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18. Kapitel

Worin Professor Kittguß und Rosemarie, ein jedes für sich, entlaufen

 

Es war erstaunlich, wieviel neugierige Gaffer solch Nest wie Lüttenhagen aufbringen konnte. Der Professor jedenfalls fand es erstaunlich und, nachdem der erste Schreck überwunden war, nicht uninteressant. Die Leute, kleine wie große, strudelten gewaltig um ihn, schwatzten ungeniert, tauschten ihre Anmerkungen. Und die wurden immer ausschweifender und wilder, da die energische Dame auf dem Roß nach der ersten, niederschmetternden Frage keine weitere Auskunft gegeben, sondern nur mit scharfen Kommandoworten die eigentliche Gefangeneneskorte zusammengestellt hatte.

Die kleine Thürke – »Sie wissen doch, diese blonde Spacke, die bei Schliekers Mädchen spielt« – war schon lange nicht nur mißbraucht, sondern lag bereits tot und verscharrt unter einem Laubhaufen der Lüttenhäger-Tischendorfer-Unsadeler-Kriwitzer Forsten. »Da such man, Nachbar! Schlau sind diese Verbrecher!«

Es war gut, daß der Professor von der biblischen Geschichte her solch starke Worte gewohnt war. So ging er unbekümmert zwischen seinen beiden Wächtern: heute früh hatte er oben auf einem schwankenden Wildgatter den rechten Lebenssinn begriffen – und so leicht war der nun doch nicht wieder auszutreiben! Auch dies gehörte jetzt zu seinem neuen Leben, es gehörte irgendwie unbedingt zu Rosemarie.

Nur die Dame, die direkt hinter seinem Rücken ritt, störte ihn etwas in seiner lächelnden Ruhe. Oder genauer gesagt, nicht einmal so sehr wie ihr Pferd, dessen Nase fast seine Schultern berührte und ihm den warmen Atem unangenehm in den Nacken blies.

Aus dem Dorf waren sie nun, die Schar Neugieriger war bis auf ein paar ganz Hartnäckige zu Kochtöpfen und Viehställen zurückgekehrt. Da drehte sich der Professor um und sagte sanft zu der drohenden Reiterin: »Gnädige Frau, Ihr Pferd pustet mir immer auf den Hals.«

Nun pustete sie verächtlich, stieß eine dicke Zigarrendampfwolke aus und sagte bissig: »Was denken Sie denn, wie es Ihnen bei Amtsgerichtsrat Schulz ergehen wird –?!«

»Führen Sie mich zu ihm?« fragte der Professor höflich.

»Ssssssst!« machte die Gnädige. »Mit Ihnen unterhalte ich mich gar nicht.«

Aber sie ritt doch nicht mehr hinter ihm, sondern nebenher im weichen Sommerweg. Der Professor lächelte. Er war der festen Überzeugung, daß alles, wie es geschehen war, gut geschehen war, daß er der Rosemarie gar keinen besseren Dienst leisten konnte, als mit solcher Eskorte vor das Vormundschaftsgericht zu ziehen. Nur noch ein langer, etwas mühseliger Fußmarsch, dem das Pferd mit seinen vier Beinen eine viel zu schnelle Gangart gab – und eine kurze Unterredung würde alles aufklären und regeln. Dann würde Witwe Müller dafür sorgen, daß die Sachen gut von Berlin nach Unsadel reisten, und geradezu ein Vergnügen würde es sein, die Thürkeschen Bücherregale zu ordnen und die häßlichen Lücken mit den eigenen altersschwarzen Bänden zu füllen.

Die gnädige Frau von Wanzka hatte jetzt alle Gelegenheit, ihren Häftling eingehend zu betrachten. Sie tat es, zog immer intensiver an ihrer dicken, schwarzen Brasilzigarre und sah und dachte: »Gestern vormittag erst habe ich die Kunde von dem verruchten Berliner gehört, der das Kind Thürke entführt hat. Schon ist mir dieser Berliner in die Hände gefallen.«

Das war klar, aber klar war nicht, daß er so gar nicht verrucht aussah. Alle tragen wir – soweit wir uns berufsmäßig nicht damit zu befassen haben – den Glauben in uns, daß ein Verbrecher und möglicher Schänder und Mörder ein Kainsmal an der Stirn tragen müsse. Aber die gnädige Frau von Wanzka mochte schauen, soviel sie wollte, sie sah immer nur einen sehr alten, sehr freundlichen Mann, dessen heller, klarer Blick nichts Feiges, Verstecktes, Verruchtes hatte.

