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Der immanente Idealismus.

Den Verwicklungen der Religion entgehen zu können, ohne an Tiefe des Lebens einzubüßen, glaubt ein immanenter Idealismus, der mit seinem Aufbau einer Idealkultur seit Jahrtausenden neben der Religion steht und wirkt, bald zu freundlicher Ergänzung, bald in harter Bekämpfung. Auch er gibt dem Leben zum Hauptstandort eine unsichtbare Welt, aber diese erscheint hier nicht als ein neben der sichtbaren Welt befindliches und von ihr abgelöstes Reich, sondern als ihr eigner Grund, ihre eigne Tiefe; daß das All eine solche dem äußeren Auge verborgene Tiefe hat, daß es sich in ihr zu einem Ganzen zusammenfaßt und ein inneres Leben gewinnt, das ist die feste Überzeugung und die unentbehrliche Voraussetzung dieser Lebensgestaltung. Den Menschen schließt diese Lebensordnung eng mit dem All zusammen, aber zugleich gibt sie ihm eine eigentümliche Stellung und Aufgabe. Er steht mit seinem äußern Dasein in der sichtbaren Welt, aber in seiner Seele beginnt die sonst verborgene Tiefe der Wirklichkeit durchzubrechen, in ihm erst erlangt das Leben der Welt eine volle Klarheit und Freiheit, und es kann das nicht ohne sein eignes Ergreifen und Aneignen, sein Arbeiten und Vordringen; es gibt einen Punkt, wo alles an ihm liegt, und wo er hoffen darf, mit Entwicklung seiner Selbsttätigkeit den Stand des Ganzen zu fördern. Eine Anschaulichkeit und eine Überzeugungskraft gibt dieser Lebensordnung vornehmlich die Tatsache, daß im menschlichen Kreise mit der Wendung zu geistigem Schaffen gegenüber dem Getriebe der Natur ein wesentlich neues Leben emporsteigt, daß hier ein Reich von inneren Größen und Gütern, ein Reich des Wahren, Guten und Schönen entsteht; das darauf gerichtete und davon erfüllte Leben scheint den Menschen über alle Kleinheit des Alltags in eine innere Gemeinschaft mit der großen Welt zu erheben, es scheint keines Zieles über sich selbst hinaus zu bedürfen, sondern in seiner eignen Entfaltung seinen Sinn, in seiner Anschauung seine vollgenügende Freude zu tragen. Hier steht Selbsttätigkeit gegen Gebundenheit, Edles gegen Gemeines, Selbstzweck gegen bloße Nützlichkeit. Zur Erringung dieses Lebens bedarf es einer energischen Aufrüttelung des Wesens und eifriger Arbeit, zum Kern des Lebens wird hier als Vermittlerin jener Tiefe der Welt die geistige Produktion, wie sie namentlich in durchdringender Wissenschaft und aufbauender Kunst zu Tage tritt, dies Schaffen scheint das Leben vollauf auszufüllen und auch die rechte Gesinnung mit sich zu bringen. Der Mensch ist hier in erster Linie auf die eigne Kraft gestellt, aber da sein Streben die Bewegung des Weltalls weiterführt, so umfangen ihn große Zusammenhänge, und die freudige Zuversicht kann sich nicht zu stolzer Selbstbewußtheit überspannen. In seinem eignen Wesen trägt hier der Mensch ein Ideal, das zu erreichen er mit Sicherheit hoffen darf.

Eine derartige Lebensgestaltung wirkt zu uns von der Höhe der antiken Kultur, die dort herrschende Denkweise hat sich seitdem in mannigfacher Form erneuert, sie spricht zu uns in nächster Nähe aus dem Lebenswerk Goethes, sie wirkt fort auf allen Gebieten, die sich mit dem Ganzen des menschlichen Seins befassen, sie bildet einen bleibenden Faktor aller echten Kulturarbeit.

