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X

»Darinnen liegt ein Reitersmann,
Auf seinen Hals gefangen,
Wohl vierzig Klafter unter der Erd,
Bei Nattern und bei Schlangen.«

Volkslied, XVII. Jahrhundert.

 

»Dans les prisons de Nantes
J'avait un prisonnier,
Qui ne connaissait personne,
Que la fille du geôlier –«

Bretonisches Volkslied,
XVIII. Jahrhundert.

 

Rheinland, Berlin 1925.

Keine Freude war diese Arbeit. Nur, Gerhard durfte nicht wählerisch sein, mußte alles nehmen, was sich bot; dann auch: er konnte eine Menge seiner Leute aus dem ›Reichsverband Scholz‹, die nichts zu beißen hatten, für eine Zeitlang über Wasser halten. So hatte er zugeschlagen, war nun Leiter der nationalen Wahlarbeit für den Westen.

Frau Ellen hatte den Gedanken – gleich nach dem Tode des Präsidenten Ebert; sie setzte sich mit andern Industriellen in Verbindung, nannte den Namen: Gerhard Scholz. Sie fand offene Ohren: man wußte gut, daß er aus dreijähriger Tätigkeit jede kleinste Stadt, jedes Dorf fast kannte, daß er überall am Rhein seine Anhänger hatte; so bekam man ein engmaschiges Netz, ein eingespieltes Gefüge, das sicher gut arbeiten würde.

Lasch und ohne Schwung war der Wahlkampf im Westen – eingeengt und gedrückt von den Bajonetten der fremden Machthaber. Doch änderte sich das übernacht, als am Tage der Wahl keiner der sieben Bewerber die Mehrheit erhielt. Der Sozialist, der bayerische Klerikale, der Demokrat verzichteten zugunsten des Zentrumsmannes; aber auch Jarres, der bürgerliche Kandidat, trat zurück. An seiner Statt stellte die Rechte Hindenburg auf. Nun kamen nur die beiden noch in Frage: der Reichskanzler Marx und der Generalfeldmarschall.

Hindenburg! Wie damals war es, als im ersten Kriegsjahr der Russe einbrach ins Land. Man holte den alten General aus seinem Bau, gab ihm ein Heer – da schlug er seine Schlachten, jagte den Feind aus Preußen. Blieb im Befehl, schirmte das Land durch vier blutige Jahre. Bis –

Vor elf Jahren war das – nun rief man ihn wieder. Damals verlangte ihn ein mächtiges Reich, legte in seine Hand die stärkste Waffe, die die Welt besaß. Heute klopfte ein armes Volk an seine Tür, ausgeplündert und zu Boden getreten, und es gab ihm nichts. Bettelte nur, schrie: ›Du bist der Hindenburg! Du allein kannst helfen!‹

Gerhard fühlte: Hindenburg – das ist die Rettung! Wenn er die Führung nimmt, dann wird Deutschland erwachen. Hindenburg – der kennt eins nur, liebt eins nur: Deutschland! Den eisernen Willen hat er, hat das Vertrauen der Millionen: wenn er gewählt wird, hat alle Schmach ein Ende. Wird's wieder sein, wie es einst war: kein Deutscher mehr braucht sich zu schämen, daß er ein Deutscher ist.

An diesem Abend gab der Fernsprecher keine Ruhe in Kätes Wohnung.

– Bei ihr in Düsseldorf hatte er seinen Standort; fuhr von dort aus umher in alle Richtungen. Widerstrebend war er zu ihr gekommen, eigentlich nur, um sie nicht zu kränken; still hatte sie ihn aufgenommen. Sie sprach mit ihm über alles, überlegte jede Kleinigkeit. Pflegte ihn und verwöhnte ihn; sehr mütterlich ist sie, dachte er.

Sie saßen zusammen an diesem Abend, tranken ein Glas Mosel; abwechselnd nahmen sie den Hörer auf. Ob er schon wisse – ob er schon wisse –?

Dann war es Lili – bei Frau Ellen hauste sie. Seit zwei Stunden schon habe sie versucht, ihn zu erreichen, immer sei besetzt gewesen. Ob er schon wisse – Hindenburg –? Paul Hornemann sei mit nach Hannover gefahren, um den Alten zu bitten; der Feldmarschall habe –

Herbert Eggeling rief an. Ob er schon wisse –? Ja, jetzt würde er mittun, er wolle mal sehn, ob er auch reden könne. Morgen sei eine Versammlung –

Aus allen Städten riefen sie an, wo er nur Leute sitzen hatte. Und er hörte am Klang der Stimmen, wie auf einmal die Herzen schlugen. Hindenburg, Hindenburg!

Stina Schmitz rief an: nebenan im Schankzimmer sitze ihr Mann, brechend voll sei es; ihr Döres gründe einen Hindenburgwahlverein für Himmelgeist. Nur eins möchte sie gern wissen: wenn der Hindenburg gewählt würde – ob es dann wieder Krieg gäbe?

Wieder schellte es; Käte antwortete. »Ja, wir wissen es schon – Hindenburg!« Sie reichte ihm den Hörer – Lamberts sei es; er wolle durchaus mit ihm selber sprechen.

Was er glaube, wollte Lamberts wissen: würde Hindenburg gewählt werden? Er habe großes Zutrauen in sein Urteil, damals schon habe –

Gerhard senkte das Hörrohr, ließ ihn reden, griff nur zuweilen ein Wort.

»– und also: ja oder nein?« fragte Herr Lamberts. »Sind Sie ganz sicher, daß Hindenburg gewählt wird?«

»Ganz sicher«, sagte Gerhard.

Gut, gut, kam die Antwort, dann wolle er darnach handeln. Bisher habe er für beide gegeben, für Marx und für Jarres – er sei Geschäftsmann, da müsse er sicher gehn. Aber nun genüge es ja, wenn man das beste Pferd setze, Hindenburg! Er würde sein Scherflein beisteuern, würde seinen Scheck –

Brinken rief an, aus Bonn – ob er schon wisse? Die Studenten würden zu Ehren Hindenburgs einen Fackelzug –

Telegramme kamen. Käte las: ›Bin frei. Übernehme für Hindenburg Ruhr-Süd. Hans.‹

Gerhard nickte. »Das ist Hauenburg! Die Behörden stecken ihn ein, lassen ihn wieder frei – grundlos und sinnlos. Rein ins Gefängnis, raus wieder – perlikke, perlakke, schon zum fünfzehntenmal! Wir können ihn brauchen.«

Ein andres: ›Eintreffe morgen früh. Troßbub.‹

»Hast du ihn herbestellt?« fragte Käte.

Gerhard schüttelte den Kopf. »Nein. Eine Neujahrskarte – sonst hab ich nichts gehört seit Jahresfrist.«

Immer wieder der Name: Hindenburg!

»Ob das überall in Deutschland so ist?« fragte Käte.

»Wird wohl so sein«, sagte Gerhard. »Jubel bei uns, Bestürzung bei den andern!«

Käte wiegte den Kopf. »Ich versteh es nicht.«

»Was nicht?« fragte er.

»Die Bestürzung nicht«, gab sie zurück, »und den Jubel erst recht nicht. Ich war doch oft dabei, wenn ihr drüber spracht, Lannwitz, Lili und du – früher wart ihr nicht so für die alten Generäle. Da hieß es –«

Er unterbrach sie. »Richtig – und doch ist heut Hindenburg der einzige, der helfen kann. Er hat gezeigt, was er kann.«

Sie sagte: »Ja, das hat er wohl. Aber heute ist er elf Jahre älter – sehr alt ist er nun. Und die Aufgabe, vor die man ihn damals stellte, die gehörte zu seinem Handwerk. Heute aber verlangt ihr etwas von ihm, das ihm völlig fremd ist.«

»Er wird es schon schaffen«, antwortete Gerhard. »Er wird sich nicht viel scheren um das Gekeife der Parteien, wird seine Leute auswählen und den rechten Mann auf den rechten Platz stellen.«

»Dich auch, Gerhard?« warf sie ein.

