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Englische Literatur

Henry Fieldings «Tom Jones»

Ein Nachwort (1925)

In dem kleinen Aufsatz, den er über Fielding geschrieben hat, sagt Walter Scott, Fielding sei der nationalste aller englischen Dichter und Schriftsteller; er sei nicht nur in fremde Sprachen unübersetzbar, er könne sogar von einem Schotten oder Iren nicht verstanden werden, der nicht durch langen Aufenthalt mit Charakteren und Sitten des eigentlichen England bekannt geworden sei. Er führt dann die hauptsächlichsten Gestalten aus Fieldings Romanen an, um seine Behauptung zu beweisen, von denen Squire Western, Allworthy, Mrs. Miller und Tom Jones in dem Roman leben, welchen wir auf den vorhergehenden Seiten abgedruckt haben.

Eine solche Behauptung muß man nicht allzu wörtlich nehmen. Das allgemein Menschliche ist bei allen Völkern und zu allen Zeiten gleich; es wird deshalb durch alles Irrationale hindurch immer von den Menschen verstanden: müssen ja doch schon die Leser oft genug Werke verstehen, die zwar von einem Mann ihres eigenen Volkes gedichtet sind, aber doch von ihren täglichen Gedanken, Gefühlen und Empfindungen so weit entfernt bleiben, daß ihnen ein Dichter aus einer anderen Nation näherstehen mag, wenn er nur auf der geistigen Ebene lebt, die sie selber einnehmen. Und so darf man auch die Behauptung von der Unübersetzbarkeit verstehen. Übersetzungen sind überhaupt möglich oder überhaupt unmöglich, denn kein Wort einer fremden Sprache, auch einer modernen und selbst verwandten, entspricht ganz dem Wort, mit welchem wir es übersetzen. Aber auch hier macht sich das allgemein Menschliche geltend, vermöge dessen wir doch immer fühlen, was gemeint ist. Im Fall von Fielding sind «Charaktere und Sitten» das Fremdartige, wie Scott ja auch hervorhebt. Hier möchten die größten Mühen für die Übersetzung die Reden des Squire Western machen, weil wir heute den Typus nicht mehr haben. Im 18. Jahrhundert hatten wir ähnliche Land- und Jagdjunker aufzuweisen, und daran hängt ja die Hauptschwierigkeit der Übersetzung, daß der Leser im weitesten Umkreis der ihm bekannten Personen einen so schnurrigen Vogel nicht vorfindet. Man denke nur an unsern «Siegfried von Lindenberg», der ja freilich von einem wesentlich geringer begabten Mann geschrieben ist wie der Tom Jones, um einzusehen, daß das Nationale im Squire Western nicht so tief geht, als man vielleicht zunächst annehmen sollte.

Es wird denn von der Behauptung Scotts übrigbleiben, daß Fielding einer von jenen sogenannten realistischen Dichtern ist, welche mit großer Beobachtungsgabe die kleinen Züge der Wirklichkeit aufgefaßt haben und ihre Gestalten nach Möglichkeit mit ihnen ausstatten, indessen andere Dichter, die man denn gern als Idealisten bezeichnet, eine stärkere Abziehung von der Wirklichkeit machen; wobei man freilich nicht vergessen darf, daß «Wirklichkeit» immer eine bedenkliche Kategorie des Ästhetischen ist. Man muß sich dabei klar machen, daß die Technik der Darstellung in einer festen Beziehung zum Inhalt, ja, zum Gehalt des Dichtwerkes steht; höhere Gesinnungen der Gestalten nämlich erfordern immer eine stärkere Abziehung in der Sprache; so ist es nicht zufällig, daß in unserem Roman der Squire Western mehr spricht als Allworthy und wir verhältnismäßig weniger unmittelbare Aussprüche von Sophie erhalten als von ihrer Jungfer, und so liegt denn das «Nationale» der ungebildeten Manschen mehr an der Oberfläche, indessen es in der Tiefe geringer vorhanden ist. Unser Lichtenberg, der Fielding sehr schätzte, wurde durch ihn wohl veranlaßt, seine hübschen Beobachtungen über deutsche Dienstboten zu machen: nur die Worte sind anders, das Wesen ist dasselbe, umgekehrt liegt bei den Gestalten der höheren Art das Nationale tiefer. Sophie und Tom Jones sind beide ganz englische Typen, mehr noch, englische Typen des 18. Jahrhunderts; denn die englische Nation hat seit Fielding eine ebenso große Wandlung durchgemacht wie wir seit Goethe und Schiller.

Wollen wir den Dichter als Engländer verstehen, so müssen wir uns seine gesellschaftliche Stellung klarmachen. Selbst heute noch bestimmt in England die gesellschaftliche Stellung in hohem Maße die Gesinnungen. Fielding gehört zur Aristokratie. Da muß man aber den Unterschied Englands vom Festland festhalten. In England ist die Aristokratie nicht in Religion und Moral engherzig, sondern sie geht auf beiden Gebieten bis zur Leichtfertigkeit, und das Bürgertum, welches durch die Revolution erreicht hatte, was es brauchte, ist moralisch und religiös streng und einseitig. Die englische Aristokratie entspricht etwa den früheren Reichsunmittelbaren bei uns. Die Verteilung ist in England natürlicher als sie bei uns in Deutschland etwa bis 1918 war. Man muß dann auch immer festhalten, daß Vermögen und Rang nur der Erstgeborene erbt, so daß die Nachgeborenen mit bürgerlichen Namen Anstellungen und Erwerbsmöglichkeiten jeder Art aufsuchen müssen. Ein Fielding entsprach etwa einem Adligen, wie er bei uns vor 1918 war, nur war er viel weniger bürgerlich durch das Bewußtsein seiner Verwandtschaften. Man schätzt bei Fielding besonders seine empirische Menschenkenntnis, daß er den Herzog genau so kannte wie seinen Kutscher. Das hängt mit seiner gesellschaftlichen Stellung zusammen, welche ihn in allen Kreisen vertraut sein ließ.

Fielding wurde 1707 zu Sharpham Park in Somersetshire geboren. Sein Vater, Edmund Fielding, diente in den Kriegen unter dem Herzog von Marlborough und gelangte zu dem Rang eines Generalleutnants gegen Ende der Regierungszeit Georgs I. oder Beginn Georgs II. Er war Enkel eines Earls von Denbigh und nahe verwandt mit dem Herzog von Kinston und vielen anderen vornehmen Familien. Seine Mutter war eine Tochter des Richters Gold; ein Richter ist, und war es damals noch mehr, in England eine Persönlichkeit der vornehmen Welt, etwas ganz anderes als bei uns, wo selbst ein Reichsgerichtsrat im englischen Sinn noch kleinbürgerlich sein würde. Er hatte einen Bruder und vier Schwestern von seiner richtigen Mutter; nach deren Tode heiratete der Vater zum zweiten Male und bekam dann noch sechs Söhne, von denen jedoch fünf frühzeitig starben. Diese große Nachkommenschaft scheint die Verhältnisse des Vaters trotz des für unsere Begriffe reichlichen Einkommens etwas beschränkt gemacht zu haben, und es könnte hier eine der Ursachen dafür liegen, daß unser Dichter nie aus den Sorgen herauskam, wenn er freilich auch selber genug dazu getan hat, um in ihnen zu bleiben. Die ersten Jahre wurde er zu Hause erzogen, nachher kam er nach Eton, der allgemeinen Erziehungsanstalt der vornehmen Engländer, wo er mit einem großen Teil der später führenden Männer bekannt wurde, mit Lord Littleton, Fox, Pitt, Sir Charles Hanbury, Williams, Winnington usw. In Eton wurde eine gründliche Bildung in den klassischen Sprachen gegeben, und Fielding zeichnete sich besonders aus; er hat sein ganzes Leben lang die lateinischen und griechischen Dichter eifrig studiert; er ist als Dichter Realist; man kann sich aber nicht wundern, wenn der Realismus eines solchen Mannes etwas anderes ist als etwa der eines Zola: der klassischen Bildung dankte er, daß er imstande war, die wesentliche Linie von Charakter und Schicksal zu sehen, und nicht bloß den Oberflächeneindruck hatte, daß er eine Handlung bauen konnte und sich nicht uferlosen Schilderungen überlassen mußte, statt dichterisch konzentriert darzustellen.

Nachdem er Eton beendet hatte, bezog er die Universität Leyden, um die Rechte zu studieren. Hier blieb er zwei Jahre, die er dem bürgerlichen Recht widmete, mit großem Eifer, wie es heißt. Er mußte aber das Studium abbrechen, da dem Vater die Mittel ausgingen, und so kam er im Alter von 20 Jahren, mit einer unvollendeten Bildung und guten Familienbeziehungen nach London. Sein Vater versprach, ihm jährlich 200 Pfund zu schicken, das waren 4000 Goldmark in den damals sehr billigen Zeiten an einem nie sehr teuren Ort; aber freilich bezahlte er sie nicht. Was blieb dem begabten jungen Mann übrig? Er wurde Schriftsteller. Daß ein von Haus aus nicht auf Sparsamkeit und Wirtschaft angelegter Charakter unter solchen Umständen seine Mängel nicht ablegen konnte, ist wohl klar.

