Heinrich Federer
Regina Lob
Heinrich Federer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ich ging hinunter und erbot mich, bei Theodor zu wachen. Aber Regina meinte, es sei kurzweiliger, wenn wir beide einander das übrige Fetzlein Nacht wachhielten. »Komm herüber,« sagte sie, »in die Stube; wir lassen die Türe offen! Sitz' du da in den Lehnstuhl, so!« Sie machte es sich auf dem Sofa bequem und fuhr leise fort: »Ihr habt es doch gut in der Stadt. Es gibt keine Krankheit, gegen die ihr nicht Apparate und neue Erfindungen habt. Aber zu uns kommt so was noch lange nicht. Unser Doktor ist nicht schuld daran. Die Leute selber wollen nichts Neues. Die alten, großen Mixturen, die den Großvätern zum Leben und Sterben geholfen haben, müssen auch heute das Richtigste sein. Aber du mußt nun alles dalassen und mir genau sagen, wie man es mit dem Spritzlein macht. Nicht wahr?«

»Ich zeig' es dir gern; sorgsam bist du ja, und es kommt auch auf ein hundertstel Gramm an.«

»Ja?« machte sie erstaunt. »Ich werde schon aufpassen. Wie das geholfen hat, Herrgott!«

Ich nahm also das Spritzlein, erklärte ihr das Maßwerk und Einstellen und Funktionieren. Sie sah, nickte und hatte es mit ihren schönen, tiefen Augen gleich begriffen. Immer hatte ich sie für ein praktisches, doch sonst einfältiges Dirnlein angesehen. Aber nun wunderte ich mich, wie flink sie die verzwickte Einrichtung erfaßt hatte.

Aus der Nebenkammer drang der laute, zufriedene Atem des Hausherrn. Regelmäßig wie das Ticktack der Uhr ging er. Hie und da horchten wir darauf. Dann ward es wieder still. Aber Regina ertrug dieses Schweigen nicht. Gleich begann sie wieder etwas zu reden. Dabei sah sie mich an, überhastete sich, machte viele unnötige Worte und erinnerte mich in ihrer Unrast an eine Henne, die mit unendlichem Geflügel und Geflatter sich über das Ei spreizt, es zuzudecken. Auch Regina versteckte mit ihrem Schwall einen einzigen Gedanken. Das merkte ich wohl. Sie fühlte, daß sie mir unrecht getan hatte mit ihrer Eifersucht; sie schämte sich vor meiner Wohltat, und sie wußte doch, daß sie nicht anders als immer wieder das gleiche Unrecht tun könne. Und sie wollte das sich und mir geheim halten. »Erzähle etwas,« sprach sie zuletzt; »du hast uns ja in alten Zeiten immer gern Geschichten erzählt, und erlebt hast du nun wohl auch manche.«

Da begann ich vom Liebespärchen in der Bahn zu reden und machte das Drollige der Leutchen womöglich noch drolliger. Aber Regina verzog ihr Bronzegesicht zu keinem Lächeln. Diese törichten zwei Käuze gingen an ihr wie Wind vorbei. Das ging sie nichts an.

»Weißt du, Regina, was ich da gedacht habe?«

Sie sah mich verdächtig an und schüttelte den Kopf.

»Ich hatte fast den Mut verloren, zu euch herauf zu kommen; denn ich kannte dich zu gut . . .« Fest blickte ich der Frau ins Antlitz. »Ich zweifelte, ob es zu einer Versöhnung käme. Aber als ich nun die Flatterleutchen sah, dachte ich: Ja, wenn Regina und Theodor solche Fliegen wären, dann hätte es keinen Sinn, sich weiter um solche Laffen zu kümmern. Aber die sind anders. Die haben Ernst. Ihre Liebe ist nicht Zucker, sie ist Eisen. Und derlei Menschen sind es hundertmal wert, daß man um sie sogar ein bißchen herumrutscht, bis sie gnädig tun . . .«

Sie lächelte verlegen und schwieg. Auch mir erlosch die Rede. Es ward furchtbar ruhig. Ein Fenster stand offen. Da sah auch nichts als eine große Stille herein. Das wurde uns unerträglich. Wir suchten einander mit den Augen und wichen, sowie wir uns begegneten, verwirrt in eine dunkle Ecke. Aber auch dort war uns nicht wohl. Dann strichen und zupften wir an unserm Gewand und sannen dabei, was wohl zu plaudern wäre. Es widerte uns an, etwas Alltägliches in so seltener Stunde zu reden. Aber etwas Wichtiges zu sagen, schien uns gefahrvoll. Denn das mußte ja gleich in unsere innersten Zwistigkeiten gehen. Endlich fand Regina einen Ausweg.

»Weißt du nur Spaß zu kramen?« tadelte sie beinahe. »Von dir hörte ich lieber über kranke Menschen reden, was sie aushalten und wie sie sterben. Deine Kleider riechen ja davon.«

»Mich bedünkt, du hättest genug von diesem Kapitel da drüben,« versetzte ich nun auch ernst.

Sie wurde ein wenig bleich und ganz straff über die Wangen, wie in einer großen Spannung. Die Blicke verkrochen sich einen Moment gleichsam in die eigene Seele zurück, aber schossen dann mächtig wieder hervor, als hätten sie sich mutig gebadet, und griffen mich heftiger als je an. »Ich möchte dich etwas fragen,« sprach sie mit erzwungener Ruhe, indem ihre Augen förmlich zitterten. »Versprich mir, wahrhaft zu antworten!«

Ich zögerte. »Kann ich's?«

»Wir wollen löschen!« sagte sie. »Der Mond kommt am Piz Laun herauf.« Sie drehte den Knopf. »Du kannst es!« beschloß sie mit fester Stimme.

Vom Mond, der über die Hügel stieg und nun durch alle die kleinen Stubenfenster mit seinen blonden Augen hereinsah, wurden alle Gegenstände in der Wohnung schimmerig hell. Besonders erleuchtet blickte Reginens Gesicht aus dem weißlichen Geflimmer. Alles Wilde, Freche, Zigeunerhafte, das mir an ihr immer so mißfallen hatte, war weit von ihr weggeworfen. Frauenhaft still und würdig wartete sie.

»Also, Walter!«

»Frage denn!«

Sie raffte sich sozusagen in ihrer ganzen Seele zusammen, griff alle Frische und Tapferkeit hervor und sprach: »Kannst du Theodor retten?«

Bestürzt und wie verdemütigt von solcher Frage ließ ich das Auge von ihr auf den Boden fallen.