»Hoffentlich«, lachte er, »vielleicht erzählt ihm jemand, daß ich schon zu gebrauchen bin. Ihm mag das Schwerste gelingen: Deutschland zu einigen. Hindenburg – in der ganzen Welt steht der Name für Deutschland, so ist er –«

Er stockte, fuhr zusammen. Ganz hell, klar und deutlich klang ihm im Ohr eine Stimme: ›– ist er das Symbol! So sag's doch, sag's doch!‹ – Wie damals im Münchener Bürgerbräu lachte es: ›Das Sym–bo–o–ol!‹

Er fuhr mit der Hand durchs Haar, schüttelte heftig den Kopf. Sprach das Wort nicht aus, endete seinen Satz »– ist er der Retter!«

»Ich wünschte, daß es so wäre«, sagte Käte. Sie füllte sein Glas, stieß mit ihm an. »Also – Hindenburg!« Er nickte, trank ihr zu: »Hindenburg!«

* * *

Wie nie zuvor arbeiteten sie. Hielten Versammlungen ab, störten die der Gegner; klebten Plakate an alle Häuser und Mauern, an Zäune und Telegrafenstangen, rissen die der andern herunter. Zogen auf die Gassen, verteilten Zettel und Flugblätter – Hindenburg, Deutschland, Schwarz-weiß-rot! Störten sich nicht an die Verordnungen der Besatzung, ließen es auf Verhaftung ankommen, sechsmal am Tag.

Überall war Gerhard. Redete dreimal jeden Tag, hetzte herum im Auto. Fritz Hemmerling fuhr ihn, dann wieder Lili, manchmal auch Käte. In Sälen sprach er, in Theatern und Kinos, auf Plätzen und Wiesen. Schickte Lastautos aus mit Ballen von Werbeschriften, ließ Fähnchen verteilen bis ins letzte Dorf – jedes Kind mußte sie schwenken: schwarz-weiß-rot mit dem Namenszuge des Feldmarschalls. Mit Lehrern und Lehrerinnen trat er in Verbindung, gab ihnen Bildkarten, viele tausende, mit der Aufschrift: ›Wählt Hindenburg‹. Da liefen die Schulkinder herum, brachten in alle Wohnungen das Bild des greisen Feldherrn.

So schnell ging das alles, daß die fremden Machthaber völlig überrascht waren, nicht recht wußten, wie sie sich verhalten sollten. Dann erst besannen sie sich, verlangten von den deutschen Behörden strengste Durchführung aller Verordnungen der Hohen Interalliierten Kommission. Deutsche Behörden am Rhein – was die schon tun konnten!

Ein Tag um den andern verging so. Endlich griffen die Herrn der Besatzung selber ein. Bald klebten in allen Städten ihre Plakate, mußten alle Zeitungen die Aufrufe der Besatzungsbehörden bringen: strengste Strafen kündeten sie an. Keine Namen waren genannt; jedermann wußte doch, auf wen das zielte: auf alle die, die für Hindenburg arbeiteten. Verschärfter Dienst in allen Kasernen, überall Streifwachen auf den Straßen.

Aber am andern Morgen hing kein Plakat mehr an Mauern und Säulen; in der nächsten Nacht prangten an den Gebäuden und Häusern, in denen die Fremden sich eingenistet hatten, Aufschriften in Riesenbuchstaben: »Wählt Hindenburg!«

Soldaten und Gendarmen faßten zu, verhafteten Schuldige und Unschuldige. Kolbenstöße, Handfesseln, Gefängnis.

Zu spät – das war drei Tage vor der Wahl.

An diesem Abend sprach Gerhard in Rheydt; belgische Gendarmen betraten den Saal, als er eben zu Ende war. Er entwischte durch einen Hinterausgang; Mitternacht war vorbei, als er mit Hemmerling nachhause fuhr.

In Neuß, kurz vor der Rheinbrücke, wurden sie angehalten. Bahnübergang, die Schranke heruntergelassen – im Nu war der Wagen von Gendarmen umringt.

Gerhard hatte kaum Zeit, dem Troßbuben zuzuflüstern: »Heimfahren, Bericht geben!« Man zerrte ihn heraus; ehe er's wußte, war er in Handschellen geschlossen. Man führte ihn ab, brachte ihn ins Polizeigefängnis. Durchsuchte ihn, nahm alles, was er in den Taschen trug. Schloß eine Zelle auf, stieß ihn hinein.

* * *

In Kätes Wohnung saß Herr Lamberts; sehr aufgeregt war er. Immer wieder erzählte er dieselbe Geschichte – der kleine Dupont sei am Abend zu ihm gekommen, sie wisse ja, der Sekretär im französischen Bezirksamt, der seit Jahren für gutes Geld ihn wissen ließ, was er wissen wollte. Sie seien hinter ihrem Bruder her; nicht nur wegen der Wahlarbeit. – Man habe ausgefunden, daß er die Seele des ganzen Widerstandes an Rhein und Ruhr gewesen sei, daß er mit seinen Leuten den Sonderbündlern das Rückgrat gebrochen habe.

Angeberei natürlich; ein langer Brief sei eingelaufen; Dupont habe ihm den zu lesen gegeben. Aus Berlin sei der Brief gekommen – K. F. Peters laute die Unterschrift. Dupont habe nachgesehn: der Name stände in ihren Listen – ob er der richtige sei, wisse er nicht. Ein Spitzel, der Dienste geleistet habe bis zum Sommer dreiundzwanzig; auch für gute Arbeit viel Geld bezogen habe. Eine ganze Reihe von Verhaftungen seien durch ihn möglich geworden.

Ob denn der Oberleutnant nicht bald käme? Er müsse gleich weg aus dem besetzten Gebiet –

Sie warteten. Immer wieder erklärte Lamberts, daß er gehn müsse, immer wieder blieb er. Lief zum Fenster, schaute hinaus, ob kein Auto komme.

Er warf sich in einen Sessel, bat sie, ihm etwas zu trinken zu geben. Nein, nicht Wein – Cognac, bitte, Cognac.

»Brücken haben sie zerstört«, keuchte er, »Eisenbahnübergänge in die Luft gesprengt, haben ganze Züge nach Osten rollen lassen. Kohlenkähne haben sie versenkt, im Emscherkanal, im Rhein-Herne-Kanal, im Dortmund-Ems-Kanal, überall! Einen Dampfer sogar, einen großen Dampfer! – War das nötig, frage ich?«

Wenn nur er nicht mit hineingezogen würde! Darum warte er: das müsse der Oberleutnant ihm versprechen, daß er kein Wort davon sage, daß er ihm damals den Scheck –

»Er wird gewiß nichts verraten«, beruhigte sie ihn.

Ja, das glaube er auch; für einen Ehrenmann halte er ihn. Und der Oberleutnant könne doch nicht wollen, daß sein Geschäft – Ruiniert wäre er ja, ruiniert –

Ob er denn noch nicht komme – drei Uhr sei es jetzt, drei Uhr vorbei – ob er denn noch immer nicht komme?

Dann hupte es auf der Straße – Käte erkannte den Klang, so rief nur ein Wagen in der Stadt. Sie ging zum Fenster, Lamberts drängte sich neben sie. Unten stand ihr Voisin – aber niemand stieg aus.

Wieder hupte es. »Vielleicht will er, daß Sie herunterkommen?« sagte Lamberts.

Käte öffnete die Lippen. »Ger –«

Er hielt ihr die Hand vor den Mund. »Nicht rufen – ums Himmels willen nicht seinen Namen rufen! – Er hat wohl schon Wind bekommen, will gleich weiter.«

Sie eilten die Treppe hinunter. Vor der Haustür hielt er sie fest. »Es ist klüger, wenn ich nicht mit ihm spreche – jemand könnte vorbeikommen. Lassen Sie mich vorausgehn; ich laufe durch den Hofgarten – das ist besser.«

Er griff ihre Hand. »Aber Sie werden's ihm sagen, nicht? Daß er versprechen soll, nichts zu verraten von der dummen Sache – von dem Scheck, meine ich. Ich verstehe nichts von Politik – bin Geschäftsmann, darf nicht –«

Die Hupe rief, leise, klagend fast.

»Sie verstehn mich ja«, begann er wieder, »Sie wissen –«

Sie unterbrach ihn. »Ja, ja! Laufen Sie nur, Lamberts.«

Er schlug den Mantelkragen hoch, zog den Hut tief in die Stirn, öffnete leise die Tür, rannte die Straße hinab.

Käte trat zum Auto, Fritz Hemmerling saß am Steuer.

»Wo ist Gerhard?« fragte sie.

»Verhaftet«, stieß er hervor.

Sie stieg zu ihm; hieß ihn den Wagen um die Ecke fahren, zum Unterstand. Ging dann zurück mit ihm.

Sie saßen im Wohnzimmer, überlegten. »Rufen Sie Lili an«, bestimmte sie. »Sie soll gleich herfahren.«

»Auch Hornemann?« fragte der Troßbub.

»Nein, nein!« rief sie. »Sagen Sie ausdrücklich, daß er nicht mitkommen soll – was kann es nützen, wenn er auch verhaftet wird?«

»Er ist Reichstagsabgeordneter«, wandte Fritz ein.