In dem Zeitraum von 1727–1736 schrieb Fielding, des Erwerbs wegen, 18 Theaterstücke. Er schrieb sie zigeunermäßig, wie er zigeunermäßig lebte. Von bewußtem Künstlertum, von Dichterwillen ist keine Rede; immerhin aber auch nicht von Gemeinheit im Aufspüren des Publikumsgeschmacks. Er war ein gesunder, schöner, kräftiger und heiterer Jüngling – Lady Montague sagt von ihm, als sie von seinem Tode hörte, bei dem er durch die Folgen seiner lustigen Lebensweise bereits seit langem krank war, wozu denn noch die schlechten Geldumstände kamen: «Sein Tod bekümmert mich sehr; er verlor mehr als viele andere, denn niemand genoß das Leben mehr als er, obwohl wenige Menschen geringere Ursache dazu hatten» – und schrieb, um Geld zu haben für Sekt, Tabak, Liebesabenteuer, Spiel und dergleichen Lustbarkeiten. Er schrieb, wenn er Geld brauchte, einen Akt oder zwei an einem verkaterten Vormittag, und wenn er kein Schreibpapier hatte, so benutzte er das Papier der Tabakpakete. In einem Stück war in einer Szene etwas nicht in Ordnung. Garrick, der in ihr auftreten mußte, machte ihn aufmerksam und riet ihm noch am Abend der Aufführung eine Änderung an. Fielding saß in der Kneipe des Theaters hinter einer Flasche Wein und rauchte seine Pfeife; er war zu faul und sagte: «Laß nur, sie merken es ja nicht.» Garrick ging und kam nach der Szene zurück; das Publikum hatte sein Mißfallen ausgedrückt. «Haben sie es doch gemerkt!» rief Fielding aus und legte erstaunt seine Pfeife neben sich.

So sind denn die Schauspiele immer Werke eines talentvollen, witzigen und überlegenen Geistes; aber es ist klar, daß ein solcher Mann etwas, das Bestand haben soll, nur dichten wird, wenn von außen her, durch irgendein Zusammenkommen von Umständen, ihm eine Aufgabe sich stellt, durch welche, ohne daß er es recht ahnt, seine Fähigkeiten strenger angespannt werden. Das war bei den Schauspielen nicht der Fall.

Noch als Theaterschriftsteller heiratete er ein schönes Mädchen aus seinen Gesellschaftskreisen. Damals starb seine Mutter, und er erbte einen kleinen Besitz, auf welchem er hätte sorgenlos leben können. Seine Frau hatte ihm 1500 Pfund mitgebracht, das Gut trug jährlich 200 Pfund. Er beschloß, den Leichtfertigkeiten des Stadtlebens Lebewohl zu sagen und mit seiner jungen, geliebten Gattin ruhig und still auf dem Lande zu leben. Aber was soll ein so begabter Mensch mit solchem Temperament, der noch nicht gefunden hat, wozu er eigentlich auf der Welt ist, es vielleicht nie finden wird – was soll der in der Stille und Unbeschäftigung des Landes machen? Er begann lauter Narrheiten: er führte einen Aufwand, wie ihn etwa die zehnmal reicheren Landedelleute führen konnten, mit einem vollständigen Satz der für solche Herren nötigen Dienstboten vom Intendanten, Kellermeister, Koch, Kutscher, Jäger, Kammerdiener und so fort bis zum Küchenjungen, wie wir Deutschen in unseren kleinen Verhältnissen es gar nicht kennen. Es wird hervorgehoben, daß er dieses ganze Personal in besonders kostbare gelbe Livreen steckte, die oft erneuert werden mußten; dazu kam die nötige Gastfreiheit, die entsprechenden Pferde und Hunde, und so braucht man sich nicht zu wundern, wenn das Gut nach drei Jahren verzehrt war.

Damals war er über 30 Jahre alt. Um seine Familie zu ernähren, beschloß er, sich wieder zum Recht zu wenden und dann eine Anstellung irgendwelcher Art zu finden. Zu dem Zweck zog er mit den Seinigen nach London zurück; das auch auf dem Lande nicht unterbrochene lustige Leben wurde fortgesetzt, aber dabei studierte er fleißig und ernsthaft die nötigen juristischen Wälzer; sein kräftiger und gesunder Körper schien den übermäßigen Anstrengungen gewachsen; der ehrbare alte Biograph faßt sein damaliges Leben in Übertragung einer Phrase des Vellejus Paterculus in die Worte: «Immer in Gesellschaft bei der Flasche, oder über einem Buche, überlieferte er seinen Körper den Gefahren der Unenthaltsamkeit und übte seinen Geist in Studien.» Er setzte es schnell durch, daß er als Rechtsanwalt zugelassen wurde – das war die erste Stufe zu einem Amt – und war in seinem Beruf so fleißig, daß alle ihn achteten; da zeigten die Folgen des Lebenswandels bei dem noch jungen Mann sich in heftigen Gichtanfällen, die ihn zur Rechtsanwaltstätigkeit unfähig machten.

Es ist schon leicht angedeutet, daß in seinem inneren Schicksal etwas verstanden werden muß, durch das sich sein äußeres Leben erklärt. Ich muß zu dem Zweck weit ausholen.

Als ich den Plan der Bücherreihe überblickte, in welcher der Tom Jones einen Band bildet, und die kurzen, ihn begleitenden Worte des Herausgebers las: «Der Weltkrieg schließt eine Epoche ab, die neue Zeit liegt noch im Dunkeln», da fiel mir auf, daß diese Bücher, wenn man sie geschichtlich ordnet, Stufen der Entwicklung des Bürgertums sind. Vielleicht wurde gerade mir diese Tatsache so besonders deutlich, der ich das Bewußtsein habe, als Dichter von Anfang an außerhalb dieser Entwicklung gestanden zu haben, die denn nun heute mit der demokratisch-sozialdemokratischen Schauung eines zufriedenen Kaninchenstalls und den kommunistischen Sklavenhoffnungen ihr lächerliches Ende erreicht.

Der Mensch ist von Natur ein gesellschaftliches Wesen; er kann nur in der Gesellschaft leben, wie ja jedes Tier, ja jede Pflanze ihre besondere Art hat, in Beziehung zu den Genossen zu sein: in Familien, Horden, Gruppen oder Völkern. Sein gesellschaftliches Leben ruht auf Trieben, die ihm in allerhand Gedanken und Gefühlen zum Bewußtsein kommen: als Liebe, Treue, Ehre; als Staat und Gesellschaft, Familie, Klasse und Stand. Die Gedanken sind durch Denken zu untersuchen, natürlich immer nur auf der Ebene, auf welcher sie sind, nicht in der Tiefe, aus welcher ihre Wurzeln kommen; die Gefühle sind zu beobachten und darzustellen, auch auf dieser Ebene; die Triebe aber – sagen wir, das, was sich als Gedanke oder Gefühl äußert – sind unerkennbar für uns: sie sind Lebensvorgang. Nur eines müssen wir wissen. Religion ist das Bewußtwerden und Fasten in Formen unserer Abhängigkeit von dem, was wir Gott nennen, das wir uns wahrscheinlich immer am besten unter dem Bild eines jenseitigen persönlichen Wesens vorstellen, welches seine Zwecke mit uns hat. Wenn der Mensch nur gesellschaftlich leben kann, wenn die Gedanken und Gefühle, welche durch die gesellschaftlichen Triebe erzeugt werden, notwendig sind für die Erhaltung des Menschen, dann werden im tiefsten Grund die gesellschaftlichen Triebe und die Religion eine Wurzel haben – es entspringt noch mehr aus dieser Wurzel, das betrachten wir aber hier nicht – dann kann man also zwischen der gesellschaftlichen Form einer Zeit und ihrem religiösen Glauben einen festen Zusammenhang finden.

Wollen wir die bürgerliche Gesellschaft verstehen, die Gesellschaft, welche etwa seit 1600 die rund 300 Jahre bis heute gedauert hat, dann müssen wir frühere Gesellschaftsformen genau untersuchen. Wir werden dann als ihre wesentlichste Eigenschaft finden, daß sie alle alten gesellschaftlichen Bindungen und Formen zerstört hat, welche instinktiv geschaffen waren; daß sie rationell ausgedachte neue Bindungen und Formen zu schaffen sucht; und daß die gesellschaftlichen Triebe, welche ja nun eben immer da sind, sich in unpassender, provisorischer Weise in Gedanken und Gefühlen darzustellen streben.

Ich muß die allgemeinen Worte durch Tatsächliches klarmachen. Es wurde der Verband der Sippe und Großfamilie vollständig zerstört; heute sehen wir bereits die Zerstörung der engeren Familie von Eltern und Kindern. Der Verband Herr-Knecht ist vollständig vernichtet, der Verband Herr-Diener fast vollständig. Der Verband Lehrer-Schüler löst sich vor unseren Augen auf. Die Kirche löst sich auf. Es schwinden damit Verbindungen der Menschen, die als Tugenden zum Bewußtsein der Einzelnen kamen: Glaube, Treue, Liebe, Mut, Ehre, Keuschheit, Zucht, Ehrfurcht, Gehorsam. Es werden rationell ausgedachte neue Bindungen und Formen gesucht. An die Stelle von Herr und Knecht (früher Herr und Höriger oder Herr und Sklave) tritt Unternehmer und Arbeiter. So wird aus dem Diener der Angestellte und Beamte, aus der Gattin das «Verhältnis», aus König und Volk werden Partner eines Gesellschaftsvertrags, und schließlich tritt an die Stelle des Königs ein oberster Beamter mit Kündigung.

Der Unterschied der neuen rationellen Bindungen von den alten, instinktiven, besteht darin, daß nicht mehr ganze Menschen in Beziehung gesetzt werden, sondern Abziehungen: Leistungen oder Kräfte.

