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11

Ich richte mich häuslich auf Ückelitz ein, werde gequält und getröstet. Ein Blitz aus heiterem Himmel

 

Sie hatten wirklich beide auf der Terrasse Schach gespielt, der Herr von Lassenthin, Schloßherr auf Ückelitz, und Marcelin Arland, Professor am Königlichen Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium zu Stralsund. Aber bei meinem Kommen war es mit dem Spielen wohl schon vorbei gewesen. Nur drei, vier Figuren standen noch auf dem Brett, und sie sahen mir beide so gespannt entgegen, als komme ich ihnen gerade recht.

»Das ist mein Großneffe, der junge Herr von Strammin«, sagte der Rauhbold und wedelte sitzen bleibend mit seiner ungeheuren Flosse, während der Professor und ich uns die Hand gaben. »Und das ist ein gewisser Professor Arland aus Stralsund, Lutz, aber kein richtiger Professor, sondern bloß so ein Steißtrommler. Die Herren kennen sich wohl schon?«

»Doch, doch«, sagten wir, und jedenfalls ich war ganz unsicher, wie ich mich zu benehmen hatte. Der Professor wußte doch wenigstens, was er dem Alten erzählt hatte.

Der sah uns prüfend an, dann warf er sich in seinen Stuhl zurück, daß es krachte. »Mein Herr Großneffe«, meinte er erklärend, »scheint in den letzten Tagen sein Herz für mich entdeckt zu haben. Wahrscheinlich hat sich in ganz Vorpommern mit Windeseile die Nachricht verbreitet, daß ich mich mit meinem Sohn verkracht habe, bald wird ganz Ückelitz voll von Erbschleichern sitzen. Er ist bloß der erste.« Er musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Na, Lutz, ist es so oder ist es nicht so?«

»Sie wissen ganz gut, daß es nicht so ist, Herr von Lassenthin!« rief ich, rot vor Empörung.

»Die Strammins«, fuhr mein Onkel erklärend zum Professor fort, als habe er meinen Protest nicht gehört, »die Strammins sind immer Tagediebe und Spieler gewesen. Aber sie haben sich stets zu rangieren gewußt, entweder durch Mitgift oder durch Erbschaft. Dem seine Mutter«, er wies in beabsichtigter Derbheit mit dem Finger auf mich, »war eine Lassenthin mit zweihunderttausend Talern Mitgift. Aber ich fürchte, die Taler sind mittlerweile alle geworden, deswegen habe ich das Bürschchen hier bei mir.«

Ich zitterte geradezu vor Wut über dieses alte Schandmaul. Gerade daß ein Körnchen Wahrheit in seinen Verleumdungen steckte, machte mich doppelt wütend. »Sie wissen sehr gut«, sagte ich flammend vor Zorn, »daß Papa die Mama nicht wegen der Mitgift, sondern aus Liebe geheiratet hat. Sie führen noch heute die beste Ehe in ganz Vorpommern.«

»Recht hat der Junge«, nickte der alte Rauhbold. »Das ist das Versöhnliche an den Strammins, daß ihre Liebe immer dort hinfällt, wo Geld wächst. Richtige, reelle Liebe und richtiges, reelles Geld. Laß uns nur eine Woche zusammen sein, Lutz, und du hast dir und mir eingeredet, daß du mich aufrichtig liebst, und das wird dir die Tränen bei deinem Erbantritt erleichtern. Stimmt's?«

Und er ließ seine Pranke auf meine Schultern fallen, daß die Knochen knackten.

»Ich werde Sie nie ausstehen können!« schrie ich wütend und machte mich von seinem Griff frei, aber nur mühsam, »Sie sind ein abscheulicher, alter Mann, ein richtiger Rauhbold!«

Der Großonkel lachte nur. Er stand überraschend schnell von seinem Stuhl auf und wandte sich zum Gehen. »In zwanzig Minuten wird gegessen«, verkündete er. »Beide Herren sind zu Tisch eingeladen, Frack unerwünscht.« Er grinste uns teuflisch an, tat ein paar Schritte und blieb wieder stehen. »Wie ist das, Lutz«, fragte er ganz friedlich, »hattest du nicht gestern deine Braut mit, diese Bessy von Schalenberg –?« Er strich sich über die Stirn.

»Doch«, antwortete ich, »sie ist aber schon fortgeritten.«

»Und hat sich nicht einmal von mir verabschiedet? Komische Manieren habt ihr jungen Leute von heute.«

»Sie schliefen gerade, Herr von Lassenthin«, sagte ich verlegen. »Bessy wollte Sie nicht stören.«

»So?« sagte der Großonkel. »Geschlafen habe ich? Geschlafen, also, na, dann ist's ja gut.« Er ging wieder, und wieder blieb er stehen. »Und wie ist das, Lutz, der Elias, der olle Schwachkopp, hat mir so was vorgeschwatzt, deine Eltern seien gestern auch hiergewesen?«

»Da schliefen Sie auch, Herr von Lassenthin.«

»Auch verschlafen, sagst du, Lutz? Verdammt noch einmal, was schlafe ich mir diese Tage denn bloß zusammen? Mein Kopf ist schon ganz düsig von all der Schlaferei.« Er schlug sich mit den Knöcheln gegen die Schläfen. »Aber ich kriege den Kopp auch wieder klar, verlaßt euch drauf, und dann fällt mir alles wieder ein, alles!«

Unter seinen buschigen Brauen hervor sah er uns durchbohrend an, und dann war er plötzlich gegangen ohne ein weiteres Wort.

»Weiß er wirklich nichts, Professor?« fragte ich aufgeregt Arland, der Herr von Lassenthin war kaum im Hause verschwunden.

Der Professor zuckte die Achseln. »Ich ahne es nicht, Strammin. Solange ich mit ihm zusammen war, hat er sich nichts merken lassen. Aber das eben mit Ihnen, das sah doch ganz so aus wie ein Katz-Maus-Spiel.«

»Das finden Sie also auch?«

»Und doch kann er wirklich alles vergessen haben. Der Sanitätsrat hat mir gesagt, er hat eine Portion Scopolamin mit Morphium bekommen, die einen Ochsen eingeschläfert hätte. Vielleicht wirkt das noch auf sein Hirn – ganz abgesehen davon, daß er heute nacht völlig ohne Bewußtsein war.«

»Er kann nicht im Ernst glauben, daß ein Strammin ein Erbschleicher ist! Einen Erbschleicher würde er nicht zehn Minuten um sich dulden, und mich hat er sogar zum Mittagessen eingeladen! Er spielt mit uns, Professor.«

»Nun«, meinte der Professor, »wenn er mit uns spielt, wird er in irgendeiner Stunde des Spiels überdrüssig werden und auf den Tisch hauen. Oder das Gedächtnis kommt ihm wirklich zurück. Dann müssen wir zur Stelle sein, Lutz, schon wegen der jungen Frau oben.«

»Das habe ich auch gedacht, Professor, sonst wäre ich bei seinen Beschimpfungen eben sofort gegangen.«

»Sie müssen sich aber mehr zusammennehmen, Strammin. Eben standen Sie schon direkt vor einer Explosion. Was hilft es der jungen Frau oben, wenn er Sie 'rausschmeißt?«

»Es kann ihm nicht lange verborgen bleiben, welche Gäste er dort oben beherbergt!«

»Natürlich nicht. Darum müssen wir eben hier sein, hier bleiben, und wenn er noch so ausfallend wird. Ich fahre heute nachmittag mit einem Pächterwagen nach Stralsund und hole mir ein paar Sachen. Er hat mich zwar nicht eingeladen, aber er wird sich mit meinem Hiersein schon abfinden.« Der Professor lachte. »Übrigens mogelt er beim Schachspiel. Er hat mir einen Turm geklaut und es mit eiserner Stirn abgestritten.«

»Was haben Sie ihm eigentlich erzählt von uns, Professor? Das muß ich auch wissen!«

