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Viertes Kapitel.

Die irdische Gerechtigkeit kann sich etwas verspäten. Manchmal ist die Verspätung, zumal in unserem geliebten Vaterlande, ziemlich bedeutend. Aber endlich kommt doch der verhängnisvolle Tag, an dem sie sich entschließen muß, ihre Beute entweder freizulassen oder sie ganz und gar zu verschlingen.

Zweimal war die Verhandlung gegen den Mörder vom Schneefeld angekündigt gewesen und zweimal war sie auf Antrag des Staatsanwaltes verschoben worden. Jetzt endlich sollte sie vor dem Schwurgericht von Mailand stattfinden. Der junge Advokat Masi hatte die Verantwortung, die auf ihm lastete, zu deutlich gefühlt und daher die Hilfe eines Kollegen, der schon auf viele Jahre seiner Laufbahn zurückblickte, in Anspruch genommen. Dem psychiatrischen Sachverständigen der Verteidigung, dem der Ruf vorausging, daß er seine schlimmsten Klienten aus dem Kerker befreie und ins Irrenhaus bringe, stellte der Staatsanwalt einen Mann der alten Schule gegenüber. So durfte man auf ein lebhaftes, theatralisches Renkontre hoffen. Der Sachverständige der Anklage sollte wissenschaftlich beweisen, daß Fritz Neumüller ein elender Schurke wäre, der im Zuchthaus unschädlich gemacht werden müsse, während sein Gegner die Aufgabe hatte, das gerade Gegenteil zu demonstrieren, nämlich daß Fritz Neumüller infolge einiger unrichtiger Gehirnwindungen zu Falle gekommen sei, daß man aber gut daran tue, ihn, von allen Schlacken gereinigt, der Welt oder wenigstens dem Irrenhaus zu übergeben. Beide Schulen der gerichtlichen Medizin wollten die Welt von der sozialen Krankheit des Verbrechens heilen, darin waren sie ganz einig, jedoch in der Methode gingen sie auseinander. Der eine Sachverständige schlug als Medizin schwarzes Brot und schweren Kerker vor, während der andere das Übel mit kalten Begießungen und mit reichlicher, gesunder und kräftiger Nahrung bekämpfen wollte.

Auch in der öffentlichen Verhandlung gab der Angeklagte die von ihm in der Voruntersuchung befolgte Art und Weise, allen Fragen ein hartnäckiges Schweigen entgegenzusetzen, nicht auf. Der Vorsitzende gab sich alle erdenkliche Mühe, aus ihm ein paar Worte herauszubringen.

»Sagen Sie uns doch etwas,« beschwor er ihn wiederholt, »die Geschwornen erwarten Ihre Rechtfertigung. So sprechen Sie doch etwas Vernünftiges, und Gott erleuchte Sie.«

Der liebe Gott war aber wahrscheinlich in diesem Augenblick mit anderen Dingen beschäftigt, und Fritz Neumüller blieb stumm. Noch einmal versuchte der Vorsitzende mit einer ernsten, väterlichen Ermahnung den Angeklagten zum Sprechen zu bringen, der aber nur entrüstet ausrief: »Was wollen Sie eigentlich von mir? Ich habe doch alles gestanden.«

Nachdem er dies gesagt hatte, blieb er wieder stumm. Dieser geständige Mörder hatte freilich eine Schwäche gehabt. Er hätte sich der müßigen Zuschauermenge, die nur ihre krankhafte Neugierde befriedigen will, am liebsten gar nicht gezeigt und seinen Rechtsanwalt gebeten, daß er beim Gerichtshofe durchsetze, ihn in seiner Zelle zu lassen, während gegen ihn verhandelt werde. Als er aber hören mußte, daß dies nicht möglich sei, hatte er sich gefügt, doch er war im Gerichtssaale nur mit dem Körper anwesend. Sein Geist weilte in weiter Ferne, während er gefesselt den Saal betrat, während er gefesselt in die Zelle zurückkehrte. Und auch als der Gerichtsschreiber in langsamem Tone die Anklageschrift verlas, war sein Geist noch nicht aus jener Ferne zurückgekehrt. Bloß als das Verzeichnis der Zeugen mitgeteilt wurde, leuchtete in seinen immer noch schönen Augen ein verirrter Blick auf, als wäre das Bewußtsein heimgekehrt.

