Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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21.

Port of Spain (Trinidad), den 10. März 1870.

Wie wir St. Thomas erreichten und die kühle atlantische Schiffsgesellschaft sich trennte, wie ich an den träumerischen Antillen, diesen grünen Perlen der azurnen See, drei Tage lang selbst halb im Traume hinunterfuhr und hier ans Land stieg, ohne aufzuwachen, wie ich seit zwei Tagen geduldig auf das kleine Lokalboot warte, das mich noch tiefer in die Tropenwelt versenken soll: von alldem vielleicht ein andermal. Übermorgen hat das Lotosblumenleben sowieso ein Ende. Laßt es mich heute noch einmal genießen!

Ich habe einen Tag hinter mir, der mir heiß durch die Seele zieht. Die Stille, die über den Straßen von Port of Spain liegt – westindische Städte sind still wie das Grab, sobald die Sonne untergegangen, und still wie ein Schlafzimmer, solange sie am Himmel steht; – und die tiefe Ruhe in der weiten Veranda des Gasthofs läßt mir Muße, das Erlebte nochmals durchzuleben.

Aber ich muß fast verzweifeln. Wie soll ich die Mannigfaltigkeit in Worte fassen, welche die Natur in ihrer schweigenden Pracht heute vor mir aufgebaut, wie die Blumen und Bäume, Gräser und Stauden bezeichnen, die im großen Rahmen hundert kleine Bilder malen, immer eines lieblicher als das andre? Es straft sich stets, wenn man »nichts Rechtes« gelernt hat! Hätte ich seinerzeit in den Vorlesungen über Botanik, die mir ein ahnendes Geschick in den Weg legte, weniger geometrische Figuren auf verstohlene Blättchen gezeichnet, anstatt Griffel zu zählen und mir Namen zu merken, so wüßte ich mich vielleicht heute anständiger aus den Schlingen von Lianen und den Bergen von Blumen zu ziehen, in denen ich samt meiner Feder untergehe.

Doch sehe ich einen rettenden Strohhalm! Es war einmal ein deutscher Botaniker namens Krüger in Trinidad, der mit warmer Liebe seiner Wissenschaft nachgegangen sein muß und von dessen unbegreiflichem Eifer, wie von seinen Ausflügen und seinem Aussehen nach denselben, die Westindier heute noch mit kopfschüttelndem Staunen sprechen. Eine seiner Skizzen von der Flora der Insel befindet sich in einem geologischen Buch, das ich so glücklich war, heute früh zu erwerben, das einzige käufliche Exemplar, wie mir der Buchhändler versichert, der es wissen muß; denn auch er ist der einzige Buchhändler dieser glücklichen Insel. Der einleitende Aufsatz liegt vor mir! Man fühlt den deutschen Atem in den englischen Worten, die Wärme der Begeisterung, die Liebe für die Natur, die germanische Gründlichkeit unsers Landsmanns. Die letztere hilft mir nichts. Aber in dem allgemeinen Bilde, das Krüger mit wühlender Begeisterung entwirft, ist wenigstens einiges, das wir brauchen können.

»Waldgewächse,« sagt er, »nehmen den hervorragendsten Platz in unsrer Pflanzenwelt ein. Ihr Gesamtbild baut sich aus einer großen Anzahl von Familien auf. Unter denselben erwähnen wir nur (er sagt buchstäblich ›nur‹ in seiner Wahrheitsliebe): Palmen und Lauraceen, Rubiaceen und Apocynaceen, Verbenaceen, und Cordiaceen, Myrfinaceen und Sapotaceen; ferner Ebenaceen, Myristiaceen und Anonaceen, Capparidaceen, Malvaceen und Sterculiaceen mit Tiliaceen, Ternströmiaceen und Clusiaceen, Meliaceen und Cedrelaceen, Malpighiaceen und Sapindaceen, Euphorbiaceen und Burseraceen, Simarubaceen und Diosmeen, Melastomaceen und Myrtaceen, Chrysobalanaceen und endlich, wohl die reichste Familie, Leguminosen oder Fabaceen, einschließlich von Swartzien und Mimosen.« Punktum. Meine Bewunderung für den deutschen Genius ist jeder Steigerung fähig, aber ich bin dennoch nahezu froh, daß ich »nichts Rechtes« gelernt habe. –