»Macht jetzt, daß ihr euch heimschert, ihr Lüttenhäger Tagediebe!« befahl sie. »Hier gibt es nichts mehr zu sehen.«

Die Gnädige war nun mit dem Gefangenen und seinen beiden Wächtern allein, aber das machte nichts klarer. Sie kannte zu gut ihre eigene Schwäche: eine gewisse zornige Ungeduld, die sie lieber einen Fehler begehen ließ, als tatenlos zuzuwarten. War sie wieder einmal voreilig gewesen? Nein, sie handelte im Auftrag des Amtsgerichtsrats, zudem war der Mann als Zechpreller entlarvt und hatte ersichtlich falsche Angaben über den Weg, auf dem er nach Lüttenhagen gekommen war, gemacht.

Und doch! Und doch! Dies Gesicht und diese unbekümmerte Art, zwischen seinen Häschern zu gehen ...

»Geht mal ein bißchen langsamer, ihr!« sagte sie. »Seht ihr nicht, daß der alte Mann ganz außer Atem kommt?!«

»Danke schön«, sagte der alte Herr, stehenbleibend, zog ein großes, gelbseidenes Taschentuch und trocknete sich das Gesicht.

Die Gnädige wurde noch milder gestimmt. Genau solche unförmigen gelblichen Taschentücher lagen ihr noch vom Vater her im Schrank. Sie überschlug im Geiste die elf Kilometer bis Kriwitz, und milde bedachte sie, daß es viel bequemer sei, erst einmal die drei Kilometer auf ihren Hof Tischendorf zu gehen und dort einen Wagen anspannen zu lassen.

Wenn er ein Verbrecher ist, überlegte sie, und das muß er ja sein, so ist er ein ganz abgefeimter Schurke. Aber dafür bin nicht ich eingesetzt, sondern Schulz. Und zu bestrafen habe ich ihn auch nicht, mag er also erst einmal auf meinem Wagen fahren ...

»Wir gehen rechts, Pagel«, befahl sie. »Den Waldweg nach Tischendorf!«

»Jau, jau«, sagte Pagel, und sie bogen in den Waldpfad nach Tischendorf ein.

Nun war die Marschordnung so, daß die gnädige Frau voranritt, dann folgte der untersetzte, rotgesichtige Pagel, dann der Gefangene, dann der lange, dünne, schlenkrige Jansen. Diese Marschordnung brachte es mit sich, daß Frau von Wanzka zuerst die Waldlichtung sah, die Alter Teerofen hieß, und was sie da sah, machte, daß sie warnend den Finger hob und anhielt.

Die andern traten leise neben das Pferd, und da sahen sie auf der sonnigen Lichtung, keine fünfzig Meter ab, einen Bock, der eine Ricke vor sich her trieb. Es war ein schönes, friedliches Bild, sie sahen alle stumm darauf, und selbst dem Pagel kam ein Lächeln aufs Gesicht.

»Es ist der Sechser«, flüsterte die Gnädige, »von dem der Schafskopf, der Förster, immer sagt, er ist nach Kriwitz rüber gewechselt. Aber heute abend gehe ich gleich ...«

Was heute abend gleich sein würde, wurde nicht mehr laut. Denn ein Schuß knallte, der Bock tat zwei, drei taumelnde Sprünge, die Ricke jagte langgestreckt auf den Waldrand zu, der Bock stürzte ...

»So eine verfluchte Schweinerei!« brüllte Frau von Wanzka. »Pagel, Jansen, los! Da drüben muß der Schweinehund von einem Wilddieb sein! Drauf!«

Sie war schon fort. Die Männer liefen hinter ihr her, einsam und vergessen stand der alte Professor am Rande der Lichtung ...