Da stellt sich denn aber nun bald heraus, daß das Leben allseitig ist und die Abziehung nur einseitig, daß also die neuen Bindungen nicht alles erfassen, das erfaßt werden muß, daß Ergänzungen oder gar wieder Zerstörung und noch neuere Bindungen kommen müssen: wir sind in den Zustand beständiger Revolution geraten. Um als Beispiel das Einfachste zu nehmen: der Knecht sorgt für seinen Herrn, der Herr sorgt für seinen Knecht. Heute wird eine Arbeitsleistung durch eine Lohnzahlung ausgeglichen. Aber wenn nun der Arbeiter keine Arbeit hat oder krank wird? Da müssen also besondere Bindungen eintreten. Aber wenn nun die nötige Tätigkeit nicht als zeitlich bestimmbare Arbeitsleistung zu fassen ist? Da werden viele Arten von Tätigkeiten unmöglich. Die letzten Folgerungen werden ja im Gesellschaftlichen nie gezogen, weil Gesellschaft immer Kompromiß ist; es sind nur Tendenzen; aber man mache sich nur klar, daß etwa Kunst oder Wissenschaft vernichtet werden, wenn die Gesellschaft sie in das kapitalistische Arbeitsverhältnis einspannt (daher der sogenannte Kitsch und die populärwissenschaftlichen Bemühungen, die Unsinnigkeit des Kunstgewerbes).

Das sind alles gesellschaftliche Erscheinungen. Es liegt ihnen zugrunde, daß die Gesellschaft nicht mehr als Einheit gefühlt wird, wie etwa unser Körper als Einheit gefühlt wird und nicht als einige Billionen Zellen, die sich gegenseitig auseinandersehen; daß die Einzelnen sich als Einzelne fühlen und sich nun rationell in Beziehung zu den andern Einzelnen setzen.

Das ist ein Lebensgefühl. Dieses Lebensgefühl kommt ans der tiefsten Wurzel, es muß sich also auch in der Religion äußern.

Man hat das Mittelalter die Zeit des objektiven Geistes genannt. Damals stellte sich nicht der Einzelne Gott gegenüber, sondern es war eine allgemeine göttliche Gnadenanstalt da, die Kirche, welche den Einzelnen eingespannt hielt. Er konnte gar nicht auf die Frage kommen: Gibt es Gott? Er konnte nur diese oder jene Lehren und Gebräuche der Kirche bezweifeln. Gott war ein selbstverständlich Gegebenes, wie etwa dem deutschen Kleinbürgertum um 1860 noch die Familie etwas Gegebenes war oder dem deutschen Untertan vor der französischen Revolution sein Fürst.

Auch zu Gott wird nun eine rationelle Beziehung gesucht. Und sehr bald muß denn die Aufgabe gestellt werden: nun zuerst das Dasein Gottes zu beweisen. Mit «Gott» hängt alles Jenseitige zusammen. Offenbar kann es da überhaupt keine rationale Beziehung geben, denn Verstand und Vernunft sind nur Werkzeug für das Diesseits. Aber das Lebensgefühl verlangt trotzdem diese rationale Bemühung; die Philosophie seit Descartes findet hier ihre Aufgabe; und wenn auch schließlich Kant die Unlösbarkeit dieser Aufgabe nachweist, so spukt sie doch immer weiter. Schließlich wird die Unbehaglichkeit der grundsätzlichen Betrachtung nach Möglichkeit vermieden, und man richtet sich auf Grundlage einer allgemeinen Wissenschaftlichkeit ein, die denn selber einer Grundlage bedürfte und keine hat.

Eine solche Einrichtung des Lebens ist nun aber für den Dichter unmöglich, denn der Dichter ist unter anderem nur dadurch Dichter, daß er ein voller Mensch ist und als solcher voll lebt, nicht als Mann, der den Grund seines Lebens schon in der Tatsache sieht, daß er Befehle weiterleitet, ursächliche Verbindungen aufdeckt oder für die Kurz- und Schnittwaren seiner Mitbürger sorgt; was heute ja die Tätigkeit in Staat, Wissenschaft und Industrie ist. Wer als voller Mensch leben will, der muß sich mit dem Jenseitigen verbunden fühlen.

Im Zeitalter des objektiven Geistes ist das selbstverständlich. Da gibt es für den Dichter überhaupt das nicht, was wir heute Weltanschauungsprobleme nennen. In der bürgerlichen Gesellschaft muß er als Einzelner Gott suchen.

Nur ungeheuer selten wird der Einzelne so weit kommen können, daß er Gott findet, so ungeheuer selten, wie er Natur finden kann. Was er findet, das stellt sich ihm denn natürlich wieder als ein Bild, ein Mythos dar. Er wird fast immer im günstigsten Fall dahin kommen, was Lessing beschreibt: «Wenn Gott in der Rechten mir die Wahrheit reichte und in der Linken das Suchen der Wahrheit, ich würde ihm zu Füßen stürzen und rufen: Gib mir aus der Linken, denn die Wahrheit ist ja nur für dich allein.» Auch das ist schon wieder Mythos, denn «Wahrheit» gibt es nicht; aber es ist der Mythos, der allenfalls erreichbar sein wird für den Suchenden.

Und wenn nun dem Dichter nicht die Denkerkraft Lessings zur Verfügung steht? Wer die Titel der Romansammlung liest, in welcher dieser Tom Jones mit abgedruckt ist, der wird zugeben müssen, daß kaum einer von den Dichtern auch nur so weit gekommen ist, daß er das Wort Lessings erlebend verstehen konnte; denn die dichterische Begabung schließt ja in den meisten Fällen jene Begabung zum religiösen Suchen aus.

Schon der Don Quixote ist das Werk eines Verzweifelten. Wir wollen nicht vergessen: wir sind im Reich der Gefühle, nicht der Gedanken. Fielding hat mehrmals den Spuren von Cervantes nachgehen wollen, er hat wohl dumpf gefühlt, daß dieser große Mann und ausgezeichnete Dichter seine eigene Tragödie schon gelebt hatte. Man kann den Tom Jones als den englischen Nationalroman bezeichnen, wie den Don Quixote als den spanischen. Aber Cervantes war der größere Mensch; er kam zu Verzweiflung, zu Grausamkeit gegen sich selber; Fielding hat offenbar nur eine Unruhe gefühlt, die er denn durch Liederlichkeit, durch das, was etwa eine Lady Montague «Laster» nennt, betäubte. Man kann kurz die Aufgabe so fassen: der Mensch, der Gott nicht hat, weiß nicht, wozu er lebt. Alle andern Menschen können sich um die Beantwortung der Frage herumdrücken; der Dichter kann es nicht.

Der Philister hat gehört, daß die Künstler meistens leichtsinnig und oft liederlich sind. Heute, wo die bürgerliche Gesellschaft zu Ende ist, haben wir ja nun auch die Liederlichkeit des Philisters, da wird vom Künstlerleichtsinn nicht mehr so viel gesprochen. Aber man mache sich nur klar: weshalb muß denn eigentlich mit den höchsten Gaben, welche Gott einem Menschen verleihen kann, so oft die Liederlichkeit verbunden sein? Das muß doch einen Grund haben? Fielding war ein tüchtiger Jurist; er hat ein zweibändiges Werk über das öffentliche Recht hinterlassen. Wenn solche Arbeiten nicht ordentlich gemacht werden, dann sind sie überhaupt nichts; das Werk wird schon ordentlich sein. Als Garrick eine kleine Veränderung in einem Lustspiel verlangt, da sagt er: «Sie merken es doch nicht», trinkt und raucht weiter. Weshalb tut er für ein Lustspiel nicht, was er für sein juristisches Werk tat? Er hat im tiefsten Grund seiner Seele die Zwecklosigkeit seiner Arbeit gefühlt, die Sinnlosigkeit seines eigenen Daseins.

Wir werden, wenn wir zu seinem Hauptwerk kommen, zu unserm Tom Jones, in seinem Lebensgefühl die Erklärung und Deutung des Dichterwerks finden.

Fielding schlug sich zunächst als politischer Tagesschriftsteller, als Journalist durch. Neben diesen Arbeiten gingen nun die dichterischen Werke seiner zweiten Periode, seine Romane. Es sind das Jonathan Wild, Joseph Andrews, Tom Jones und Amelia.

Jeder wirkliche Dichter wird zu seiner Arbeit bewegt durch die Kräfte, welche in der Religion wurzeln; in der Religion, welche ihm zugänglich ist, welche er fassen kann, in den Gedanken- und Gefühlskreisen, in welchen sich ihm das Göttliche darstellt. In Jonathan Wild geht es um den Kampf zwischen Sittlichkeit und Heuchelei. Aber das bloß Moralische gibt nie einen genügend wertvollen Vorwurf für die Dichtung; die Begabung Fieldings schafft komische Einzelbilder und stellt hübsche, geistreiche Beobachtungen und Bemerkungen über Menschen und Sitten zusammen; nur, es ist keine volle Dichtung entstanden, die ein selbständiges Weltbild gibt.

Seine hauptsächlichsten Werke sind die drei anderen Romane, von denen man den Andrews als Vorläufer und die Amelia als schwächeren Nachklang des Tom Jones betrachtet, der demnach das Hauptwerk bleibt.

Damals hatte Richardson seine großen Erfolge. Fielding wird bis zu einem hohen Grade die dichterische Unzulänglichkeit dieses Schriftstellers gefühlt haben; aber doch wohl mehr gefühlt, als klar eingesehen. Joseph Andrews ist der tugendhafte Bruder der tugendhaften Pamela, und da die Tugend des Mannes immer anders wirkt als die der Frau, so ergeben sich schon aus der bloßen Aufgabe komische Lagen: wie weit aber da witzige Absicht vorliegt, wird schwer festzustellen sein. Liest man das Buch ohne Hinblick auf Richardson, so bekommt man den Eindruck, daß der Rahmen der Erzählung zu eng ist für die eigentlichen Fähigkeiten des Dichters.

Diese entfalteten sich voll erst im Tom Jones.