Käte lachte. »Glauben Sie, daß die Franzosen darnach viel fragen werden? – Keiner darf kommen, auch Doktor Eggeling nicht, auch Hauenburg nicht – es ist zu gefährlich. Wir müssen allein sehn, wie wir fertig werden.«

* * *

Sie schlief fest und ruhig in dieser Nacht, frühstückte mit Fritz Hemmerling. Schickte ihn hinaus nach Himmelgeist: er solle mit Döres Schmitz nach Neuß fahren. Solle ausfinden, ob Gerhard noch dort sei, oder ob man ihn fortgeschafft habe – und wohin? Aber er solle sich zurückhalten, solle Döres machen lassen; der kenne sicher dort Leute und spreche ihre Sprache. Anrufen – sowie er etwas wisse, auf alle Fälle zurück sein zum Abend.

Sie wartete. Nahm das Mittagsblatt, das das Mädchen brachte, durchflog es – nein, das hatte noch keine Nachricht. Sie ging hinüber ins Schlafzimmer, trat zum Schreibtisch, schloß die Schublade auf. Nahm ein Bild heraus, betrachtete es lange. Gerhard und sie, auf der Bank am Venusteich –

Warum mußte er nur ihr Bruder sein?

Sie hörte die Schelle, hörte Stimmen an der Tür. Rasch warf sie das Bild zurück, schloß wieder ab.

Lili trat herein, kam auf sie zu. »Da bin ich.«

Käte reichte ihr die Hand, nickte. »Ja – das ist nun lange her, über anderthalb Jahre. – Schöner bist du geworden.«

»Danke«, sagte die andre. »Darf ich's glauben? Du –«

Käte schüttelte den Kopf. »Laß nur. Mir ging's schlimm eine Zeitlang – und ich sah darnach aus. Aber nun ist's schon besser. Gerhard –« Sie wiederholte Hemmerlings Bericht; erzählte, daß sie ihn mit Döres nach Neuß geschickt habe.

Lili setzte sich. »Es wird so schlimm nicht sein. Sie wollen ihm das Handwerk bis zum Wahltage legen – werden ihn dann herauslassen, übermorgen also.«

Käte schüttelte den Kopf. »Das werden sie nicht tun. Lamberts war gestern bei mir: er hatte Nachricht vom französischen Bezirksamt.« Sie berichtete alles, was er gesagt hatte. »So steht es – darum ließ ich auch Hornemann nicht kommen, Eggeling nicht, keinen. Es ist sehr ernst. Es mag ihm ergehn, wie –«

Sie stockte. – »Was denkst du?« flüsterte Lili. »Sag's doch!« Ihre Stimme zitterte.

»Oh, ich meinte nur«, sagte Käte. »Man muß sich klar sein über alles, sehr klar.« Sie fühlte wohl, wie hart das klang. Aber sie sagte es doch: »Wie Schlageter mag's ihm ergehn. Oder, was schlimmer ist, wie seinen Freunden: Zuchthaus auf Lebenszeit, Zwangsarbeit in den Sümpfen von Cayenne.«

Lili schloß die Augen, schlug sie wieder auf; rasch ging ihr Atem. Schließlich sprach sie: »Du sagst das, als – als ob – Du bist sehr ruhig, Käte.«

Die andre erwiderte: »Ja, das bin ich. Gestern schon – seit ich Gewißheit hatte. Ich fühlte es – die letzte Zeit über: etwas würde kommen. Nun ist es da, nun bin ich ganz still.«

Es klopfte – Herr Lamberts sei am Sprecher, meldete das Mädchen. Käte schüttelte den Kopf. »Soll warten.«

Sie wandte sich an Lili: »Was willst du tun?«

»Ich?« kam die Antwort. »Ich? – Du mußt es tun!«

Sie sahn einander an, lange, schweigend.

»Du weißt, daß du es tun mußt«, flüsterte Lili.

Käte antwortete nicht. Stand auf, ging aus dem Zimmer.

Unbeweglich saß Lili, starrte vor sich hin; sah nicht auf, als die andre zurückkam.

»Lamberts hat wieder mit Dupont gesprochen«, sagte Käte, »das ist sein Mann vom Bezirksamt. Ferngespräche den ganzen Morgen: die Franzosen verlangen, daß er ihnen ausgeliefert wird – die Belgier wollen ihn nicht hergeben.«

»Ist das ein gutes Zeichen?« fragte Lili.

Käte zuckte die Achseln. »Streit um Amtsgewalt ist es. Der zuständige belgische Offizier war nicht zu erreichen in Aachen; ist nach Brüssel gefahren. Morgen wird er hier erwartet – dann werden die Herrschaften sich schon einigen.«

»Kennst du ihn?« fragte Lili.

Sie nickte. »Ja, Oberst Toul heißt er.«

»Geh zu ihm«, bat Lili, »sprich mit ihm –«

Käte wiederholte: »Sprich mit ihm –! Meinst du, daß ich das tun soll? Sprechen – wie nett das klingt, so einfach und bequem! Oberst Toul – das ist der Mann, dem ich Lannwitz und seine Polizisten aus den Klauen holte. Glaubst du, daß er sich noch einmal an der Nase herumführen läßt? Der weiß gut, was es auf sich hat mit sprechen und versprechen – bei Käte Scholz! Versuch du doch dein Glück!«

* * *

Der Tag verging; am Abende kam Fritz Hemmerling zurück, brachte Nachricht, daß Gerhard noch nicht fortgeschafft sei – mehr hatten sie nicht erfahren können.

Die beiden Frauen nachtmahlten mit ihm; keines sprach ein Wort. Ehe sie zu Bett gingen, fragte Lili: »Kannst du ausfinden, wann der belgische Oberst ankommt?«

Käte blickte auf. »Ja, das kann ich wohl.«

Am andern Morgen fuhren sie zum Bahnhof, warteten auf den Aachener Zug. Als er einlief, hielt Käte Ausschau. »Da ist er«, sprach sie, »von den drei Offizieren dort der größte, der mit dem schwarzen Bürstenbart!«

Sie wandte sich auf dem Fuß, ging durch die Sperre. Hart war ihr Ausdruck.

Sie wartete zuhause; nach einer halben Stunde kam Lili. Käte hörte, wie sie in ihr Zimmer ging, lauschte an der Tür auf das Schluchzen. Öffnete dann. »Nun?« fragte sie, »nun?«

Lili stöhnte, rang nach einem Wort. Wieder drängte Käte: »Erzähl – hast du was erreicht? So sprich doch!«

Langsam kam es heraus, unterbrochen von qualvollem Schluchzen. Sie habe den Oberst angesprochen, sei neben ihm hergelaufen, als er sie abgewiesen habe. Die Treppen hinunter, zum Auto. Habe gebettelt und gefleht, daß er ihn freilassen möge, habe gesagt, daß – daß sie alles, alles, was er wolle – Sie habe seinen Arm gegriffen, aber er habe sie weggestoßen, ausgelacht – endlich beschimpft. Ausgespien habe er vor ihr. Habe schließlich Polizisten gerufen.

Nicht eine Miene verzog sich in Kätes Gesicht. Hart, scharf kamen ihre Worte, zerschnitten die Luft wie Peitschenhiebe. »Dann hast du versagt – was? Kannst ihn nicht retten – was? Also muß er den Weg gehn, den Schlageter ging – was?« Sie lachte; leise, gleichgiltig fast, sagte sie: »Ich werde es tun.«

Sie sprachen kaum miteinander an diesem Tage. Lili blieb in ihrem Zimmer, warf sich aufs Bett, lief herum, setzte sich, zitternd vor Unruhe. Sie lauschte auf jedes Ferngespräch. Sprach nicht Käte jetzt mit dem Büro? War's nicht das Bezirksamt, das sie anrief?

Sehr langsam krochen die Stunden. Was geschah denn mit ihm? War er noch in Neuß? Würden sie ihn behandeln, wie sie alle behandelt hatten, mit –? O sicher, sicher! Sie schlug die Hände vor das Gesicht.

Am Nachmittage hörte sie, wie Käte dem Mädchen Anweisungen gab. Sie möge das Abendessen für das Fräulein richten – sie selbst würde nicht zuhause sein. Das sandfarbene Abendkleid wolle sie haben – nein, besser noch das olivengrüne Taftkleid mit den Silberspitzen –

Lili lauschte – kein Laut kam aus dem Schlafzimmer. Nun würde sie die Haare machen – nun das Kleid überstreifen –

Wie lange das währte! Sie hielt sich nicht mehr, ging hinaus, stand vor der Schlafzimmertür. Trat ein.