»Ein Gemisch aus Wahrheit und Dichtung! Daß Sie mich mit einem Brief meiner Braut besucht hätten und dabei in meinen Kampf mit den Pennälern geraten seien. Meine Schilderung dieses Kampfes hat ihn sehr amüsiert. Dann habe ich einen kleinen Sprung gemacht und Sie gleich auf dem Schulausflug mitgenommen, der uns nach Ückelitz geführt hat. Da seien wir eben dank seines Burgunders hängengeblieben und hätten die Jungen allein nach Haus geschickt.«

Ich fragte flüsternd: »Er hatte keine Erinnerung mehr an den verdammten Keller?«

»Jedenfalls ließ er sich nichts merken, Strammin. Wenn er uns was vorspielt, ist er ein meisterhafter Schauspieler, und wir müssen uns sehr zusammennehmen, wenn wir nicht gar zu schlecht abschneiden wollen. Da gongt der alte Elias zum Essen. Gebe es der Himmel, daß er Sie nicht gar zu sehr plagt, Lutz. Lieber will ich die Schale seines Unmuts schlürfen.«

Es war ganz so, als habe der Rauhbold diese Worte des Professors gehört. Ich wurde bei diesem ersten Mittagessen ausgesprochen gnädig behandelt. Der Professor aber – o Gott, der Arme war doch nur ein Männlein mit seinen Kinderhändchen und -füßchen, der Rauhbold aber zwang ihn zu fressen und zu saufen wie sechs sensenfähige Hofgänger in der Ernte zusammen. Eigenhändig packte er ihm seinen Teller voll, und als der kleine Mann schließlich erklärte, nun könne er wirklich nicht einen Bissen mehr essen, da holte sich der Riese gewaltsam den Professor auf den Schoß und fütterte ihn mit dem Löffel wie ein Kind. Es war wiederum das elendste Katz-und-Maus-Spiel von der Welt, als wisse es der Rauhbold, daß wir auf unserem Posten aushalten mußten.

»So, nun noch ein Löffelchen! Kauen, Professor, kauen, oder ich muß dich auf deine Bäckchen klopfen. Da, trink noch einmal einen Schluck! Ach was, du verträgst schon noch was, so leicht wirst du nicht betrunken.«

Der Alte trank dabei, ganz wie es Elias vorausgesagt hatte, wirklich nur pures Wasser, zwang aber den Professor, über zwei Flaschen Wein zu trinken. Das Spiel wäre wohl noch weitergegangen, wenn der alte Elias, dem der Professor auch in der Seele leid tat, nicht sachte alles Eß- und Trinkbare aus der Höhle entfernt und sich selbst unsichtbar gemacht hätte, der Rauhbold mochte noch so sehr nach ihm schreien. Auf den Armen trug ich den kleinen, zierlichen Mann zum nächsten Sofa, bettete ihn, deckte ihn zu und redete ihn mit meinen Tröstungen in den Schlaf. Dann schlich ich auf Zehenspitzen ins obere Stockwerk, ich fand es wirklich an der Zeit, mich nach Catriona umzusehen.

So begann jene Woche in Ückelitz, die allen Teilnehmern in schrecklichster Erinnerung ist. Nein, doch nicht allen! Ungerührt vom Mißtrauen, von Quälerei und Zukunftssorgen lag Catriona im Zimmer der seligen Frau von Lassenthin und kostete nun schon selber ein Stück irdischer Seligkeit, wenn sie ihren kleinen Sohn im Arm hatte. Das waren Stunden der Entspannung und des Friedens, wenn ich an ihrem Bett sitzen durfte, plaudernd oder schweigend, aber meist schweigend, denn Catriona wurde fast alles noch zuviel.

Sie war so zart, so blumenhaft, so durchsichtig, wie sie da in ihren Kissen lag, ich konnte sie immer nur ansehen. Nun war ich nicht mehr ihr Ritter, nie fragte sie nach dem alten Lassenthin oder Gregor; sorglos, gedankenlos lag sie dort und fragte nie nach ihrer Stellung in diesem Haus oder nach der Zukunft. Ich war jetzt ihr Page, ein Page voll stiller Anbetung und Verehrung. Ihr Bild war mir direkt ins Herz gegangen, als ich sie zuerst an Herrn Erickes Empfang schnöde behandelt sah. Es hatte schon damals nicht viel Irdisches an sich gehabt, diese späte glühende Schwärmerei eines unerfahrenen Herzens. Nun verlor dies Bild noch das letzte Irdische, sie war so schön, aber sie war schön wie eine Blume, wie ein ziehender Wolkenschatten über blauer See. Nichts Faßbares, nichts, das man begehren konnte: ein Traum, ein wundervoller Traum. Wenn sie leise, fast mit Vogellauten, zu ihrem Sohn sprach, so klang es wirklich wie Zwitschern, eine ergreifend heitere Melodie, der zu lauschen ich nicht müde wurde.

Den anderen ging es nicht anders. Noch immer betreute Frau Hebamme Kakeldütt Catriona, ihre ganze sonstige Kundschaft hatte sie kampflos dem Sanitätsrat Querfot und der in Stralsund verbliebenen Hebammenschaft überlassen. Äußerlich angesehen, schien sie ein strenges Regiment über die Wöchnerin und den kleinen Sohn zu führen, aber Catriona mußte nur einmal die Miene verziehen, so wurde die Kakeldütt kopflos. Manchmal fand ich sie auf dem Flur in Tränen aufgelöst: Sie tauge nichts mehr, sie werde eben alt, die gnädige Frau habe ganz recht ... Dabei ahnte die gnädige Frau nicht das geringste von diesen Stürmen, die sie entfesselte!

Ja, gewaltig hatte sich unter Catrionas Einfluß die handfeste Schimpferin aus der Badstüber Straße verändert. Nur wenn es kleine Zusammenstöße mit Emma und Elias gab, flammte noch etwas von dem alten Kampfgeist in der Kakeldütt auf, denn das »Pummelchen« betreute Catrionas leibliches Wohl, und eine so glänzende Köchin sie auch war, der Kakeldütt, die es aus manchem schlichten Haus doch anders hätte wissen müssen, der Kakeldütt kochte sie noch lange nicht glänzend genug. Catriona brauchte nur einmal etwas weniger gegessen zu haben, oder die Kakeldütt brauchte sich das auch nur einzubilden, so gingen die Vorwürfe los. Die Hühner waren zäh und die Brühen versalzen! Dies war zu heiß gewesen und jenes zu kalt.

So freundlich die alte Dienerin sonst auch war, mit der Kakeldütt konnte sie in einem kräftigen Ton reden, und so gab es lange Gefechte, natürlich immer nur vor der Tür der Wochenstube, im Flüsterton, Gefechte, die meist auf beiden Seiten mit Tränen endeten.

Dann erklärte Emma, sie lege das Kochgeschäft nieder, und die Kakeldütt fing an, ihre große, schwarze Ledertasche zu packen. Aber Catriona brauchte nur zu sagen: »Ach, Emma, ich habe solch schrecklichen Hunger nach einer Röstschnitte mit Ihrer wunderbaren Gänseleberwurst!« – so lief das Pummelchen schon.

Und wieder sagte Catriona: »Frau Kakeldütt, unser Prinz, mein Spatz – vorhin wie Sie draußen waren, kam es mir ganz so vor, als hätte er geniest – er wird sich doch nicht erkältet haben?« Und schon saß die Kakeldütt als Wache neben dem Bett des Kleinen, entschlossen, heroisch die ganze Nacht durchzuwachen und jeden Schnupfen im Keime zu ersticken.

Der Professor hatte am wenigsten von allen Zeit, sich in die stille Wochenstube zu begeben, sosehr es ihn oft auch nach Ruhe und Frieden gelüstete. Er bekam so leicht keinen Urlaub. Der Rauhbold hatte Gefallen an ihm gefunden und wollte den Professor immer um sich haben. Das war ein schweres Amt, auch wenn der Alte nicht in quälsüchtiger Stimmung war. Denn in diesen Tagen nach dem Ausbruch, in diesen Tagen völliger Abstinenz, war mein Onkel von einer schrecklichen Ruhelosigkeit.