Es wird zuerst auffallen, daß dieser Roman ausgezeichnet gebaut ist. Der Roman ist die eigentlich der bürgerlichen Gesellschaft angemessene Dichtungsform, und wie die bürgerliche Gesellschaft selber keine Form ist, sondern ein Auflösungsprozeß – sie ruht nicht auf Herrschaft und sie ist nicht stabil, sondern sie ist ein labiles, jedesmal neues Ergebnis aus wirtschaftlichen Kämpfen – so ist auch der Roman keine eigentliche Form. Es gibt bedeutende Romane, die überhaupt gänzlich formlos sind, wie etwa Immermanns Münchhausen. Fielding war von seiner Theaterschriftstellerei her an den für das Bühnenstück immer notwendigen straffen Bau gewöhnt und hat mit dieser Gewohnheit seine Romane, auch den Tom Jones, geschrieben. Der Roman hat eine einheitliche Handlung, deren Fortführung alles Erzählte dient; er enthält nur eine einzige, für die Handlungsführung überflüssige Episode, die Geschichte des alten Mannes, den der Held von den Räubern errettet. Möglich, daß Fielding diese Episode gegen seinen Instinkt einfügte, weil Cervantes, der ja viel lockerer baut, Novellen einschiebt, wie er ja auch die parodistisch-heroischen Anrufungen und die Prügelszenen dem Roman comique nachbildet, obwohl die in seinen Stil gar nicht passen. Fielding war kein bewußter und überlegter Künstler, er war eine Art Naturkind, der mit seinen Gaben und Erfahrungen, wie er sie nun eben hatte, seine Arbeit machte.

Die Reise ist sozusagen eine Form des Romans: der Held begibt sich an immer neue Orte, wo ihm immer neue Abenteuer aufstoßen, deren ganze Reihe dann der Roman ist. Der Don Quixote ist das große Beispiel für diese Form. Tom Jones reist ins Blaue hinein, wie Don Quixote, nur nicht mit der Absicht, daß die einzelnen Reiseerlebnisse der Zweck sein sollen, sondern immerhin mit einer unklaren Vorstellung vom Ziel. Sophie unternimmt eine ähnliche Reise. Dieser Reiseroman wird durchkreuzt durch eine andere Form, den Liebesroman, und diese Durchkreuzungen ergeben ein anmutiges Spiel. Ein drittes formales Motiv kommt dazu, das aber nur für die Katastrophe ausgenutzt ist, die Entdeckung der Geburt des Helden; im «Kometen» von Jean Paul ist sie durchaus verwendet in Verbindung mit dem Reisemotiv.

Es ist schon einmal von Goethe hervorgehoben, daß der Romanheld immer passiv ist: es geschieht an ihm, nicht durch ihn; denn das erste Interesse des Lesers ist nicht sein Schicksal, sondern die Welt, in welcher er lebt; sein Schicksal ist nur der Faden, an welchem die Episoden angereiht sind; auch hierin ist der Roman Darstellung des bürgerlichen Lebensgefühls, welches die Welt als ein Geschehen auffaßt, nicht als Ergebnis eines Handelns. Und hier nun stoßen wir auf ein eigentümliches Gesetz des Romans, das in den neueren Zeiten – ich denke vor allem an Dostojewskij – zu merkwürdigen Folgen geführt hat. Der Romanheld kann nie eine bedeutende Persönlichkeit sein, wie es der Held der Tragödie immer sein muß, der mit seinem Handeln im Kreuzungspunkt von Notwendigkeiten steht. Wenn der Romandichter einen bedeutenden Gehalt darstellen will, wie das bei Dostojewskij der Fall ist, dann wird er also immer in Schwierigkeiten kommen; es ergibt sich auch, daß die Dichtung in der bürgerlichen Gesellschaft nie das bedeuten kann, was sie in andern Gesellschaftsformen bedeutet hatte; vielleicht lebt auch im Geistigen die bürgerliche Gesellschaft nur von den Auflösungsergebnissen früherer Zeiten, wie ja der neue Roman entstanden ist als Auflösungsergebnis der mittelalterlichen Epen.

Wenn man die andern Werke Fieldings studiert, wenn man die Art der Charakteristik betrachtet, dann findet man, daß Tom der Persönlichkeit des Dichters selber entspricht und Sophie das zu ihm gehörige weibliche Wesen ist, welches in ihm ruht als Komplement und deshalb ebenso von innen dargestellt wird wie Tom.

Bei jedem Dichter kann man sehen, daß einer seiner Typen oder mehrere, je nach seinem inneren Reichtum, von ihm selber abgeschrieben sind und daß daneben eine oder mehrere dazugehörige komplementäre Frauen stehen. So sind bei Goethe zwei Typen: Faust und Mephisto (Tasso und Antonio usw.) und Gretchen und Iphigenie (Philine und die schöne Seele usw.). Mehr als alle äußeren Lebensbeschreibungen lehren uns über den Dichter diese Gestalten.

Nun, was sich aus dem Bisherigen über Fielding ergeben kann, das zeigen diese Gestalten: Harmlosigkeit, Offenheit, Mut, Anständigkeit der Gesinnung, nicht übermäßige Klugheit, Unbedachtsamkeit, Gedankenlosigkeit. Der weibliche Typus ist dem männlichen überlegen. Jene Schwächen verzeiht man dem weiblichen Charakter eher als dem männlichen, deshalb wirkt der weibliche Charakter bei Fielding überlegen. In der Amelia sind wieder die beiden Typen. Nur ist dort der Mann bereits verheiratet und hat Kinder; dadurch wirkt er bedenklicher als Tom, der doch nur erst ein junger Kerl ist, und das ist eine der Hauptursachen, weshalb dieser letzte Roman nicht den Reiz des Tom Jones hat. Walter Scott, der eigentlich wissen müßte, wie so etwas zusammenhängt, findet den Helden der Amelia im Grunde entrüstend; er macht sich nicht klar, daß er der gute Tom ist, nur um zehn Jahre älter, und daß nun menschliche Reife einem Talent und Wesen wie Fielding nicht gegeben sein konnte.

Walter Scott war ein Mann von großer Noblesse der Gesinnung. Vielleicht hat diese verschuldet, daß er bei seinen großen Gaben doch nie sich über eine gewisse Ebene erheben konnte. Er macht tadelnd auf zwei Stellen im Tom Jones aufmerksam: wo Tom von der Lady Bellaston Geld nimmt und wo der Squire Western gegenüber dem Freund des Lord Fellamar, der ihm eine Ausforderung bringt, kneift.

Er hat recht und unrecht. Recht: denn das freundlich heitere Bild wird zerstört. Es liegt ein Stilbruch vor. Unrecht: hier kommt zutage, daß Fielding in all seiner Harmlosigkeit denn doch eine andere Persönlichkeit war als der gute Scott.

Ich sprach oben von der Verzweiflung und Grausamkeit bei Cervantes. Cervantes war ein großer Mansch. Er hat die eigentliche Tragödie des Menschen bewußt erlebt, die wenigstens unbewußt jeder erleben muß, der auf einer gewissen Höhe steht, und er hat sie in der Form erlebt, in welcher sie sich in der bürgerlichen Welt darstellt: daß einer auszieht, um als Held die Welt zu befreien, und dafür von den Knechten Prügel bekommt. Er war verzweifelt: er kam nicht auf die Lösung, daß Gott am Kreuz lächelnd sagt: «Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun»; sondern er konnte sich nur denken, daß der Don Quixote ein Narr ist und daß nun in der Welt denn nur Knechte, Gastwirte, Huren und Windmühlen sind. Er war verzweifelt und prägte diese fürchterliche Lage in grausamen Bildern aus.

Fielding war nicht ein großer Mensch, er hatte nicht die Tiefe der Leidenschaft und die Kraft von Cervantes. Aber auch er hat die Tragödie erlebt, wenn auch in weit geringerer Stärke, und auch er kam zu Grausamkeit aus Verzweiflung, zu Grausamkeit gegen sich und seine liebsten Geschöpfe. Denn der Squire Western ist nach Tom und Sophie seine Lieblingsgestalt – er ist ins Rohe und Dumme gewandelt wieder der Tom selber. Und das ist nun der Unterschied von einem Walter Scott: Walter Scott kommt zu einer solchen Grausamkeit nicht, er lebt auf einer Ebene, auf der man von der Tragödie der Menschen nichts merkt. Die Verzweiflung von Cervantes bewirkt, daß Don Quixote ein Narr sein muß; die Verzweiflung Fieldings, die nicht so tief ist, bewirkt, daß Tom schließlich auch so handelt, daß er lumpig erscheint, Western auch so, daß er feig sein muß. Aber das ist nur episodisch; die Grundstimmung des Dichters ist anders. Wie sollte das nicht sein, wenn er als Geliebte des Helden nicht eine Dulcinea hat, sondern eine Sophie, die mit allen Mitteln der männlichen Illusionskraft geschaffen ist, eine Gestalt, so rein und schön in vollendeter Weiblichkeit, wie sie sich selten bei Dichtern findet: merkwürdig häufig bei englischen; vielleicht weil die Engländer ein sehr männliches Volk sind; noch ein Meredith, der schon die vollendete Nichtigkeit des heutigen Mannes darstellt, hat doch noch diese edlen weiblichen Gestalten: man vergleiche damit die hysterischen Mädchen Dostojewskijs, welche seinen nur künstlich sich haltenden Männern gegenüberstehen.

Noch eines ergibt sich, wenn man das zuletzt Gesagte festhält.

Man verglich seinerzeit Fielding viel mit Marivaux. Marivaux war damals ein sehr angesehener Dichter, er ist heute fast vergessen: es fehlt ihm doch, man mag ihn immer hochschätzen, das, was eine dauernde Wirkung ermöglicht: die letzte Wahrhaftigkeit. Der alte gleichzeitige Biograph sagt sehr fein: «Der Unterschied der beiden besteht darin, daß Fielding die Sitten darstellen und Marivaux die Herzen untersuchen will.»