Im Hemd saß Käte vor dem Spiegel, wandte den Kopf. Sprach kein Wort, malte weiter an ihren Brauen.

Lili setzte sich, sah ihr zu. Wie sie die Seidenstrümpfe anzog, wie sie den Gürtel um die Hüften legte, die Strumpfbänder festknöpfte.

»Darf ich dir helfen?« fragte sie. Fast demütig klang ihre Stimme. Aber Käte antwortete nicht.

Lachsfarbene Spitzenhöschen. Den dünnen Seidenrock breitete sie im Kreis auf den Teppich, stieg von oben hinein, zog ihn hoch, band ihn um die Hüften. Dann saß sie wieder, arbeitete vor dem Spiegel mit geschickten Fingern.

»Man muß nachhelfen«, sagte sie halblaut. »Muß aus sich machen, was zu machen ist. Du hast's ja nicht nötig.«

Sie schellte dem Mädchen, ließ sich helfen mit dem Kleid.

»Sind die Blumen da?« fragte sie. Das Mädchen nickte; eben seien sie gekommen. Sie lief hinaus, holte sie.

Käte riß das Papier herunter – glührote Rosen. Sie wählte zwei aus, gab sie ins Haar, über dem linken Ohr.

»Man muß an alles denken«, sagte sie. »Solche Rosen schickte der Oberst – damals in Aachen.«

Noch ein Blick in den Spiegel, dann stand sie auf. Trat vor Lili hin, fragte: »Seh ich hübsch aus?«

Lili stotterte: »Du – du – wundervoll siehst du aus.«

Sie lachte bitter. »Wirklich? – Es ist nur gut, daß man weiß, für wen man sich schmückt!«

Lili senkte den Blick. »Käte –« flüsterte sie.

Käte schnalzte mit der Zunge. »Was denn? – Für Gerhard natürlich. Für meinen Bruder Gerhard Scholz.«

Sehr bitter klang es.

Sie ließ sich den Pelzmantel umhängen, ging hinaus.

Lili saß da, rührte sich nicht. Nun mußte sie wieder warten, warten – weißgott wie lange.

Dann sprang sie auf, trat ans Fenster, sah hinaus – dort ging sie, Schritt um Schritt, sehr langsam.

Lili lief die Treppe hinab, ohne Mantel und Hut, folgte ihr. Ohne zu überlegen – in dem unbestimmten Empfinden, bei ihr zu sein, oder doch in der Nähe. Sie sah sie an der Ecke, sah, wie sie verschwand im französischen Bezirksamt.

Dort –

Sie ging hinüber zum Hofgarten, beobachtete das Gebäude. Frühling in den Büschen – in wenigen Tagen würde Mai sein. Drüben, vor dem breiten Baumwege, der zum Schloß Jägerhof führte, lag der runde Teich; in seiner Mitte die Wasserkunst: ein Nilpferd tauchte aus den Fluten, spritzte aus den Nüstern den Springquell hoch – da erschrak der steinerne Riese. Zu ihren Füßen stiegen Schwäne aus dem Goldenen Weiher, pickten die Brotbrocken, die ihnen Kinder warfen, hinten leuchteten im Abendscheine in vollem Blust japanische Pflaumenbäume.

Sie empfand: schön war es hier. So lind die Luft – Abendfrieden. Und zugleich: Gerhard –? Und Käte –? Meingott –

Bewegung auf der Straße – sie lief zurück. Französische Gendarmen – jemand wurde ins Bezirksamt geschleppt. Junge Burschen davor, die Fäuste in der Tasche geballt.

»Weitergehn«, mahnte der deutsche Schutzmann, »nicht stehnbleiben.«

Die jungen Leute gingen, kamen zurück. Lärmten nicht; sprachen erregt mit einander. Warteten. Auf einen der ihren, der nun drinnen war. Warteten wie sie –

Sie ging wieder hinüber, hielt die Tür im Auge, lief auf und ab vor dem Hause.

Dann kam sie, kam Käte Scholz. Neben ihr schritt ein Offizier, belgische Uniform, Oberst Toul. Er führte sie zu dem offenen Auto, rief dem Soldaten am Steuer zu: »Parkhotel!« Half ihr beim Einsteigen.

Die Burschen sahn es. »Franzosenliebchen!« rief einer.

Die andern nahmen es auf: »Dirne! Franzosenhure!«

Der Motor wollte nicht anspringen; der Fahrer mußte herunter, ihn anzukurbeln.

»Hure!« schrien die Burschen. »Franzosenhure!«

Fünf Schritt stand Lili von ihr; sie sah gut, wie bleich sie war unter dem Puder.

»Weitergehn!« brüllte der Stadtpolizist.

Der Oberst beugte sich aus dem Wagen. »Dépêche-toi donc, imbécile!« schimpfte er den Fahrer.

Da schrie einer der Burschen. »Die kenn ich doch! Werd schon ausfinden, wie sie heißt, die Sau!«

Und die andern kreischten: »Sau! Franzosensau!«

Gendarmen sprangen aus dem Bezirksamt – da flüchteten die Burschen, verschwanden in den Büschen des Hofgartens.

Der Motor lief; der Soldat kletterte auf seinen Sitz, gab Gas.

Da traf sie Kätes Blick – gequält und gepeinigt, hoffnungslos, jämmerlich zertreten. Und dann, im Augenblick wechselnd, hochmütig und stolz. Ein starres Lächeln auf den festgeschlossenen Lippen – so fuhr sie vorbei.

* * *

Gerhard tastete herum in seiner Zelle; stockfinster war es. Er ging zwei Schritte, kam an eine Wand, fühlte sie ab – man kann nicht weit reichen, wenn die Hände fest zusammengekettet sind. Er kratzte an der Wand – Mörtel, dazwischen ein Balken. Er strich vorbei an den Wänden – vier Schritte zu viereinhalb. Er ging quer hinüber und zurück – kein Stuhl, keine Pritsche, nichts. Oben mußte ein Fenster sein, er fühlte an einer Stelle einen kühlen Zug. Hölzern der Fußboden, voll von Schmutz; ein paarmal glitschte er aus.

Er überlegte. Donnerstag nacht – am Sonntag war die Wahl. Bis Montag also würden sie ihn sicher festhalten – drei Tage, vier Nächte, das war das geringste.

Hungrig war er – seit dem Morgen hatte er nichts gegessen. Na, etwas würde man ihm schon geben morgen früh.

Dann – ja, stand nicht wenigstens ein Eimer irgendwo? Wieder machte er sich auf die Wanderschaft, suchte – nichts fand er. Doch der Geruch, faul, mulmig, widerlich – wozu noch ein Eimer, dachten die belgischen Herrn, wenn das ganze Loch schon ein Abtritt ist? Man muß sie nicht verwöhnen, die deutschen Schweine – mögen sie doch verrecken in ihrem eignen Dreck.

Gerhard setzte sich, versuchte zu schlafen. Schlief auch; wachte auf, steif und kalt. Sprang auf, machte Freiübungen, lief auf und ab.

Setzte sich wieder, schlief wieder, erwachte wieder –

Immer vergaß er die Handschellen – die sich doch bei jeder Armbewegung gut in Erinnerung brachten. Und der Gestank, dieser greuliche Gestank –

Ungeziefer? Läuse, Wanzen, Kakerlaken? Bisher hatte er noch nichts bemerkt – das wird noch kommen, dachte er. Und man kann sich nicht einmal kratzen mit den Stahlarmbändchen.

Wenn er singen würde? Schubert, Brahms – alle Lieder, die seine Mutter sang. Das würde die Zeit ausfüllen – von Hugo Wolf allein fünfunddreißig Mörikelieder. Ob er sie noch alle im Kopf hatte? Er begann halblaut:

»Du bist Orplid, mein Land!
Das ferne leuch–«

In der Mitte zerbiß er das Wort. Nein, das war unmöglich – solche Lieder in dieser Jauchegrube! Gotteslästerung!

Er setzte sich wieder, schlief wieder, erwachte wieder –

Wenn er nur wüßte, wie lange er so schlief. Waren das Stunden oder wenige Minuten nur?

Stimmen – nun war es gewiß Tag, ob es gleich so dunkel blieb wie zuvor. Es geschah doch etwas; von Zeit zu Zeit kamen Schritte vorbei, von Zeit zu Zeit hörte er Laute.

Niemand kam. Vielleicht ist's ganz gut so, dachte er. Wenn sie mir nichts zu essen und zu trinken geben, bleib ich stubenreiner vermutlich; ist genug Schmutz und Stank in dem Loch –

Dann ging die Tür; sehr blendend schien ihm das Licht. Ein Sergeant, zwei Soldaten – sie führten ihn hinaus, über den Flur, eine Treppe hinauf.