Sofort nach dem um sechs Uhr morgens eingenommenen Frühstück – Elias hatte dafür zu sorgen, daß der Professor sich auch pünktlich einfand, während ich weiterschlafen durfte –, also spätestens um halb sieben nahm der Alte seinen Knotenstock und machte sich auf den Weg zu seinen Pächtern – mit dem Professor. Fünf Stunden lang schleppte er den zierlichen Mann mit sich, über Felder und Wiesen, durch Regen und Sonnenschein, erbarmungslos. Schlag für Schlag wurde besichtigt, der Professor hatte Notizen zu machen. Er mußte auch bis unter den Hahnebalken der Scheune klettern, um nachzuprüfen, ob das Dach auch wirklich undicht war. Er mußte bäuchlings unter Koppelzäunen durchkriechen und wildes Rindvieh dem Großonkel zutreiben, daß der es auch von der Nähe ansehen könne. Vor allem aber hatte er auf jedem Pachthof das unvermeidliche Ehrenfrühstück abzuessen und abzutrinken, einschließlich des Lassenthinschen Anteils. Meist kam der Professor von diesen Wegen völlig aufgelöst und am Ende seiner Kräfte zurück. »Nun weiß ich es, Strammin«, sagte er dann wohl, »wie es den Zwergen und Hausnarren früher zumute war. Nicht umsonst habe ich mich gleich, als ich Sie kennenlernte, zu Ihrem Hanswurst ernannt – es war eine Vorahnung. Aber daß es so schlimm kommen würde, das hätte ich nie gedacht.«

Er tat mir herzlich leid, und ich versuchte auch alles, um ihn von diesen Wegen freizubekommen. Aber der Großonkel war erbarmungslos. »Nichts da, Bursche«, sagte er. »Ich habe jetzt bald siebzig Jahre mit einem Lassenthin Umgang, nämlich mit mir, ich kann schon deine Visage nicht sehen. Du wirst immer lassenthinscher. Aber bilde dir bloß nicht ein, daß du darum mehr Aussicht auf meine Erbschaft hast. Trolle dich, Jüngling! Deine geliebte Bessy steht ja wohl wieder in Aussicht, möglich, daß sie noch Geschmack an dir findet, obwohl ich es nicht verstehe.«

Ich versicherte, daß Bessy nicht in Aussicht stehe und daß ich gern den Weg mitgemacht hätte, ich wolle auch einmal für unsere Landwirtschaft etwas zulernen.

»Eure Landwirtschaft!« höhnte dann der Herr von Ückelitz. »Stramminer Landwirtschaft wohl? Hoffmannsche Landwirtschaft meinst du doch! Ohne euern dicken Inspektor Hoffmann wäret ihr doch längst erschossen. Es soll ja hier Jüngelchen geben, die nicht einmal ein paar Zentner Weizen richtig in Stralsund abliefern können!« (Woher er das wieder wußte, war mir rätselhaft, jedenfalls wußte er es.) »Nein, es ist genug, daß ich deine Visage bei den Mahlzeiten ertrage. Erbschleicher! Kommen Sie, Professor, heute nehmen wir eine Flinte mit, und ich zeige Ihnen, wie man Rebhühner schießt.«

»Rebhühner haben jetzt aber Schonzeit«, wagte ich zu bemerken.

»Den Donner!« brüllte er und sprang auf mich zu. »Muß dieser Gockel ewig krähen? Ich drehe dir den Hals um.« Er stand vor mir, die Adern an seinen Schläfen schwollen zu Stricken, in solchen Augenblicken war er wirklich sehr ungemütlich. Aber nachdem er mich lange genug angeblitzt hatte, sagte er verächtlich: »Angst hast du ja doch, Strammin. Bloß hast du noch mehr Angst, dir deine Angst anmerken zu lassen. Fort mit dir!«

Und er schleppte den unseligen Professor zur Hühnerjagd durch triefende Kartoffel- und Rübenfelder, trotz all meiner Bemühungen. Nein, der Professor hatte keine guten Tage, ich bewunderte den Heroismus, mit dem er es auf seinem Posten aushielt. Er hatte keine so dringende Ursache, auszuhalten wie ich, er liebte Catriona nicht. Ich war durch Berufung zu meinem Posten gekommen, er nur durch Zufall. Für mich wäre es eine Schande gewesen, ihn zu verlassen, für ihn keine.

Aber er verließ ihn nicht. Er hielt aus und wurde nicht einmal schlechter Laune dabei. Mit immer neuem Witz parierte er die Übergriffe des Rauhbolds, er vergab sich nichts. Manchmal, wenn die beiden sich so miteinander vergnügten, mußte ich an eine Riesendogge denken, die mit einem Kätzchen spielt. Die Riesendogge muß nur einmal schlucken, und das Kätzchen ist weg, darum zeigte das Kätzchen doch seine Krallen, wenn die Dogge zu tolpatschig wurde. Manchmal fauchte das Kätzchen direkt, ich meine, der Professor ...

Oft, sooft sie sich bei ihren Eltern nur freischwindeln konnte, war auch Bessy auf Ückelitz. War Bessy da, ging alles glatter. Es gab keine Streitigkeiten mehr zwischen der Kakeldütt und Emma, Catriona aß regelmäßiger, und kam Bessy zu den Mahlzeiten in die Höhle oder auf die Terrasse, so benahm sich der Großonkel sehr viel gesitteter, und der Professor mußte nicht mehr essen, als sein Magen vertrug. Es ging eine solche Atmosphäre von Zuverlässigkeit und Anständigkeit von Bessy aus, daß keiner sich ihr ganz entziehen konnte. Natürlich nannte sie der Rauhbold weiter mit solchen Titeln wie »Schnattergänschen« oder »Pommersche Spickgans«. Er prophezeite mir auch, daß meine Braut nach fünfjähriger Ehe bereits zwei Zentner wiegen würde.

Zu so etwas lachte Bessy nur, sie war nicht die Spur empfindlich. »Reden Sie nur, Herr von Lassenthin«, lachte sie. »Darum heiratet er mich doch. Oder ich ihn. Zwei Zentner – Sie müssen mindestens drei wiegen!«

Wenn Bessy aber auf Ückelitz weilte, saß sie doch meist in Catrionas Zimmer. Wie die beiden Frauen eigentlich miteinander standen, daraus konnte ich nicht klug werden. Ob sie in meiner Abwesenheit viel miteinander redeten, ich ahnte es nicht. War ich zugegen, so wechselten sie nur selten ein Wort. Meist saß Bessy am Fenster und nähte oder häkelte etwas Winziges. Der Erbprinz war ja etwas überraschend gekommen. Jetzt mußte in Eile eine Aussteuer für ihn beschafft werden, eine Arbeit, an der sich übrigens als einzige Catriona nie beteiligte, sei es, weil sie noch zu schwach war, sei es, weil ihr so was nicht lag.

Wenn ich dann also neben Catrionas Bett saß und sie anschaute oder auch mit ihr plauderte, so saß Bessy mit ihrer Näherei am Fenster und schaute nie auch nur mit einem Blick zu uns herüber, beteiligte sich kaum je mit einem Wort an unserem Gespräch. Es war kein schmollendes Schweigen – Schmollen war überhaupt nicht Bessys Art –, sie ließ mich nie mit dem leisesten Wort merken, daß ihr diese Besuche mißfielen. Sie war jetzt mein bester Kamerad. Auf dem Flur durfte ich ihr mein Herz ausschütten, wenn ich Catriona abgespannt oder kurz angebunden gefunden hatte. Bessy munterte mich dann immer mit ein paar Worten auf. Oder ich klagte ihr auch meine Sorgen wegen Mama. Ich hatte noch immer nichts von Strammin gehört. Es war kein Zweifel: Mama war ernstlich und dauerhaft böse mit mir, die ihrem Mustersöhnchen nie länger als eine halbe Stunde gezürnt hatte. Aber jetzt zürnte sie. Es machte mir Kummer, Mama so weh zu tun. Aber was sollte ich machen? Konnte ich anders handeln, mußte ich hier nicht aushalten, bis – ja, bis meine Aufgabe erfüllt war?