Port of Spain ist eine der lieblichsten Städte Westindiens. Am Rande einer großen, grünen, vom Meere bespülten Ebene, auf welcher, weiter nach Norden, Haine von Palmen, Tamarinden und Feigenbäumen mit Zuckerfeldern wechseln, hat es den spiegelnden Golf von Paria vor sich. Hinter der Stadt, nur getrennt durch eine parkartig angelegte Savanne, steigen die steilen, dichtbewaldeten Berge der großen nördlichen Gebirgskette der Insel empor, die in kecken, mächtigen Formen, durch tiefe Täler zerschnitten, von Westen nach Osten die ganze Insel durchstreicht und deren Fortsetzung über die »Bocas« hinüber in den Granitbergen von Venezuela am glänzenden Horizonte erscheint. Eine Talschlucht, in duftige, blaugrüne Schatten gehüllt, öffnet sich gerade dem Meere zu, verführerisch trotz der Hitze und der wohlgemeinten Warnung der Eingeborenen. Einen Schleier über dem Hut, einen Stock in der Hand bin ich auf dem Wege, der verlockenden Wunderwelt entgegen.

Die Stadt mit ihren geraden, stillbewegten Straßen, mit ihren Fächerpalmen und Kaktussen, Bananenstauden und Orangenbäumen, in welcher die Menschen wie Pflanzen zu leben scheinen und die Pflanzen wie Menschen, die breite, sonnige Savanne, an deren Rand hübsche Landhäuser und Gärten voll bunter, lieblicher Blumen, voll wunderlich barocker Gewächse stehen, liegt hinter mir. Ich befinde mich am Eingang des Gebirgstales, aus dessen schattiger Tiefe sich das trockene Bett eines Waldbachs hervorwindet, von hohen Bambusstauden beschattet. Hier am Fuße und unteren Hang des Berges, der steil aus der Ebene aufschießt, befindet sich ein von der Regierung unterhaltener botanischer Garten. Seine Lage ist einzig in seiner Art. Der natürliche Geschmack, womit Krüger ihn angelegt hat, der Reichtum der Pflanzen, die sich nirgends drängen, die Schönheit der landschaftlichen Umgebung, die ganze Natur, die sich wie die höchste Kunst entfaltet, und das bißchen Kunst, das so ganz wie Natur dreinschaut, sah ich nirgends so wie hier. Wenige botanische Gärten haben aber auch ein Glashaus aus dem blauen, natürlichen Kristall des Himmels über ihre ganze Fläche gespannt!

Und nun die Pflanzen! Am Eingang ein Wald von Bambusstauden, deren graziöse Stengel wie Raketenbüschel gen Himmel schießen, von dem zarten, lispelnden Blätterschmuck wie von einem Flor umhüllt. Dort eine breite Wiese mit mütterlichen Zedern, die ihre flachen, weiten Kronen schützend über das schattensuchende Gras ausbreiten. Hier eine Samane, der Riesenbaum Südamerikas, auf dessen gewaltigen Ästen die tolle Vegetation der Parasiten ihr koboldartiges Wesen treibt. Palmen überall und von jeder Gattung: die stattliche, gerade Krautpalme, der Liebling Trinidads, mit weißem, glattem, unten pedantisch ausgebauchtem Stamm, aufgeschossen wie ein Pfeil, mit grünem, hohem Krautstengel auf dem Wipfel, woraus sich schirmartig die prächtige Blätterkrone entfaltet; die zierliche Kokospalme, mit leichtgebogenem, dünnem Stamm, die Blätter sternförmig ausgebreitet und fast immer etwas gebeugt unter der Last ihrer schweren Früchte; die Gru-gru, mit haarigem Stamm, kurz, steif und gerade, dicker oben als unten, wie ein alter Korporal, während die Dattelpalme sich fast immer nachlässig auf die Seite neigt; die wilden Kokoretten, mit kurzem, aus Blätterresten geformtem Stamm, die hohen Blätter selbst steif nach oben schießend, während von ihren Rippen die langen Fransen feierlich nach unten hängen; die himmelhohe Bergpalme, welche einsam aus ihrer schwindelnden Höhe auf die andern herabblickt; dann die Fächerpalmen und die ganze Reihe palmartiger Gewächse, die nicht wie die erwähnten auf der Insel heimisch sind, sondern aus Indien und China, aus Madagaskar und Borneo stammend, sich behaglich in einer neuen Heimat ausbreiten. Sollen wir weiter gehen in unsrer trockenen Aufzählung? Ich denke, es ist genug, und es wird Mittag.

