber wir Alten treten ab, weit, weit später als man vorausgesehen. In dem feuchtkalten, selten durch einen Sonnenstrahl erquickten Dunstkreise unseres Gottesschreines umfängt uns eine wunderbarliche Lebensluft, die uns ein Geschlecht nach dem anderen überdauern läßt. Die heimliche Erwartung, daß der Probst, nachdem er schon vor Jahren sein fünfzigjähriges Amtsjubiläum gefeiert, sich freiwillig in den Ruhestand begeben werde, ward zu Schanden: der eiserne Greis dachte nicht daran, seinen Posten zu verlassen,. ehe Gott ihn rief. Unermüdet forscht er vom Morgen bis zur Nacht in seiner Zelle; ungebeugt steht er jeden Festtag auf der Kanzel. Nicht auf eine Stunde überläßt er, selber zu Händen seines Amtsbruders, des Herrn Magisters, die Schlüssel der Kleinodienkammer in seinem Heiligthum und mancher Fremdling hat in den letzten Jahren, da die Eisenbahn einen lebhaften Verkehr für unsere Stadt hervorgerufen, der alte Herr aber haushälterischer mit seiner Zeit und Kraft geworden ist und seine Führerschaft nur noch, als einen Art gnädiger Herablassung, absonderlich hohen und gelehrten Häuptern zu Gute kommen läßt, mancher Fremdling, sage ich, hat vor der geschlossenen Reliquienkapelle unseres Domes abziehen müssen, ohne die kostbaren Meßgewänder, die kunstvollen Altargefäße und andere Raritäten aus alter, allein kirchlicher Zeit in Augenschein genommen zu haben. Insonderheit aber ist mancher vergebliche Seufzer gefallen um den Anblick der seltsamen Rose von Jericho, die ein Kreuzritter aus dem heiligen Lande zu uns gebracht haben soll und die in geographischen Handbüchern als die höchste Merkwürdigkeit, ja geradezu als das Wahrzeichen unserer Domstadt aufgeführt wird, wiewohl sie dem Auge doch nur als ein vertrocknetes Möslein erscheint, an dem noch nicht einmal ein Mensch die Probe gemacht, ob es, mit Wasser besprengt, in Wahrheit zu einem frischen Gewächse in die Höhe quillt, oder gar zu einer farbigen Blume erblüht.

Es würde für den dereinstigen Leser dieser Historie vielleicht nicht ohne Interesse sein, an dieser Stelle eine Schilderung der Seltsam- und Kostbarkeiten aus dem Kronschatze unseres Oberhirten eingeschaltet zu finden. Aber ein unredliches Geschäft für den Schreiber würde solche Einschaltung sein, da jener gelehrte und gründliche Forscher längst schon auch das geringfügigste Stücklein in seiner Domchronik niedergelegt hat und aus dem Grabe heraus seinen demüthigen Handlanger und Diener eines geistlichen Diebstahls bezüchtigen könnte. Das sei ferne von mir! Hat gegenwärtiges Scriptum doch wesentlich auch Nichts mit dem Dome als solchem zu schaffen, nur mit seinen In- und Beisassen am Tage der heutigen Jubelfeier. Ja, sammle ich im Grunde doch nur das Material zu einem erbaulichen Lebensbilde für eine würdigere Hand, wenn eines Tages die meine in Staub zerfallen wird, und verzeichne ich doch nur sonder Kunst und Studium die Umstände, welche dieser Jubelfeier erst ihre wahre Bedeutung gegeben haben; Umstände, die in meiner vertraulichen Stellung mir ganz allein zu Auge und Ohr gekommen sind und die in der Henrici'schen Chronik dereinst nicht nachzulesen sein werden.

Nach musterwürdiger Historienschreiber-Sitte beginne ich demzufolge mit dem Allgemeinsten: will sagen mit Himmel und Wetter, die sich der jubilierenden Menschheit zu einer Festgenossenschaft verbündet hatten.

Denn nachdem ein kühler, regnerischer Maimonat in der That weniger Wonne verbreitet hatte, als gemäß der alten guten Bauernregel Segen für Scheuer und Faß in Aussicht stellte, lagerte sich heute, am ersten Junius, ein wolkenloses Blau über die erquickte Erde, blinkte die liebe Sonne warm und goldig hernieder und hatte das Gebirge über Nacht all' die grauen, dicken Nebelkappen abgeworfen, in die es sich seit Wochen gehüllt. Deutlich, wie mit dem Griffel gezeichnet, begrenzten seine Felsspitzen und Waldrücken den westlichen Horizont.