»Kannst du's, kannst du's?« forderte sie heftiger und schüttelte mich mit ihren braunen Händen am Gelenk. »Wenn du's kannst, so sag' es schnell!«

»Frau Regina . . .« stotterte ich.

»Nicht so, keine Umschweife, sag' ja oder nein!«

»Regina, hör'!«

»Du kannst es also auch nicht! Aber warum hast du denn vorhin so großartig getan?«

Sie sah mich nah und zornig an. Hart stellte sie ihre Backenknochen heraus. Und vor dieser ehrlichen Erregung fühlte ich, daß ich nicht redlich gewesen war, daß ich mich mit meinen Afterkünsten in die Liebe der zwei Eheleute hatte hineinschmuggeln wollen. Wo Tod war, hatte ich Leben, wo Untergang war, Rettung vortäuschen wollen, aus Feigheit. Aber immer noch fühlte ich nicht den Mut in mir, so gerade wie die Frau hier zu reden.

»Jetzt laß mich sprechen, Regina!« sagte ich. »Diese Krankheit kann ich und niemand dem Theodor von der Lunge blasen. Das geht zu weit herum und zu tief hinein, so was heilt keine Kunst. Nein, gesund kann Theodor nimmer werden. Das sag' ich offen, du hast es mir herausgezwungen!«

Regina preßte die großen Hände vors Gesicht und zitterte wie ein Laub.

»Aber darum redet man noch lange nicht vom Tod. Die Auszehrung ist meines Bedünkens die seltsamste Krankheit, die wir Ärzte kennen. Es kann ein Patient damit hundert stockgesunde Menschen überleben. Und sich noch leidlich dabei fühlen. Alles kommt auf die Natur des Kranken an. Und Theodor ist eine starke Natur. Wenn er eine gute Pflege und eine umsichtige ärztliche Obsorge dazu bekommt, so kann er noch lange an diesem Ilgisserschnee und an euerer Sonne und an all den vielen Spatzen ringsum Freude haben!« Ich versuchte ein Lächeln, über das, was ich von den Spatzen gesagt hatte. Nirgends gab es so viele wie ums Weggisserhaus. Das war bekannt.

Regina ging darauf nicht ein, sondern fragte sofort furchtbar ernst: »Wie lange? Länger als ein Jahr?«

»Ein halbes Jahr, ein ganzes, zwei, mehr – es kommt alles auf seinen Widerstand und auf euere Hilfe an!«

Regina streifte die Ärmel zurück und machte eine frisch zugreifende Bewegung. »O, wenn es von diesen Händen abhängt, dann noch hundert Jahre!« Tapfer, heiß und voll Opfersinn sah sie ihre müden Hände an. Ich konnte nicht anders, ich mußte diese braunen Hände erfassen und mit einer mir selbst wunderlichen Ehrfurcht sagen: »Wir wollen nicht unmäßig hoffen. Aber viel und standhaft wollen wir hoffen, Frau Regina!«

Und nun geschah das Große, sie erwiderte meinen Druck dankbar.

»Auf der Bahn,« fuhr ich fort, »ist mir eine Frau begegnet, die schon viel kränker ist als Theodor, und die reist noch in einem Güterzug und läuft durch den Schnee ohne Stütze und hofft, wieder gesund heimzukommen. So ein mutiges Weib! Zehnmal eher steht und erhält sich dein Theodor!«

»Warum hast du mir das nicht eher erzählt? Das gefällt mir, nicht das andere von den blöden Narren!«

Ich malte jetzt das Krankenbild in der Eisenbahn mit vielen kleinen und schlauen Strichen aus. Wie die Frau die Telegraphenstangen zählte, die sie immer weiter von ihrem Büblein wegbrachten, wie sie elend aß, dünn atmete und die verdorrten Lippen aneinanderpressen mußte, als sie über die zwei Wagentritte hinunterstieg. Aber gehofft habe sie immer . . .

Regina rückte mir immer näher, atemlos lauschend, um keine Silbe zu verlieren.

Einen Husten habe das Bauernweib gehabt, gar nicht zu sagen, wie!

»Nicht, wie Theodor hustet?«

»Das tönt wie eine Glocke dagegen. Das andere war ein heiseres Geräusch von Scherben!«

»Und hast du bei diesem Bildchen auch einen Vers auf uns gemacht, Walter, so ein Dichter, wie du wohl immer geblieben bist?«

»Ja, Regina. Ich dachte: Es gibt doch starke Frauen. Leiden sie, so tragen sie mit einer stillen Tapferkeit, weit besser als acht Männerschultern zusammen. Und leidet der Mann, so tragen sie das Doppelte, seine Last und die ihre. Ich hab' nun an einem Tag von beidem ein prächtiges Stück gesehen.«

Regina hob den Finger und drohte, etwas munterer, aber doch noch recht ernst. Ich schwieg nun. Aus der Kammer spann immer der gleiche, laute, zufriedene Atem. Nur ein Medizinerohr konnte wahrnehmen, daß das Einatmen kürzer und schwächer als das Ausatmen geschah. Es war kalt in der Stube. Ich rieb meine steifen Knie warm.

»Dich friert,« sorgte Regina. »Ei ja, man sieht ja seinen eigenen Hauch. Wart', ich zünd' ein Büschelchen im Ofen an. Ich hab' nie kalt. Darum merk' ich immer zu spät, daß andere Leute wärmer haben möchten.«

Ich widersprach nicht. Mich durchschauerte die eisige Luft der Stube. Gern hörte ich es, wie die Frau in der Küche einen Bund Reisig mit dicken Knüppeln ins Ofenloch stieß, wie es dann knisterte, zuerst von Papier, dann von spritzigen Flämmlein und endlich anfing zu toben und zu tosen wie ein gleichtöniger, schöner Wind. Der Brand war im vollen Zug.