Aber mit dem Anspruch, das Leben zu führen und ihm einen Sinn zu geben, ist es diesem immanenten Idealismus nicht anders ergangen als der Religion: die Grundlagen sind unsicher geworden, und zugleich hat das auf ihnen errichtete Leben die Kraft und die Tiefe verloren, ohne die es sich nicht als das Zentrum des Ganzen behaupten und den Menschen einer erhöhenden und beglückenden Wahrheit versichern kann. Daß die Wirklichkeit eine Tiefe habe, und daß sich der Mensch unter Umkehrung der vorgefundenen Lage in das Reich der schaffenden Gründe versetzen könne, das ist der Durchschnittslage der Gegenwart ebenso zweifelhaft geworden wie die Grundwahrheiten der Religion. Jene Behauptungen sind ein Erzeugnis besonderer Zeitlagen, ein Werk von seltenen Sonn- und Festtagen der Menschheit, wo eine Gunst des Geschickes mit anregenden und aufregenden Lagen große Persönlichkeiten zusammentreffen ließ; hier konnte in Glut und Feuer des Schaffens die unsichtbare Welt eine selbstverständliche Wahrheit und der unbestreitbare Standort des Lebens werden, hier konnte sie alle Kraft des Menschen und die volle Hingebung seiner Gesinnung gewinnen, nur hier war das geistige Schaffen zugleich eine ethische Tat, eine Erhöhung des ganzen Menschen. Aber jene schöpferischen Zeiten gingen vorbei, sie ließen sich auch beim besten Willen nicht dauernd festhalten oder beliebig wieder aufnehmen, der Weltanblick, den jenes Schaffen eröffnet hatte, verblaßte vor widerstreitenden Eindrücken, die sichtbare Welt erschien nicht mehr als eine bloße Erweisung und Entfaltung einer unsichtbaren, sondern als von eigner, gegen die Werte des Geisteslebens durchaus gleichgiltiger Art; viel starrer Widerstand begegnete draußen dem Streben des Menschen, sein eignes Seelenleben zeigte viel Stumpfheit gegen die geistigen Ziele, ja es erschien einem kritisch geschärften Blick als von schroffen Gegensätzen zerrissen und gelähmt, als unfähig, sich zu einer allbeherrschenden Einheit des Vernunftslebens zusammenzufassen. Widerständen draußen mag diese Lebensordnung mit ihrer Aufbietung geistiger Kraft gewachsen sein, auch das Schwerste läßt sich als ein Aufruf zur Entfaltung überlegener Gesinnung ertragen. Aber wenn im Innern Verwicklungen erscheinen, wenn der Mensch sich selbst gespalten und ohnmächtig findet, wenn das Niedere ihn festhält und alles Aufstreben lähmt, dann gerät unvermeidlich das Ganze ins Wanken, dann verliert der Mensch die Zuversicht, das Reich der schaffenden Gründe erreichen zu können; ja was immer er in dieser Richtung gewinnt, das scheint das tiefste Sehnen und Verlangen der Seele nicht zu befriedigen; dann droht jene ganze Kultur zur bloßen Begleitung und Umsäumung eines andersgearteten Lebens zu werden, dann kann der Mensch unmöglich in ihr einen sicheren Abschluß des Lebens finden.

Solcher Widerspruch gegen den immanenten Idealismus ist alt, aber erst die Neuzeit hat ihn zu voller Entfaltung gebracht; sie tat das, indem sie das ganze Gewicht der blinden Tatsächlichkeit der Dinge, die Unvernunft des menschlichen Daseins, die Gleichgültigkeit des menschlichen Durchschnitts gegen höhere Zwecke vollauf zur Geltung brachte, sie tat es weiter durch die Aufweisung der Schranken der menschlichen Organisation, die uns von der unmittelbaren Teilnahme an einem Weltleben endgültig auszuschließen scheinen. Die starke Entwicklung des modernen Subjektes reißt den Menschen aus den überkommenen Zusammenhängen heraus und stellt ihn wie etwas Eigentümliches und Fremdes der Welt gegenüber; hier scheint er wohl den eignen Kreis ins Grenzenlose ausdehnen, nie aber aus ihm heraus auf einen neuen Standort gelangen zu können. Wie sollte aber dann ein geistiges Schaffen eine Umkehrung des Daseins bewirken und mit Eröffnung der Tiefen des Alls dem Leben einen Sinn gewähren?