Nun, wer in einer gänzlich entgotteten Gesellschaft die Herzen untersuchen will, der wird immer verlogen werden, wie es Dostojewskij ist. Diese Verlogenheit merken die Zeitgenossen nicht, sie offenbart sich erst später, wenn in der Gesellschaft eine andere Lüge auf den Thron gehoben ist, auf dem wir Gott sehen müßten. Dem Dichter in einer solchen Zeit bleibt nur das Mittel, das der alte Biograph nennt: «die Sitten darzustellen», das heißt, äußeres Geschehen, hinter dem die Menschen ihre Lügen spinnen mögen. Eine solche Art von Kunst nennen wir klassisch.

Fielding ist ein klassischer Erzähler, wie es Cervantes ist. Diese Klassizität ist den heutigen Menschen unangenehm; denn je weiter die bürgerliche Gesellschaft zu ihrem Ende gekommen ist, desto mehr hat die Lüge überhand genommen, so daß heute, außer in der wissenschaftlichen Technik, wohl überall die Lüge herrscht. Die Lügen werden ja immer kürzer. Es kann einer heute als großer Dichter gepriesen werden, und schon fünf Jahre später sieht man, daß er nur ein empfindsamer Lügner ist: aber dann kommt eben ein andrer an die Reihe. So ist anzunehmen, daß Fielding dem heutigen Leser gerade durch seine wertvollsten Eigenschaften gegen die Natur geht: er möge sich sagen, daß das mit jedem wirklichen Dichtungswerk so sein wird.

Der Charakter des Tom Jones ist ein ganz englischer Charakter; auch die übrigen Charaktere sind es. Blifil ist der englische Schurke, der uns Deutschen ja immer etwas unglaubwürdig vorkommt; Allworthy der ehrenhafte und gebildete Mann von unbeirrbarer Richtung seines Weges, der uns, dem Volk der mangelnden Zivilcourage, gleichfalls fremd ist. Für Lady Bellaston haben wir in den beiden letzten Generationen wohl verwandte Erscheinungen.

Die Erfolge der Romane konnten dem Dichter doch nicht seinen Unterhalt gewähren, er war weiterhin auf die politische Tagesschriftstellerei angewiesen. Endlich glückte es ihm 1749, durch seine gesellschaftlichen Verbindungen das Amt eines Friedensrichters für Westminster und Middlesex zu erlangen; das Amt hatte damals keine gesellschaftliche Achtung und brachte wenig ein. Der Friedensrichter bekam kein Gehalt und war auf Sporteln angewiesen. Fielding übte es ehrenhaft aus; er erzählt: «Ich muß gestehen, daß meine Angelegenheiten zu Wintersbeginn trübe aussahen, denn ich habe das Publikum oder die Armen nicht ausgeplündert, wie Leute von mir annehmen, die beides gern tun; im Gegenteil, dadurch, daß ich die Streitigkeiten der Dienstmänner und Bettler verglich, statt sie anzublasen (was leider nicht immer geschieht, wie ich zugeben muß), und indem ich den Leuten nicht ihren letzten Schilling abnahm, brachte ich ein Einkommen von über 500 Pfund des schmutzigsten Geldes jährlich auf etwas mehr als 300 Pfund herunter, von denen mein Schreiber ein beträchtliches Teil erhielt.» Das Amt weist einem Mann seine Stellung in der Gesellschaft an, und Fielding war nicht der Mann danach, sich eine bessere Stellung zu machen; so galt er als gesellschaftlich heruntergekommen.

Das Trinken, Rauchen und nächtliche Kneipensitzen hatte seine Gesundheit weiter erschüttert; er suchte Heilung durch eine Reise nach dem Süden, nach Lissabon. Aber es war zu spät. Nachdem er zwei Monate dort gewesen war, starb er 1754 im 48. Jahr seines Lebens. Er hinterließ eine Witwe und vier Kinder.

Sein Tom Jones ist der reine Ausdruck seines Gemüts. Er sagt einmal von seinem Helden: «Alle seine Handlungen, die man tadeln kann, waren gegen ihn selber gerichtet, keine gegen einen andern.» Er war ein edler Mensch und ein großer Dichter: möge sein Werk in einer Zeit, die noch trüber ist als die damalige, den einen oder andern Leser finden, der einen frischen Hauch von Wahrheit, Heiterkeit und Natur verspüren kann.

Dickens und Thackeray

(1911, 1912 und 1924)

Die bürgerliche Gesellschaft hat in England ihre vollendetste Ausgestaltung erreicht, und es ist deshalb nur natürlich, daß die klassischen Romane der bürgerlichen Gesellschaft von Engländern geschrieben wurden. Die französischen naturalistischen Romandichter haben eine enzyklopädische Vorstellung von der Gesellschaft, sie suchen die gesamte bürgerliche Gesellschaftsordnung darzustellen, die ganze Hierarchie der modernen Sozietät vom höchsten Adel bis zum Proletariat hinunter. Die nordischen Erzähler sind protestantische Moralisten, welche von dem Bruch aus denken und darstellen, der in unsern sittlichen Anschauungen mit dem Emporkommen des Bürgertums stattfand; auch noch Pontoppidan gehört zu ihnen. Die Russen sind die Propheten einer vielleicht noch fernen Zukunft, und vielleicht wird man einst Tolstoi und Dostojewskij so empfinden, wie man lange Sophokles als Christianum ante Christum empfand. Aber die bedeutenden englischen Erzähler sind Vertreter des Bürgertums in allem: in ihren Stoffen, ihren Idealen, ihren Problemen und in ihrer Art, die Dinge zu sehen. Und da muß man immer Dickens und Thackeray zusammen nehmen. Sie ergänzen einander, der eine gibt das idealistische, der andere das realistische Bild des Bürgertums.

Sie haben ihre Vorgänger in Fielding, Sterne, Smollet und Defoe, und beinahe soziologisch kann man die Elemente dieser Literatur gruppieren. Das unternehmende, abenteuerlich auf Gewinn ausgehende, tüchtige und hartnäckige, dabei doch sittliche und fromme Bürgertum sehen wir im «Robinson». Den «Tom Jones» könnten wir nach deutscher Art als Bildungsroman begreifen; er stellt dar, wie der edel unverschämte junge Brite sich vorbereitet auf die Existenz eines Rentners. Im «Tristram Shandy» sehen wir das enge bürgerliche Familienleben mit allen seinen Menschheitsidealen. Dickens und Thackeray haben nur erweitert und fortgeführt, was diese großen Meister bereits dargestellt und begonnen hatten.

Wenn nicht alle Menschenkenntnis trügt, so muß Thackeray selbst sehr bürgerlich gewesen sein: er spottet über das Jagen nach Vornehmheit seiner reichgewordenen Spießer, aber das tut er so gut, daß wohl etwas von diesem Trieb in ihm selbst gewesen sein muß; aber besonders: sein, des Dichters, naives Ideal eines Lebensganges ist das Erwerben genügender Renten, der Besitz eines komfortablen Hauses und die Heirat mit einer bequemen und sanften Frau; die Schwierigkeiten in dem idealen Leben entstehen dann, wenn die Söhne größer werden und nun unbekümmert dasselbe wollen, wie seinerzeit ihr Vater gewollt hat. Nie haben Dichter den frechen und rohen Egoismus so natürlich geschildert wie die englischen Erzähler – so natürlich schildern sie ihn, daß der gute deutsche Leser ihn oft gar nicht merkt.

Dickens ist weicher wie Thackeray, ihm merkt man etwas vom englischen Weibe an; und wenn seine Weichheit auch oft bis zur Sentimentalität geht und energische Figuren oder Personen, welche böse Handlungen begehen, ihm meistens nicht recht glaubhaft gelingen, so ist er im ganzen doch poetischer wie Thackeray. Thackeray ist durchaus männlich; er durchschaut die spezifische englische Lüge stets, der Dickens fast immer zum Opfer fällt; und wenn er dadurch für den gewöhnlichen Leser nicht so angenehm ist, so wird er doch gebildete Leser doppelt anziehen. Er erinnert oft an den großen Fielding: nur freilich, Fielding war wie Sterne ein ganz freier Mann, und Thackeray ist in seinen Figuren befangen; Fielding nahm Natur als Natur, Thackeray weist immer satirisch auf seine Gestalten hin und sagt: «Ja, so sind die Menschen.» Aber vielleicht gerade, weil Fielding und Steine ganz frei sind, werden sie von den Menschen heute schwerer verstanden wie Thackeray. Jedenfalls ist dieser aber einer der ehrlichsten Darsteller, die es je gab, und er schildert uns die Engländer genauer, als ein Fremder sie durch langes eignes Studium kennenlernen könnte.

 