Bessy war auch der Ansicht, daß ich aushalten mußte. Übrigens war sie es auch gewesen, die mich mit Kleidung und Wäsche versorgt hatte. Sie hatte ihren Bruder geplündert. So war ich wenigstens meinen Reitstiefeln entronnen und sah wieder menschlich aus. Von den versengten Haaren war auch nichts mehr zu sehen. Elias hatte mir die Haare kurz geschnitten, und allein das Horn auf der Stirn schwand nur langsam und unter täglichem Farbenwechsel.

Die längsten und eifrigsten Gespräche mit Bessy führte ich aber wegen des alten Lassenthin. Der Rauhbold wurde uns immer rätselhafter, wir mißtrauten ihm immer mehr. Es war ja eigentlich völlig ausgeschlossen, daß dieser menschenscheue Einsiedler nichts von all den Veränderungen merken sollte, die jetzt über Ückelitz dahingingen. Schon die Tatsache, daß ständig zwei, drei Gäste ohne jeden ersichtlichen Zweck hier wohnten, mußte ihn doch stutzig machen, selbst wenn er nie einen Laut aus der Wöchnerinnenstube hörte. Wir konnten uns sein Verhalten nicht erklären.

Schon am ersten Tage hatte sich herausgestellt, daß das alte Ehepaar Elias den plötzlichen Arbeitszuwachs nicht allein bewältigen konnte. Die Zimmer mußten in einen einigermaßen wohnlichen Zustand versetzt, für viel mehr Leute mußte gekocht werden. So waren ein paar Frauen aus dem Dorf zu Hilfe geholt worden. Sie kamen am frühen Morgen, wurden durch Elias über die Turmtreppe in das obere Stockwerk eingelassen und ebenso heimlich wieder fortgeführt. Aber das alles war ja nur Versteckspielen. Beim Reinemachen gibt es eben keine Heimlichkeiten: Jetzt klappern Eimer, jetzt hört man den Schrubber gehen, und nun sieht der Rauhbold gar vom Garten her zwei stämmige Beine auf einem Fensterbrett: Die Scheiben werden geputzt.

»I den Donner!« rief er. »Hat die Emma aber stramme Waden, das habe ich ja noch nie gewußt.«

»Es ist eine Frau aus dem Dorf«, erklärte Bessy. »Der alten Emma wird die Arbeit mit all den Gästen zuviel.«

Schön, gut, wunderbar erklärt, aber am nächsten Tag erwischt der Großonkel das »Pummelchen«, wie es mit einem Tablett voll Speisen in das obere Stockwerk entwischen will. »Heh, Emma!« schreit er. »Komm gleich her! Du bist ja wohl ganz von Gott und seinen verdammten Heiligen verlassen,, daß du jetzt schon unser Essen nach oben schleppst! Da, in meine Höhle!«

Und wir wurden gezwungen, Catrionas Krankenkost zu essen, wobei der Großonkel es nicht an Bemerkungen über die zunehmende Geistesschwäche der alten Emma fehlen ließ.

Glaubte er wirklich an diese Geistesschwäche? Machte ihn all das veränderte Leben um sich wirklich nicht stutzig? Waren ihm keinerlei Erinnerungen an jene Schreckensnacht gekommen? Das waren die Fragen, die ich immer wieder mit Bessy diskutierte. Wenn er aber wirklich gutgläubig war – war es richtig, ihn in diesem guten Glauben zu lassen, war es nicht viel besser, ihn langsam auf all die Veränderungen vorzubereiten, statt sie einer plötzlichen Entdeckung anheimzustellen, die bei seinem Temperament nicht anders als schrecklich ausgehen konnte?

War er aber voll Mißtrauen, spielte er mit uns, so erhob sich gleich wieder die Frage: Wieviel wußte er? Gesetzt den Fall, er wußte von Catrionas Anwesenheit, so konnte er von der Geburt des Erbprinzen doch kaum etwas argwöhnen. War das nun gut oder schlecht – diese Geburt? Und wenn er uns mißtraute, wenn er viel, wenn er vielleicht alles wußte – warum hielt er uns noch zum Narren? Worauf wartete er? Wartete er überhaupt auf etwas? Er war solch ein Quäler, manchmal hielten wir es für sehr möglich, daß er uns nur zappeln ließ, solange ihm unsere Qual Spaß machte, und daß er dann plötzlich, vielleicht schon in zehn Minuten, vielleicht aber auch erst in zehn Tagen, uns alle aus dem Hause jagen würde, uns »Betrüger und Lügner« einschließlich Catriona und Erbprinzen!

Oh, ich kann es schon ohne alle Ruhmrederei sagen, daß wir ein recht sorgenvolles Leben auf Ückelitz führten. Wir lebten auf einem Pulverfaß und wußten nicht einmal, wann der Großonkel die Zündschnur abbrennen würde. Ja, wir wußten nicht einmal, ob Pulver im Faß war. Dabei durften wir Catriona nie etwas von all unseren Sorgen merken lassen. Sie sollte sich in aller Ruhe erholen. Es ging langsam mit dieser Erholung, sehr langsam, und wir wagten nicht einmal mehr, den Sanitätsrat Querfot zu rufen. Den hatte der Großonkel schon bei seinem dritten Besuch abgefaßt, und wenn auch der Sanitätsrat sofort vorgegeben hatte, nach dem Professor sehen zu wollen, der ihn wegen einer Magenverstimmung gerufen habe, Herr von Lassenthin hatte den alten Rat in so beleidigender Form aus dem Haus gejagt, immer mit dem Krückstock hinterdrein, jedes Wort kirschrot niederbrüllend, daß der Sanitätsrat nicht noch einmal gekommen wäre, selbst wenn wir es gewagt hätten, ihn zu rufen.

So standen die Dinge, als Herr von Lassenthin den Professor und mich eines Abends noch spät in den Garten schleppte: Er habe Kopfschmerzen und sei verdammt mißkumpabel. Er war wirklich ausnehmend schlechter und gereizter Stimmung, und diese Stimmung verbesserte sich auch nicht, als er vom Garten her in Catrionas Fenster Licht sah.

»Wer von euch beiden hat denn da schon wieder Licht brennen lassen?« schrie er wütend. »Ich füttere euch umsonst, zu saufen kriegt ihr viel zuviel, und ich trinke bloß klares Wasser, und nun veraast ihr auch noch mein Petroleum. Schnorrer, alles Schnorrer! Los, Herr von Strammin, wollen Sie sich gütigst nach oben bemühen und das Licht löschen, oder soll ich Ihnen erst mit meinem Krückstock Beine machen?!«

Ich bemerkte höflich, daß das Licht in Fräulein von Schalenbergs Zimmer brenne ...

Aber damit hatte ich es nur noch schlimmer gemacht. »So?« brüllte der Großonkel. »Die ist auch schon wieder hier? Und geruht nicht einmal, zum Abendessen zu kommen, die Schnattergans? Ja, habe ich denn hier ein Hotel, wo jeder tun und lassen kann, was er will, wo es nicht einmal nötig ist, mir guten Tag zu sagen? Auf der Stelle holst du sie 'runter, und fein entschuldigen wird sie sich bei mir, oder ich bringe sie eigenhändig auf den Trab.«

Ich stürzte schon nach oben, sonst war er wirklich imstande, selbst in Catrionas Zimmer zu laufen, um das kostbare Licht zu löschen, und was dann geschah ...

Gottlob war Bessy wirklich da! Catriona lag im Halbschlaf. Wir löschten die Lampe und liefen gemeinsam nach unten. Dort aber hatte sich indessen ein zweites Unglück ereignet, das all unsere Bemühungen fast vereitelt hätte.

Nachdem der Onkel sich, noch immer weiter nachgrollend, davon überzeugt hatte, daß die Lampe wirklich erloschen war, hatte er den Professor am Arm gepackt und ihn in den dunklen Park geschleppt. Dabei hatte er sich plötzlich darüber ausgelassen, wie unpassend es doch sei, daß ein Brautpaar ohne alle Gardedame Zimmer an Zimmer hause. Zu seinen Zeiten habe es so etwas nicht gegeben, und als er jung gewesen, hätte er auch keinem jungen Mädchen raten wollen, mit ihm Tür an Tür zu hausen. Na ja, aber man sehe es ja wieder, dieser Lutz sei bloß ein Schmachtlappen. Und mit einem seiner überraschenden Übergänge hatte er mir plötzlich Vorwürfe gemacht, daß Bessy ungefährdet neben mir hausen konnte.

