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Im Renthendorfer Pfarrhaus

»Alfred, nun hole uns doch auch noch den Kasten mit den gelben Bachstelzen her! Die muß der Herr Baron sich unbedingt noch recht genau ansehen, denn gerade mit diesen Vögeln wird er sicherlich am Nil vielfach zusammentreffen.«

Der so sprach, war seit dem Kriegsjahre 1813 wohlbestallter Pfarrherr in dem ostthüringischen Dörfchen Renthendorf: Christian Ludwig Brehm (1787-1864), eine hohe Gestalt mit verwitterten Gesichtszügen, etwas zu lang und dick geratener Nase. Scharf, aber unendlich gutmütig blickten die Augen. Das schwarzsamtene Hauskäppchen, das er immer trug, verlieh ihm etwas Patriarchalisches. Sein wesentlich jüngerer Besucher war der schwäbische Baron Joh. Wilh. Müller, der sich bereits durch eine Afrikareise in der wissenschaftlichen Welt einen guten Namen verschafft hatte und nun wieder nach dem schwarzen Erdteil gehen und dabei der Vogelwelt besondere Aufmerksamkeit schenken wollte. Bei wem aber hätte er sich dazu über vogelkundliche Fragen bessere Auskunft holen können als bei dem »alten Brehm«, wie der Renthendorfer Pfarrherr schon damals allgemein hieß, war dieser doch neben Joh. Friedr. Naumann der bedeutendste Vogelforscher seiner Zeit und deshalb das weltentlegene thüringische Pfarrhaus ein wahres Mekka der Ornithologen, das fast niemals von Gästen leer wurde. Die große und nach ganz neuartigen Gesichtspunkten angelegte Vogelbalgsammlung des Hausherrn gab dann stets unerschöpflichen Stoff zu gelehrten Untersuchungen, endlosen Gesprächen und oft hitzigem Austausch der verschiedensten Ansichten.

Alfred, der sich seit seiner Konfirmation (1843) im nahen Altenburg der Architektenlaufbahn widmete, war damals im zeitigen Frühjahr 1847 ein kaum 18jähriger Jüngling, prächtig gewachsen, mit hellen Augen und gesund gebräunten Gesichtszügen. Als wissenschaftlicher Gehilfe des vogelkundigen Vaters wußte er in der Sammlung natürlich gründlich Bescheid. So sehr sie auch in den beschränkten Räumlichkeiten verkramt und verzettelt war, hatte er doch alsbald mit sicherem Griff den Kasten mit den Viehstelzen herausgefunden, brachte ihn angeschleppt und stellte ihn auf den Tisch, erst andere, dort schon ausgebreitete Vogelbälge beiseite schiebend. In langen Reihen lagen die schlanken, spitzköpfigen und langschwänzigen, auf der Bauchseite leuchtend gelb gefärbten Vögel da. »Nun sehen sie doch einmal, Herr Baron, diese gewaltigen Verschiedenheiten«, ergriff mit dröhnender Stimme der Hausherr eifrig das Wort. »Wer nicht ganz mit Blindheit geschlagen ist, muß sie doch auf den ersten Blick sehen, und ich begreife nicht, daß es immer noch Ornithologen gibt, die diese Unterschiede ganz leugnen oder sie nur für solche nach Geschlecht und Jahreszeiten halten. Darum handelt es sich aber keineswegs, sondern um abweichende geographische Formen, also um das, was ich ›Subspezies‹ nenne, hier sehen Sie z. B. eine ganze Reihe Schafstelzen, die im Gegensatz zu den anderen eine weiße Kehle haben. Das sind Südeuropäer; ich bekam sie aus Italien. Die nächste Reihe hat nicht, wie gewöhnlich, aschgraue Ohrdecken, sondern schieferschwarze. Sie sind zwar in Deutschland erlegt, aber trotzdem auf gar keinen Fall deutsche Brutvögel, sondern Nordländer, die uns nur auf dem Durchzuge besuchen, sehen Sie nur einmal die Begleitzettel näher an. Immer werden Sie finden, daß das Erlegungsdatum mit der Zugzeit dieser schönen Vögel zusammenfällt. Und dann drehen sie die Bälge einmal um und achten Sie auf das Vorhandensein oder Fehlen des Augenbrauenstreifens oder auf die ganz verschiedene Färbung des Oberkopfes.« -- »Hier haben wir«, wagte Alfred einzuwerfen, »sogar einige Stücke mit glänzend schwarzem Oberkopf, die wir neulich durch Professor Naumann von den anhaltinischen Besitzungen in Südrußland erhalten haben.«