Gewiß verschwindet mit solchen Zweifeln und Erschütterungen nicht alles Wirken jenes immanenten Idealismus. Aber sobald er nicht mehr von innen heraus und mit der Kraft eines Weltlebens wirkt, sobald er statt eigner Produktion ein bloßes Aneignen, Fortführen, Genießen überkommener Erzeugnisse wird, so verflacht sich das geistige Schaffen unvermeidlich zu einer bloßen Bildung; so gewiß eine solche innerhalb eines weiteren Lebens ihren Wert hat, von sich aus das Leben ausfüllen und befriedigen kann sie nicht. Eine solche Bildung mag viel Genuß und Aufklärung bringen, das Leben reich und beweglich gestalten, mit ihrer Fülle über die Abgründe des menschlichen Daseins gefällig hinwegtäuschen. Aber da sie den Menschen weder bei sich selbst zu lebenumfassender und lebenerhöhender Tat zu führen, noch in ein sicheres Verhältnis zum Weltall zu bringen vermag, da sie ihm keine großen und keine zwingenden Aufgaben eröffnet, sondern alles auf Lust und Neigung stellt, so kann sie unmöglich das Leben lebenswert machen, ja es leidet jenes Reich der Bildung, wie es sich im Durchschnitt der Erfahrung ausnimmt, an einer inneren Scheinhaftigkeit und Unwahrheit: der Mensch soll sich für ein Reich von geistigen Größen und Gütern erwärmen und bemühen, »sich interessieren«, wie es heißt; er redet nicht nur anderen, er redet wohl auch sich selber ein, daß er das aus ganzer Seele tue. In Wahrheit ist ihm jenes ganze Gebiet von geringem oder doch nebensächlichem Werte gegenüber den Zwecken der natürlichen und der sozialen Selbsterhaltung, gegenüber den Interessen und Leidenschaften des Alltages; die Technik des gesellschaftlichen Zusammenseins ist unablässig bemüht, diesen Abstand möglichst zu verdecken und einen leidlichen Schein zu wahren. Aber an einen bloßen Schein können wir nicht unser Leben hängen, bei einer bloßen Nebensache nicht die Kraft zur Überwindung der Sorgen und Nöte, nicht den Gehalt zur Befreiung von unerträglicher Leere finden. Eine wahre Befriedigung gewährt die Bildung, dies Leben aus zweiter Hand, dem Menschen nun und nimmer.