In dem Schreibzimmer saß ein Unteroffizier am Tisch – sollte der ihn vernehmen? Die Belgier sprachen miteinander – der Herr Leutnant sei noch beschäftigt. Er blickte sich um: eine Uhr an der Wand, drei Uhr sechsundzwanzig. Dann also war es Nachmittag –

Man befahl ihm, sich umzudrehn, mit dem Gesicht zur Wand. Er gehorchte; es hat wenig Sinn, sich zu wehren, wenn die andern Revolver haben und man selber Handfesseln. Rechts und links von ihm setzten sich die Soldaten.

Über eine Stunde stand er so. Immerhin, es war hell im Zimmer; er genoß das Licht.

Leichte Schritte; dann riß ihn einer der Soldaten herum. Ein junger Leutnant stand vor ihm, schlank, fast mädchenhaft. Geschnürt wie alle, zierliche, hübsche Figur. Braune Augen, braun das gewellte Haar, wohlduftend. Und natürlich die Reitpeitsche in der Hand. Er trat an den Tisch, nahm einen Bogen, den ihm der Unteroffizier reichte.

»Vous êtes –« begann er. Er las den Namen ab, Stadt, Jahr der Geburt, Stand, manche weitern Angaben – sehr richtig war das alles. Sagte ihm, daß er die Wahlarbeit in verbotener Weise geleitet, daß er gegen alle möglichen Verordnungen verstoßen habe –

›Zwei Tage vor der Wahl‹, dachte Gerhard, ›das wird euch viel nützen.‹ Der kleine Leutnant gefiel ihm; mit dem würde er schon auskommen. Erst ausreden lassen – dann würde er ihm sagen, daß er Hunger habe. Und daß er ihm doch diese lausigen Armbänder abnehmen lassen solle –

Der Leutnant legte den Bogen auf den Tisch, trat näher. Er solle vernünftig sein, sich nicht sperren. Was man wissen wolle, sei sehr einfach: Namen und Wohnung seiner Helfer in den verschiedenen Städten. Er zählte auf: in Krefeld, in Aachen, Ürdingen, Erkelenz, in Düren, Eschweiler, in – Nur die belgische Zone schien für ihn Wichtigkeit zu haben. Und also heraus mit der Sprache – wie hießen die Leute?

Gerhard dachte: ›Da kannst du lange warten!‹ – Er zuckte die Achseln, sagte: »Sie müssen Deutsch sprechen; ich versteh nicht Französisch.«

Der Leutnant stutzte, ging zurück zum Tisch, nahm das Papier wieder auf, suchte. Las dann: »Scholz parle parfaitement le français.« Er kam zurück, schwenkte Gerhard den Bogen vor der Nase. »Haben Sie das gehört? Soll ich Ihrem Gedächtnis nachhelfen?«

»Ich bin ein Deutscher«, sagte Gerhard, »und dies ist deutsches Land.«

Die Reitpeitsche pfiff, zeichnete einen scharfen Strich auf Gerhards Gesicht. Er riß die Hände hoch – der Leutnant sprang zurück; im Augenblick hingen die beiden Soldaten an seinen Armen.

»Verstehn Sie nun Französisch?« zischte der Leutnant.

Er antwortete nicht, preßte die Lippen zusammen. Vier-, fünfmal noch biß ihn die scharfe Peitsche.

»Abführen!« befahl der Leutnant. »Wird schon zahm werden, der Hund.«

Er griff seine Mütze, nahm die Handschuhe. Pfiff einen Gassenhauer, tänzelte die Treppen hinunter.

»Marche!« befahl der Unteroffizier. Zwei Minuten später saß Gerhard wieder in seinem Stinkloch.

Samstag früh um neun Uhr wurde er von dem Unteroffizier verhört. Gerhard zuckte die Achseln, antwortete nicht; da erneuerte er die Bekanntschaft mit der Reitpeitsche, schloß neue Bekanntschaften mit Kolben, Lederriemen, Stiefeln und Fäusten. Blut spie er aus Nase und Mund; aber er nannte die Namen nicht. In seiner Zelle krümmte er sich vor Schmerzen.

Abends sehr spät wurde er herausgerissen; diesmal wieder vor den Leutnant geführt.

»Voyons –« begann der Belgier. Er hielt ihm vor, wie dumm es sei, so halsstarrig zu sein. Er solle doch vernünftig werden – man habe schon ganz andre Burschen zahm gekriegt.

Der Fernsprecher klingelte im Nebenzimmer – der Leutnant wurde verlangt.

Sehr unterwürfig wurde seine Stimme am Hörrohr. »Oui, mon colonel!« klang es. »A vos ordres, mon colonel.«

Ja, er habe den Scholz bereits verhört; der wolle nicht heraus mit der Sprache. Worüber? Nun, über seine Tätigkeit während der Wahlzeit. – Nein, sonst über nichts – Ja, er habe verstanden, werde das Verhör gleich abbrechen –

Dabehalten über Sonntag? – Ganz recht, bis der Wahlakt vorbei sei. In aller Stille herauslassen – also erst in der Dunkelheit, gewiß, wenn die Straßen leer seien – »Oui, oui, j'ai tout compris! A vos ordres, mon colonel!«

Dann sprach der Leutnant leise mit dem Unteroffizier; der kam allein zurück, schloß die Tür hinter sich. Sah Gerhard groß an, schüttelte den Kopf, befahl ihm, zu folgen.

Er brachte ihn in eine andre Zelle. Eine richtige Pritsche war da, ein Stuhl, ein Eimer in der Ecke. Oben ein kleines Fenster, sogar eine elektrische Birne an der Decke. Und man löste ihm die Handschellen.

Nach einer Weile öffnete sich die Tür – ein Soldat stellte einen Waschnapf auf den Stuhl, hängte ein Handtuch über die Lehne. Ein andrer setzte einen Wasserkrug auf die Erde, legte ein halbes Brot auf die Pritsche. Zog eine Bürste aus der Tasche, legte sie daneben. ›Luxushotel‹, dachte Gerhard.

Er war nicht ganz mehr dieser Meinung am andern Morgen. Er wachte auf in der Dämmerung – fünf Uhr schätzte er. Man holte den Schmutzeimer nicht ab, brachte ihm kein frisches Wasser. Gab ihm nichts zu essen; bekümmerte sich nicht weiter um ihn. Genug der Gnadenbeweise gestern abend; man darf so etwas nicht übertreiben –

* * *

Den ganzen Sonntagmorgen saß Lili am Fenster – nach Mittag erst kam Käte. Stieg aus dem Taxi, zahlte, ging ins Haus. Lili stand auf, öffnete ihr die Tür; starrte sie an, erschrak. »Wie siehst du aus?« flüsterte sie.

Käte warf den Pelz ab. »Was? – Nun, wie – so eine eben ausschaut! Glaubst du, daß ich aus der Kirche komme?« Sie riß ihr Kleid herunter, schleuderte es auf den Boden. »Warum fragst du nicht – willst doch wissen, was geschehn ist, nicht? Ob sie was erreicht hat – die Franzosenhure! Du standst ja dabei, hast gehört, was sie riefen: Franzosensau!«

Irre klang ihr Lachen, heftig riß sie die Wäsche vom Leib.

Lili hielt ihr das Kimono hin. »Käte, liebe Käte –«

Sie zog das Gewand über, unterbrach sie. »Spar die Worte. Ich brauch dein Mitleid nicht.« Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, sprang gleich wieder auf, schrie: »Ein Bad will ich haben, hörst du nicht? Ein Bad!«

Lili lief zum Badezimmer; an der Tür hielt sie Kätes Stimme fest, weich klang sie plötzlich. »Warte – ich will dich nicht quälen: sie lassen Gerhard frei!«

»Wann?« fragte Lili.

»Heute noch«, sagte Käte, »wenn die Wahl vorbei ist!«

Lili flüsterte: »Gut, gut! Dann will ich hin –«

Sie schnitt ihr das Wort ab. »O gewiß, natürlich! Du willst ihn empfangen, ihm die Freiheit schenken – du! Bist ja seine Braut – du! Hast ja alles für ihn getan, dir allein hat er's zu danken – dir!«

Lili senkte den Kopf. »Nein, nein«, sagte sie demütig. »Du sollst ihn abholen –«

Aber Käte schüttelte den Kopf, schluchzte. »Nein – ich nicht – mich soll er nicht sehn – ich will nicht, daß er mich sieht.« Sie schwankte, stützte sich am Schreibtisch. »Döres Schmitz mag ihn holen, oder der Troßbub. Und – du wirst es ihm nie sagen, nie – daß ich – versprich mir's!«

Lili nickte; legte still den Arm um sie, führte sie ins Badezimmer.