Die Sonne steht senkrecht über der fast schlummernden Welt, die sie bis ins Innerste durchglüht. Eine feierliche, steife Pracht, phantastisch und würdevoll wie der Hofstaat eines Märchensultans, reich, starr, grotesk und – sprech' ich es aus – fatalistisch. Ein Paradies voll unheimlicher, unbegreiflicher Schönheit, das nicht von und nicht für den Menschen geschaffen scheint, das für sich blüht und verwest und die Herrschaft keines Sterblichen duldet.

Ich verlasse den Garten durch eine Hinterpforte, die auf ein breites, reinliches Landsträßchen führt. Dasselbe windet sich, der Talsohle entlang, an der Seite des oft im Gebüsch verschwindenden Flüßchens, kühl und schattig in die Berge hinein. Die Villa des Gouverneurs der Insel und ein kleines Dörfchen von Negerhütten liegt am Eingang des Tales und bald hinter mir. Die liebliche, wilde Einsamkeit verführt mich weiter und weiter in die grüne Tiefe des Gebirgs.

Jetzt spaltet sich das Tal. Der offenbar größere und weitere Gebirgseinschnitt führt rechts nach Nordost; aus der links abzweigenden Schlucht bricht ein kräftiger Bach hervor, welcher in einem künstlichen Becken aufgestaut wird, von dem eiserne Röhren in der Richtung der Stadt abgehen. Ein verfaulter Wegweiser deutet in die Tiefe der Schlucht, mit den halb verwischten Worten: Fons Amandes. Der Blick scheint bis auf den Grund des kurzen Tals zu dringen, das mit einer hohen Bergwand abschließt. Ihr Gipfel, von scheinbar spärlichem Gebüsch bedeckt, verspricht eine weite Fernsicht, und ein rascher Entschluß macht diesen Punkt zum Ziel meiner Wanderung.

Der Weg, der alsbald zum Saumpfade wird, führt durch hübsche, schattige Kakaopflanzungen, an denen Trinidad reich ist und die nächst dem Zucker seinen Hauptausfuhrartikel bilden. Die Bäume, welche eine Höhe von vier bis sieben Meter erreichen, mit tiefgrünem, großblätterigem Laub bedeckt, sind an Berghängen hinauf, oder auch in der Sohle der Täler, etwa acht Schritte voneinander gepflanzt. Alle dreißig Meter nach jeder Richtung hin steht einer der gewaltigen Boisimmortelbäume, um seinerseits die Kakaopflanzung zu beschatten, in deren Tiefe kaum da und dort ein Strahl der Sonne dringt. Die Frucht, von der Größe und Form einer Gurke, entweder tiefrot oder gelb, je nach der Gattung, hängt am Zweig oder Stamm, in eigentümlicher Weise aus der Rinde des Baumes hervorbrechend. Aufgeschnitten enthält die Kapsel eine dicke, milchige, süßlich schmeckende Masse, in der die blauroten Kerne eingebettet sind.

In der Mitte dieser schattigen Haine steht die Wohnung des Pflanzers und das sogenannte Curinghouse, in welchem die Früchte für den Markt zubereitet werden. Die Kapseln werden geöffnet, die Kerne nebst der sie dicht umgebenden milchigen Masse auf Haufen geworfen und mit Tüchern bedeckt. Fünf bis sieben Tage lang sind sie dann sich selbst überlassen, und während der eintretenden Gärung dringt aus ihnen ein Öl hervor, dessen Ausscheidung der Hauptzweck des Verfahrens ist. Hierauf werden die Kerne in der Sonne getrocknet und sortiert, worauf sie in Säcke gepackt und nach der »Stadt« gesandt werden.

Doch ich befinde mich nicht auf einem industriellen Spaziergang und hätte mich fast verirrt. Die letzte Kakaopflanzung liegt hinter mir. Der Pfad ist nur noch fußbreit, das Tal häufig nicht weiter als der kleine Bach kristallhellen Wassers, der über riesige Quarzblöcke stürzt oder sich um gewaltige Bambusstauden und durch das Gewinde undurchdringlicher Lianen stiehlt. Tiefe Stille ringsum; Blumen, phantastisch geformt und bunt wie Schmetterlinge; Schmetterlinge, groß und träumerisch wie Blumen. Die Pracht und Mannigfaltigkeit der Pflanzenwelt, die sich im Sonnenlicht an der Bergwand hinaufringt, wechselt mit dem tiefen, träumerischen Dunkel am schattigen Felsenufer des Baches, in dessen grünem Kristall sich eine einzige große weiße Kalla spiegelt.