»Wie diese Heiterkeit gleich beim Erwachen das theuere Hochzeitspaar ergötzen wird!« sagte ich zu mir selber, nachdem ich gerührten Herzens im ersten Dämmerungsschimmer mein Morgendanklied gesungen hatte.

Denn der Magister Borsdorf war ein Freund und so zu sagen Liebhaber der sichtbarlichen Natur. Sein erster Blick galt den Morgen- und sein letzter den Abendsternen; Wind und Wolken wußte er zu berechnen wie ein Schäfer oder Jägersmann; so lange seine anjetzo leider schwach werdenden Füße ihn trugen, schweifte er mit Botanisirtrommel und Schmetterlingsscheere in Wald und Flur umher. Daheim aber wartet er in Schachteln und Gläsern des gesammelten Gewürms, wartete des Bienenhauses in seinem Garten mit der Sorgfalt eines Familienvaters. Seine Insectensammlung wurde von Kennern als eine Sehenswürdigkeit gepriesen, in ihrer Art kaum geringer als selber die Kleinodienkammer unseres Doms; seines Aurikelflors im Lenz, der Pracht seiner wiederholt bis in den Herbst hinein blühenden Rosen würden sich herrschaftliche Anlagen nicht zu schämen haben. Mit offenem Auge sucht, findet und unterscheidet er das unscheinbarste Gebilde, mit gedeihlicher Hand pflanzt, pflegt, fördert, veredelt er den schwächsten Keim und wer, wie ich in jüngeren Jahren, ihn auf einer sommerlichen Wanderung durch das Gebirge begleitet hat, der darf sagen, daß er gleichzeitig Lust und Belehrung eines Reisenden gekostet.

Wie aber der himmlische Vater Sinn und Trieb der Menschen verschiedentlich geschärft, wie er sie gerichtet hat, daß Rücken an Rücken gelehnt, dem Einen die sichtbare, dem Anderen die unsichtbare Natur zur Offenbarung wird, davon hatte man, wie an keinem Zweiten, an des Magisters Amtsbruder und Nachbar ein lehrreiches Exempel.

Seitdem Renatus Henrici den Oberposten am Dome angetreten, hatte er das Weichbild unserer Stadt keinen Fuß breit überschritten; der Gottesacker der Gemeinde, der in sein Amtsbereich gehört, war seine äußerste Grenze. Ja, in der langen Zeit, wo kaum einer seiner Schritte mir verborgen geblieben ist, habe ich ihn nur ein einziges Mal sich, was man so lustwandeln nennt, außerhalb seines Gartens bewegen sehen. Das geschah aber in jenem Frühling, fünfzig Jahre vor dem heutigen, da er just in die Oberdomwürde ausgerückt war und die liebliche Magdalene Adami, die Mündel und Pflegetochter seines weiland Herrn Vaters, als arme Domwaise, neben seiner Schwester Deborah, unter seinem Dache und Schutze verweilte.

Ach, damals lag freilich die Zukunft weit reicher, als sie sich nach Gottes unerforschlichem Rathschlusse gestaltet hat, vor meinen hoffnungstrunkenen Blicken. Die vier Domkinder, Christian Borsdorf (sein Vater war Rector der Domschule) und Deborah Henrici, Renatus Henrici und Magdalene Adami versprachen, zwei Paare am Dome zu werden; die geistliche Erbfolge schien in doppelter Weise und in den kräftigsten Geschlechtern gesichert. So vor fünfzig Jahren. Und heute? Renatus und Deborah Henrici sind ledigen Standes und solchergestalt ohne Leibeserben verblieben; dem Christian Borsdorf und seiner Ehegattin Magdalene Adami sind von einer zahlreichen Nachkommenschaft nur zwei Großkinder erhalten worden: von einem Sohne eine Tochter, Deborah Borsdorf, und von einer Tochter ein Sohn, Renatus Friedheim; Beide als Augen- und Herzenstrost ihrer alten Tage, in ihrem Hause lebend; die Enkelin, eine holdselige Jungfrau, just so alt als ihre Großmutter heute vor fünfzig Jahren, nämlich achtzehn; der Enkel, als Substitut seines Großvaters, wie dieser damals bei dem weiland Oberdomprediger Henrici. So heute!