* * *

Ein paarmal schrie Gerhard am Sonntag: jemand solle kommen, ihm Wasser bringen, den Stinkeimer forttragen! Er versuchte es auch an der Tür, führte ein Trommelkonzert aus mit Fäusten und Füßen. Aber der ganze Stock schien verlassen; er hörte nichts draußen, nichts.

Dann wurde es dämmrig, wurde langsam dunkel. Er legte sich auf die Pritsche, starrte zur Decke: nun würde die Glühbirne aufleuchten. Aber sie blieb, wie sie war, verschwamm immer mehr, verschwand schließlich in der Dunkelheit.

Dunkel – dann war die Wahl vorbei und der Tag auch. Dann würde er bald frei sein – wie hatte der Oberst dem Leutnant befohlen? In aller Stille herauslassen – in der Dunkelheit – à vos ordres, mon colonel!

Er wartete. Niemand kam, niemand holte ihn. Stunden, Stunden – Er warf sich auf die Pritsche, konnte doch nicht schlafen.

Plötzlich leuchtete die Birne. Schritte – vor seiner Tür hielten sie; der Schlüssel drehte sich im Schloß. Im Augenblick war er auf den Beinen.

Zwei Mann und der Unteroffizier. Der warf ihm seine Sachen auf die Pritsche – er solle nachsehn, ob es stimme. Taschentuch, Brieftasche, die Uhr – aufgezogen war sie, tickte vergnügt. Drei Viertel eins – da würden die Straßen gewiß leer sein. Schlüssel, Bleistift, loses Geld – nichts fehlte.

Sie schlossen die Haustür auf, ließen ihn vorgehn. Wie er draußen auf der Treppe stand, erhielt er einen mächtigen Tritt in den Hintern, wohlgezielt. Er stolperte die Stufen hinab, lag auf dem Pflaster. Rohes Lachen – dann krachte die Tür ins Schloß. Er richtete sich auf, hinkte weiter –

Dann hörte er eine Stimme: »Da ist er!«

Einer lief über die Gasse, gleich hinter ihm ein zweiter.

»Kommen Sie schnell«, sagte der Troßbub, »gleich um die Ecke steht unser Wagen.« Er griff seinen Arm, stützte ihn fürsorglich.

»Wer ist gewählt?« fragte Gerhard.

Döres Schmitz antwortete: »Hindenburg!«

* * *

Sehr ungemütlich fühlte sich Döres bei diesem Festmahl. Er hatte versucht, sich zu drücken, aber es ging nicht.

– Sie waren von Neuß hinaufgefahren nach Köln; dort über die Rheinbrücke. Hinein ins Sauerland und das Aggertal hinauf. Der Troßbub wußte Bescheid – von hier war er ins Siebengebirge geritten mit Frau Ellens Pferden. Noch war es nicht Tag, als sie auf dem Schloßhof hielten.

Paul Hornemann erwartete sie; er nahm Gerhard mit sich, ließ den beiden andern ein Zimmer anweisen. Döres nickte befriedigt, als er sich auszog. »Das' jenau, wie in Frankreich«, erklärte er, »da hammer auch immer in Schlösser jewohnt.«

»Schützengräben gab's da wohl nicht?« lachte Fritz.

Schon – die seien auch ganz nett gewesen; aber die Schlösser seien ihm doch lieber. Er erzählte drauflos – Schatos hießen die auf Französisch –

»Da han se Sachen drin!« rief er. »Haste schon emal ene joldene Pißpott jesehn, Jüngke?«

Fritz Hemmerling antwortete nicht; entrüstet richtete sich Döres auf, blickte auf das andre Bett. »Dä schnarcht schon«, sagte er, knipste das Licht aus.

– Ein Diener brachte ihnen das Frühstück, spät am Morgen; sie frühstückten im Bett. »Das' so Mod in Schatos«, meinte Döres. »In Frankreich –«

»Da hat euch der Herr General immer die Schokolade ans Bett gebracht«, lachte der Troßbub.

Sie standen auf, kleideten sich an. Dann gingen sie in die Ställe. »Den Rapphengst hab ich geritten«, rief Fritz, »weißt du noch?«

Döres nickte. »Und da steht dä Rotschimmel – da hat dat Fräulein drauf jesesse. Un dat is dat Pädche von dem Kaubeu, dä mich aus dat Handjemäng erausjeholt hat. Dat waren noch schöne Zeiten!«

Hornemann kam herein.

»Tag, Herr Schloßherr«, begrüßte ihn Döres, »Sie könne et schon aushalte hier! Schöne Dank auch – ich möcht nu bald widder jehn, damit ich noch rechtzeitig heutabend bei mein Stina bin.«

»Gibt's nicht!« sagte Paul. »Heut abend ist Festfeier und du mußt dabei sein.«

»Dat jibt et doch«, beharrte Döres, »mein Stina weiß nich, wo ich steck – da könnt se sich ängstije.«

Hornemann zog ein Telegramm aus der Tasche. »Wir haben um Erlaubnis gebeten – da ist die Antwort!«

Döres las, schüttelte den Kopf. »Dat sieht die ähnlich, dat se sowat schreibt: ›Is jut. Döres soll sich die Häng wasche un hochdeutsch spreche.‹«

Nachmittags kamen Brinken und Eggeling; eine Stunde später traf Lili ein.

Noch kurz vor dem Nachtmahl versuchte Döres auszukommen. »Ich han kene Schmoking«, erklärte er. Es half ihm nichts; niemand würde sich umziehn, hieß es.

Es beruhigte ihn etwas, daß sie nur zu acht an dem runden Tisch saßen; gute Freunde alle, außer der vornehmen Schloßherrin – und neben der grade mußte er sitzen. Nur gut, daß der Troßbub an seiner andern Seite saß.

Austern gab's; Döres schaute sie mißtrauisch an.

»Wenn sie Ihnen nicht schmecken, Herr Schmitz –« begann Frau Ellen.

»O doch«, sagte er, »nur sollt mer se koche! Mer han se jede Freitagabend in dä Säsong – bloß sin se kleiner, janz schwarz un inwendig jelb. Muschele sage mer dafür. Aber ich freß se auch roh, wenn et sein muß; dat hammer in Krieg jelernt: jut Päd friß –« Er stockte, Stinas Mahnung fiel ihm ein. »Gutes Pferdchen verzehrt alles!« schloß er.

Ein Diener brachte ein Telegramm, reichte es Paul. Der riß es auf, las vor: »Hurra Hindenburg! Kramer.«

»Vom Baskerviller!« rief Eggeling. »Wie geht's ihm denn drüben in Kanada?«

»Gut, denk ich«, antwortete Paul, »hab erst vor acht Tagen einen Brief von ihm bekommen. Der kann arbeiten – einerlei, was er in seinen Pratzen hat, Flinte oder Pflug. Er hat sich schon eingelebt, denkt schon daran, eine eigne Klitsche zu nehmen im Süden von Sus – Sis –«

»Saskatschewan!« verbesserte Herbert Eggeling.

Paul nickte. »Ja, so heißt das wohl! Kann auch nur ein Gelehrter aussprechen.«

Zehn schlug die Uhr. Paul wartete auf den letzten Schlag, erhob sich, tinkte an sein Glas. »Hindenburg!« Er sah hinüber zu Gerhard – es war, als ob die roten Striemen auf seinem Gesicht hell aufleuchteten. Sie standen auf, tranken – »Hindenburg!«

Immer wohler fühlte sich Döres. Er wandte sich an seine Nachbarin: »Wissen Sie auch, daß der Herr Oberleutnant bei uns Pate sind? Gerhard heißt minge Jong – unser Söhnlein, meine ich.«

»Sagense ruhig minge Jong!« lachte Ellen. »Hier brauch mer sich nich zu scheniere.«

Döres sah sie groß an. »Wat – Sie könne Rheinisch?«

»Jäck Oos!« rief sie, »jrad so jut wie du auch – ich bin doch vom Rhein. – Hat er euch auch ein hübsches Patengeschenk gemacht?«

»Nee –« sagte Döres. Er stutzte, sah zu Gerhard hinüber. »Et is uns auch jarnich um et Jeschenk, et is uns um die Ehr!«

»Nichts hab ich gekauft«, sagte Gerhard. »Keine Zeit –«

Ellen wandte sich, sprach mit dem Diener.