»Also doch!« rief eine halbe Stunde später Frau von Wanzka unmutig, als sie nach der erfolglosen Wilddiebjagd mit Jansen und Pagel auf den ›Alten Teerofen‹ zurückkam. »Hätt ich's mir doch denken können! Nun ist er weg, und so leicht läuft der uns nicht wieder in die Hände, alter Schleicher der, mit dem mildfreundlichen Gesicht! Geht nach Haus, Leute, und sorgt dafür, daß sich Lüttenhagen nicht allzusehr über uns die Mäuler zerreißt. Viel Ruhm haben wir heute nicht eingelegt. Ja, es ist recht, Pagel, geben Sie mir den Bock vorne aufs Pferd, ein Glück, daß der wenigstens noch da ist. Trotzdem es mir das Herz zerreißt, mein schöner Sechser, und solch ein Lump, der ihn mir vor der Nase wegschießt! Halt, Jansen, sag der Wirtin, für die fünfundsiebzig Pfennig von dem alten Mann bin ich ihr gut. Von meiner Dummheit soll sie wenigstens keinen Schaden haben.«

Damit ritt Frau von Wanzka, den Bock vor sich auf dem Pferd, ab. Sie war recht verdrossen, es dämmerte ihr, daß man eigentlich einen Kinderentführer und möglichen Mörder nicht im Walde stehenläßt, um einen Wilddieb zu fangen. Dies hieß wahrhaftig, eine Laus auf einer Kreuzotter töten.

»Alter Teekessel«, redete sie sich an und hielt, um die nächste Brasil in Brand zu setzen. »Wenn ich an das Gesicht von dem alten Schuft denke, der mir nun glücklich wieder ausgebügelt ist, und an sein gelbseidenes Taschentuch, so möchte ich beinahe hoffen, ich sähe ihn in drei Minuten auf der Freitreppe vor meinem Katen stehen. Aber das ist nun wirklich nichts wie mein alter, dummer Kinderglaube, der mir schon die schönsten Streiche gespielt hat ...«

In diesem Punkt behielt sie recht: der Professor stand nicht auf der Freitreppe, und gesehen hatte ihn auch keiner.

»Sicher wieder nach Preußen rüber. Na, nun bleibt mir nichts übrig, als sofort mit Schulz zu telephonieren und mir von ihm den Kopf waschen zu lassen. Aber anschreien lasse ich mich nicht!«

Vorläufig schrie allerdings nicht er, sondern sie, und nicht ihn an, sondern den Justizwachtmeister Thode.

»Eine wichtige Verhandlung hat er? Daß ich nicht lache über Sie, Thode. Sie kriegen Ihren Handwerksburschen mit einer Woche Haft noch früh genug! Sie rufen ihn auf der Stelle, Thode, oder ich werde Ihnen sofort ...«

Ein Glück für sie, daß Thode ihn jetzt rief. Sie wäre wirklich in Verlegenheit geraten zu sagen, was sie ihm sofort per sieben Kilometer Draht antun würde.

Ach, sie hatte keinen guten Tag heute, die gnädige Frau von Wanzka. Schreischulze war gar nicht schreiig, sondern sehr leise, sehr eilig und recht interessiert. Ja, ja, die Rosemarie sei längst wieder da, jetzt schon wieder bei den Schliekers, und der alte Herr sei ein ganz harmloser Privatgelehrter. Man habe über ihn nur die allerbesten Auskünfte von Berlin bekommen.

»Aber, mein lieber Amtsgerichtsrat!« protestierte die Gnädige und dachte an den Auszug aus Lüttenhagen.

Ja, so was lasse sich nun einmal nicht vermeiden, eine falsche Anzeige, gestern noch im Bereich des Möglichen gelegen, heute bestehe auch nicht der geringste Anhalt ...

»Schulz!« bat die Gnädige förmlich und schämte sich entsetzlich vor dem alten Mann, den sie vor einem ganzen Dorf Wüstling genannt hatte.

Er sei natürlich weit entfernt, ihr einen Vorwurf zu machen.

»Herr Amtsgerichtsrat!«

»Sie haben vollkommen korrekt gehandelt ...«

»Wirklich –?!«

»Ein Glück, daß sich die Sache gewissermaßen von selbst in blauen Dunst aufgelöst hatte, ohne Schaden für jeden Beteiligten ...«

»Und mein Sechserbock, Herr Amtsgerichtsrat?!!« schrie die Gnädige, nun wirklich wütend.

Aber Schulz war schon fort vom Apparat, er hatte es wirklich eilig, in der Amtsstube saß ihm ein halbes verstrittenes Dorf mit einer wahren Kanarienhecke von Beleidigungsklagen. Ehe er ans Telephon gerufen war, hatte er beinahe die Einigung erzielt, erschrien kann man auch sagen. Jetzt aber hatte ihn das immer lauter werdende Stimmgewirr aus der Gerichtsstube gewarnt, daß über seiner Telephoniererei wahrscheinlich zu allen schon vorliegenden Beleidigungen noch ein volles Dutzend dazugelegt, ausgebrütet und flügge geworden sei.