Wenn wir einen Roman in einer müßigen Stunde in die Hand nehmen, so wollen wir ja nicht immer gerade die tiefsten seelischen Erschütterungen erleben oder hinter die letzten Geheimnisse der menschlichen Seele kommen. Wir haben sogar nichts gegen eine gewisse Banalität und eine naive Unwahrheit – wohlverstanden: naive Unwahrheit, nicht beabsichtigte. Man hat Dickens seinerzeit für einen Realisten gehalten, sein poetisches Weltbild bewundert und geglaubt, daß er eine fabelhafte Kunst der Menschendarstellung besitze. Von alledem hat er keine Spur; aber er ist ein angenehmer, liebenswürdiger Schriftsteller, den man mit Vergnügen lesen wird zu Zeiten, wo man gerade nichts Wichtigeres zu tun hat. Man sage nicht, daß das wenig ist: solcher Schriftsteller gibt es nicht viele, denn im allgemeinen ist das, was nicht wirkliche Kunst ist, auch gleich ein so dummes Zeug, daß ein gebildeter Mensch es unmöglich lesen kann. – Dickens hat von seinen Vorgängern im englischen Roman die höchst wirksame Technik gelernt, durch kleine und scheinbar zufällige Züge, die aber geschickt daraufhin ausgesucht sind, daß sie Eindruck machen und in der Erinnerung haften, die Vorstellung zu erwecken, als habe er die behandelten Personen und auch Örtlichkeiten dichterisch gestaltet. Da seine Figuren und Situationen aus dem täglichen Leben gegriffen sind, so wird es der mithelfenden Phantasie des Lesers nicht schwer, nach einiger Zeit mit den solcherweise dargestellten Personen zu leben; und so kommt der Leser über die unglaublichsten Dinge hinweg, die er jedem anderen Schriftsteller sehr übelnehmen würde: über weibliche Charaktere der fabelhaftesten Unmöglichkeit; Schurken, wie sie – ja, wie sie eben nur bei Dickens vorkommen können; und Dienstboten, die noch fabelhafter sind als die Frauenfiguren. Vom Dichter selbst erlebt ist offenbar nur die Gestalt des gutmütigen, vornehm empfindenden, schüchternen und halsstarrigen Mannes und die Situation des zart empfindenden Kindes in einer gemeinen Umgebung. Aber auch hier fehlt die eigentliche dichterische Gestaltung, und an ihre Stelle tritt die virtuose schriftstellerische Technik. Seine humoristische Wirkung entsteht in den meisten Fällen aus grotesker Übertreibung, die dann durch das liebenswürdige Temperament des Verfassers eine gute Wirkung macht; in den selteneren Fällen durch den Konflikt seines arglosen Helden mit der menschlichen Gemeinheit: und in solchen Situationen kommt dann nicht selten eine echt dichterische Wirkung heraus, welche auch den kritischsten seiner Leser wieder versöhnt. Aber wenn man Dickens liest, so soll man eben nicht kritisch sein: man soll sich ohne Bedenken und Zögern von einem klugen und guten Menschen in angenehmer und freundlicher Weise unterhalten lassen. Und in unserer hastigen und rohen Zeit: wieviel ist da eine solche Art Unterhaltung wert!

 

Thackeray wurde 1811 in Kalkutta als Sohn eines Beamten der Ostindischen Kompanie geboren, empfing seine Erziehung in einer Anstalt für die Söhne wohlhabender und vornehmer Engländer in London, studierte in Cambridge, bereiste als reicher junger Mann den Kontinent, verarmte dann und fand seinen Unterhalt durch Schriftstellerei und Herausgebertätigkeit. Er starb 1863.

Es ist nicht mehr von seinem Leben zu wissen nötig. Er hat seine Jugend unter Verhältnissen verlebt, welche ihm gestatteten, seine Fähigkeiten zu entwickeln; und als er in dem Alter war, wo die Leistungen kommen mußten, wurde er in das aufreibende und zerstörende Leben des Literaten eingespannt, wo er nicht schreiben durfte, was er wohl hätte schreiben mögen, sondern was die Leute lesen wollten; wo es ihm nicht erlaubt wurde, das ausreifen zu lassen, was in ihm sich bildete, sondern eine beständige Tätigkeit nötig war von jener Art, die ihre Ergebnisse schwarz auf weiß vorzeigen kann.

Wenn in der heutigen Welt der Schriftsteller den Dichter verdrängt, so ist eine der Hauptursachen, daß nur selten einmal ein dichterisch begabter Mensch in der Lage ist, als Dichter leben zu dürfen: das heißt, nur das zu arbeiten, wozu ihn die Natur bestimmt hat.

In Zeiten der Kultur ist es immer möglich, daß ein noch so kleiner Teil der Menschheit frei lebt und also das wird und schafft, was ihm Gott aufgetragen hat, indessen ein großer oder auch sehr großer Teil der Menschen in Sklaverei schmachtet. Die Leiden dieser Sklaverei übertreibt man heute. Zu Zeiten barbarischer Zivilisation, wie die unsrige ist, lebt niemand frei und alle schmachten in den Sklavenfesseln, und zwar in um so härteren, je höher der Rang ist, den der Betreffende bekleidet. Dem Dichter ist die höchste von allen Aufgaben gestellt: aus seinem Innern eine neue Welt zu schaffen, aus welcher die andern Menschen künftig die Gesetze für ihr Empfinden, Denken und Wollen zu entnehmen haben. Auf den Dichter drückt darum die allgemeine Sklaverei am härtesten; sie drückt so sehr auf ihn, daß er oft seine Aufgabe nicht mehr erfüllen kann, daß etwas anderes aus ihm wird: der Schriftsteller. Thackeray ist diesem Schicksal verfallen.

Am Schluß von « Vanity fair» sagt Thackeray: «Ach, Eitelkeit der Eitelkeiten! Wer von uns ist auf dieser Welt glücklich? Wer von uns besitzt, was er wünscht? Oder ist zufrieden, wenn er es besitzt? Kommt, Kinder, laßt uns den Kasten und die Puppen verschließen, denn unser Spiel ist zu Ende.»

Er gehört zu der Art von Menschen, welche unter allen Umständen das Erlebnis der Enttäuschung haben werden: das sind Menschen von starkem Verstand und schwachen Sinnen, welche nicht den Augenblick mit seiner Schönheit in sich aufnehmen können, sondern hoffen und harren auf etwas Ausgedachtes, das dann entweder nie kommt, oder, wenn es kommen sollte, ganz anders ist, als sie es sich gedacht haben. Ich glaube in « Vanity fair» wird Dobbin in seinem Charakter dem Verfasser am ähnlichsten sein, und Amelia, von der Thackeray in der Einleitung sagt «sie ist vom Künstler mit der größten Sorgfalt geschnitzt und angezogen» – ist wohl das weibliche Wunschbild, das ihm vorschwebte. Nun, der tüchtige, männliche Dobbin wirbt ein halbes Menschenalter um Amelia; er sieht sie an, nach dem Bild des Dichters, «wie der arme Schuljunge, der kein Geld hat, nach dem Kuchen der Kuchenfrau seufzt»; er bekommt endlich den Kuchen, als er schon recht altbacken ist, als er selber schon fast die Lust nach ihm verloren hat: er muß sich sagen, daß er sich eine Gans als eine Nachtigall vorgestellt hat.

Aber Herr Dobbin ist nun eben so ein Mensch, daß er sich eine Gans als Nachtigall vorstellt. Er hat ja wohl alle Tugenden, die ein Mensch, ja, sogar ein Mann, besitzen kann: aber es gibt Leute, für welche er zu tugendhaft ist, Wäre es möglich, sich Herrn Dobbin etwa im alten Athen zu denken: Er ist das Ideal eines bürgerlichen Dichters in der Mitte des vorigen Jahrhunderts.

Ein großer Teil der Bedeutung Thackerays liegt darin, daß sein eigenes Sein, sein persönliches Erleben, das Sein und Erleben seiner Zeit abbildet. Man hat den «Enttäuschungsroman» als eine besondere Form des Romans bezeichnet, wie den Bildungsroman oder den Reiseroman; das mag sein: jedenfalls ist er eine besonders bürgerliche Form der bürgerlichen Kunstform des Romans; denn zu dem Wesen der bürgerlichen Gesellschaft gehört die Enttäuschung: ist ja doch deren Grundlage der Reichtum, den man nur unter der Bedingung hat, daß er einem nichts nützt, daß er den einzigen Zweck nicht erfüllt, den er haben kann.

Der «Eitelkeitsmarkt» erschien 1847, als der Verfasser sechsunddreißigjährig war und als eine neue revolutionäre Welle in Europa die bürgerliche Gesellschaft überspülte. Das Buch ist ein Werk des Genies, das aus sich selber schöpft und aus Erfahrung und Belehrung nichts zu lernen braucht; denn die Einsichten in den Weltgang, die es enthält, kann der gewöhnliche Mensch in dem Alter schwerlich schon haben. Das Buch ist aber auch ganz ein Werk seiner Zeit mit ihren uns heute schon fast lächerlich anmutenden Wertungen und Urteilen. An einer Stelle spricht der Dichter aus sich selber, nicht aus einer seiner Figuren: «Wie viele Tausende von Menschen gibt es, meistens Frauen, die zu dieser langen Sklaverei verdammt sind – Hospitalwärterinnen ohne Begabung – barmherzige Schwestern, wenn ihr es so nennen wollt, ohne die Romantik und das Gefühl der Aufopferung – die unbemitleidet sich mühen, fasten, wachen und leiden und in Niedrigkeit unbekannt verwelken. Es gefällt der verborgenen und hohen Weisheit, die die Geschicke der Menschen austeilt, den Sanften, Guten und Weisen zu demütigen und zu Boden zu werfen und den Selbstsüchtigen, Törichten oder Gottlosen zu erhöhen. O mein Bruder, sei demütig in deinem Glück! Sei sanft gegen die, welche weniger glücklich, wo nicht verdienstvoller sind! Denke, welches Recht du zur Verachtung hast, du, der seine Tugend nur dem Mangel an Versuchung verdankt, dessen Erfolg ein Zufall sein kann, dessen Rang eines Ahnen Verdienst sein kann, besten Glück höchstwahrscheinlich eine Satire ist.» Die Sozialisten und Kommunisten machen heute Ernst mit diesen empfindsamen Betrachtungen der noch ahnungslosen bürgerlichen Zeit, und da stellt es sich heraus, daß dieses Mitgefühl doch bedenkliche Wirkungen hat: es zerstört schließlich die Grundlagen der Gesellschaft, es vernichtet die Lebensmöglichkeiten der wertvollen Menschen und macht aus der Welt ein gut eingerichtetes Lazarett für die Wertlosen.

Der Mensch, welcher notwendig zur Enttäuschung kommt, ist keine volle Natur: ohne es zu wissen, hat Thackeray in Dobbin einen Mann mit einem wesentlichen Mangel geschaffen. Eine Zeit, deren tiefste Neigung sich mit der Neigung zur Enttäuschung des Einzelnen in Harmonie befindet, ist sicher keine Zeit voller Natur. Der Dichter aber muß Natur sein: und so fehlt es denn Thackeray als Menschen wie als Zeiterscheinung auch im Dichterischen.