»Wenn mer Sie näher besieht«, begann Döres wieder, »gefallen Se mich immer besser. Bei uns is et bald widder so weit, nächste Woch vielleicht – wenn Sie da Patin sein wolle: mich is et recht un mein Stina auch.«

Ellen streckte ihm die Hand hin. »Abgemacht!«

Der Diener kam, überreichte Döres einen Lederkasten. Er öffnete ihn – silberne Messer, Gabel und Löffel. »Patengeschenk vom Herrn Oberleutnant Scholz«, sagte sie, »für Ihre Jong Jerrard in Himmeljeist.«

»Mariajosep!« rief Döres, »da kann sich dä Rotznas freue!« Dann aber setzte er den Kasten hin, schüttelte den Kopf. »Es tut mich leid – aber dieses kann ich nicht annehmen.«

»Warum denn nicht?« fragte Paul.

»Wenn ich dat mitbring«, erwiderte er, »dann meint mein Stina, dat ich mich dat hier im Schato besorjt hätt. Wenn mer dat behalte solle, dann müsse Se et mit dä Post schicke.«

»Mit der Post also«, nickte Ellen. Sie wandte sich an Gerhard. »Ich hab ein Schreiben für Sie.« Sie nahm einen Brief aus der Tasche, gab ihn ihm. Gerhard las, nahm dann ihre Hand und küßte sie. »Das hab ich Ihnen zu danken –«

»Unsinn«, wehrte sie ab. »Die Leute nehmen Sie, weil sie gut wissen, was Sie leisten werden.«

»Gute Nachricht?« rief Herbert. »Laß hören, Gerhard.«

»Nichts Besondres«, erklärte Paul. »Der Zweckverband der Rhein-Ruhr-Industriellen hat ihn zum – ach, es ist zu lang, jetzt auseinanderzusetzen. Wir wollen ihn hochleben lassen – wer bringt den Trinkspruch aus?«

»Ich hab ein Lied auf ihn gemacht«, rief Brinken.

»Sieh doch an«, lachte Paul. »Schieß los, Studentchen!«

Hans ten Brinken führte sein Glas zum Munde, spülte die Kehle aus. Begann dann:

»Die Landsknechte hocken im Kreise herum –«

»Die Landsknech – dat sin mir«, rief Döres dazwischen.

»Hal din Schnüß!« mahnte ihn Frau Ellen.

Der Student wiederholte:

»Die Landsknechte hocken im Kreise herum,
Den Nacken gebeugt und die Rücken krumm,
Verloren der Blick und die Lippen stumm.
Das starrt in die Luft und das mault und trinkt –
Und einmal nur leuchtet ihr Auge stolz,
Als in der Runde der Name klingt:
Gerhard Scholz!

Da hob sich ein Bürger vom Nachbartisch:
›Wer seid ihr? Die Fratzen jung noch und frisch,
Eine Unke du – und du bist ein Fisch –
Und das Herz ein Loch, darin nichts mehr singt?
Laßt hängen die Mäuler und klebt am Holz –?
Und wer ist der Mann, auf den ihr trinkt,
Gerhard Scholz?‹

Und einer lachte und gab ihm Bescheid:
›Wir sind die Blüten der herrlichen Zeit,
Wir stritten viel und sind müd vom Streit,
Träg durch die Adern quält sich das Blut.
Doch fällt das Wort – dann kocht es und rollt's,
Aus alten Wunden glüht neuer Mut –
Gerhard Scholz!

›Wir wissen: dann geht es auf Biege und Brich!
Denn er ist Deutschland, ist du und ist ich!
Wo ein Landsknecht nur durch die Lande strich,
Ein Ruf – und jeder ist jauchzend dabei.
Wenn der Märzwind das Eis auf den Strömen schmolz,
Gellt über die Berge weit unser Schrei:
Gerhard Scholz!‹«

Sie schrien den Namen, jubelten ihm zu. Gerhard hielt die Augen gesenkt, sagte schließlich: »Danke, Studentchen!«

Aber Döres war sehr begeistert. »Das' en Liedchen! Dat mußte mich aufschreiben, dat muß ich mein Stina vortrage.« Er tat einen tiefen Zug aus seinem Glas. »Jetzt, wo mer dä Hindenburg jewählt habe, is et durchaus möjlich, dat mer auch widder Fastnacht krieje am Rhein! Da lad ich euch zwei ein zu mich nach Himmeljeist, dich und dat Fritzche hier. Dat Fritzche kann beim Rosenmontagszug auf 'm Pädche reite, un du darfs uns ä janz neu Karnevalsliedche mache!«

Wieder erhob sich Paul Hornemann. »Wir haben die Hauptsache vergessen: auf sein Wohl zu trinken! Mein lieber Gerhard, wenn wir – wink nur nicht ab, es wird dir doch nichts helfen. Ein Mann wie du, auf den seine Volksgenossen Lieder dichten –«

»Ich bitte dich, Paul!« rief Gerhard.

»Schweig nur«, fuhr er fort, »reiß dich zusammen! Also jetzt kommt eine große Überraschung – für dich und besonders für Lili, die heute mächtig miesepetrich ist und noch nicht einmal ihre erzieherischen Talente an mir ausgeprobt hat. Meine Damen und Herrn – Lili und unser lieber, lieber Gerhard wissen noch nichts von dem Glück, das ihnen bevorsteht. Nämlich: Gerhard Scholz ist heute ein Mann, dessen auskömmliche Stellung – wie sagt man? – dessen gesicherte bürgerliche Existenz – es ihm nunmehr erlaubt, auch in seine Familienverhältnisse bürgerliche Wohlanständigkeit hineinzutragen. Er hat sich deshalb entschlossen, die günstige Gelegenheit zu benutzen, um mit uns ein Fest zu feiern: das schöne Fest seiner Verlobung.«

Lili griff seinen Arm. »Aber Paul –«

Er achtete nicht auf sie. Winkte Ellen – die streifte einen schmalen Goldreif an Gerhards Finger.

»Wie angegossen paßt er!« lachte sie.

»Und nun kommst du dran!« fuhr Paul fort. Er griff in die Westentasche, faßte dann Lilis Hände. »Hübsch stillhalten – es tut nicht weh.« Er schob ihr den Goldreif an den Ringfinger, dann an die andre Hand einen großen Sternsaphir in Brillanten gefaßt. »Der ist von Ellen – zu deiner Verlobung! So, nun freßt mich auf, wenn's euch schmeckt – Döres, schau dir nur die Gesichter der zwei an und erzähl davon deiner Stina! Wir aber wollen trinken auf das junge Paar!«

»Hoch!« schrien die Landsknechte. Alle sprangen auf; gingen zu Gerhard und Lili. Schüttelten ihre Hände.

»Nu sin Se also endjiltig ereinjefalle«, sagte Döres. »Das' jenau wie mit mein Stina, dat hat auch nich eher Ruh jejebe, bis dat se richtig verhierot war! Aber tröste Se sich, Herr Oberleutnant, Se könne schon zufriede sein mit Ihre Fräulein Braut; mein Stina sagt auch immer: das' e staats Weit!«

Ellen ging zu Lili, legte ihr den Arm um den Nacken. »Laß sie trinken und fröhlich sein! Komm, wir wollen uns zurückziehn.« Sie führte sie aus dem Speisezimmer. »Du sagst ja kein Wort – gefällt dir der Ring nicht?«

Lili hob die Hand, blickte auf den Stein. »Doch – so einen trug einmal meine Mutter.«

Ellen sah sie schweigend an: das war das erste Mal, daß die Freundin das Wort aussprach: Mutter.

Aber sie dachte nicht an die Mutter in diesem Augenblick – nein, an eine andere Frau. Keiner nannte ihren Namen während des langen Abends, keiner sprach von ihr. Und doch lebte sie und doch saß sie auf in dieser Nacht, saß auf ihrem Bett, einsam, weinte –

Wenn sie nicht war, dann war kein Lachen und Trinken und keine Verlobung. Wenn sie nicht war, dann lag er noch in seiner Zelle zerschlagen, zertreten –

Lili blieb stehn, preßte die Hand auf ihr Herz. ›Käte‹, flüsterte ihre Seele, ›Käte‹!

* * *

Paul Hornemann begleitete Gerhard auf sein Zimmer; fünf Minuten drauf gesellte sich auch Eggeling zu ihnen. »Die andern haben sich vor dem Kamin in der Bibliothek niedergelassen«, sagte er. »Döres erzählt – wenn man ihm zuhört, sollte man glauben, daß der ganze Krieg nur in Schloßbesichtigungen bestanden habe.«

»Hast du die Aufschriften in den Zeitungen gelesen, die ich dir heutnachmittag gab?« fragte Paul.