Kleine Bananenpflanzungen, kaum zu unterscheiden vom wilden Urwald, der sie trennt, werden seltener. Die Negerhäuschen, an denen in weiten Zwischenräumen der Pfad vorbeiführt, liegen still und verlassen. Nur wenn man aufmerksam und rasch sich einer der Hütten nähert, hört man Kinderstimmen und sieht wohl auch ein schwarzes Trüpplein kleiner Eingeborener in eiligster Flucht vor dem gefährlichen Eindringling, oder bemerkt, zurückblickend, wie sich die Spalte einer Türe öffnet und ein pechschwarzer Kinderkopf herauslugt, um sich zu versichern, daß die Gefahr vorüber ist.

Ich bin über zwei Stunden gegangen, ehe der stets sich weiter nach hinten ziehende Grund des Tals erreicht ist. Jetzt endlich führt der Pfad auf der Kante eines vorspringenden Hügels nach oben. Von Baum zu Baum kletternd, geht es die steile Wand empor. Es ist eine harte Arbeit. Der Unterschied, unter dem zehnten oder unter dem vierzigsten Grad einen Berg zu ersteigen, fängt an, sich fühlbar zu machen.

Aber der ferne Spiegel des Golfs taucht jetzt in der Talspalte auf. Wo immer das dichte Laubwerk einen Durchblick gestattet, bietet sich ein entzückendes Bildchen. Der Waldbach an meiner Seite ist längst verschwunden. Die Bergkante über mir erscheint näher und näher. Die letzte kleine Bananenpflanzung ist passiert. Der Weg, der kaum mehr sichtbar war, verliert sich vollständig. Noch hundert Schritte und ich bin am Ziel.

Hundert Schritte! Ich werfe mich auf das Gestrüpp, das wie eine Mauer vor mir steht. Ich steige auf Zweige oder Wurzeln, was immer sie sein mögen, und stürze, mit meinem Körper durch die Schlingen brechend, auf eine neue Wand. Ich krieche auf dem Bauch wie eine Schlange, unter Nesseln, Dornen und Lianen, die zäh sind wie Hanfstricke. Es kommt so weit, daß ich gelegentlich nicht imstande bin, mit den Füßen den Boden zu berühren, förmlich in der Luft gehalten von dem undurchdringlichen Gewirr. Ein Kampf von dreißig Minuten bringt mich kaum dreißig Schritte vorwärts, und die Gasse, die mein Körper gebrochen, scheint sich wie in Zaubermärchen hinter mir zu schließen. Die Geschichte vom Dornröschen wird mir fürchterlich klar. Zweimal stehe ich keuchend stille und überlege mir die Möglichkeit, den Kampf aufzugeben. Das dritte Mal war es ernst. Ich lag hilf- und atemlos, unzerreißbare Schlingen um Arme und Beine, um Hals und Leib – nicht am Boden – aber doch so weit, als mich das Netz fallen ließ. Der Urwald hatte den Sieg errungen. Der Gipfel blieb unerstiegen.

Als ich mich wieder aus dem Dickicht herausgeschlagen hatte, lag die Landschaft in ihrer ganzen wilden Schönheit vor mir. Fern, glatt wie ein Spiegel, glänzte die Fläche des Golfs zwischen den hohen, waldigen Bergen der Schlucht. Die grüne Ebene, auf der, kaum sichtbar zwischen den Hainen von Palmen und dunkeln Sykomoren, die Häuschen von Port of Spain zu entdecken sind, breitet sich lieblich zwischen dem Meer und den Waldbildern des Mittelgrundes aus, in welchem die Vorhügel des Gebirgs sich mannigfaltig übereinanderlegen und allmählich zu den mächtigen Berghalden meiner Schlucht entwickeln. Alles bis zum Vorgrund, wo sich wilde Bananen mit glühendroten Blumen verwickeln, ist bedeckt, begraben in Palmen und Feigen, Tamarinden und Bambus und hundert andern Bäumen und Büschen, voll des stillen Lebens der ewig schaffenden Natur, unbeirrt, scheinbar unberührt von der Hand des Menschen!

Es war übrigens so übel nicht, daß es Dämmerung war, als ich Port of Spain wieder erreichte, und daß die dünne Sichel des Mondes nur noch einen verschämten Blick auf meinen Anzug warf, ehe sie hinter dem blassen Streifen der Kordilleren von Venezuela verschwand. Die »ewig schaffende Natur« war etwas hart mit mir umgegangen dort oben auf der dunkeln Kante des Gebirgs.


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