Dagegen ließen ihn die im Auslande aufgenommenen Zeugenaussagen, die aus Kroatien und aus Prag, wo Fritz Neumüller einige Jahre lang studiert hatte, ganz kalt. Doch als das Verhör mit Irma Campana, der in London ansässigen Witwe des berühmten Violinspielers, verlesen wurde, in welchem sie erklärte, in der ihr vorgelegten Photographie ihren toten Gatten zu erkennen, konnte der Angeklagte seine Erregung nicht bezwingen und senkte den Kopf auf die Brust, und die zitternden Hände bedeckten das Antlitz. Die Zeugin, die krankheitshalber nicht persönlich erscheinen konnte, hatte angegeben, daß der Verstorbene und sein Freund zusammen abgereist waren, wie sie dies auch schon andere Male getan hatten. Gewöhnlich sei der Freund der Reisemarschall gewesen, der auch die Kasse geführt hätte. Über die Motive, welche die beiden Freunde zu dem äußersten Entschlusse eines Duells oder gar eines schrecklichen Verbrechens getrieben hatte, wußte die Witwe nichts, oder wenigstens erklärte sie, nichts zu wissen. Ebensowenig wußte sie über die Höhe der Geldsumme, welche der Tote bei sich getragen hatte, Auskunft zu geben.

Fritz Neumüller hatte während der Verlesung dieser Aussage seine Haltung nicht geändert, und auch als andere Zeugenaussagen, die aus weiter Ferne gekommen waren, verlesen wurden, hatte er sich ganz gleichgültig gezeigt. Aber die stillen Tränen, die er vergoß, hatten einen tiefen Eindruck hervorgerufen. Die Stimmung der Geschwornen schien sich für ihn günstiger zu gestalten.

An einem der nächsten Verhandlungstage folgte dann das Duell zwischen den beiden psychiatrischen Sachverständigen. Einer von diesen behauptete, daß Fritz Neumüller einen prächtigen Männerkopf besaß, der dazu geschaffen war, gesunde Ideen, Empfindungen der Gerechtigkeit und Nächstenliebe zu beherbergen, so daß er für seine Handlung vollkommen verantwortlich sei, und daß die Strenge des Gesetzes angewendet werden müsse, wenn er trotz der edelgezeichneten Stirn, der geraden Nase und allen anderen Merkmalen einer normalen Psyche einen Mord begangen habe.

Der andere Sachverständige rückte sofort mit seinen vierundsechzig Räubern heraus, die sich aller möglichen Verbrechen schuldig gemacht und dabei doch äußerlich keine Merkmale von Entartung getragen hatten. Er hielt einen langen Vortrag über den vorliegenden Fall, indem er etwa folgendes ausführte: Manchmal verberge sich die Seele so tief, daß sie dem Psychiater schwere Rätsel aufgebe. Bisweilen entstehe im Gehirn eine Störung des Blutkreislaufes, die ein Verbrechen auslöse. Dann liege eben der Fall von Mordsucht vor. So erkläre sich auch die Tat Fritz Neumüllers. Seine Verschlossenheit, die Resignation in sein Schicksal, die Unempfindlichkeit gegenüber allen Zeugenaussagen, der Mangel an Reue, alle diese Umstände deuteten auf eine Gehirnkrankheit hin, wie sie für diese Form der Geistesschwäche typisch sei.