»All dies verkorkste, lasche Stramminer Blut – stellen Sie sich vor, allein dieser Vater! In seinem ganzen Leben hat der Kerl keinen Feind gehabt! Möchten Sie so leben? Ich keine Stunde.«

Damit waren sie um eine Ecke gebogen, und plötzlich, wie aus der Erde gewachsen, hatte vor ihnen im düsteren Park eine weibliche Gestalt gestanden, die bei dem Auftauchen der beiden Männer schreckensvoll aufkreischte.

Der Schloßherr von Ückelitz hatte einen Satz getan und sie gepackt: »Habe ich dich endlich, du alte Hexe?! Was kriechst du hier herum? Was hast du hier in meinem Park herumzukriechen? Hexen, was? Mir wieder mein Ischias anhexen, wie? Willst du reden? Ich schlage dir alle Knochen im Leibe entzwei!«

Und dabei hatte er das Weiblein derart geschüttelt und hin und her gerissen, daß nur jämmerliche Angstpiepser aus ihrem Munde flatterten.

»Herr von Lassenthin«, sagte der Professor bittend, »stellen Sie die Frau doch einen Augenblick ruhig hin. So kann sie ja kein Wort reden.«

»Hinstellen, so, das möchten Sie! Und auf der Stelle schlägt die alte Hexe ein Kreuz und verwandelt mich in eine Kröte. Oder sie fliegt als Krähe. He, du, was, das kannst du alles, aber ich werde dich hexen lehren!«

Er schüttelte sie noch immer, und sie, die schon vorher eine namenlose Angst vor dem Schloßherrn von Ückelitz gehabt hatte, stöhnte nur kläglich: »Ich bin doch die Kakeldütt, gnädiger Herr! Ich bin doch die Hebamme!«

Soweit waren die drei gediehen, als Bessy und ich hinzukamen. Bessy war die Energischste. Ärgerlich sagte sie: »Lassen Sie die alte Frau auf der Stelle los, Herr von Lassenthin! Schämen Sie sich gar nicht? So ein großer Mann und so ein armes, kleines Weiblein –«

»Papperlapapp! Schnadderdirack!« machte mein Großonkel, setzte die Kakeldütt aber wenigstens wieder auf die Erde, wenn er sie auch nicht losließ. »Hast du es denn nicht gehört, Schalenbergerin? Sie sagt, sie ist 'ne Hebamme. Was macht 'ne Hebamme auf Ückelitz? I wo, sie ist 'ne alte Hexe, und 'ne Hexe muß man schütteln, bis der Teufel mit Ächzen aus ihr fährt ...«

Und er wollte schon wieder schütteln.

»Halt, Großonkel!« rief ich. »Ich kenne die Frau, es ist wirklich die Hebamme Kakeldütt aus Stralsund ...«

»Und sie macht«, log der Professor mutig, »die Entbindung bei Ihrem Pächter Tredup, erst gestern hab ich sie da im Dorf gesehen.«

»Ach nee?« grinste der Herr von Lassenthin. »Lassen sich jetzt auch meine Pächter entbinden?«

»Aber es ist wahr!« rief die Kakeldütt weinerlich. »Jedes Wort, was die Herren sagen, ist wahr.«

»Bist du ruhig, Hexe?« schrie der Onkel wieder. »Willst mir 'ne Rose ins Gesicht pusten? Und wenn alles wahr ist, was machst du hier in meinem Park, he? Wie bist du überhaupt über die Mauer gekommen?«

»Sie wissen ganz gut«, rief wieder ich, »daß die Mauer an zehn Stellen eingefallen ist.«

»Du lügst, Erbschleicher!« brüllte der Onkel. »An einer Stelle ist sie eingefallen, nur da, wo die Buche umliegt.«

»Da bin ich auch 'rübergeklettert, gnädiger Herr!« rief die Kakeldütt angstvoll. »Bei der Buche bin ich 'rübergeklettert, das ist gewiß wahr.«

»Und warum bist du 'rübergeklettert?« fragte der Onkel unerbittlich. »Was hast du in meinem Park gewollt?« Tiefes Schweigen. »Weißt du nicht, daß ich der Rauhbold bin? Weißt du nicht, was ich mit solchen tue, wie du eine bist? Mit Ketten hänge ich dich an die Wand im Verlies, ich habe noch ein richtiges Verlies.«

»Lieber gnädiger Herr«, jammerte die Alte. »Lassen Sie mich doch nur gehen! All die jungen Herrschaften sind meine Zeugen, ich habe nichts Böses getan. Ich habe doch nur –«

Sie hätte alles herausgeschwatzt in ihrer namenlosen Angst, da sprang Bessy in die Bresche. Sie war und blieb das mutigste Mädchen, das ich je gesehen habe. Sie sagte: »Wenn Sie's denn durchaus wissen wollen, Herr von Lassenthin, ich hab Frau Kakeldütt in den Park bestellt, ich hab sie wegen was um Rat fragen wollen. Und jetzt«, sagte Bessy mit erhobener Stimme, die doch schon mit Tränen kämpfte, »und wenn jetzt ein einziger von euch noch ein Wort sagt, so heule ich los. Kommen Sie, Frau Kakeldütt, ich bringe Sie nach Haus.«

Damit hatte sie die alte Frau schon unter den Arm gefaßt und verschwand mit ihr im nächtlichen Park.

Wir aber standen eine Weile stumm, mir war das Herz mächtig bewegt vom Opfermut meiner Bessy.

»Heiliges Kanonenrohr«, sagte der Onkel dann. »Da hat's aber geblitzt! Ich fürchte, Jungherr von Strammin, das sind faule Fische. Verdammt faule Fische sind das.«

»Ach, halten Sie den Mund!« rief ich zornig. »Sie müssen Ihre Ekelhaftigkeit auch nicht übertreiben. Manchmal sind Sie einfach unerträglich ekelhaft.«

Der Onkel nahm lachend meinen Arm. »Bin ich das, Lutz?« lachte er. »Bin ich einfach unerträglich ekelhaft? Darauf müssen wir einen trinken, das heißt, ihr trinkt, und ich sehe euch zu. Mach dir keine Gedanken, Lutz, deine Bessy ist doch ein famoses Mädel, wie sie geht und steht ...«

»Halten Sie das Maul!« schrie ich grob und riß mich von ihm los.

Ich lief in den Park, ich lief, bis sein häßliches, triumphierendes Gelächter hinter mir verhallt war. Dann setzte ich mich ins Moos und fing an nachzudenken. Ja, auch dieses Mal war die Entdeckung, so nahe sie auch gewesen war, wieder gebannt, aber mit welchem Opfer!

Und zum erstenmal kam mir der Gedanke, daß es ja ganz schön sei, so still im Bett zu liegen und sich pflegen zu lassen und nie eine Frage zu tun, daß es aber doch ein bißchen wenig sei. Zum erstenmal fing ich an, Catriona und Bessy miteinander zu vergleichen, gegeneinander abzuwägen. Es konnte wohl kaum ein Zweifel sein, wer die Mutigere, die Aufopferndere von beiden war.

Aber wenn ich meine Gedanken soweit geordnet hatte, kam immer das Herz dazwischen, und das Herz sprach: Das ist ja alles ganz gleich! Hier kommt es nicht auf solche Dinge an! Sie ist wie eine Blume, und auch eine Blume nimmt alle Pflege und Sorgfalt selbstverständlich und dankt uns nur dadurch, daß sie schön ist! Wie schön ist Catriona!

Und wenn ich dann eine Weile an Catriona gedacht hatte, drängte sich wieder Bessys Bild vor meine Augen, und ich wußte, nie würde ich einen verläßlicheren, treueren Menschen finden als sie. Plötzlich fiel mir ein, wie lange sie mich nicht »Euer Liebden« angeredet hatte, und die kaum begonnenen Küsse hatten auch schon wieder aufgehört.

