Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

***

Am Tage nach der Fahnenweihe hatte der Vincenz sich freigebeten. Die Landwehrbataillone marschierten aus Wien aus, und da mußte er natürlich dabei sein. Ganz begeistert kam er nach Haus, alles hatte er gesehen, sogar die beiden Erzherzöge Ludwig und Maximilian, die jugendlichen Brüder der Kaiserin, von denen jeder drei Bataillone kommandierte. Nach Böhmen, hieß es, würden sie zunächst marschieren, dort sammle sich die gesamte Armee. Mit ungeheurer Spannung warteten jetzt alle auf die nächsten Nachrichten.

Ob noch nichts verlaute, daß es zu einer Schlacht gekommen wär'? fragte Wettl täglich beklommenen Herzens.

Jetzt müsse man ihnen doch ein bissel Zeit lassen, meinte der Guguck; das gehe nicht so, daß man bloß »Haferl« sage, und der Napoleon sei auch schon geplescht. Gut Ding brauche Weile, und so viel er wisse, sei der Bonaparte vorderhand noch in Spanien.

Der dicke kleine Blasengel, der junge Wendelin Hirnschal aus der Neustiftgasse, kam einmal, um einem Lehrmädchen nachzufragen, das früher im Guguckshaus gearbeitet hatte und jetzt im »Erzengel Michael« aufgedungen werden sollte. Der sagte, gerade weil der Napoleon noch in Spanien sei, hätte man längst etwas hören sollen. Denn jetzt wär' es noch leicht, mit den französischen Truppen aufzuräumen, die in Baiern stünden. Dagegen, wenn der Napoleon einmal da sei, dann könne man ohnedies das Kreuz über die ganze Geschichte machen. Aber wieder die alte schlamperte Wirtschaft sei es: diesmal hätte man doch wirklich Zeit genug gehabt, und doch seien die Rüstungen nicht rechtzeitig fertig geworden!

»Also, Fräul'n Wetti,« sagte er, »sehen S' wie gescheit daß ich war? Denn ich hab' es gleich gesagt: ein Unsinn ist es, wenn einer mit der Landwehr geht!«

»Zuschauen und schimpfen ist freilich leichter als mittun und selber machen,« sagte Wettl scharf.

Die gespannte Erwartung und die Beklommenheit, die in der Luft lag, hatte die Geschäfte gänzlich ins Stocken gebracht. In vielen Fabriken wurde gar nicht mehr gearbeitet. Bestellungen gab es fast keine, und auf Lager zu arbeiten, schien manchem zu gewagt. Der Guguck aber meinte, vor lauter Hinhorchen auf die verschiedenen Gerüchte und vor lauter Denken und Sichängstigen müsse einer ja verrückt werden, wenn er nichts zu tun hätte. Darum saß er während der nächsten Wochen mit einem Eifer an seinem Zampelstuhl, als bliebe den vornehmen Damen, die das schön gemusterte Zeug, das er webte, voraussichtlich einmal tragen würden, nichts übrig, als nackt zu gehen, wenn er nicht rechtzeitig damit fertig würde. Und auch Wettl und die Leute in der Fabrik hielt er fleißig zur Arbeit an, gerade als wär' er mit Bestellungen überhäuft. Man müsse schon jetzt an die Festlichkeiten denken, sagte er immer, die nach dem Sieg stattfinden würden. Eine schöne Schande, wenn dann im »Blauen Guguck« auf einmal keine Auswahl an schönen Stoffen für Festgewänder zu finden wäre und man die feinen Muster aus Paris und Lyon beziehen müßt'!

Als aber die Fliederbüsche im Garten dicke, saftige Blattbotzen anzusetzen begannen und am Lattenzaun an der Feuermauer die frischen Triebe des wilden Weines ihre zarten Fingerchen ausstreckten, da fing er selbst an ungeduldig zu werden. Er ging jetzt öfters am Abend in die »Kleine Kohlkreinzen«, wo die Seidenweber vom Schottenfeld gern zusammensaßen, um bei einem Glase Grinzinger die neuesten Ereignisse zu besprechen. Der Feldzugsplan sei geändert worden, hieß es. An der Donau müsse die Entscheidung fallen. Auf Regensburg marschiere die Armee, und der Napoleon habe Spanien längst verlassen und befinde sich – man wisse nicht wo.

»In Regensburg wird er sein,« meinte der Erzengel Michael bitter, der auch in die »Kleine Kohlkreinzen« kam. »Aber nicht allein, sondern schon mit seiner ganzen Armee!«

»Jetzt, ein Hexenmeister ist er nicht,« sagte der Guguck, »und schließlich auch nur ein Mensch. Und wenn die Baiern sich zu den Unsrigen schlagen, dann schmeißen sie die Parlezvous aus ihrem Land heraus, noch eh' daß der Bonaparte eintreffen kann.«

»Ja, wenn die Baiern sich zu den Unsrigen schlagen!« meinte der Appreteur Woitech. »Aber auf ein Wenn soll man sich halt nicht verlassen!«

»Die Baiern sind doch auch Deutsche!« sagte der Guguck, »No also! Die können doch nicht mit dem Napoleon halten! Darüber braucht einer wirklich kein Wort zu verlieren!«

»Vederemo!« sagte der Samtmacher Mestrozzi von der »Stillen Andacht« in der Siebensterngasse. Er verteidigte die Ansicht, es gebe überhaupt keine Deutschen, es gebe nur Baiern, Sachsen, Preußen usw.