Vom Fenster sah ich über das Dorf in der Tiefe. Es lag zwischen seinen zwei Hügeln wie zwischen Vater und Mutter ein Trupp Kindlein. Alles war so eng auf- und ineinander verhäuselt, als wollte ein Fenster ins andere schauen, eine Türe in die andere springen und eine Stube die andere warm halten. Nur einige Ausgelassene zogen mit den Tannen den jenseitigen Hang empor. Kleine, schmucke, vieläugige und wunderbar saubere Häuschen waren alle, und sie schimmerten jetzt heller als der Schnee im Mondlicht. Weit oben am Berg glänzte noch ein Licht aus so einer kristallenen Scheibe. Vielleicht liegt dort auch ein krankes Geschöpf und streckt beide Arme nach der Gesundheit aus. Ein anderes Licht blinzelte schräg unter einer Baumgruppe hervor. Dort treibt wohl noch ein geplagter Weber das Schifflein hin und her, weil der Ballen bis Samstag abgegeben werden soll. Oder es gibt Abzug! Jetzt seh' ich ein Laternchen unruhig in die Höhe schwanken und in einem Gehölz verschwinden. Das sind Holzhacker, die schon um vier Uhr aufbrechen, damit sie zeitig am fernen Platz ihr Tagwerk beginnen. Dann hören die Menschenlichtlein auf, es sind nur noch Tannen da, diese treuen Bäume mit ihrem nächtigen, heimlichen Zauber. Auf sie folgen einige öde Halden voll platten Schnees, und aus ihnen ragen als letztes die grauen felsigen Gipfel und Türme hervor. Von meiner Stadt aus sieht man sie auch, wenn es sehr klar ist und der Föhn weht, aber nur wie ein silbernes Schäumchen am tiefen Himmel, und man ist nicht sicher, ob es am Ende nicht eher feine Wolken sind. Aber hier, so nahe, sind sie wie eine erdfeste, mächtige Stadt zu schauen, die Kuppeln und Helme gen Himmel gereckt und vergoldet oder versilbert, mit romanischen und gotischen Fenstern in den Fassaden, mit Riesenstatuen auf den hohen Söllern und mit Nebenpfeilern und Arkaden hin und her. Aber mit den Wurzeln sind sie tief in die Täler verschanzt, eine Stadt voll Menschen am Fuße, eine Stadt voll Geister auf den Gipfeln, eine Stadt voll Lärm in der Tiefe, eine Stadt voll Stille auf den Zinnen. Ich streckte in meiner Bergbegeisterung den Kopf zum Fenster in dieses Panorama hinaus, und ich spürte nun eine solche Ruhe von den Bergen und vom Himmel herab, daß ich vor Schweigsamkeit meinte, das langsame Fahren des Mondes und das leise Knistern zu hören, wenn er sich eben durch ein weißseidenes Gewölke wie durch ein Feindesbanner riß und großartig aus den Fetzen wieder ins gesäuberte Gefilde hinaussegelte.

Da ging die Türe auf. Regina trat mit einem kleinen Duft von Harz und Tannennadeln und Ofenrauch ein. Sie trat vor mich hin und sagte: »So, nun ist der letzte Span zwischen uns getilgt!«

»Wie? Was meinst du?« fragte ich.

»Hast du die Bräuche hier oben denn ganz vergessen?«

Da fiel mir im Augenblick die alte Sitte hierzulande ein, daß zwei Verärgerte, sowie sie wieder miteinander einig werden, sich eines Abends an den Herd setzen und einen Prügel ins Feuer werfen. Der soll den Streit vorstellen. Damit ist der Span beglichen, der Haß verkohlt.

»Hast du es denn nicht gehört,« fuhr Regina mit einer sonderbaren Mischung von Ernst und Heiterkeit fort, »wie es im Ofen gekracht hat? Den dicksten Bengel hab' ich hineingeworfen!«

Sie streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie dankbar. Sie war kalt wie Schnee, gab aber dennoch einen tapferen, männlichen Druck.

Von da an blieb es lange Zeit still zwischen uns. Nur einmal rann durch die Diele hinunter ein kleines, traumhaftes Lippengesprudel Arnoldlis. Kein Sprachkünstler hätte es verstanden. Wir zwei, eine Mutter und ein Vater, verstanden es sehr genau. Dieser Junge peitschte sein Rößlein, schlittelte durch alles Schneegewirbel, neckte und erschreckte die Mädchen und warf sich nach allem vor Spaß auf den Bauch. Das war's. Der Tag ist diesem Buben zu kurz. Da muß auch noch durch die heilige, feierliche Nacht getobt werden . . .

Dann war es wieder still. Der Mond ging langsam den Bergen entlang, bis er auf einmal an den gewaltigen Ilgisserstock geriet. Er stutzte. Hier müßte er einen hohen Schwung über das freche Haupt nehmen. Soll er? Soll er nicht? Das goldene Phlegma des alten Junggesellen am Himmel siegt, und ruhmlos, aber bequem verschwindet er hinter den Felsquadern. Sogleich erlosch alle Helligkeit draußen. Aber noch finsterer ward es in der Stube. Reginens Gestalt zerfloß im Dunkel. Nur die Scheiben, wie dämmerig bleiche Vierecke, konnte man noch erraten. Und nun, in solcher Ungesehenheit schien es uns auf einmal sehr leicht und sehr lockend, uns recht offen gegeneinander auszusprechen. Die Gesichter genierten uns nicht mehr.

Regina hob an: »Erzähle mir, wenn es dir nicht zu schwer wird, etwas von deiner seligen Frau! Sei so gut, Walter!«

»Ach, was ist davon zu sagen?« gab ich leis zurück.

»Mimeli hat mir das Medaillon gezeigt. Sie muß gut gewesen sein. Man sieht es ihr an. Sie hat nichts Unliebes tun, nicht einmal denken können. Sie trägt nicht so einen bösen, scharfen Hinterkopf wie ich!« Das letzte sagte sie mit einem leisen Scherz im Ton.

»Immer war sie gut, das ist wahr!« bestätigte ich.

»Hast du noch Heimweh nach ihr?«

Darüber mußte ich wahrhaft erst nachdenken.

»Ich meine, fehlt sie dir manchmal? Oder brauchst du uns Frauen überhaupt nicht? Hassest du uns immer noch?« Wieder dieser Versuch, lustig zu reden.

»Ich vermisse sie fast nie,« sagte ich jetzt. Das war die Wahrheit.

»Was? Und Mimeli sagte doch, wie Papa und Mama einander lieb gehabt haben?«

»Da hat es ganz recht gesagt.«

»Dann bist du ein schwarzes Rätsel. Ich hab' doch gemeint, was man einmal sehr lieb gehabt hat, könne man nicht kurzweg hinter den Rücken werfen. Wenn Theodor . . . wenn er von mir ginge – ich würde für mein Lebtag nichts als an ihn denken, das weiß ich. Er bliebe mir überall vor den Augen.«

»Vielleicht, vielleicht nicht, wer weiß, wir sind nicht Meister über uns,« zweifelte ich bedächtig.