Und zum Schlusse erhob er seine Stimme, die bis dahin ganz ruhig geklungen hatte, zu einem gewissen Pathos, indem er ausrief: »Meine Herren Geschwornen! Im Namen der Wahrheit, die an dieser heiligen Stätte gefunden werden soll, sage ich Ihnen als den Ausdruck meiner auf gründlichen, wissenschaftlichen Untersuchungen aufgebauten Überzeugung, dieser schweigsame, unempfindliche Mann ist nichts anderes, um es mit einem vulgären Worte zu bezeichnen, als ein Dummkopf.«

»Dummkopf!« wiederholte Fritz Neumüller mit lauter Stimme, aber in keineswegs zornigem Tone, indem er dem illustren Gelehrten, der ihn retten wollte, einen mitleidsvollen Blick zuwarf. Es war aber nicht klar, ob dieses Wort einen geheimnisvollen Sinn besäße oder nur das unbewußte Echo des beleidigenden Ausspruches des Psychiaters gewesen sei.

Der Sachverständige wußte nicht recht, wie er das Wort des Angeklagten deuten solle. Gern hätte er noch ein paar Worte über den Mangel an Erkenntlichkeit bei Geisteskranken hinzugefügt. Aber Richter und Geschworne schienen durch den Redestrom der Sachverständigen, den sie hatten über sich ergehen lassen müssen, so müde zu sein, daß der gute Herr von seinem Vorhaben abstand und endgültig schwieg.

Jetzt nahm der Rechtsanwalt Masi das Wort, um ein Bild der Tat, wie er sie sich vorstellte, zu entwerfen.

»Wer sind denn eigentlich Fritz Neumüller und Flavio Campana?« so fragte er die Geschwornen. »Ein Mörder und sein Opfer, wurde Ihnen gesagt. Aber ich begnüge mich nicht mit dieser Antwort, sondern frage mich: um wen handelt es sich? Es sind zwei berühmte Künstler, zwei intime Freunde, zwei treue Reisegefährten. Was mag geschehen sein, um sie plötzlich in die erbittertsten Feinde zu verwandeln? Hier liegt das Geheimnis des Falles, in welchem es sich nur anscheinend um einen Mord handelt, während in Wirklichkeit ein Zweikampf stattgefunden hat. Was kann zwei Jugendfreunde so gewaltig entzweien, wenn nicht die Liebe? Wir wissen nichts von dieser Liebe, da Flavio Campana im Kirchhof von Sondrio den ewigen Schlaf schläft, und in dem Herzen von Fritz Neumüller jener Roman verborgen ruht, den wir alle fühlen, wenn wir auch seinen tragischen Verlauf nicht kennen. Der Herr Staatsanwalt möge nicht lächeln, sondern sein eigenes Gewissen fragen, und die Antwort, die er geben wird, kann nicht anders lauten als die meine ...

»Fritz Neumüller und Flavio Campana sind beide, wie die Führer versichern, mit Revolvern bewaffnet. Die Freunde wollen sich schlagen, das Duell soll aber, merken Sie wohl, nicht im geheimen stattfinden, sondern seine Zeugen sollen jene Führer sein, die unter dem Vorwand einer Besteigung des Monte della Disgrazia genommen worden waren, während man sonst für einen derartigen Bergübergang nie mehr als einen einzigen Führer engagiert. Auf dem Schneefeld machen sie halt. Der eine schlägt vor, sich zu duellieren, der andere widersetzt sich, weil er auf das Unvermeidliche nicht vorbereitet ist. Die Führer weigern sich, dem Duell als Zeugen beizuwohnen und entfernen sich. Es ist natürlich, daß der Zweikampf trotzdem stattgefunden hat. Der eine der beiden Rivalen flieht, der andere verfolgt ihn. Da wendet sich Flavio Campana um, um seinem Gegner entgegenzutreten. Fritz Neumüller bleibt unwillkürlich stehen, während der andere den ersten Schuß abgibt. Als er seinerseits losdrückt, hat sein Gegner wieder die Flucht ergriffen, aber der Schuß fällt und Flavio Campana stürzt, tödlich getroffen, zu Boden. Fritz Neumüller erreicht seinen Gegner und schießt noch einmal.