»Also was bin denn nachher ich?« fragte der Guguck.

»Ein Österreicher!« sagte der Mestrozzi.

»Polentafresser!« brummte Kebach wütend. –

Um Maria Verkündigung, heißt es, kommen die Schwalben wiederum. Die Schwalben, die in der Torfahrt des Guguckshauses nisteten, kamen aber erst zu Ostern. Der Frühling war kalt und trüb, und wochenlang regnete es in den April hinein. Wettl stand manchmal am Fenster des Speisezimmers, über dessen Scheiben die Regenschleier rieselten. Der ganze Garten glänzte von nassem Grün, und alles, was da wuchs, atmete Gesundheit und Frische unter der wohltuenden kühlen Feuchtigkeit. Sie aber mußte an die Menschen denken, die Tag und Nacht unter diesen gießenden Fluten auf grundlosen Straßen dem Feinde entgegenzogen, der Gefahr, vielleicht dem Tode entgegen.

Es verbreitete sich die Nachricht, endlich sei die Kriegserklärung nach Paris und der Erzherzog Generalissimus zur Armee abgegangen. Aber am Inn und an der Isar, erzählte man sich, hätten sich unerwartete Schwierigkeiten entgegengestellt, die aufgeweichten Straßen seien mit Munitions- und Transportwagen verrammelt, und die Baiern selbst hätten sich zu den Franzosen geschlagen, brächen alle Brücken vor den Unsrigen ab und behandelten sie nicht wie Volksgenossen, sondern wie Feinde. Als der Guguck es hörte, war ihm das Weinen näher als das Lachen. In fieberhafter Unruhe lief er zum Salzküfel hinunter und erzählte es ihm: die Baiern hätten uns im Stich gelassen und hielten es mit dem Bonaparte! Was er dazu sage?

Der Salzküfel hörte ihm aufmerksam zu.

»Man soll sich halt auf niemand verlassen als auf unsern Herrgott,« sagte er endlich. »Ich versteh' nichts von den Sachen, aber wenn ich nicht schon so ein alter Kracher wär', so tät ich mich jetzt giften. An meinem Grant freilich wird den Baiern nicht viel gelegen sein. Also, was bleibt uns übrig? Arbeiten wir halt weiter!«

Und er fuhr fort, die Weberschemel zu treten und seine Schütze zu schleudern.

Am Sonntag Jubilate ging der Guguck mit Wettl nach St. Laurenz in die Zehnuhrmesse. Pater Bonifaz, der Pfarrer, der sie las, legte unerwartet ein kurzes Gebet ein, ein deutsches, kein lateinisches, so daß alle es verstehen konnten. Und alle horchten auf, denn es war ein Dankgebet für den Sieg, den der Herr den österreichischen Waffen verliehen habe. Die, die noch nichts wußten, wollten ihren Ohren kaum trauen, ein erregtes Geflüster ging durch die Kirche, und eine unbeschreibliche Bewegung bemächtigte sich der Gemüter. Nach beendigtem Gottesdienst gab es ein freudiges Gedränge vor dem Kirchentor, und von Mund zu Mund flog die Nachricht: der Napoleon sei bei Regensburg geschlagen und aus Baiern hinausgeworfen. Als der Guguck und Wettl sich fanden, fielen sie sich fast um den Hals, auf offener Straße, so freudetrunken waren sie. Sie gingen miteinander die Zieglergasse hinunter auf die Mariahilferstraße, dort wogte schon eine begeisterte Menge, alles jubelte und frohlockte, und Hochrufe auf den Kaiser und den Erzherzog Karl wurden laut, und alle Bekannten, denen man begegnete, bestätigten die frohe Botschaft, die schon am Abend vorher in einzelnen Teilen der Stadt herumgesprochen worden war.

Aber mitten im Freudentaumel tauchten wieder zweifelnde Stimmen auf. Man müsse doch erst eine Bestätigung abwarten, hieß es, von zuständiger Stelle sei noch nichts bekannt gegeben worden. Etwas gemäßigter kehrte Kebach mit seiner Tochter heim, und sie waren beide still in sich gekehrt und sinnend. Und wirklich erzählte man sich schon am Nachmittag, es scheine an der Siegesnachricht nicht viel zu sein, wahrscheinlich liege ein Irrtum vor. Ein heftiger Kampf um Regensburg habe wohl stattgefunden, aber man wisse nichts Bestimmtes über dessen Ausgang. Die Freude war von kurzer Dauer gewesen. Und die Tage, die folgten, blieben merkwürdig stumm. Man hörte auf einmal gar nichts mehr. Eine Woche lang blieb es ganz still wie mitten im Frieden, es war, als sei die Armee überhaupt verschollen und vom Erdboden verschwunden.

Das sei schlimmer, als die Nachricht über eine verlorene Schlacht, meinte mancher. Ein dumpfes Angstgefühl lastete über der ganzen Stadt ...


 << zurück weiter >>