Ich schlich mich an der halboffenen Höhle vorbei, drinnen hörte ich den Professor laut mit dem Großonkel lachen, aber nach denen sehnte ich mich nicht. Ich ging nach oben und klopfte an Bessys Tür. Aber Bessy antwortete nicht, und Emma, die ich auf dem Flur traf, sagte mir, sie sei vor fünf Minuten nach Schalenberg abgeritten. Ich verstand es gut, daß sie uns alle jetzt nicht sehen mochte, aber es tat mir doch sehr leid. Dann fragte mich Emma noch, ob ich vielleicht ein halbes Stündchen zu Frau von Lassenthin wolle? Sie sei eben aufgewacht und habe nach mir gefragt. Aber diesen Abend war ich nicht für Catriona in Stimmung. Ich ging auf meine Stube, legte mich ins Fenster und fing an, die Sterne anzuschauen. Dabei dachte ich wieder an Catriona und Bessy und an mein zerrissenes Herz. Spät und gar nicht im Einklang mit mir ging ich schlafen.

Der nächste Tag war der 1. Juli, ein Tag, der uns auf einen Schlag drückende, erbarmungslose Hochsommerhitze bescherte. Obwohl beide Fenster meiner Stube weit offenstanden, war kein frischer Lufthauch zu spüren. Die Gardinen hingen bewegungslos. Als ich in den Park hinabsah, bewegte sich dort kein Blatt. Die Vögel sangen nicht, sie flatterten nur zankend umeinander.

Elias meldete mir, daß der Großonkel schon dringlich nach mir verlange; vorher aber sei es doch wohl besser, nach der jungen gnädigen Frau zu sehen.

Als ich dieses Mal bei Catriona eintrat, galt mein erster Blick dem Fenstersitz, aber er war leer, Bessy war noch nicht zurückgekommen. Plötzlich fiel es mir schwer aufs Herz, wie es hier gehen würde, wenn Bessy überhaupt nicht mehr hierherkam? Nach dem Auftritt gestern abend wäre solches Fernbleiben schon zu verstehen gewesen. Aber es würde nicht gutgehen ohne Bessy, gar nicht gut.

Ich bekam das sofort zu merken. Catriona war – wie wir alle an diesem Morgen übrigens – sehr gereizter Stimmung. Sie verlangte von mir, ich sollte der Kakeldütt den Kopf zurechtsetzen, die durchaus fort wolle. Was sie wohl ohne die Wärterin anfangen solle? Sie liege schon ohnedies hier ständig wie verlassen und verkauft. Was da überhaupt gestern abend geschehen sei? Ob wir wirklich nicht imstande seien, solch alte Frau vor den Pöbeleien fremder Männer zu beschützen? Bessy sei auch ohne Abschied fortgelaufen. Das alles wurde in einem weniger scheltenden als klagenden Ton vorgebracht, den ich an diesem Morgen ziemlich unausstehlich fand. Aber ich nahm mich zusammen, versprach, die Kakeldütt zum Bleiben zu bewegen, ich versprach auch die baldige Rückkehr Bessys. Dann gab ich Catriona auf ihre Bitte den kleinen Sohn ins Bett – ich faßte ihn vorsichtig an, als könnte ich ihn zerbrechen, und war dabei immer in der Gefahr, ihn fallen zu lassen.

Einen Augenblick blieb ich doch noch stehen und sah auf das liebliche Bild zurück. »Weißt du noch, Catriona«, fragte ich, »wie du mir das Lied gesungen hast: Da oben auf dem Berge, da wehet der Wind, da sitzet Maria und wieget ihr Kind ... Das war in der Kajüte der alten Tirpitz, und du hattest die große Lampe gelöscht. Wie lange das schon her scheint, und es sind doch erst ein paar Tage.«

»Komm, mein Ritter Lutz!« rief Catriona. »Nicht wahr, ich bin eben unausstehlich gewesen? Habe Geduld mit mir, ein Ritter muß nicht nur große Taten verrichten, sondern auch Geduld haben können.«

Ich hatte mich über sie geneigt. Sie nahm mein Gesicht zwischen ihre beiden Hände und sah mich an. »Du bekommst wirklich ein ganz anderes Gesicht in diesen Tagen. Damals, als ich dich zuerst im ›Halben Mond‹ sah, warst du nur ein Junge, ein hübscher, wohlerzogener, weicher Junge. Aber nun schaut überall schon ein Männergesicht hindurch, da und dort.« Sie nickte mit dem Kopf nach den einzelnen Stellen.

»Ach, Catriona, ich fürchte, es wird nur mein Horn sein, das mich so verändert.«

Sie lachte. »Geh mit deinem Horn, Lutz! Ich glaube, du bist schrecklich eitel, bestimmt betrachtest du dich öfter im Spiegel als ich mich.« Sie sah mich mit lachenden Augen an, auf dem Grunde dieser Augen sah ich endlich wieder einmal die Goldflitter blinken. Dann küßte sie mich sachte auf die Stirn.

»Und nun geh, Lutz, ich muß jetzt den Erbprinzen versorgen. Schicke mir gleich die Kakeldütt und binde ihr auf die Seele, sie soll nicht muckschen mit mir und mir auch nicht wieder so etwas Unangenehmes erzählen. Das vertragen wir beide nicht, ich nicht und mein Sohn auch nicht.«

Ich schickte ihr also die Kakeldütt. Es kostete Überredung und einige Versprechungen, aber schließlich ließ sie sich bereit finden, wenigstens noch so lange Dienst zu tun, bis Fräulein von Schalenberg zurückkomme. Aber so was wie gestern abend ertrage sie nicht noch einmal. Hexe und diese Schüttelei – sie wiederholte alles noch einmal. Einmal? Zehnmal! Und ich ließ es geduldig über mich ergehen, weil ich mir sagte, wenn sie mir ihr Herz ausschüttet, werde sie es bei Catriona nicht mehr tun. Ich belobigte sie noch, daß sie der jungen Frau nichts vom Rauhbold gesagt, sondern von fremden Männern gesprochen habe. Dann aber machte ich, daß ich zu meinem Frühstück und meinem Großonkel kam.

Es wurde heute, trotz der glühenden Hochsommerhitze, in der Höhle eingenommen, nicht wie sonst auf der Gartenterrasse, sicher wieder eine der quälerischen Launen meines Herrn Großonkels. Die Höhle war der Platz von Ückelitz, der allen Reinemachgelüsten der alten Emma widerstanden hatte. Sie sah an diesem strahlenden Sommertage doppelt düster und schmutzig aus. Dazu brannte natürlich wie immer ein Feuer im Kamin, und wenn es draußen schon schwül war, so herrschte hier drinnen eine Atmosphäre, die einem einfach den Atem benahm:

Der Großonkel und der Professor waren schon mit ihrem Frühstück fertig. Der Professor saß sehr blaß da, mit einer senkrechten Falte zwischen den Brauen. Sicher war er schon wieder sehr gequält worden. Er erwiderte kaum meinen Gruß, als ich mich setzte. Der Großonkel aber schoß einen scharfen Blick unter seinen buschigen Brauen auf mich und fragte: »Wir kennen also immer noch nicht die Tischzeiten, Söhnchen?«

»Ich war bisher vom Frühstück dispensiert, Herr von Lassenthin«, antwortete ich und griff nach einer Semmel.

»Halt!« rief der Onkel so stark, daß ich erschrocken die Semmel fallen ließ. »Elias, deck den Frühstückstisch ab! Es ist ein alter guter Spruch: Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muß sehen, was übrigbleibt. Für dich bleibt heute gar nichts übrig.«

»Es ist schon recht«, sagte ich aufstehend. »Du liebst eben die Gegensätze. Heute mittag wirst du uns wahrscheinlich wieder mästen. Guten Morgen.« Und ich wollte aus der Tür.