»Ich würde doch nur an Theodor denken,« behauptete sie eigensinnig. »Und du malst mir da nur etwas vor. Aber ich wette, du sinnst gerade jetzt wieder an deine schöne, lustige Frau selig. Du möchtest wieder ihre Ordnung und Pflege. Ihr Männer verwahrlost ohne uns!«

»Das ist nicht wahr, Regina,« erwiderte ich trocken. »Mimeli und ich haben eine alte, prächtige Haushälterin Elsa. Meine Frau hat nicht so gute Wiener Schnitzel fertig gebracht und nicht so fein flicken und alles so sauber halten können wie die Elsa.«

»Sind die Wiener Schnitzel oder der Maschenstich die Hauptsache bei einer Ehefrau?«

»Wart' nur, Regina! Meine Frau war immer spaßig und genußfreudig. Sie paßte zu meinem schweren Wesen, sie machte mir alles leichter. Wo ich stampfte, trippelte sie, und wo ich brummen wollte, schlug sie einen Triller an. Sie ist ein halbes Kind geblieben, auch noch neben Mimeli. Sie hatte immer noch Hochzeitstag. Aus dem Brautlächeln ist sie nie gekommen. Nicht einmal beim Sterben. Sie hat keine Schmerzen gehabt. Der Tod nahm sie ganz leis in die Hand. Sie lächelte mir ins Gesicht dabei, als wollte sie sagen: Nicht wahr, das ist ja nicht ernst gemeint? Und unter dem Lächeln ging ihr der letzte Atem aus. Und so oft ich ihre schöne, helle Leiche ansah mit dem Lächeln um den Mund, hörte ich es aus ihr heraus fragen: Nicht wahr, das ist ja nicht ernst gemeint? Noch beim Vernageln des Sarges! Glaub' mir, Regina, wenn ich aufs Grab gehe, wo ich nichts als gelbe Stiefmütterchen gepflanzt habe, weil das auch so lustige, immer zum Spaß aufgelegte, sorgenlose Blümchen sind, dann mein' ich, aus jedem dieser gelben Blümlein mein Urselchen zu hören: Nicht wahr, das ist doch nicht ernst gemeint?«

Totenstill horchte mir Regina zu. Kein Fältchen ihres breiten Kleides rauschte. So ein leichtes, seliges Frauenwesen war ihr neu.

»Da mußte ich denn nur gewaltig staunen, wie das Wort auch für mich wahr geworden war. Nein, wirklich, die drei Jahre Mann und Weib waren nicht ernst gemeint gewesen. Das merkte der junge Witwer jetzt. Nie hatte ich mit Urselchen etwas Tiefes oder Bedeutendes reden können – es lachte zu früh. Dann fand ich die Worte nicht mehr. Wie oft wollte ich meine Seele vor ihr ausgrübeln! Es war unmöglich. Sie lachte zu früh. Sie nahm alles, was da kam, von der heitern und glatten Außenseite, nie ging sie tiefer. Und wenn es totenschwarz aussah, tupfte sie noch darauf und spöttelte: Schau, wie das lustig ist, es will erschrecken! Sie war ein Schmetterling, und ich hatte Frühling, solange sie mich umflog. Ich ging mit ihr wie auf einer Wiese voll Blumen und Bienlein. Als sie starb, graute mir zuerst, weil es so still wurde, gar niemand mehr lachte. Die Wiese war nicht mehr so grün, und die Bienen und Goldkäfer hörte ich nicht mehr summen. Es war weniger warm und hell. In Gottes Namen! Nun schwärmte ich eben nicht mehr auf die Wiesen und flatterte nicht mehr hinter den Schmetterlingen einher und hüpfte keinem Heuschreck nach. Man ward wieder ernst. Aber die Wiese reifte gerade so sicher ohne das. Zuerst fror ich ein bißchen. Aber daran gewöhnt man sich bald, an so ein kleines, gleichmäßiges Frieren. Es ist mir lieber als Hitz' und Eis übereinander. Ich merk's gar nicht mehr. Wie, Regina, jetzt sagst du schon nichts mehr?«

Frau Weggisser saß im Dunkel noch immer geräuschlos wie eine Statue. Aber ich wußte, dieses Stummsein war nichts als gewaltiges Zuhorchen.

»Mein Urselchen hätte vielleicht später auch Würde und Matronenhaftigkeit bekommen als Mutter von großen Buben und ernsthaften Mädchen. So aber ist es mir wie ein blauer Tag gekommen und gegangen. Ich habe nichts als Dank für dieses Weilchen Leben, wo ich einmal recht lästerlich sorgenlos und ausgelassen jung war. Aber meine Art ist es doch nicht gewesen. Sonst hätte mich ja das Heimweh nach einem so makellosen, lieben Geschöpf verzehren müssen. Statt dessen blieb nur ein Duft zurück, so ein Duft von Blumen oder von einem kurzen Jodel, so ein . . . Ach, man kann's nicht fassen und greifen, 's ist eben nur ein Duft! Was meinst du dazu, Regina?«

»Sag' weiter! Das ist seltsam! Ich hab' noch gar nie so was gehört. Aber ich verstehe alles, weißt, wenn du schon immer noch so – so wie ein Büchleindichter redest.«

»Sieh, Regina, eben dieser Duft paßt nicht zu mir! Er ist zu gut für mich. Ich hab' immer den Geruch eines Philisters an mir gehabt. Ich sorgte mich denn auch furchtbar, wie mein Kind ausschlagen werde, beinahe wie ein Philister, der einen Samen gesteckt hat und nun, wo das junge Bäumchen aufwächst, nicht ganz sicher ist, ob es nur ein Zierbaum oder ein Obstbaum wird. Hoffentlich, hoffentlich ein Obstbaum, sagte ich und horchte auf, wie Mimeli wohl lachen würde. Wenn es nur nicht lacht wie Mutter, nur nicht so silberig, so dünn, so hoch, um Gottes willen nur das nicht! Wie ich aufs Husten des Patienten achte, paßte ich da auf. Bravo, es klang schon beim Kind eine kleine Terz tiefer! Und als Fünfjähriges konnte Mimeli schon das Stirnchen rümpfen. Da küßt' ich es gewaltig. Wenn es mir zu lustig schien, erzählte ich ihm ganz graue Geschichten, schob Spitalbetten und Armenstuben und Särge drein. Da fing der Wolf ein Häslein, dort fiel ein Bübchen aus dem Fenster, hier verbrannte ein Haus, und drüben litt man Hunger. O, mir ward wohl, wenn dann diese kleine Kinderrunzel erschien und Mimeli mich pechschwarz ansah und in allen Taschen fingerte, als möchte es Hilfe herausklauben! Dann ließ ich das Häuschen hurtig wieder aufbauen und das Knäblein wieder heil werden und einen Topf voll Sauerkraut und Schweiniges auf den Armentisch tragen – und dann leuchtete Mimeli auf, ward munter und lachte, aber bald eine volle große Terz tiefer als Mutter selig. Und nun bin ich zufrieden und glücklich; aber ich habe nichts dagegen, wenn es später noch auf eine Quart hinunterfällt.«

»Wirklich glücklich?« fragte es aus dem Dunkel mit weicher, aber ernster Stimme.