Frau von Wanzka hatte gut am Apparat wüten: Amtsgericht Kriwitz meldet sich nicht – es meldete sich auch weiterhin nicht.

 

Rosemarie lief eilig durch den Wald.

Als sie aus der Stube gegangen war, nach Päule Schlieker zu suchen, hatte sie noch nicht die Absicht gehabt, dem jungen Doktor Kimmknirsch so schmählich fortzulaufen. Aber da war sie auf die Scheunendiele gekommen, und da hatte der kleine Stuhlwagen gestanden, und auf dem Stuhlwagen hinten aufgebunden war das verbogene, zerbrochene Rad gewesen, das Hütefritzen gehörte, auf dem sie gestern nacht mit Philipp in die Stadt gefahren war. Nichts hätte ihr bedrohlicher als dieses Rad die Bosheit der Schliekers wachrufen können. Die Rätselfrage, wie es hierher in Schliekers Hände, auf Schliekers Scheune geraten sei, machte die dunkle, verborgene Macht ihrer Pflegeeltern nur noch beängstigender.

Und als hätte noch etwas gefehlt, ihr Herz zu ängsten und zu verwirren, fand sie auf dem Hof neben der leeren Hundehütte die zweite Marderfalle – und der offene Bügel mit den scharfen Eisenzähnen sah sie so böse an, daß sie schnell nach einem Holzscheit lief und es in das drohende Maul steckte. Die Zähne schnappten laut zu, und am Scheit warf Rosemarie die Falle über die Hofmauer in eine Unkrautsiedlung. Einen Augenblick stand sie hastig atmend, aber ihr war sehr klar bewußt, daß bösere Zähne einen bedrohten, der zu ihr gehörte und ihr lieb war.

Ohne weiteres Besinnen lief sie los in den Wald, zum alten Kuhstall, so schnell sie nur laufen konnte. Sie war leicht und geübt, sie konnte gut traben, ohne daß ihr der Atem knapp wurde. Aber es war ja ein sehr weiter Weg, und auch der beste Läufer hätte nicht die ganze Strecke traben können.

Während sie lief, sah Rosemarie nur vor sich auf den Waldboden, um sofort jede Wurzel, jeden Stein zu bemerken, aber wenn sie im Schritt ging, sah sie in den Wald und auf den Wegrand, als suchte sie etwas. Rosemarie hatte keine Stadtaugen wie der Professor Kittguß, der den Wald ansah, aber nichts sah. Rosemarie sah wohl die kleinen Löcher im Waldweg, die der Schliekersche Stock gemacht hatte, und an einer schlammigen Stelle erkannte sie auch den Abdruck der Schliekerschen Schuhe, die sie so oft geputzt hatte. Ja, es wurde immer klarer, daß er tatsächlich ins Waldhaus gegangen war und sie ihm nach, trotz all ihrer feigen Angst. Der Herr Amtsgerichtsrat Schulz und sein Freund, der Herr Doktor Kimmknirsch, mochten sie gut wegen dieser schlotternden, panischen Angst verachten – sie saß in ihr, da hatten sie recht. Aber trotz ihr lief sie dem Schlieker nach.

Etwas besaß sie eben doch, das noch stärker war als diese Angst, zweidreiviertel Jahre Schliekersche Pflegschaft hatten sie nicht zu einem feige wedelnden Bello zusammenschlagen können. Sie tat, was sie tat, mit Angst, aber sie tat es.

Wußte sie etwa nicht, in welcher Stimmung Päule Schlieker diesen Waldpfad entlanggegangen war?

Konnte sie sich etwa einbilden, er sei hier marschiert in Siegerstimmung, zufrieden, die Gefangene ins Verlies zurückzuführen? Nein, solche Einbildung verbot ihr der Waldpfad, denn längst nicht an allen Stellen waren die spitzen Löcher der Stockzwinge zu sehen, zwischendurch hatte Päule auch kräftig den Stock benutzt. Da waren Unkrautnester, in deren fleischiges, nasses Herbstgrün der Stock vernichtend gefahren war; da hing ein Buchenast, sinnlos mit der Krücke heruntergerissen und zerbrochen; da war eine ganz junge, stämmige Fichte, gesund und stark, mit fast schwarzem Grün: der Stock hatte die schöne, steile, benadelte Spitze mit einem Schlage für immer geknickt!