»Dies ist der Vorgang, wie er sich in meinen Gedanken darstellt. Und alle, die hier sind, müssen gleich mir fühlen, wenn es auch nicht zu beweisen ist, daß sich die Szene so abgespielt hat.

»Meine Herren Geschwornen! Hier liegt kein gemeiner Mord, sondern ein Ehrenhandel vor, den unser Strafgesetzbuch sühnt, dessen Bestrafung aber gewöhnlich durch die königliche Gnade aufgehoben wird.

»Sie fragen mich aber, warum der Angeklagte nicht selbst alle diese Aufklärungen gibt. Darauf hat Ihnen die Wissenschaft geantwortet, und ich müßte nur die Worte des berühmten Gelehrten wiederholen, die Sie ja noch alle im Gedächtnis haben. Die Gewalt der Ereignisse hat ihn erdrückt und seinen Geist umnachtet, darum schweigt er. Es hat sich in ihm die fixe Idee entwickelt, daß er vom Schicksal mit Unglück heimgesucht sei, und daß er sich dieser höheren Macht nicht widersetzen dürfe. Erinnern Sie sich daran, daß aus dem Revolver des angeblichen Mörders nur zwei Schüsse abgegeben worden waren. Die Tücke des Schicksals hat die andere Waffe verschwinden lassen und dadurch den Beweis unmöglich gemacht, daß Flavio Campana zuerst geschossen habe.«

Der junge Rechtsanwalt schien während seiner begeisterten Verteidigungsrede um einige Zentimeter gewachsen. Sein fast neuer Talar kleidete ihn gut, und mit seinen weiten Ärmeln begleitete er wirkungsvoll die Gesten, mit denen er seinen Worten erhöhten Nachdruck gab.

Der Staatsanwalt suchte die Vision des Advokaten zu zerstören, aber seine Rhetorik schien matt, so daß sich die Geschwornen von ihr nicht gefangennehmen ließen. Einstimmig antworteten sie auf die ihnen vorgelegten Fragen, daß Fritz Neumüller schuldig sei, seinem Reisegenossen Flavio Campana den Tod gegeben, ohne aber die Tat früher geplant zu haben. Auch den Diebstahl schlossen sie aus und gestanden die teilweise Geistesstörung und mildernde Umstände zu. So war die Gefahr des Zuchthauses mit den Schrecken der Einzelhaft überwunden, und der Staatsanwalt selbst beantragte nur fünfzehn Jahre Gefängnis, während der Gerichtshof auf zwölf Jahre erkannte. Der junge Advokat triumphierte und wollte seinen Klienten veranlassen, gegen das Urteil beim Kassationshof Berufung einzulegen. Es wäre leicht möglich gewesen, verschiedene Gründe gegen das Verdikt des ersten Gerichtshofes geltend zu machen. Aber Fritz Neumüller wollte davon nichts wissen und schien ganz zufrieden, daß sich der Vorhang über die Tragödie seines Lebens endgültig gesenkt hatte.

Es wurde nunmehr die Rechnung der gerichtlichen Auslagen, die der Verurteilte der Justiz erstatten mußte, abgeschlossen, und von dem Rest von fünftausendfünfhundert Lire, der dann noch blieb, schickte er fünftausend Lire an die Witwe des Flavio Campana, während er fünfhundert Lire zurückbehielt, die aber nicht in seinem Besitz belassen, sondern dem Gefängnisdirektor übergeben wurden, damit er davon zugunsten seines neuen Schutzbefohlenen in der vom Gesetze zugestandenen Weise Gebrauch mache. Auch die Kleider und der andere Inhalt der Koffer, die nach St. Moritz geschickt worden waren, kehrten auf den ausdrücklichen Wunsch des Fritz Neumüller nach London, Regent Street 23, zurück. Darunter waren auch die zwei Violinen von Amati und Stradivari, deren Saiten für immer verstummt waren. Wem sollten sie auch, nachdem der, der sie meisterhaft gestrichen hatte, nicht mehr lebte, in Zukunft Gefühle der Liebe und des Schmerzes ausdrücken?


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