Interessiert vertiefte sich der Gast in die nähere Betrachtung der sauber hergerichteten und mit peinlichster Genauigkeit etikettierten Bälge. »In der Tat«, meinte er dann, »sind die Unterschiede zwischen den Viehstelzen verschiedener Herkunft viel größer und auffälliger, als ich sie mir nach den bloßen Beschreibungen gedacht habe.« -- »Also achten Sie unbedingt in den Nilländern ja recht genau gerade auf diese Vogelgruppe«, rief der Hausherr. »Ich möchte wetten, daß dort im Winter auch alle möglichen östlichen Formen vorkommen. An ihrem Federkleid können Sie dann ganz genau feststellen, wo die einzelnen Stücke ihre Brutheimat haben. Bedenken Sie doch nur, welch ungeahntes Licht dadurch auf das große Rätsel des Vogelzuges fallen würde!« -- »Gewiß, Herr Pastor, sie haben sicherlich vollkommen recht, und ich würde herzlich gerne Ihrem Rate folgen. Als verantwortlicher Expeditionsleiter ist man aber nach nur allzuviel Richtungen hin in Anspruch genommen und darf sich nicht zu sehr zersplittern. Auch gestehe ich offen, daß mich als leidenschaftlichen Weidmann die Jagd auf afrikanisches Großwild natürlich doch mehr reizt als die auf kleine Singvögel. Es fehlt auch oft an Zeit und Muße zum Präparieren, zumal in der Gluthitze der Nilländer die erlegten Vögel sehr rasch in Verwesung übergehen. Aus allen diesen Gründen sollte ich noch einen Reisegefährten mithaben, einen tüchtigen jungen Ornithologen, der körperlich den Anstrengungen einer solchen Reise gewachsen ist und geistig hoch genug steht, um mir nicht nur Reisegefährte, sondern auch Freund zu sein. Es wird ja nicht leicht sein, den richtigen Mann zu finden, aber vielleicht könnten Sie mir bei Ihren ausgedehnten Verbindungen zu einer wirklich geeigneten Persönlichkeit verhelfen.« Der Blick des Barons streifte in diesem Augenblick lauernd und prüfend die sehnige, kraftvolle Gestalt des jungen Brehm, aber der Vater schien es nicht zu bemerken. »Ich werde über die Sache nachdenken«, meinte er kurz und kam dann gleich wieder auf seine geliebten Vogelbälge zurück.

siehe Bildunterschrift

Christian Ludwig Brehm (1787--1864), der Vater des Tierforschers, Pfarrer in Renthendorf.
Nach einem alten Holzschnitt

Schon mehrmals war Thekla, die blühend schöne Tochter des Hauses, in der Türe erschienen und hatte dringend zum Essen gebeten, aber ihr Vater meinte nur unwirsch, essen könne der Baron daheim im schönen Land der »Spätzleschwaben« genug, hier bei ihm aber müsse er alle verfügbare Zeit der Vogelkunde widmen. Endlich ließ er sich doch bewegen, auch das leibliche Wohl seines Gastes zu berücksichtigen. Bei Tisch erzählte der Baron viel und anschaulich von seiner großen Afrikareise. Mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen trank ihm Alfred sozusagen jedes Wort von den Lippen, seine lebhafte Einbildungskraft schaute mit durstigen Augen die öden Wüsten und die weiten Steppen, die vogelreichen Urwälder und die fieberschwangeren Sümpfe des schwarzen Erdteils, spiegelte ihm in leuchtenden Farben ein freies Forscher- und Jägerleben vor. Er mußte sich gleich nach der Mahlzeit verabschieden, um in achtstündigem Fußmarsch Altenburg zu erreichen, wo er bei einer Baufirma untergebracht war und am nächsten Morgen wieder zur Arbeit zu erscheinen hatte. »O Vater,« flüsterte er diesem beim Abschied zu, »wenn doch der Baron mich mitnehmen wollte! Ich ginge, gleich und wäre der glücklichste Mensch unter der Sonne.«