»Glücklich, Regina; mir fehlt nichts! Ich glaub', ich brauch' auch nicht viel. Viele essen fast nichts und sind doch gesund. So bin ich. Ich habe einen kleinen Magen fürs Leben, bin flink satt. Wenn nur Ordnung um mich herum ist, Sauberkeit, alles glatt, keine Brosamen . . . Siehst du, welch ein Philister! Und da lag noch etwas uneben und unrein. Das wurmte mich. Drum bin ich heraufgekommen. Jetzt ist das auch im Blei.«

»Das ist es,« bestätigte es aus der Finsternis.

»So hab' ich reinweg alles zum Glücklichsein.«

»Bis auf eine liebe zweite Frau!«

»Sei so gut und glaub' mir! Ich brauche keine mehr. Ich hab' alles, dich, meine alte Plagerin dazu!«

»Und den Theodor,« entgegnete es irgendwoher, aber nicht ganz so klar.

»Ja, meinen alten, lieben Freund!«

Sie antwortete nicht mehr; aber deutlich hörte ich ihr Atmen.

»Regina, Regina,« fuhr ich drein, »sei nun auch weise genug und stör' so eine stille Freundschaft nicht! Haben wir uns nicht lang genug ins Zeug gepfuscht? Das war unrecht und hat beiden weh getan. Und genützt hat es doch auch keinem von uns!«

»Wer durfte eifersüchtig sein, Walter, der Kamerad oder die Braut und Ehefrau? Sag' doch, wie bestehst du dabei?«

Jetzt war es an mir zu schweigen.

»Du wolltest zuviel von einem Freunde. Ich vielleicht auch zuviel vom Schatz. Aber ich durfte doch eher.«

»Und könntest du wieder eifersüchtig werden, jetzt noch, Regina?«

»Ich glaub' ja!«

»Ich sage nein, du könntest es nicht!«

»Ich weiß es besser.«

»Für eine so kurze Zeit noch eifersüchtig?«

»Kurze Zeit, was!« schrie sie und sprang aus dem Dunkel an mich heran. »Siehst du, siehst du, wie du gelogen hast! Kurze Zeit! Ohhh!« Sie krallte ihre langen Finger in meine beiden Achseln.

»Was ein solcher Kranker, der nicht mehr gesund werden kann, noch lebt, das ist Gnade,« rief ich ihr ins Gesicht empor, wovon ich nur das leise Augenblitzen wahrnahm. »Und alle Gnade ist kurz, o, im Vergleich zu dem, was er als gesunder Mensch leben könnte, sehr kurz! Soviel müssen wir beide doch bei der größten Hoffnung zugeben, auch wenn wir die tapferste Hoffnung haben.«

»Ja, ja, du hast recht,« sagte sie, aber ließ mich nicht los.

»Aber nun vom andern! Schau', ich gebe dir nie mehr Gelegenheit, auf die Freundschaft eifersüchtig zu sein. Theodor ist mir jetzt nichts mehr und nichts weniger als ein Kranker, für den ich Doktor bin und nichts weiter. Denn wisse nur,« sagte ich leiser und noch näher in ihr unsichtbares Gesicht empor, »sowie ich ihn gestern abend in seinem Elend sah, ist alles Schwärmen wie eine bunte Seifenblase zerplatzt! Ich hatte bei der Herkunft den goldenen Baldur im Sinn, dieses Wunder von einem blauäugigen, sonnenhaften jungen Helden. Aus den alten Erinnerungen, die bei mir so langsam und so zäh sind, und aus einer so weiten, vieljährigen Entfernung konnte ich mir kein anderes Porträt schaffen. Dazu kommt, wie du selber sagst, daß ich immer ein bißchen dichte. Aber nun ist's eben doch ein furchtbar anderer Mensch, was ich bei euch oben wiedergefunden habe, und ich spüre für ihn nichts mehr als nur heißes Mitleid und eine eigentümliche Trauer, ja schier gar eine Enttäuschung.«

Nun ließ sie mich frei und trat zurück. Aber sie blieb stehen.

»Was ich jetzt sage, darf dich zornig machen; aber dann bist du geheilt, du eifersüchtiges Weib, das weiß ich!«

»Dann schweig, . . . Nein, dann red', red'!« bat sie rascher und haschte wieder nach mir.

»Es geht mir mit Theodor gerade wie mit meiner Frau. Ich war verzaubert, einmal vom Freund, einmal vom Weib. Mehr ist's nicht . . . Du weißt doch, ich hab' in der Schule nie rechnen können. Mathematisch denken war mir unmöglich. Nun saß der Eugen Schwegler neben mir. Der hat so scharf und kalt gedacht wie ein Messer. Das Verzwickteste löste er mit seinen großen, grausamen, nüchternen Augen wie ein Blitz. Und was meinst du nun, ich neunjähriger Grübler und Phantast, sein bares Gegenteil, schwärmte für den Bub, betete sein eisblaues Auge an, wenn es ins Einmaleins stierte, und seinen trockenen Mund voll Zahlen. Was andere mit mir gemein hatten, das schien mir sehr menschlich; aber was sie über mich hinaus besaßen, das fand ich göttlich. Und da kam Theodor, und der hatte eine Kraft und Pracht um sich und in sich, woneben ich mir wie ein Bettler vorkam. So gesund, so schön, so groß, so mächtig und so lustig! Das übernahm mich völlig. Ich sah ihn an wie ein Götzenbild. Und nun achte wohl: so ein Götzenbild war mir auch Urselchen, ihr Lachen und ihr rosiges Späßchen und ihre Seele gleich einem leichten Morgenwölkchen. Das hatte ich nicht, das war darum das Großartigste auf der Welt. So ein Narr bin ich bis hoch in die Jahre gewesen. Als der eine Götze zerfiel – fast in nichts, kehrte ich großes Kind unbekehrt zum ersten zurück.«

Wieder glitten ihre Hände von mir ab, und sie setzte sich nun hart neben mich auf den Stuhl. Deutlich fühlte ich ihre starken, warmen Atemzüge.