Es reizt, nachzuspüren, wo im Seelischen bei ihm der Fehler sitzen kann.

Die eigentliche Heldin ist doch Rebekka. Sie wäre die Heldin für einen Spitzbubenroman, wie ihn die Spanier geschaffen haben und Lesage zur höchsten Vollendung gebracht hat, wie er heute, nach der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft, wieder möglich ist. Ich gestehe offen: ich liebe die lasterhafte Rebekka und verabscheue die tugendhafte Amelia. Ich habe das tiefste Mitgefühl mit Rebekka, die an Lebenskraft, Verstand und Begabung die andern Personen des Romans turmhoch überragt, die nun genötigt ist, sich einen dummen Mann zu nehmen, den sie notwendig zugrunde richten muß, während sie hätte das Glück eines freien und klugen Mannes ausmachen können, für den sie das gewesen wäre, was ein solcher Mann will: ein Spielzeug mit eigener Seele und eigenem Willen.

Wie? Ich fühle eben, als wenn Rebekka lebte; ist sie nicht von Thackeray gedichtet, wie Amelia von ihm gedichtet ist? Soll es möglich sein, daß Thackeray den Reiz nicht gefühlt hat, den er in Worten darstellte? Soll es möglich sein, daß sie Thackerays Wesen so ganz fremd war?

Wahrscheinlich, daß in Thackeray ein Kapitän Dobbin lebte, der die Gans Amelia für eine Nachtigall hielt; aber auch Rebekka hat in ihm gelebt, die lachende Spitzbübin, die Künstlerin, welche die Männer wie Puppen tanzen läßt, die Komödiantin, welche lachen und weinen kann nach Bedarf, sogleich mit allen Menschen fühlt, denen sie nahetritt, und genial auf sie einzugehen versteht, wie ein großer Schauspieler sich mit einem andern Schauspieler sofort einspielt. Thackeray ist ein Schriftsteller; aber ein Schriftsteller, der in einer besseren Zeit ein Dichter geworden wäre; Rebekka ist das Geschöpf dieses Dichters, sie muß in ihm gelebt haben, wie Amelia in ihm lebte. Wenn die Kunst der Darstellung entscheidend ist für den Dichter, dann muß sie das eigentliche weibliche Sehnsuchtsbild Thackerays gewesen sein und nicht die blasse Amelia. Aber es ist verständlich, daß ein Mensch, der 1847 dichtete, in England dichtete, und die empfindsamen Gedanken hatte über die «Tausende von Menschen, meistens Frauen, die zu dieser Sklaverei verdammt sind», daß ein solcher Mensch notwendig seine Rebekka verleugnen mußte. Damit hat er seine Muse verleugnet, dadurch geschah es, daß er nur ein Schriftsteller wurde und nicht ein Dichter.

Rebekka lebte in Thackeray. Hätte er sie unbekümmert um die eigene Bürgerlichkeit und die Bürgerlichkeit seiner Zeit gedichtet, dann hätte er einen Spitzbubenroman geschaffen: in diese elende, dumme, alberne und gemeine Gesellschaft, welche ihre Lebensbedingungen als die allgemein menschliche Sittlichkeit auffaßt, kommt diese reizende, temperamentvolle, kluge und starke Persönlichkeit und benutzt selbstverständlich diese Welt für ihre Zwecke. Für ihre Zwecke: hätte Thackeray den Spitzbubenroman gedichtet, dann hätte er ihr auch die ihr angemessenen Zwecke geben können. Aber er setzte nicht die Spitzbübin als Heldin in den Mittelpunkt – er hatte dadurch denn überhaupt keinen Helden – sondern machte sie nur zur Episodenfigur in diesem Roman von lauter Episodenfiguren; dadurch kam es, daß er ihr nur die Zwecke verleihen konnte, welche auch die andern Figuren haben, die allgemeinen Zwecke dieser dummen Gesellschaft: die leere Eitelkeit einer sogenannten gesellschaftlichen Stellung.

Die Gestalten eines Dichters haben ihr eigenes Leben, das von dem Wollen des Dichters unabhängig ist. Wenn der Dichter durch irgendwelche Ursachen sich zwingen läßt, wie hier, sie in eine falsche Lage zu bringen, dann kämpfen sie in ihm gegen diese ihre falsche Lage. Der Leser wird sich an verschiedene Stellen erinnern, wo Thackeray bemerkt, daß Rebekka sich in ihrem früheren Zigeunerdasein wohler gefühlt hat, daß sie das Unangemessene, ja, Lächerliche ihrer Lage selber fühlt. So etwas kann er denn nur als Regiebemerkung geben; es ist nicht dichterisch zu gestalten, weil hier eben die Dichtung ihren Bruch hat.

Es gibt unendlich viele Möglichkeiten von Menschenwelten, von menschlichen Gesellschaftsformen. Einige sind geschichtliche Wirklichkeit gewesen. Einige sind von Dichtern geschaffen und leben in ihren Dichtungen. Der weitaus größte Teil ruht noch unbekannt in der Zukunft. Die bürgerliche Gesellschaft in der Zeit, da sie noch unerschüttert war, hielt sich, wie das jede Gesellschaft tut, für die einzig mögliche, und Thackeray teilte diesen Glauben. Jede Gesellschaft hält ihre Lebensbedingungen für die allgemein menschliche Sittlichkeit; auch diesen Glauben teilte Thackeray. Als Dichter fühlt er natürlich, daß Amelia gänzlich mittelmäßig ist; er drückt das wieder nur in einer Regiebemerkung aus: «Ich will nicht etwa sagen, daß sein (Dobbins) Geschmack der höchste sei, oder daß es die Pflicht großer Geister ist, sich mit einem Butterbrotparadiese zu begnügen, wie es unserm einfachen, alten Freund genügte; mochten seine Wünsche aber nun gut oder schlecht sein, sie waren einmal so, und wenn Amelia sie ihm anbot, so war er bereit, so viele Tassen Tee zu trinken wie Dr. Johnson.»

Die bürgerliche Gesellschaft ist geschichtliche Wirklichkeit – man kann wohl schon sagen: gewesen; die Gesellschaft, die sich aus dem Spitzbubenroman ergeben würde, war nie Wirklichkeit; der Spitzbubenroman ist eine idealistische Form; um ihn zu dichten, hätte Thackeray die Bedingtheit der bürgerlichen Gesellschaft einsehen müssen und hätte ihm klar werden müssen, daß ihre sittlichen Wertungen durchaus nicht ewiger Natur sind, sondern zeitlich bedingt. Aber er war nun einmal überzeugt, daß die Spitzbübin Rebekka eine verwerfliche Person ist; und so konnte er natürlich nicht ihren Roman dichten, in welchem sie das nicht ist, in welchem aus ihrem Wesen eine ganze Welt geschaffen wird.

In Thackeray, der durchaus Bürger ist, kommt die bürgerliche Gesellschaft zur schärfsten Selbstkritik; alle ihre Werte erscheinen als lächerlich und verächtlich; der Eitelkeitsmarkt spielt für die bürgerliche Gesellschaft eine ähnliche Rolle, wie der Don Quixote für die adelige; nur, der große Dichter Cervantes konnte sich gänzlich außerhalb der Bedingungen irgendeiner Gesellschaft stellen und rein aus der ewig gleichen Menschennatur heraus dichten, Thackeray konnte den Boden der bürgerlichen Gesellschaft nicht verlassen. Cervantes hat eine neue Welt geschaffen, die Welt des Don Quixote; Thackeray hat nur die bürgerliche Gesellschaft dargestellt, in die denn ein armes, fremdes Vögelchen gesetzt ist, das sich die Flügel an ihren Käfigstangen wundschlagen muß.

Um die Tragik des Dichters Thackeray zu verstehen, der durch den Gesellschaftsmenschen in sich verhindert wurde, ein großer Dichter zu werden, muß man sich seinen Zeitgenossen Dickens betrachten.

Dickens war natürlich bei den Leuten viel beliebter als Thackeray; er stellte die bürgerliche Gesellschaft so dar, wie sie dargestellt sein wollte; es ist in ihm schwerlich eine wahre Empfindung, ein richtiger Gedanke. Aber als er schrieb, da war das, was seinem Illusionsbild zugrunde liegt, noch volle Wirklichkeit. Und was ist Wirklichkeit? Sie ist doch nur, was wir sehen; und wenn wir die falschen Empfindungen, die unrichtigen Gedanken in der Wirklichkeit sehen, sind sie dann nicht wirklich? Der starke, nüchterne Verstand Thackerays merkte die Verlogenheit. Über damit das dichterisch fruchtbar wurde, hätte Thackeray die Gabe haben müssen, sich eine neue, unabhängige Welt aufzubauen; das hat etwa Browning versucht, Yeats versucht es – ich sage nicht, daß der Versuch geglückt ist –; Thackeray hatte diese Gabe nicht. Er wäre ein liederlich empfindsamer Hanswurst geworden, wie Oscar Wilde, wenn er nicht eine männliche, sittliche Persönlichkeit gewesen wäre; was konnte anderes geschehen, als daß er einen Dobbin und eine Amelia dichtete, Gestalten, wie sie auch Dickens hätte schaffen können, nur, daß ihm klar war, daß das mittelmäßige Persönlichkeiten sind, Persönlichkeiten, deren Darstellung eigentlich für den Dichter keine würdige Aufgabe ist: eine würdige Aufgabe für den wäre eine Rebekka – ja, wenn Rebekka nur nicht eine so unmoralische Person wäre!