Und gesetzt den denkbar glücklichsten Fall, daß der königliche Patron unseres Doms keinen Anderen als den Friedheim zum Nachfolger seines Großvaters, eventualiter auch noch aus einen höheren Posten, – berufen sollte, ein Fall, der – man berechne die Schaaren älterer Bewerber bei solcher Aussicht! – der also gar nicht in Betracht kommen dürfte, ohne die Verwendung des einflußreichen Henrici zu Gunsten des Erbherkommens und der löblichen Eigenschaften des jungen Candidaten, – gesetzt also diesen glücklichen, aber, ach! nur allzu unwahrscheinlichen Fall, so hieß er Friedheim, nicht Henrici, nicht einmal Borsdorf; die alten Namen, die alten Erinnerungen löschen aus; alles wird anders; auch gut, will's Gott! besser in manchen Stücken vielleicht; aber anders, unergründlich anders und dieses Anders thut einem achtzigjährigen Herzen weh.

Endlich aber ich selber, Zebedäus Gutedel, der ich in der Jugend meine Freiheit aufgegeben und die Leibeigenschaft des Ehestandes auf mich geladen hatte, nicht ohne zärtliche Neigung, es ist wahr, aber zum Ersten doch in der Hoffnung, dem Dome einen Erbküster zu erzielen, auch ich fahre in die Grube. – Aber wohin schweift mein Geist! Ach, die Folgerichtigkeit ist eine schwere Kunst, wenn eine Idee, sozusagen eine Hauptidee, unablässig in unserem Hirn und Herzen wühlt! Da bin ich schon wieder bei dem A und O meiner schlaflosen Nächte und sollte doch eigentlich bei jenem hoffnungsvollen Frühlingstage sein, an welchem ich Renatus Henrici mit einem Strauße gelber Butterblumen aus dem Poetengange hinter unserer Kuhwiese zurückkehren sah.

Aber diese Maienanwandlung war entschwunden, flüchtig wie sie aufgestiegen; Renatus Henrici, damals schon ein allzu tiefsinniger Gelehrter, ein viel zu weit schallender Redner und Schriftsteller, gleichsam ein protestantischer Kirchenvater geworden, um sich auf die Dauer eine weichherzige Stimmung für die vergängliche Natur zu gestatten. Hatte er nicht Bücher und Handschriften? hatte er nicht Amt und Regiment, hatte er nicht seinen Dom? Alles das für den forschenden Geist! für das Leibliche aber, zur wohlthätigen Erschütterung von Lunge und Zwerchfell, – wennschon er bei seinem gesegneten Appetit und bis zur Stunde ungestörten Kreislauf sämmtlicher Körperfunctionen dieser Nachhülfe kaum zu bedürfen schien, – hatte er da nicht seinen Garten? Konnte er nicht, – und that er es nicht regelmäßig bei Wind und Wetter, in Regen und Schnee, – konnte er nicht jeden Nachmittag in der Zeit, wo das Sonnenlicht schwach und das Lampenlicht blendend wird, fünfunddreißig Minuten nach der Uhr in dem alten Ulmengange auf- und niederspazieren und seinen Gedanken dabei Audienz geben, ohne von einem fremden Menschengesicht, oder gar einem schwatzhaften Mundwerk gestört zu werden? Schützte ihn nicht die mannshohe Mauer vor der Begegnung der Nachbarfamilie und das dichte Gestrüpp selber vor deren belästigenden Blicken? Hätte ein anderer Mensch außer seiner Schwester Deborah die pflichtschuldige Rücksicht gezeigt, gleichsam als ein Schatten, oder Schutzengel, in tiefem Schweigen, zehn Schritt hinter ihm drein zu wandeln?

Was aber den Horizont betrifft, Wolken, Sonne, Mond und Sterne, welche die hohen Bäume des Gartens verdeckten: kannte dieser Forscher in Gott nicht einen weiteren Himmel und eine höhere Unendlichkeit als die, welche schwache, wenn auch mitunter recht fromme Menschenkinder hinter derlei Luftgebilden und leuchtenden Himmelskörpern erträumen? »Alles Vergängliche ist nur Schein und Widerschein,« sagte Renatus Henrici, und Renatus Henrici, der sein ganzes Wesen in das Sein versenkte, hätte der nach einem Widerschein fragen sollen?

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