Rosemarie trabt weiter, sie hat einen guten Begriff von dem Zorn, der in Schlieker sitzt. Nun kommt sie schon in die Nähe des Waldhauses. Hier ist der Hochwald fast ohne Unterholz, sie muß langsamer und vorsichtiger gehen, vielleicht ist er direkt vor ihr. Von Stamm zu Stamm schleicht sie, eine Hand auf dem rasch pochenden Herzen, nun wird es lichter und licht. Da ist die kleine Waldblöße, der graue, alte Schuppen, das niedrige Dach. Die Sonne liegt sanftgelb auf der Lichtung, alles ist still und friedlich, die halb offenstehende Tür bewegt sich leise im Wind und knarrt auch einmal.

Das Mädchen hinter dem silbergrauen Buchenstamm starrt und lauscht, lauscht und starrt. Sonne und Wind, Stille und Frieden können sie nicht täuschen: der Feind ist hier, und wenn er still ist, ist er doppelt gefährlich. Sie möchte ein Wort hören, einen Ausruf, vielleicht sogar lieber noch Streit, dann wäre der Entschluß leichter, vorzugehen, einzugreifen. In der Ferne scheckert ein Eichelhäher, es klingt wie höhnisches Lachen – und nun ist wieder alles still. Vorsichtig umkreist sie die Lichtung, dann, als sie die fenster-, türlose Rückwand des alten Stalls vor sich hat, entschließt sie sich, verläßt die Deckung, läuft so schnell sie kann über die Lichtung und lehnt sich gegen die Wand.

Totenstille, sie drückt ihr Ohr gegen die Mauer: Totenstille. Und aus dieser tiefen, rätselvollen, peinigenden Stille heraus fängt ihr Herz immer lauter, dröhnender zu klopfen an: langsam erst, als erwarte es einen dunklen Schrecken und hole aus ..., und schneller und schneller. Nun hämmert es in allen Gliedern, ihre Ohren dröhnen, als stehe sie im Turm unter dem Kriwitzer Glockengeläut. Vor ihren Augen wird es grau, Fetzen wie Nebelstreifen fliegen vorbei, Schreckbilder stehen vor ihrer Seele: der alte Mann liegt auf dem Boden, das füchsische, böse Gesicht beugt sich mit den weit offenen, hellen Augen über ihn, die gelben Zähne werden bloß ...

Und alles versinkt, entweht und entflattert, das Herz geht wieder leichter, der Blick wird klar – es hat trocken drinnen im Stall gehüstelt, er hat gehüstelt!

So ist er also allein! Sie kennt dies trockene Hüsteln an ihm, so macht er, wenn er für sich ist und über etwas nachdenkt.

Sachte schiebt sie sich um die Hausecke, schiebt sich – oh, so sachte und vorsichtig! – die Wand entlang. Dabei sehen ihre Augen starr auf den Boden, sehen jedes Steinchen, jedes trockene Ästlein ...

Unter dem Fenster hoch über ihrem Kopf hält sie kurz an, lauscht, aber das Fenster ist geschlossen, und sie hört nichts. Sie schleicht weiter, nicht für eine Sekunde verliert sie ihre bedachtsame Vorsicht. Lautlos nähert sie sich der nächsten Ecke, gleitet um sie herum. Grade vor ihr, keine zwei Meter ab, ist die halb offene Tür. Wenn jetzt Schlieker aus ihr träte, sähe er sie!

Aber nun geht sie nicht mehr zurück, nun geht sie nur vorwärts. Seltsame Wandlung! Stille und Hüsteln haben sie völlig überzeugt, daß Schlieker allein in der Hütte ist, kein alter Professor bedarf ihrer Hilfe, sie könnte entlaufen – aber nichts! Sie schiebt sich näher. Stärker als alle Angst ist die Lust zu erfahren, was der Feind dort tut.

Jetzt hat sie die Tür erreicht, jetzt hat sie sich hinter ihr versteckt, durch den Spalt zwischen Mauer und Tür kann sie in das Innere des Stalls sehen.

Sie übersieht kaum ein Fünftel des Raumes, eigentlich nur eine Ecke, in der ein Holzstuhl sichtbar ist und Kopfende und Mittelteil ihres Betts. Dies Raumstück ist leer, doch sie hört Schlieker im unsichtbaren Raum wirtschaften.