»Halt!« schrie der Herr von Lassenthin wieder. »Ich brauche dich noch. Will doch einmal sehen, ob du noch zu was anderm taugst als zum Gockeln. Sie, Herr Professor Arland«, wendete er sich mit spöttischer Höflichkeit an den wortlos Dasitzenden, »sind vorläufig in Gnaden entlassen. Ach was, Sie sind überhaupt entlassen. Sie können machen, daß Sie von hier fortkommen! Sie langweilen mich.« Plötzlich brüllte er: »Reisen Sie, verstehen Sie mich nicht, reisen Sie noch diese Stunde!«

Der Professor hatte, am Tisch sitzend, ohne eine Miene zu verziehen, diesen Ausbruch angehört. Nun sagte er gleichmütig: »Ich bin ohne Ihre Einladung hierhergekommen, Herr von Lassenthin, und ich werde auch ohne Ihre Einladung von hier abfahren, wann es mir richtig erscheint.«

Der Riese sah mit einer Art mitleidiger Verachtung auf den kleinen Mann hinunter. »Und wann wird es Ihnen ungefähr richtig erscheinen, mein lieber Professor? Ich erkundige mich nur, damit ich Sie rechtzeitig vorher zur Tür hinausschmeiße.«

»Ich werde nicht eher abfahren ... zum Beispiel nicht eher, bis ich diesen jungen Mann sicher vor Ihnen weiß.«

»Ich soll euch also beide auf einmal hinausschmeißen?« brüllte der Schloßherr von Ückelitz. »Das könnt ihr haben! Das könnt ihr auf der Stelle haben!«

Und er streckte seine gewaltigen Arme ...

Mir schoß es durch den Kopf, was wohl aus Catriona und dem Kind werden würde, wenn wir jetzt vor die Tür gesetzt wurden, Catriona allein unter dem Schutze der beiden alten Eliasleute und der Kakeldütt. Schon vorher hatte ich auf dem Nebentisch einen schwarzen, silberbeschlagenen Kasten mit dem Wappen der Lassenthins entdeckt. Jetzt schlug ich ihn auf und rief: »Das sind aber verflucht schöne Pistolen, Herr von Lassenthin! Das sind wohl Duellpistolen?«

So zornig der Großonkel auch war, er warf doch einen Blick auf mich. »Was verstehst du schon von Pistolen?« fragte er verächtlich. »So ein Muttersöhnchen! Ein Erbschleicher!«

»Ich habe zu Haus ganz gut Pistole schießen können«, erwiderte ich, nur im Bestreben, seinen Zorn zu zerstreuen. »Auf fünfzehn Meter treffe ich Herzas von fünf Malen viermal!«

»Das hast du in deinen Hals gelogen, Bursche!« rief der Onkel. »Das sollst du mir erst einmal zeigen! Ihr Strammins habt nie schießen können. Ja, wenn's mit Schrot über die armen Treiber herging ...!«

»Weder Papa noch ich haben je einen Treiber angeschossen, das haben Sie eben erst erfunden«, sagte ich ärgerlich. »Kommen Sie doch her, lassen Sie uns doch die Pistolen versuchen! Natürlich muß ich mich auf diese Waffe erst einschießen.«

»Ziehst dich schon zurück, Jüngelchen?« spottete der Onkel. »Baust schon vor, was?« Er klemmte den Kasten unter den Arm.

»Komm, jetzt sollst du mir zeigen, ob du noch was anderes bist als ein Weiberknecht.«

Damit lief er los, und ich lief ihm nach, heilfroh, daß er über die Pistolen den Professor und seine Abreise völlig vergessen hatte. Wenn ich mir aber einbildete, es gehe jetzt auf einen Pistolenschießstand oder doch wenigstens in den Park, so hatte ich mich gewaltig geirrt. Nein, der Rauhbold lief nur ein einziges Zimmer weiter, in eine Art großen Bankettsaal.

»Elias!« brüllte er. »Bring Spielkarten und Reißnägel! Mach die Fenster auf!«

»Wollen wir hier schießen?« fragte ich und sah zur Decke empor.

»Paßt dir das nicht? Warum paßt dir das denn nicht?«

Ich konnte ihm nicht gut sagen, daß direkt über diesem Saal Catrionas Zimmer lag, so meinte ich: »Wir werden die ganze Wand zerschießen!«

»Wir werden die Wand überhaupt nicht zerschießen! Da steht ja so ein eichener Schrank, der gibt einen wunderbaren Kugelfang ab.«

»Im Schrank steht aber das alte Meißner Geschirr!« ließ sich jetzt Elias hören.

»Und was geht dich mein Meißner Geschirr an?« brüllte der Alte los. »Seid ihr alle verrückt geworden? Bin ich hier der Herr oder ihr? Wartet nur, ich schmeiße euch heute noch alle 'raus. Hier wird geschossen und nirgendwo anders!« Und seine Stimme duldete keinen Widerspruch.

Er hob die Pistole und jagte eine Kugel durch den Saal in den Schrank. Der Schuß knallte wie ein scharfer Peitschenschlag. Mir war, als habe ich oben Kreischen gehört. Aber im Schrank hatte es nicht gescheppert.

»Sieh nach, Elias, ich wette, die Kugel ist im Holz steckengeblieben. Du mit deinem dußligen Porzellan!«

Die Kugel war wirklich im Eichenholz steckengeblieben, der Schrank war wie aus Eisen gebaut, mit mehrzölligen Brettern, nicht so ein Schalbretterschrank wie die Dinger von heute.

»Verdufte, Elias«, rief jetzt der Großonkel und pinnte eine Spielkarte am Schrank fest. Es war aber ein Treffas, das immer Verdruß bringt. »Und daß ich dich hier heute nicht wiedersehe! Hier geht's heute scharf zu, ich bin verdammt mißkumpabel. Los, Lutz, zieh dein dämliches Jackett aus und zeige, was du kannst – du Strammin!«

Ich zielte so lange, daß der Großonkel schon wieder zu spotten anfing. »So ist's richtig, mein Junge. In der Zeit hat dir dein Gegner schon sein ganzes Magazin in den Bauch geknallt. Genau wie dein Herr Papa, immer sachte, immer sutje, komm ich heut nicht, komm ich morgen ...«

Ich schoß und hatte mehr an den Knall als an das Ziel gedacht. Hoffentlich war Elias jetzt schon oben und beruhigte Catriona und die Kakeldütt.

Der Onkel stieß ein Wutgebrüll aus. »Nicht einmal die Karte hast du getroffen, du Prahlhans, du Schmachtlappen! Da – zwölf Zentimeter an der Karte vorbei. Hast du überhaupt schon je solch Dings in der Hand gehabt, du elender Säugling, du?«

»Jetzt schießen Sie erst einmal, Herr von Lassenthin«, antwortete ich. »Ich sagte es Ihnen doch, ich muß mich erst einschießen.«

»Einschießen!« murrte der Alte. »Ich bin immer eingeschossen.«

Aber er traf nur die äußerste Ecke der Karte.

»Nun wieder du!« sagte er.

Während ich zielte, dachte ich daran, daß die Zustände in diesem Hause immer unhaltbarer wurden. Einen Augenblick war ich willens, nicht noch einmal zu schießen, sondern ihm einfach zu sagen, wer da im Zimmer über uns lag. Aber dann dachte ich plötzlich, ob er das nicht doch schon sehr gut wußte, ob er nicht darauf lauerte, daß ich schlapp machte, ob er nicht mit Absicht, aus reiner Freude am Quälen, diesen Raum als Schießstand gewählt hatte. So sagte ich nichts, sondern schoß.

»Das war ein Schweinstreffer!« sagte der Großonkel, denn ich hatte wirklich den einen Kreuzbalken vom Treffas gefaßt.

»Es werden noch mehr solche Schweinstreffer kommen, Herr Großonkel, warten Sie nur ab.«

Damit begann unsere richtige Schießerei, und ich muß gestehen, zeitweise war ich mit solcher Leidenschaft dabei, daß ich sogar Catriona vergaß. Schuß folgte auf Schuß, wir zerfetzten eine Karte nach der andern. Der Pulvergestank und der Qualm im Saal wurden immer schlimmer, aber wir achteten kaum darauf. Für einen alten Mann, der noch dazu ein Trinker war, schoß der Herr von Lassenthin großartig. Er ließ seiner Hand keine Zeit zum Zittern. Er hatte eine merkwürdige Art, von unten her die Pistole blitzschnell gegen das Ziel zu heben, und kaum war sie in Augenhöhe, daß er visieren konnte, so schoß er auch schon.