Die Erfahrungen der Religion und des immanenten Idealismus treffen in einem Punkte zusammen, beide scheinen zu zeigen, daß das Streben nach einer neuen Welt den Menschen ins Irre verlockt, daß es die schönen Aussichten, die es seinem Leben eröffnet, nicht vor einem Sinken zu bloßen Illusionen zu behüten vermag. Ja das Scheitern großer Hoffnungen muß zu einem starken Rückschlag, muß zu tiefer Niedergeschlagenheit und zu trübsten Zweifeln führen. Sollte die Natur den Menschen so bereitet haben, daß in ihm Wünsche und Hoffnungen aufsteigen, aufsteigen müssen, die sich auch bei Aufbietung höchster Kraft nicht verwirklichen lassen? Sollte nur ein Trugbild ihn äffen, wenn er über das nächste sinnliche Dasein als klein und unzulänglich hinausstrebt und ein neues Reich in religiösem Glauben oder geistigem Schaffen erstrebt? Aber für eine bloße Illusion ist doch zu viel von jenen Bewegungen geleistet, zu viel an Kräften geweckt, zu viel zur Bereicherung und Vertiefung des Lebens gewirkt. Die Religion entfaltete eine selbständige Innenwelt, und mit ihr einen unbedingten Selbstwert der reinen Gesinnung, sie gab dem Leben Ernst und Erhabenheit, sie erzeugte mit dem Vordringen zum seligen Ja durch ein herbes Nein eine starke Spannung und dramatische Bewegung, sie verlieh allererst der Seele eine wahrhaftige Geschichte und machte diese Geschichte zum Mittelpunkt alles Geschehens, sie zerbrach alle Enge und Starrheit des natürlichen Daseins mit ihrer Erweckung einer überwältigenden Sehnsucht nach Liebe und Ewigkeit. Der immanente Idealismus rief alle Kräfte des Menschen zu voller Betätigung auf und pflanzte ihnen zugleich ein Streben nach harmonischem Zusammenschluß ein, er erhob den Menschen über alle Kleinheit seiner Sonderart in ein inniges Wechselleben mit dem All, er erzeugte durch den Bund von Wahrheit und Schönheit ein Leben zugleich vornehmer und kräftiger Art. Alles dieses hat hohe Ansprüche an das Leben erweckt und hält sie ihm als unerläßliche Forderung vor. Wenn so die Wirkungen beharren, der Grund aber zusammenbricht, der das Ganze trug, wie sollen wir uns dann zu den Entwicklungen und Forderungen stellen? Lassen sie sich von jenem ablösen und ohne einen inneren Zusammenhang aufrecht erhalten? Werden sie nicht bei solcher Ablösung völlig verblassen, wird nicht aller lebendige Inhalt, nicht alle zwingende und treibende Kraft von ihnen weichen? So mögen sie wie blutlose Gespenster über unserem Leben schweben, stark genug, um uns die Lust an der sichtbaren Welt zu vergällen, aber viel zu schwach, um uns aus eignem Vermögen eine andere Welt zu eröffnen und damit unserem Streben ein angemessenes Ziel und unserem Leben einen Sinn zu geben.

Das sind Sorgen, denen die Menschheit sich unmöglich dauernd entziehen kann. Zunächst aber mag sie dadurch eine Erleichterung suchen, daß sie jene möglichst zurückschiebt und ihr Interesse nach anderer Richtung wendet. So tut es die Neuzeit, so vollzieht es sich namentlich in der vielbesprochenen Wendung des 19. Jahrhunderts vom Idealismus zum Realismus. Eine Ermüdung an den Problemen des inneren Lebens greift mehr und mehr um sich, mit jugendlicher Frische und Kraft ergreift die Menschheit die sichtbare Welt, die sich reicher und reicher entfaltet, und erwartet, wenn irgend, so von der Beschäftigung mit ihr einen Sinn und Wert des Lebens. Erst die Wendung dahin scheint es von der bisherigen Schattenhaftigkeit zu befreien und ihm Fleisch und Blut zu gewähren; indem hier alle subjektiven Wünsche des Menschen unverbrüchlichen Ordnungen der Dinge weichen, ergibt sich die Notwendigkeit mancher Entsagung und werden dem Leben bei aller Ausdehnung ins Weite innerlich engere Grenzen gezogen. Aber innerhalb dieser Grenzen gewinnt es eine volle Unbefangenheit und Universalität, es braucht sich nicht, wie in den älteren Lebensordnungen, den Zusammenhang der Wirklichkeit in Gut und Böse zerreißen, sowie irgend etwas verbieten und verkümmern zu lassen, es kann jeder Anregung folgen, jede Kraft unbedenklich entfalten. Sollten hier nicht neue Synthesen des Lebens möglich sein, findet vielleicht in ihnen das Leben ein gutes Recht zu freudiger Selbstbejahung, das ihm die älteren Lebensordnungen wohl vorzuspiegeln, nicht aber zu sichern vermochten? Jedenfalls hat die Menschheit viel Mühe auf dieses Ziel verwandt, sie hat aber dabei verschiedene Stufen durchlaufen und verschiedene Gestaltungen versucht. Betrachten wir diese Versuche.


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