»Also acht Stunden hat Ihr Alfred zu laufen und muß doch morgen früh im Büro frisch sein,« begann der Baron, als er mit dem alten Brehm wieder bei den Vogelbälgen saß, »wirklich eine tüchtige Leistung!« -- »Oh, das macht dem Jungen nichts aus,« erwiderte der Pfarrer, »daran ist er gewöhnt. Ich habe meine Kinder frank und frei aufwachsen und sie sich tüchtig in unseren schönen Wäldern tummeln lassen. Dadurch sind sie kerngesund geblieben und frühzeitig abgehärtet worden. Namentlich Alfred war schon von Kindesbeinen an mein unzertrennlicher Begleiter auf tagelangen ornithologischen Ausflügen, auf denen es wenig zu beißen und viel zu laufen gab. Wie glücklich war er, wenn er nur meine Jagdtasche tragen durfte, und nie werde ich die selige Freude vergessen, die er empfand, als ich ihm zu seinem 8. Geburtstage eine kleine Vogelflinte schenkte. Er hat sich bald zu einem treffsicheren Schützen ausgebildet, und meine Sammlung verdankt ihm manches schöne, wertvolle Stück.« -- »Ich war höchst erstaunt«, fügte der Baron ein, »über die verblüffende Fachkenntnis eines so jungen, kaum dem Knabenalter entwachsenen Mannes.« »Ja, er ist mein ganzer Stolz,« sagte der Pfarrer einfach, »und ich glaube selbst, daß das Zeug zu einem tüchtigen Naturforscher in ihm steckt. Alle in unserer Gegend vorkommenden Vögel kennt er heute schon nach Erscheinung, Aufenthalt und Lebensgewohnheiten ebenso gut wie ich selbst; kein Vogelnest entgeht seinem scharfen Auge, kein Lockton seinem wunderbar geschulten Ohr.« -- »Aber, Herr Pfarrer, das ist ja gerade der Mann, den ich für meine neue Reise so sehr suche und brauche! Geben sie mir Ihren Alfred mit, und ich will ihn halten wie meinen eigenen Bruder!« -- »Na, der Alfred selber wäre wohl gerne damit einverstanden; er hat schon vorhin so etwas verlauten lassen, denn sie haben ihm mit Ihren afrikanischen Reiseschilderungen den Mund gehörig wässerig gemacht. Ich wette, er träumt morgen schon über seinem Reißbrett von den wildesten afrikanischen Jagdabenteuern und zerbricht sich den Kopf darüber, welche Vogelarten wohl an dem großen Märchenstrome Nil vorkommen könnten.« »Aber, Herr Baron, im Ernste gesprochen, der Bursche ist doch für ein solches Unternehmen noch gar zu jung, denn er hat ja erst vor wenigen Wochen sein 17. Lebensjahr vollendet. Außerdem würde er durch eine solche Reise doch gar zu sehr aus seiner beruflichen Laufbahn herausgerissen werden und womöglich gar den Geschmack an ihr verlieren. Es ist ja jammerschade, daß ich ihn nicht zum Studium der Naturwissenschaften nach Jena schicken konnte. Aber dort studiert schon mein älterer Sohn Reinhold Medizin, und für zwei studierende Söhne reicht das knappe Einkommen eines simplen Dorfgeistlichen nun einmal nicht aus.« So mußte ich eben Alfred beim Baufach unterbringen, damit er früher ins Brot kommt.«-- »Aber der Bursche ist ja doch der geborene Naturforscher und wird sich deshalb auch nur als Naturforscher wahrhaft glücklich fühlen. Also lassen sie ihn ruhig mit mir nach Afrika gehen! Nach der Heimkehr wird man dann schon sehen, nach welcher Richtung sein Lebensschifflein weiter steuern wird. Ich meine, es kann doch wohl keinem jungen Manne etwas schaden, wenn er sich den Wind tüchtig um die Nase wehen läßt und ein gutes Stück von der Welt zu sehen bekommt, noch ehe er sich für einen bestimmten Beruf entscheidet. Er ist ja auch weit über seine Jahre gereift, würde also nicht wie ein dummer Junge ins schwärzeste Afrika hineintappen, sondern von vornherein nach einem ganz bestimmten wissenschaftlichen Plane arbeiten.« -- »Das würde er allerdings sicherlich, und ich glaube, auch in jeder anderen Beziehung könnten Sie sich voll und ganz auf meinen Alfred verlassen. Aber was würde meine Frau zu der Sache sagen? Es würde ihr doch ungeheuer schwer fallen, ihren Liebling in so weiter Ferne einem Ungewissen Schicksale und tausenderlei Gefahren preisgegeben zu wissen.« »Nun, Herr Pfarrer, mir stehen alle in Gottes Hand, und überflüssige Gefahren will ich nicht aufsuchen. Das verspreche ich Ihnen. Die größte und unvermeidlichste Gefahr im Sudan ist wohl das klimatische Fieber, aber gerade ein so jugendfrischer Körper wie der Ihres Sohnes wird ihm am ehesten gewachsen sein. Und dann bedenken Sie den großartigen und wissenschaftlich unendlich wertvollen Zuwachs, den Sie durch Alfreds Mitkommen für Ihre Sammlungen zu erwarten hätten.«