»Stünde ich auf der andern Seite der Türöffnung«, überlegt sie, »könnte ich ihn sehen. Aber dann fehlte die Deckung durch die Tür, und mein Schatten würde über die Schwelle fallen. Nein, besser so!«

Zugleich fällt ihr auf, daß der Stuhl dort am Bett nicht leer ist, es stehen und liegen darauf die Lebensmittel, die ihr die Kinder gebracht haben: Brot und Eier, ein paar Tüten, eine Wurst. Nun – und das Herz fängt wieder an schneller zu schlagen – tritt ein Schatten in ihr Gesichtsfeld, es ist der Schlieker. Für einen Augenblick sieht sie das entstellte Gesicht mit dem blaugeschundenen Auge, der geplatzten, blutig geschlagenen Lippe, aber dann dreht der Mann ihr den Rücken und setzt mit seinen langen, knochigen Fingern auf den Stuhl, was er im Arm hatte: noch ein paar Tüten, ein Stück Schinken ...

Rosemarie begreift, wenn Schlieker auch weder den Professor noch sie gefunden hat, umsonst will er den Weg ins Waldhaus nicht gemacht haben. Seine Habgier hat ihm keine Ruhe gelassen, er kann diese Lebensmittel auch gebrauchen. Schlieker richtet sich auf, sein Gesicht verzieht sich dabei, er greift nach der Brust und stößt einen Fluch aus – er muß arge Schmerzen haben. Er steht einen Augenblick mit dem Gesicht nach der Türöffnung, er sieht hinaus zur Lichtung ...

Er macht ein paar rasche Schritte und tritt auf die Schwelle.

Jetzt ist er ihr so nahe, daß er sie, wäre die Tür nicht dazwischen, berühren könnte, daß sie nicht mehr von ihm sieht als den blauen Streifen der Joppe. Angst überfällt sie, ihr Blick, meint sie, könnte ihn schon aufmerksam machen. Sie schließt krampfhaft die Augen – aber nun ist das fürchterliche Gefühl da, daß sie nicht weiß, was er tut, daß er sie jeden Augenblick entdecken, anfassen, schlagen kann. Ein Schrei sitzt in ihrer Kehle, kaum mehr zurückzuhalten ... Und dies Gefühl dauert, dauert, es scheint unerträglich, endlos zu dauern – geht er denn nie wieder weg? Will er da ewig stehenbleiben?

Aber endlich hört sie ein Geräusch, Schritte entfernen sich; langsam, an allen Gliedern schwach, öffnet sie die Augen. Direkt vor ihnen ist das Holz der Außentür, grau verwittert. Sie starrt atemlos darauf. Allmählich begreift sie, daß die Gefahr vorüber ist, wieder richtet sie den Blick durch den Türspalt.

Gottlob, der Stallwinkel ist leer, er wirtschaftet irgendwo hinten. Sie sieht beruhigt nach links, da ist Lichtung, Sonne, bunte Bäume – langsam wird sie wieder ruhig.

Nach einer Weile kommt Schlieker wieder in Sicht, diesmal hat er des Professors Reisetasche in der Hand. Von neuem muß sie erschrecken, aber diesmal auf eine leibhaftigere, weniger panische Art: also ist der Professor nur ein wenig spazieren und kann jeden Augenblick zurückkommen! Sie sieht wieder über die Lichtung. Sie ist leer. Sie dreht sich um und sieht auf den Mann. Er packt jetzt die Reisetasche aus, er tut es auf keine gute Weise, er dreht sie einfach um und läßt zu Boden fallen, was darin ist. Dann starrt er auf das, was auf der Erde liegt, säuberlich geplättete weiße Hemden, Strümpfe und Unterwäsche, ein Brillenfutteral ... Rosemarie kann gut Schliekers Gesicht sehen, es grinst, wie es grinst! Ja, das ist der Schlieker ihrer Träume und Ängste, das ist der Schlieker, den sie allein kennt, der Teufel, der das Böse tut, nicht weil es ihm Vorteil bringt, sondern weil er das Böse liebt!