Herbert zog vier kleine grüne Hefte aus der Tasche, warf sie auf den Nachttisch. »Ein schöner Blödsinn! Aber zu antworten lohnt kaum.«

»Kein anständiger Mensch wird auf den Schwindel hereinfallen«, sagte Gerhard.

»Meinst du?« rief Paul. »Ich sage dir, daß die ganze Berliner Presse drauf hereinfällt! Im Reichstag erzählt man, daß sie aus der Femegeschichte einen regelrechten politischen Feldzug machen wollen.«

»Wozu denn?« fragte Herbert.

»Das ist doch klar«, antwortete Paul. »Seit einem Jahr und mehr regt sich alles auf über die Schmutzprozesse der Brüder Barmat, des Kutisker und wie die Jungs alle heißen, die mit den Behörden geschoben haben. Da sind manche Politiker schwer bloßgestellt: Sozialisten, Demokraten, Zentrumsleute. Das aber haben die Parteien auszubaden – die sind froh, wenn sie etwas haben, das die Öffentlichkeit ablenkt und mit der Nase in einen andern Dreck stößt. Einen Dreck, der zum Himmel stinkt und dazu rechts ist, ganz rechts! Begreift ihr? Ein geheimer Verband von Verschworenen, der in grausamster Weise die politischen Gegner hinmordet, von Soldaten angefangen bis hinauf zu Ministern – Erzberger, Rathenau.«

»Dummes Zeug!« rief Gerhard. »Hat's je Umsturz und Bürgerkrieg gegeben, wo nicht Gegner erschlagen, Verräter beseitigt wurden? Keiner lebte von uns, wenn wir's nicht auch so gemacht hätten, in Oberschlesien, wie am Rhein und an der Ruhr. Dafür gibt's dann Gnadenerlasse, wenn die Zeiten ruhiger werden – für rechts wie für links. Laßt nur den Hindenburg erst in Berlin sein –«

»Recht hast du!« sagte Herbert. »So dumm ist das deutsche Volk nicht, daß es auf den Femezauber hereinfallen würde – und wenn er noch so groß aufgezogen wird. – Übrigens muß der Kerl Bescheid wissen, der die Hetzaufsätze schrieb. Er nennt zwar keine Namen, wird aber deutlich genug: spricht von dem Wachtmeister, den man den Hund von Baskerville nannte, von dem Oberleutnant, der die hochverräterische Schwarze Reichswehr aufzog und den Ruhrwiderstand leitete, und von seinem Busenfreunde, der jetzt den Reichstag ziert! – Dem Jungen müßt ihr höllisch auf die Hühneraugen getreten haben – wißt ihr, wer es ist?«

»Natürlich kennen wir ihn«, sagte Gerhard. »Erzähl du's ihm, Paulchen, ich bin wirklich müde.«

Sie sagten Gutnacht; Gerhard ging zubett.

Konnte doch nicht recht einschlafen. Knipste die Tischlampe wieder an. Nahm eine der Zeitschriften, blätterte darin –

Die Tür ging auf; Lili kam herein, setzte sich aufs Bett.

»Gut, daß du noch wach bist. Ich muß mit dir sprechen –«

Er nahm ihre Hand. »Was ist es, Lili?«

Sie sagte: »Das mit der Verlobung – du mußt nicht glauben, daß ich dahinter stecke. Ich wußte so wenig davon wie du; Paul und Ellen haben's allein ausgeheckt.«

Er lachte. »Das hab ich mir gedacht. Ihnen sieht's ähnlich – dir garnicht.«

Sie hielt ihre Hand hoch, ließ das Licht fallen in die Sternstrahlen ihres Saphirs. »Wenn du nicht willst, braucht es nicht zu sein, Gerhard. Vielleicht ist's besser für dich, wenn du frei bist.«

Er unterbrach sie. »Soll das heißen, daß du nicht magst?«

»Ich?« rief sie. »Hast du gehört, was Döres sagte?«

Er nickte. »Freilich! Ich könne zufrieden sein mit dir!«

»Das mein ich nicht«, erwiderte sie. »Er sagte, daß es mit mir genau so sei wie mit seiner Stina: die habe auch nicht eher Ruhe gegeben, bis er sie richtig geheiratet habe.«

»Und das kränkt dich?« fragte er. »Er hat's gut gemeint.«

»Das hat er«, sagte sie. »Und außerdem hat er recht – und sprach die Wahrheit.«

Gerhard sah sie erstaunt an. »So? Ich hab nie bemerkt, daß du sehr nach dem Standesamt gedrängelt hättest.«

Sie lächelte still. »Wenn man nicht spricht – heißt das, daß man auch nicht denkt? Und ist nur der Wunsch ein Wunsch, der über die Lippen kommt?«

Er wiegte den Kopf. »Dann also bist du einverstanden mit deinem Goldreif – und kommst doch zu mir und willst ihn abstreifen?«

»Ja, Liebster«, sagte sie, »genau so ist es – ist das ein Widerspruch? Wie du willst, so soll es sein.«

Gerhard schwieg eine Weile, begann dann: »Vielleicht – ich hatte zu viel andres im Kopf, hab mich zu wenig um dich gekümmert. Nun aber hab ich die Stellung – höchst auskömmliche bürgerliche Existenz, wie Paul sagt – da ist's besser, wir heiraten. Mein Posten ist in Berlin: ich will hin, sowie mein Gesicht wieder menschenwürdig ausschaut. Ich werde eine kleine Wohnung nehmen – du kommst nach. Kannst ja auch in Berlin studieren.«

Sie nickte. »Ja, das will ich – aber nicht mehr Medizin. Ich hab's drangegeben – wär doch nur eine kleine Ärztin geworden, ohne Liebe und Lust. Nun treib ich was andres – seit Monaten schon.«

»Was denn?« fragte er.

»Ich singe«, sagte sie. »Man sagt mir, daß es wert sei, die Stimme auszubilden. Ist es dir recht?«

»Es ist mir sehr recht«, betonte er, »wenn ich durchaus erst meine Erlaubnis dazu geben soll. Das weißt du doch, daß meine Mutter sang? Da lauschten wir Kinder an der Tür –«

»Ja«, sagte sie, »das tun die Kinder.« Sie hob die Decke ein wenig, fragte: »Darf ich zu dir kommen?«

Zärtlich streichelten ihre Finger seine Wangen. »Rote Streifen«, flüsterte sie, »Peitschenhiebe – sieben – acht – neun! Ich lieb dich. Deine Handgelenke, alle beide zerschunden – das ist von den Handschellen, nicht? Häßliche Wunden – schmerzt es? Ich lieb dich.« Sie streifte ihm den Pyjama zurück. »Da auf der Schulter – was ist das? Braun, blau – Kolbenschläge? Ich lieb dich. Die Narbe kenn ich, die auf der Brust – Granatsplitter – und die auch und die auch! Ich lieb dich. Alte Wunden, neue Wunden – alle will ich sie küssen, alle. Ich lieb dich.«

Sie fühlte seine Hand auf ihrer Brust, spürte seinen Hauch. Bot ihm den Mund – zwischen ihren Lippen verklang es: ›Ich lieb dich‹.

Und sie fühlte doch: ›Nicht ich war es. Die Andre war es – sie allein, Käte! Ich nicht – sie nur, sie hat's getan!‹

Und sie fühlte: ›Ich bin es, ich. Ich tat es für dich, ich, deine Schwester! Ich bin deine Schwester – und ich hab es getan. Weil ich dich liebe, Liebster, drum tat ich's. Ich bin es, Käte. Ich lieb dich, lieb dich –‹

Sie bebte, wimmerte. Glühte in seinem Kuß.

»Ich bin«, flüsterte sie, »ich bin –«

* * *

Elf Tage blieb Gerhard. Stille glückliche Tage, glückliche Nächte.

Dann fuhr er nach Berlin. Reiste die Nacht durch, kam früh an am Potsdamer Bahnhof.

Zwei Herrn erwarteten ihn. »Sie sind Oberleutnant Scholz?«

Er nickte. »Der bin ich. Und Sie sind wohl vom Verband der Rhein-Ruhr-Indu–«

Der Herr unterbrach ihn. »Leider nicht; wir sind von der Kriminalpolizei. Er schlug den Rockkragen zurück, zeigte seine Messingmarke. »Wir haben den Auftrag, Sie zu verhaften – ich bitte Sie, unauffällig mit uns zu gehn und keine Schwierigkeiten zu machen.«

Er lächelte bitter. Sprach kein Wort, folgte ihnen.

 


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