»Die beste Art, zu schießen, Lutz«, sagte der Großonkel, der immer aufgeräumter wurde, je besser wir schossen. »Damit verblüffst du jeden Gegner. Die meisten suchen das Ziel von oben. Ganz falsch: von unten her und schnell. Versuch es auch einmal!«

Ich versuchte es den ganzen Vormittag und hatte schließlich auch ganz beachtliche Erfolge.

»Das wirst du brauchen können, Lutz!« sagte der Großonkel, als wir zum Essen gingen. »Übe es immer – morgen schießen wir übrigens weiter.«

»Aber nicht wieder in dem verdammten Saal«, rief ich rasch, um seine gute Stimmung zu nützen. »Die Luft da drinnen ist ja zum Umsinken.«

»Ich sinke noch bei ganz andern Dingen nicht um«, sprach der Schloßherr. »Elias, wo steckt denn der Professor?«

»Der Herr Professor bittet, ihn zu entschuldigen. Er hat sich mit starken Kopfschmerzen hingelegt.«

»Dem Püppchen ist unsere Knallerei auf die Nerven gegangen«, lachte der Rauhbold. »Elias, hol Sekt 'rauf! Ich will heute mit meinem Neffen anstoßen. Er ist doch mehr ein Lassenthin als ein Strammin!«

Schade, daß der Professor bei diesem Essen nicht anwesend war. Der Alte war so guter Stimmung, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er entließ mich sogar ohne Brummen zu einem kleinen Schlaf. »Schlapper Hund«, sagte er. »Das bißchen Hitze bringt dich schon wieder um. Na, geh schon. Ich werde unterdes die Pistolen putzen. Zu Abend schießen wir in den Priesterfichten Krähen. Hast du schon einmal Krähen mit der Pistole geschossen?«

Ich hätte gern oben noch mit Catriona gesprochen, aber der Professor riet mir ab. Sie sei in ziemlicher Aufregung wegen unserer Schießerei gewesen, auch zornig auf mich, jetzt schlafe sie wohl. Auch die Kakeldütt schlafe nach ihrer unruhigen Nacht. Ebenso wolle er schlafen, und ich solle auch schlafen. Es gebe überhaupt nichts wie Schlafen an diesem feurigen Tage.

Also ging ich auf mein Zimmer und legte mich hin. Was sollte ich schon Besseres tun? Nun war ich also wieder bei Catriona in Ungnade! Und dabei hatte ich nur durch diese Schießerei die Situation gerettet. Ohne die wäre Catriona jetzt ohne Beschützer in Ückelitz. Aber das konnte ich ihr nicht erzählen. Bessy hätte ich's erzählen können. Aber Bessy war nicht hier. Ich merkte doch sehr, wie mir Bessy fehlte ...

Allmählich drusselte ich dann doch ein. Aber ich konnte keine fünf Minuten geschlafen haben, da wachte ich von Geschrei und Rufen auf. Ich saß auf meinem Diwan und starrte um mich. Ja, ich hörte ganz richtig, da schrie Catriona »Lutz! Lutz!«, und die Kakeldütt kreischte dazu. Ich sprang auf und lief in Catrionas Stube.

Dort fand ich die beiden Frauen in größter Erregung. Catriona lag zitternd im Bett, krampfhaft faßte sie meine Hand und flehte: »Lutz, bleibe hier! Lutz, verlaß mich nicht! Er war hier, Lutz! Er, der Rauhbold! Er hat mir das Kind stehlen wollen ...«

Dazu kreischte die Kakeldütt, noch in dieser Stunde gehe sie, dies Haus sei verwunschen und verhext ... Nein, segne es der Himmel, sie habe ihn nicht mehr erblickt; als sie von den Rufen der gnädigen Frau erwacht sei, habe sie gerade noch gesehen, wie die Tür sich schloß ...

Der Professor, der auch dazugekommen war, und ich, wir wechselten Blicke. Dann fingen wir sachte an, Catriona auszufragen. Nein, sie hatte ihn auch nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen. Als sie von einem Geräusch aus dem Schlaf erwacht war, hatte sie nur einen riesigen Rücken in grauer Joppe sich über das Bett des Kindes beugen sehen: »Und solch einen scheußlichen rotbraunen Nacken mit vielen Falten, einen Nacken wie ein Ochse, ein richtiger Henkersnacken. Lutz, du darfst nicht wieder von mir fortgehen. Er will dem Kind was antun. Vielleicht hat er ihm schon was eingegeben.«

Wir reichten ihr den fest schlafenden Erbprinzen. Wieder sah ich den Professor an, und der Professor sah zurück. Es war schon möglich, dies sah ihm ähnlich, dem alten Heimtücker, dem Rauhbold. Er hatte Verdacht geschöpft, vielleicht hatte er schon lange Verdacht gehabt, und nun, da das ganze Schloß in der Gluthitze schlief, sah er sich seine Gäste einmal näher an ...

Aber das durften wir Catriona nicht sagen. Wir mußten sie beruhigen. Wir redeten ihr ein, daß sie geträumt haben müsse, wir schworen, daß der Herr von Lassenthin zur Stunde schlafe.

Allmählich wurde Catriona ruhiger, aber meine Hand ließ sie nicht los. Nein, sie hatte nicht geträumt, so lebhaft, so deutlich träume sie nie. Und wenn sie doch vielleicht geträumt habe, so sei der Traum eben eine Warnung gewesen. Schlimmes drohe ihr und dem Sohn von dem alten, bösen Mann. –

Ich saß auf der Kante ihres Bettes, friedlich schlief in ihrem Arm der Sohn. Allmählich konnte sie lächeln über ihren Schreck. Ich streichelte ihr immer wieder die Hand. Der Professor heiterte unterdes die Kakeldütt auf, indem er ihr abwechselnd Hauben- und Schürzenschleifen löste. Lachend schlug sie nach seinen Händen.

Da klopfte es an die Tür. Wir fuhren herum. Auf einen Schlag war die frohe Stimmung wieder verflogen. Ich rief ahnungsvoll »Herein!« und erwartete, den Rauhbold zu sehen. Es war aber nur der Diener Elias, der mit unbewegtem Gesicht meldete: »Herr von Strammin möchten auf der Stelle zum gnädigen Herrn kommen. Aber auf der Stelle, soll ich ausdrücklich sagen.«

Catriona faßte meine Hand fester, ich tauschte wieder mit dem Professor Blicke. Jetzt ging der Tanz wohl los.

»Was ist denn los, Elias?« fragte ich. »Wo brennt's?«

Elias sah mich unbewegt an. »Es ist mir strengstens verboten, irgend etwas zu sagen!« verkündete er.

»Wie ist er denn, der Großonkel?« fragte ich noch, schon aufstehend und meine Hand aus der Catrionas lösend. »Mißkumpabel?«

Elias überlegte eine Weile. Aber seine Dienertreue siegte. »Strengstens verboten!« wiederholte er. Und mit einem Blick aus dem Fenster: »Es gibt heute wohl bestimmt noch ein Gewitter.«

Aha, dachte ich. Und sagte: »Also, Catriona, der Professor bleibt bei dir. Und ich werde auch in einer Viertelstunde wieder oben sein.«

Sie lächelte mir schwach zu. »Mit dem Gewitter, das hat der Elias anders gemeint«, flüsterte sie. »Halte die Ohren steif, Lutz! Ich denke hier an dich.«

»Ach, der Herr Großonkel gewittert öfter«, sagte ich leichthin. »Das sind wir alle schon gewöhnt.«

Ich ging vor Elias her aus der Stube. Ich rückte mein Jackett zurecht, ich fingerte an meinem Schlips. Nun gut, der Herr von Lassenthin hatte seine Gäste gesehen und würde mir jetzt den Marsch blasen. Ich war auf alles vorbereitet.

Ich war auf nichts vorbereitet, auf gar nichts.

Als ich in die Höhle trat, sahen mir zwei Gesichter entgegen, und das andere war das von Herrn Polizeimajor von Brandau.

Mein Herz fiel mir mit Eilzugsgeschwindigkeit in die Hosen.


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