»Aber einmal kommt der Tag, Regina, wo auch so ein langsames Geschöpf, wie ich bin, das, was Schein und was solide Sach' ist, endlich voneinander unterscheiden kann. Was ich vorhin rühmte, hat alles nicht standhalten können, es ist nicht aus festem Geist hervorgewachsen, die Seele hat damit wenig zu schaffen. Laß die ernsten Zeiten kommen, Regina, die Winde und die Donnerschläge des Lebens und sieh dann, was davon schön und lustig und gesund übrig bleibt, wenn es nicht eine tiefere Wurzel hat . . .«

»Du schimpfst auf Theodor, du . . .«

»Nein, ich schimpfe auf mich, weil ich ein Narr, statt ein Freund war.«

»So hast du Theodor nie recht geliebt, nur sein Gesicht, sein Lachen, sein blaues Auge . . .«

»Nein, Regina, ich habe an Thedi und an Urselchen und schon an jenem Rechnerbub mehr geliebt, als an ihnen war, zuviel hab' ich geliebt, eine Seele geliebt, die sie gar nicht haben konnten, so schön und wundervoll reich, und die sie auch gar nie haben wollten, eine Seele, die ich ihnen angedichtet habe. Wenn man so lachen kann, so blaue Augen hat, so blüht und so gilt, was muß das erst tief innen für eine Seele sein! So dachte ich Phantast. Ich habe übertrieben, ich bin der Sünder. Mich allein klag' ich an.«

»O, Walter, dann hab' ich doch tausendmal schöner und besser geliebt!«

»Ich gebe es willig zu.«

»Theodor ist mir heute der gleiche wie vor zehn Jahren, als ich ihn zuerst sah. Er hat nichts verloren, und ich habe auch nie mehr in ihm gesucht, als er hat. Aber er hat auch alles. Was hat er etwa nicht? Und wenn er noch viel kränker wäre und magerer und bleicher, er ist mir so schön und reich und fein wie am ersten Tag. Ah, und du wolltest mich von ihm nehmen, du, du, mit deiner fadenscheinigen Freundschaft! Wie schlecht, Walter, wie schlecht!«

»Du hast recht,« sagte ich zerknirscht. Ich hatte das Gefühl, in dieser Nacht zum erstenmal mich in meiner nackten Gestalt gesehen zu haben . . .

*           *
*

Ich hatte mir vorgestellt, leicht wie ein Vogel heimzukehren. Aber nein, ich pfiff kein einziges Lied, so fröhlich auch das Bähnlein uns die melodischen Hügel hinunter ins Land trug. Theodor, der kein kühnes, nicht einmal ein witziges Wort vermocht hatte, der bei der kleinsten Ermunterung turmhoch hoffte und beim geringsten Schmerz wieder ganz verelendet zusammensank, diesen Theodor verachtete ich beinahe. Aber mich selbst noch dutzendmal mehr. Was war ich für ein Kerl! Mein Herz hatte ich, der sogenannte tiefe Mensch, so viele köstliche Jahre lang sinnlos vergeudet – an ihn! Dann an Urselchen! An so leichte, mit wenig dünnem Schimmer umleuchtete Wesen! Aber was Kraft und Macht und Zähigkeit besaß, das hatte ich gehaßt, wie diese großartige Regina Lob. Sie wuchs in meinem Respekt wie die Ilgisser Berge, je tiefer ich in die Ebene hinunterfuhr, um so einsamer und reiner in den Himmel empor.

Auch die große, zersplitterte Stadt, in die wir endlich rollten, mit ihren lichtlosen Augen, ihrem Krämermaul und übeln Atem, diese Stadt mit dem unruhigen Gehirn und dem matten Herzen kam mir jetzt entsetzlich langweilig und ekelhaft vor. Wäre ich doch von Kindesbeinen an auf meinem Dorf verblieben, dachte ich. Welche Torheiten durchs halbe, bessere Leben hätte ich mir erspart!

An meinem Hochzeitstag hatte ich ins Tagebuch geschrieben: »Ich will alles gerade haben auf meiner Lebensstraße« – und merkte in meiner unendlichen Tölpelhaftigkeit nicht, daß ich bisher ganz besonders krumm gelaufen war und an jenem Feiertag erst recht wieder einen großen Schritt ins Schiefe tat. Die Grübler machen eben alles verkehrt, spottete mich Gonzal früher immer aus. Du hast recht, schöner, schlauer Spaniol! Man sucht einen Gedanken sehr glatt zu lösen und macht inzwischen verfluchte Knoten und Knöpfe ins wahrhafte Leben.

Hätte ich am Ende nicht am besten getan, Klausner zu werden, in einem alten hohlen Baum zu spekulieren und, wenn mich ein irdischer Appetit packt, ein paar Wurzeln zu essen und aus der Hand Wasser zu trinken? Oder hätte ich mich mehr ins gesellige Leben werfen und meine Ellbogen mit hundert andern reiben sollen?

»Mimeli, Mimeli,« sagte ich vor dem Aussteigen und drückte mein Amselchen ans Herz, »jetzt geht es frisch an!«

»Was?« fragte das kluge, ruhige Gof.

»Ich meine, wir wollen ein tüchtiges Leben führen, gelt? Lernen und schaffen, daß es kracht! Und am Abend bei der Mehlsuppe wollen wir einander davon erzählen, bei jeder Kelle voll ein neues Heldenstücklein! Weißt, du bist jetzt schon ein zünftig großes Menschlein, spazierst ja schon allein durch die Stadt, hast Nummer 32 an den Schuhen wie eine hohe fertige Frau. Ja sicher, du bist mir halb und halb schon ein Frauelein!«

Mimeli rümpfte die Stirne wie eine Großmutter und nickte, ohne zu lächeln, ein sehr bestimmtes, alleskönnendes Ja.