Siehe, nun hebt Schlieker ein Bein, er setzt den schmutzigen Schuh mitten auf die Brust eines säuberlich geplätteten Oberhemdes, er dreht den Fuß, die Leinwand wirft sich in Falten, dann hört Rosemarie das scharfe Reißen. Ihr ist, als hätte sie vor Schmerz und Zorn aufgeschrien, aber der da drinnen hat sicher nichts gehört. Er ist in einem Taumel von Entzücken, er trampelt und tanzt, er fetzt und stößt – das ist seine Welt, das ist auch eine Welt! Sein Gesicht ist gerötet, seine Zähne schimmern, dann bellt, da er stets wilder tanzt, ein trockener, scharfer Husten aus seinem Mund – er hält inne, muß sich auf die Stuhllehne stützen. Als der Husten vorbei ist, sieht er nur noch mit ausdruckslosem, zerstreutem Blick auf die Zerstörung unter seinen Füßen. Dann fängt er an einzupacken ...

Das Mädchen hinter der Tür könnte jetzt gehen, er muß gleich fertig sein, die Gefahr, entdeckt zu werden, steigt mit jeder Minute. Aber sie geht nicht, denn sie, die ihn so gut kennt, versteht ihn diesmal nicht: er wird doch nicht etwa diese Tasche mitnehmen? Die Lebensmittel sind kein Beweis gegen ihn, sie sind unkenntliches Gut; die zerstörte, verdorbene Wäsche kann jedem Stromer zur Last geredet werden; aber die Tasche –? Die Tasche ist doch Beweis gegen ihn! Sie kennt ihn doch, so habgierig er ist, so vorsichtig ist er auch.

Und als hätten sich ihre Gedanken auf den Dieb übertragen, blickt er plötzlich vom Einpacken hoch, scharf nach der Tür, sein Mund möchte pfeifen, er denkt nach.

Es ist schlimm, scheint ihr, solchem Menschen zuzusehen, wenn er sich allein glaubt. Da kommt alles, was sonst verdeckt und sorgfältig versteckt ist, klar ans Licht, vom Gesicht gleitet die Maske. Es ist, als sähe sie ihm in Hirn und Herz, und ein schlimmer Einblick ist das.

Der Mann dort drinnen nimmt das Eingepackte wieder aus der Tasche, schleudert sie zur Erde und sieht sich suchend um. Dann macht er einen raschen Schritt zu Rosemaries Bett und holt sich das Kopfkissen.

Sie begreift, sie begreift auf der Stelle, er will den Kopfkissenbezug vollstopfen. Sie erschrickt. Wenn er es sieht! Wenn er es jetzt sieht!

Er fängt schon an, den Bezug aufzuknöpfen, da fällt sein Blick noch einmal von der Seite auf das Bett, der Bezug fällt auf die Erde, er greift zu ...

Hat er es doch gefunden, hat er doch das versteckte Geld gefunden!

Eine Wut faßt Rosemarie – sie möchte vorspringen, aber sie springt nicht vor. Sie starrt ihn an, ach, dies böse, triumphierende Lächeln auf den dünnen Lippen, diese gierigen, harten, grellen Augen. Wie er das Papiergeld zählt, hastig, gierig, habgierig, und wie er es noch einmal wieder zählt – mit langsamem, genießerischem Bedacht! Wie die Brieftasche verschwindet in der Innentasche der Joppe und dann das Silber klingelt und auch das Portemonnaie verschwindet –!

Der Mann sieht sich um, es ist jetzt ein anderer Blick, ein scheuer, gleitender, geduckter Blick, und doch voll dunkler Drohung ...

Rosemarie zittert. So blickt einer, der auch zum Mord entschlossen ist, spricht es in ihr.

Aber der Mann Päule Schlieker glaubt sich allein. Er fängt wieder an zu packen, und plötzlich hat er es eilig. Er wirft die Dinge einfach in den Überzug ...

Aber auch Rosemarie hat es eilig. Erst noch sachte und langsam, dann immer rascher zieht sie sich aus ihrem Versteck zurück, schleicht um die Hausecke, unter dem Fenster vorbei, und nun läuft sie, so rasch sie kann, in den Wald. Sie huscht hinter den Stämmen, bis sie in die Nähe des Waldpfades nach Unsadel kommt, und dort späht sie, bis sie Päule Schlieker mit dem gefüllten Kopfkissenbezug an sich vorübergehen sieht. Er geht langsam und mühselig, und das nicht nur wegen der Last. Er hüstelt gerade.

Nun läuft sie los, durch den Hochwald, schlägt einen großen Bogen um den Mann, rennt, rennt, damit sie noch vor ihm in Unsadel, im Schliekerschen Hause bei der Kranken ist. Und beim Arzt.

»Ich habe Schlieker in der Hand«, denkt sie triumphierend.


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