Damit hatte der Baron den schwachen Punkt des alten Brehm getroffen, denn über seine Vogelbalgsammlung ging ihm nichts. »Das ist allerdings wahr,« rief er ganz begeistert aus, »denn keiner weiß mit solchem Verständnis für mich zu sammeln, keiner kennt so genau das Material und die Grundlagen, die mir für meine wissenschaftlichen Arbeiten nötig sind, wie mein Alfred. Ich sammle ja nicht blindlings drauf los und suche nicht aus bloßer Raffgier Tausende von Vogelbälgen zu ergattern, sondern ich will von jeder paläarktischen Vogelart sämtliche Federkleider zusammenbringen, die ja oft nach Geschlecht, Alter und Jahreszeit sehr verschieden sind und überdies Stücke oder womöglich gepaarte Pärchen aus den verschiedensten Ländern ihres Verbreitungsgebietes, um so über die geographische Abänderung der Art Klarheit zu gewinnen. Die Art ist ja nicht ein so festumrissener und starrer Begriff, wie der große Linné glaubte. Ich weiß, daß viele Zeitgenossen mich wegen meiner vielen Subspezies auslachen, aber ich weiß auch, daß später einmal eine Zeit kommt, die mir Recht geben wird.«

Ein Wort gab das andere. Die Dämmerung senkte sich hernieder. Und in dieser Stunde wurde über die Lebensbahn Alfred Edmund Brehms entschieden. Die nächsten Wochen verstrichen unter allerlei Reisevorbereitungen. Am 6. Juli 1847 trat Baron Müller von Triest aus mit seinem jungen Gefährten hoffnungsfroh die Ausreise an. Damit begann für Alfred Brehm ein neuer und wohl der abenteuerlichste Abschnitt seines Lebens. Der Abschied von Renthendorf, von Eltern und Geschwistern mag dem Jüngling schwer genug geworden sein, und der Vater hätte seine Erlaubnis sicher noch zurückgezogen, wenn er hätte ahnen können, daß der schwarze Erdteil seinen Liebling unter unsäglichen Strapazen und Entbehrungen fünf volle Jahre zurückhalten und überdies noch das Leben eines zweiten Sohnes fordern würde.

So war der alte Brehm, von dem später der Sohn schrieb: »Das Studium der Natur war ihm Gottesdienst.« Bei einem Besuche Renthendorfs im Sommer 1908 konnte ich mich mit Freude überzeugen, mit welcher Liebe und Verehrung noch heute die Leute von ihrem unvergeßlichen »Vogelpastor« sprechen, wie sie ihn mit gutmütigem Spotte nannten. Man darf nicht etwa glauben, daß Christian Ludwig Brehm über seiner leidenschaftlichen Hingabe an die Wissenschaft der Vogelkunde sein Pfarramt vernachlässigte. Er war vielmehr ein ausgezeichneter und allzeit opferwilliger Seelsorger; die Bauern waren deshalb mit ihrem »Vogelpastor« baß zufrieden, sahen ihm mancherlei Schrullen und Eigentümlichkeiten gerne nach und überbrachten ihm für seine Sammlung alle Vögel, die ihnen der Zufall in die Hände spielte, soweit sie sich nicht etwa -- essen ließen. Der alte Brehm gehörte nicht zu denen, die ihr Christentum stets auf den Lippen tragen, aber er wußte mit seinen Bauern ein gar kräftig und erbaulich Wörtlein zu reden, ganz ihrer einfachen Denkweise sich anpassend und seine christliche Nächstenliebe mehr durch rasche Taten als durch lange Predigten bekundend. Deshalb mochten sie ihn auch alle so gern, den Mann mit dem durchdringenden Scharfblick, der offenen Hand und dem gütigen Herzen, ihn, der seine Gemeinde ein halbes Jahrhundert hindurch getreulich behütet, ihn, der zwei Geschlechterfolgen von ihnen getauft, konfirmiert, getraut und zu Grabe geleitet hatte, ihn, der sie mit ihren kleinen Nöten und Sorgen ebenso genau kannte wie die eigenen Kinder, ihn, der auch nie müde wurde, ihnen die wundersame Herrlichkeit der Natur zu verkündigen, was dem Vater Liebhaberei und Ablenkung bedeutete, wurde -- ins Große geweitet -- dem Sohne Alfred zum Beruf. Ein Bahnbrecher auf dem Wege zur Tierseele, ein Vorkämpfer der Wissenschaft, der ihr neue Wege wies und das vom Trümmergestein der Systematik verrammelte Tor zur Biologie mit starker Hand öffnete, der die Kunde vom Tierleben uns erschloß -- das war Alfred Brehm.


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