»Aber den Schlingel, den Ernst Eisen, den werfen wir zum Haus hinaus, wenn er uns zweien auch nur im geringsten nicht paßt!«

»Nein, Vater, nein!« schrie Mimeli auf und verlor sogleich alle großmütterliche oder auch nur frauliche Würde. »Nein, den hab' ich gern! Er hat mich aufgebuckelt und ist mit mir das Geländer hinunter geschossen, alle sechs Stiegen, hei, wie der Wind! Der Arnoldli hat mir Feines vom Ernst erzählt. Alle Buben in Ilgis haben ihn zum König, wenn er nur einen Tag im Dorf ist.«

Ich wunderte mich, wie lebhaft mein verschlossenes Kind wurde, als es das erzählte. Wie ein Röschen blühte es auf.

»Und er kann rauchen, Vater, Zigarren, so gut wie du, aber auch Zigaretten. Drei in einer Minute, hat er gesagt. Und er kann den Rauch aus der Nase blasen und Ringlein machen. Er will ein Soldat werden, einer von den Reitern, und mich in den Sattel nehmen, Vater!«

»Was, der Knirps!« unterbrach ich die goldene Begeisterung meines Kindes.

»Er ist ja größer als du, Vater,« belehrte das Amselchen mit einem feinen Gespött um den Schnabel herum. »Um Daumensdicke größer als du!«

»Deswegen ist er doch noch ein ganz grüner Knirps!« sagte ich voll Hartnäckigkeit. »Zudem bezweifle ich doch noch ganz gewaltig, ob nicht gerade ich um Daumensdicke größer bin als dein Held,« fügte ich zur Wahrung meiner Würde bei.

»Ich glaube doch, Vater,« piepste mein Amselchen seelenruhig weiter. Dann aber stieg es um eine frohe Terz und sagte: »Und er hat eine Pistole in der Tasche und trifft jeden, jeden Vogel!«

»Das wird ja immer besser!«

»Im Garten hat er zwei Spatzen hintereinander heruntergeschossen. Spatzen sind Bettler, sagt er, und er weiß es. Und die Bettler müsse man töten.«

»Vögel schießen und Zigarren rauchen . . . Ja, du, wo hat er denn die Zigarren her?«

»He, aus deiner Kiste doch! Das darf er. Ich bin jetzt hier daheim, hat er gesagt, und so gehört mir jetzt auch alles, was dir und dem Vater gehört.«

»Das ist ja der reinste junge Satan!« entfuhr es mir.

»O nein, Vater,« beschwor mich das Kind und legte den kurzen Arm um meinen Hals, »der gehört jetzt zu uns. Das ist kurzweilig. Ich lieb' ihn. Er mag mich auch recht wohl.«

Eia, dachte ich, das könnte ein hübscher Zuwachs für unsere kleine Einsamkeit sein. Sogar ums elende Bett Thedis ist's lebendiger und traulicher als in meinen kalten, großen Stuben. Aber rauchen, Vögel niederknallen . . .

Kaum waren wir in den Hausflur getreten, so sprangen zwei Türen zugleich auf. Aus der Küche rannte die alte Else mit der umgebundenen blauen Schürze und Mehltupfen über den ganzen Rücken herunter. Und aus seinem Herrenzimmerchen schoß der lange, bleiche Eisen mit dem blonden, geschorenen, leuchtenden Kopf und tollen, funkligen Augen. »Der Lausbub!« schimpfte die Alte, das S durch eine Zahnluke zirpend wie eine Grille. Aber ehe sie ihren Grimm ausschütten konnte, war Ernst auf uns gesprungen, genau wie ein langer, gelber, junger Tiger. Er gab mir flink seine glatte Hand. Dann umarmte er Mimeli und hob das entzückte Kind bis an sein Gesicht herauf und verschloß ihm mit seinem langen, feinen, bleichen Mund das Mäulchen und noch die Nasenspitze, bis dem Geschöpflein der Atem ausging. Dann ließ er es mit einem Kuß los, der wie ein Flintenschuß knallte. »Schatzli,« sagte er, »du hast das Gesicht von einem vierwöchigen schneeweißen Hundli, wie ich eines hatte; drum bist mir so lieb!«

Dann sattelte er das Hundli auf den Nacken und – hüphoi, hüphoi! – galoppierte er krachend und stäubend mit ihr durch alle Zimmer.

»Das hilft ihm alles nichts,« keifte die jähzornige Else mit einer Stimme, so spitz und giftig wie ein Faden. »Herr Doktor, kommen Sie mal da herein! Schauen Sie, was mir der Bengel zuleid getan hat! Der muß zum Tempel hinaus, oder dann gehe ich!« Gleich band sie die Schürze hinten los, wie immer, wenn sie sehr erregt war. »Ja, ich oder dieser Kreideteufel!«

Ich stand still und wollte den Buben scharf ins Aug' fassen. Aber Ernst lachte leise und sah hin und her, als gelte der Ruf irgendeinem Sünder im mittelsten Australien, aber niemals ihm. Sein Lachen, wobei er den Mund nicht öffnete, aber beide Winkel mit spitzbübischer Seligkeit in die Backen hinaufbog, daß es wie zwei liegende Sicheln aussah, dieses Lachen rauschte tief und leis, wie ein schnelles Wässerchen verschmitzt in den hohen Gräsern rauscht. Mit seinen silbergrauen Augen spazierte er über die Else hin, als wäre sie eine Handvoll Dummheit, und nickte mir dann lustig zu, wie wenn er sagen wollte: Kannst du schimpfen? Einen so gescheiten und prächtigen Schlingel ausschimpfen? Der dein Mimeli küßt und wie ein englisches Vollblut mit ihm durch alle Zimmer galoppiert! Hörst du Mimeli lachen? O, ich lache auch! Lache du nur auch, zum dritten! Das ist das klügste, was du machen kannst. O diese dumme, breite, blaue Schürzengans da!

Die Magd wütete weiter, immer grimmiger ihre schwachen grauen Augen anstrengend, je ruhiger ich blieb. Er wollte nicht mit ihr in der Küche essen! Nein, dem Lümmel mußte sie eigens im Stüblein decken! Dann nahm er ein rohes Ei und versprach, es an die Diele hinaufzukleben wie einen Stern am Himmel. Eins . . . zwei . . . drei, es klatschte, und oben hing der gelbe Pflarren. »Ein zweites und drittes Ei folgte, weiß der Teufel, wie er's nannte – Merikur oder sonst ein Dreck! Dann schoß er im Garten auf eine Katze, denken Sie, eine lebendige Katze und brachte zum Nachtessen sechs tote Spatzen. Die sollt' ich ihm braten! Dann sagt' er, der Rücken tu' ihm weh, er müsse durchaus baden. Aber im Wasser rauchte er wie ein Türk' und lief pudelnaß durch alle Zimmer. Oje . . .« – Die Magd fiel elendiglich in einen Stuhl – »Kurzum, er tut, als ob er hier daheim wäre!«

»Das bin ich doch,« versetzte Ernst mit seiner melodischen Knabenstimme und spreizte sich furchtlos vor mich hin. Nun sah ich erst, welch ein seltsames Spiel seine großen Augen im langen, schmalen Wachsgesicht trieben. Je nach der Laune schwammen silberne Flöcklein in der Pupille. Dann gab es einen Blick wie starres, kaltes Eisen. Aber diese Wölklein konnten sich röten, wenn der Bub lustig wurde, und sprühten einem dann oder hagelten vielmehr Funken um Funken wie pures Gold ins Gesicht. Er sah dann plötzlich warm und liebenswürdig aus. Mir war, man habe einen jungen Teufel und einen jungen Engel zusammengeschmolzen und so sei dieser Ernst Eisen aus dem Tiegel gesprungen.

»Nicht wahr,« wiederholte er, »das bin ich doch: Hier daheim! Ihr werdet mich liebhaben, das weiß ich. Ich bin kein Böser . . . Auch dir gefall' ich bald, Vetter Götti!«

»Wieso Vetter und wieso Götti, du Erzgauner du?« fragte ich lustiger, als sich ziemte.

»Nein, er ist ein guter, ein lieber,« sagte Mimeli hoch von seinen Schultern herab und tätschelte ihm mit den noch immer behandschuhten Händen auf die schmalen, straffen Wangen, in denen die Muskeln spielten.

»Schon, schon! Aber wieso Vetter? Wieso Götti?«

»Das darf ich doch sagen, wenn ich dich gern hab'! Wer mir gefällt, dem sag' ich Götti!«

Was konnte ich erwidern? War das nicht wieder so eine junge Auflage Theodors? So ein Narrenprinz der Jugend, dem man nicht bös sein durfte?

»Wir haben noch miteinander ein Wörtlein zu reden, Herr Vetter,« sagte ich möglichst ungerührt. Da der Knab' die Lippen abenteuerlustig auseinanderriß und mit den Augen »Ja, Ja!« machte, fügte ich herzlos bei: »Aber nicht zum Spaßen! He, Else, gebt den Kindern Milch und Eierdünkli zum Nachtessen! Aber mir rüstet eine von euern Kässuppen, wißt, mit Rüben und Kartoffelmöckli und Erbsen, wie nur Ihr es versteht!«

Die Alte schnürte die Schürze stolz um ihre breiten Hüften. Dieses Kässuppenlob, das wußte ich, wog all ihren Ärger auf. Sie war im Augenblick weich und doch steifhart wie eine Kerze. Man mußte sie nur anzuzünden verstehen.

»Aber ich will Fleisch und Most wie daheim!« gebot Ernst und streckte sich herrisch in die Höhe.

»Milch ist dein Most, und Eierdünkli sind dein Fleisch für heut abend, punktum!«

»Herrgott neunundvierzig!« fluchte der Junge und rieb sich, als bisse ihn ein Floh, an den dünnen, weißen, ewig bewegten Nasenflügeln.

»Kannst auch fünfzig sagen!« lachte ich und schüttelte ihn derb am Kinn.

»Wenn das meine Gotte wüßte!«

»Was geht mich deine Gotte an?«

»Die Frau Weggisser? Oho!«

»Bub, Bub, da lügst du!« rief ich. Aber der Junge erschien mir sogleich in einem andern, freundlicheren Licht. Und mir war, Regina strecke mir von ferne die Hand entgegen.

»Wo meine Mutter gestorben ist, bin ich lang bei den Weggissern als Kind gewesen. Mein Vater war ja in London, und da hat die Frau Regi für mich gekocht und geputzt und mich sehr lieb gehabt. Wir sind ja doch verwandt. Und so sag' ich ihr Gotte, wie ich dir Götti sage!«

Eine seltsame Wärme durchfuhr meine Glieder. Noch teurer erschien mir der Bursche, und nun war es, als habe Regina meine Hände erreicht und drücke sie herzlich. Vor Überraschung war ich ein Weilchen ganz stumm. Da mischte sich der Schnabel meines Amselchens zum Glück in die Sache und lenkte den scharfen Blick Ernsts noch zeitig von mir ab.

»Hei du, Ernst,« sagte es, »Eierdünkli sind fein, braun und gelb, mit Butter und Zitronen, und sie knirpschen in den Zähnen, krack, krack!«

»Knirpschen . . . So etwa?« Eisen knirschte mit seinen feinen weißen Zähnen grauenhaft. »So . . . oder?« fragte er schon halb getröstet.

»Wie wenn du auf Glasscherben stehst!«

»Das will ich mal erleben! Gut! Milch und Eierdünkli!« sagte der Junge und nickte mir gnädig seine Gewährung zu. Dann packte er Mimeli und wollte davon.

»Paß auf,« ermannte ich mich nun doch noch, »wenn du dich nicht fügst, fliegst du!«

Ernst sah mich groß an und hob die blonden Brauenbogen hoch in die Stirne. Aber sogleich wich der Schrecken. Seine Augen füllten sich mit gütigem Spott und sein Mund lachte mit beiden Enden hoch in die Backen hinauf, bis die rote Mondsichel vollkommen war und jeden zum Spaß mitreizte. Alles war Lust und Flegelhaftigkeit in diesem Gesicht.

Ich spürte, wie mich selber eine unpädagogische Spaßhaftigkeit überwältigen wollte. Aber in diesem Augenblick streckte mir der Schlingel rasch, lang und rot wie eine Schlange die Zunge entgegen.

Sogleich kehrte sich mein Sinn um. Ich hob die Hand zu einer Maulschelle.

»Vetter Götti! Vetter Götti!« warnte mich der Junge und ward weißer als Schnee.

Da ließ ich den Arm sinken und kehrte ihm den Rücken. Dieser Kerl plagte mich.

»Aber er hat das von der Regina Lob,« entschuldigte ich den Knaben leise vor mir, »diese wunderbare Grimasse mit der Zunge!«

*           *
*


 << zurück weiter >>