Die letzte große Dichtung, die Europa hatte, war die deutsche klassische Dichtung. Alles, was nachher kam, die europäische Romantik, die gesellschaftskritische Dichtung der Engländer und Franzosen mit ihrem norwegischen Epigonentum, der russische Roman – alles das waren nur Versuche auf einer niedrigeren Ebene. Unsere klassische Dichtung hat ihr Ziel nicht erreicht, sie konnte es nicht erreichen. Aber sie hat jedenfalls an den Aufgaben gearbeitet, die ein Thackeray überhaupt nicht sah, die erst Dostojewskij sich wieder stellte, freilich ohne die Kraft der Deutschen, und indem er früher auf seinem Weg stillstand als die Deutschen. Es ist sehr merkwürdig, wie Thackeray sich zu diesen deutschen Arbeiten stellt.

Er hat als junger Mann über ein Jahr in Weimar gelebt. Das Großherzogtum Pumpernickel in diesem Roman soll Weimar vorstellen.

Unsere Klassiker haben in ihren Dichtungen versucht, aus der Enge der bürgerlichen Moralität herauszukommen in das, was sie das allgemein Menschliche nannten. Der Versuch ist nicht geglückt; aber jedenfalls lag ihm doch die Einsicht zugrunde, daß die bürgerlichen Moralbegriffe nicht ewige Gesetze sind, daß ein Höheres geschaffen werden kann. Davon hat Thackeray nichts gemerkt. Unsere großen Männer, die in dem kleinen Weimar wohnten, mußten naturgemäß die Gesellschaft dort beeinflussen, naturgemäß, indem sie mißverstanden wurden. So hatte sich in dem damaligen Weimar aus alter, braver Kleinbürgerlichkeit, patriarchalischer Herrschaft, Bildungseifer und angeborener Gutmütigkeit mit den mißverstandenen Gedanken unserer Großen eine lächerliche Mischung gebildet: Gedanken und Empfindungen, welche für die höchsten Kreise des Geistes bestimmt waren, wurden harmlos angepaßt. Das scharfe Auge Thackerays sah die Lächerlichkeit der strumpfstrickenden Gräfin auf der adeligen Seite des Zuschauerraums im Theater, der Wirkungen von Werther und Wahlverwandtschaften auf ehrbare Familienmütter und Töchter aus guten Familien; aber es kam ihm nicht einmal der Gedanke, daß Goethe und Schiller doch etwas anderes waren als die Weimarische Gesellschaft.

Er konnte ihm nicht kommen: denn dann hätte er auch die Bedingtheit der bürgerlichen Gesellschaft sehen müssen, hätte er eine neue, gedichtete Menschheit darstellen können, in welcher seine Rebekka die Heldin gewesen wäre.

Das ist die Art Thackerays: eine Menschheit darstellen, deren Unwert er selber eingesehen hat. Erscheinungen wie er finden sich immer in solchen Zeiten, wo die Zivilisation in Barbarei übergeht; wir brauchen nur an die römische Satire zu denken. Thackeray ist ein Satiriker von der Art Juvenals.

Aber jeder Satiriker ist ein Mensch von derselben Art, wie er bekämpft. Man hängt mit nichts so eng zusammen als mit seinem heftigsten Feind. Was man darstellt, das ist auch immer bezeichnend für das Wesen des Menschen; die Vorstellungen eines Dichters sind wichtiger zur Erkenntnis seines Wesens als seine geäußerten Gedanken.

Thackeray sagt in unserem Roman einmal: «Wahre Gentlemen finden sich vielleicht seltener, als mancher von uns denkt. Wer von uns kann in seinem Kreis auf viele solche hinweisen? Männer, die edlen Zwecken huldigen, die beständig von hoher Treue und Wahrhaftigkeit sind, Männer, die durch ihren Mangel an Niedrigkeit einfach werden, die der Welt mit gleicher männlicher Sympathie für die Großen wie für die Kleinen frei ins Auge blicken können. Wir alle kennen Hunderte, die gutgemachte Röcke tragen, und Dutzende von ausgezeichneten Manieren, und ein paar glückliche Wesen, die sich, wie man zu sagen pflegt, in den innersten Zirkeln befinden und in das Zentrum der Scheibe der großen Welt gestoßen haben; aber wieviele Gentlemen sind dabei?»

Juvenal schreibt einmal:

«Wag ein Verbrechen, wofür du nach Gyarus solltest ins Zuchthaus,
Willst du was sein; Rechtschaffenheit lobt man und läßt sie verhungern;
Doch den Verbrechen verdankt man Paläste und Parke und Tische,
Uralt Silbergeschirr und Pokale mit springenden Böcken.
Wem bleibt ruhig das Blut bei Greuelverlobungen, Vätern,
Schwächend des Sohns habgierige Frau, und wenn Knaben das Ehebett
Schänden? Versagt's die Natur, dann schmiedet den Vers die Entrüstung,
Wie sie es eben vermag, cluvienischen ähnlich und meinen.»

Juvenal war gewiß kein Dichter: « si natura negat, facit indignatio versum» war nicht bloße Bescheidenheit, und wenn er den Cluvienus als berühmt schlechten Dichter auch nur im Witz nennt, so hat diese Nennung doch mehr Bedeutung als ein bloßer Witz. Erst der ist ein Dichter, der durch das nicht mehr berührt wird, was Hegel «die schlechte Wirklichkeit» nennt, der gleichmütig mit Goethe sagen kann: «Übers Niederträchtige niemand sich beklage, denn es ist das Mächtige, was man dir auch sage», der eine Welt kennt, die über dieser schlechten Wirklichkeit ist, über dieser Niederträchtigkeit, über die er sich nicht beklagt. Der Dichter der Rebekka kennt diese Welt, in welcher der Spitzbube wirklich Spitzbube ist und nicht Lord, in welcher man «amoralisch» ist, wie ein heute oft gebrauchtes Wort sagt; er steht höher als Juvenal; aber wie tief steht er unter Männern, welche durchaus Dichter sind!

Wir müssen uns diese menschliche Stellung immer wieder klarmachen, denn von ihr hängt auch die Stellung des Dichtwerks ab.

Die dichterische Kraft, welche die Rebekka geschaffen hat, ist vielleicht größer als die etwa, welche den Gil Blas schuf. Dennoch ist Gil Blas einer der großen Romane der Weltliteratur, und sein Held ist eine Gestalt, welche den Leser immer beschäftigen wird, wenn er sie erst in sich aufgenommen hat, während Rebekka keine Spuren im Leben zurücklassen wird. Die Ursache liegt darin, daß in dem Roman von Lesage eine ganze Bedienten- und Spitzbubenwelt geschaffen ist, die heiter und leicht in sich selber ruht, während in Thackerays Roman die Welt, in der sich «wahre Gentlemen vielleicht seltener finden, als mancher von uns denkt», ernst genommen wird und die reizende Rebekka dadurch nur eine Stellung bekommt, wie sie sie in der Wirklichkeit hat. Dichtung ist eben unter anderem dafür da, daß alles an seinen richtigen Platz gerückt wird, und in dieser Welt, wo sich wahre Gentlemen vielleicht seltener finden, als mancher von uns denkt, da gebührt einer Rebekka eben der Platz der Herrscherin. Der Dichter kann sie ja nicht gerade zur Gemahlin des Königs machen, aus äußeren Gründen, aber er hätte sie müssen die Gattin des ersten Pairs werden lassen und hätte müssen diese Gesellschaft schildern, wie sie glücklich unter der Herrschaft der allgemein bewunderten Rebekka ist, die denn im stillen nach der Seiltänzerbude seufzt oder nach dem verräucherten Atelier eines zigeunernden Malers.

Hätte der Zeitgenosse von Dickens diesen Roman schreiben dürfen? Dem Moralprediger, dem Satiriker verzeiht man, denn jeder fühlt, daß das ungefährliche Männer sind; dem Dichter würde man wohl nicht verziehen haben; und es war wohl ein persönliches Glück für Thackeray, daß der Bürger in ihm stark genug war, ihn von dem letzten Kampf gegen den Bürger zurückzuhalten.

Gegen den Bürger? Auf den Höhen der Dichtung verschwinden die gesellschaftlichen Bindungen. Die griechischen Tragiker dichteten ihre Werke aus der Geschichte der Königshäuser in der Zeit des sich reißend schnell demokratisierenden Athen; kein Mensch denkt daran, daß die dichterischen Gestalten dieser Männer Könige sind, welche außerhalb der Tragödie Regierungshandlungen besorgen. Der Bürger wäre vergessen, wenn der Dichter sein Werk so gedichtet hätte, wie beschrieben ist: nur der Mensch wäre übriggeblieben, der Mensch, der in Gil Blas übriggeblieben ist oder in Don Quixote.

Die Aufgabe, welche Thackeray und mit ihm die andern großen Dichter aus der Zeit nach unsern deutschen Klassikern nicht gesehen haben, hatten unsere Klassiker gesehen. Wenn nach diesem endgültigen Zusammenbruch durch Weltkrieg und Revolution eine neue Gesittung sich wieder bildet, dann wird sie die Mittel anwenden, welche unsere großen Dichter gebrauchten.

Oscar Wildes «Salome»

(1905)

«Herodes hatte Johannem gegriffen, gebunden und in das Gefängnis gelegt, von wegen der Herodias, seines Bruder Philippi Weib. Denn Johannes hatte zu ihm gesagt: Es ist nicht recht, daß du sie habest, Und er hätte ihn gerne getötet, fürchtete sich aber vor dem Volk; denn sie hielten ihn für einen Propheten. Da aber Herodes seinen Jahrestag beging, da tanzte die Tochter der Herodias vor ihnen. Das gefiel Herodi wohl. Darum verhieß er ihr mit einem Eide, er wollte ihr geben, was sie fordern würde. Und als sie zuvor von ihrer Mutter zugerichtet war, sprach sie: Gib mir her auf einer Schüssel das Haupt Johannis des Täufers. Und der König ward traurig; doch um des Eides willen und derer, die mit ihm zu Tische saßen, befahl er, es ihr zu geben. Und schickte hin und enthauptete Johannem im Gefängnis.»

So wird uns die Geschichte von dem Tode des Johannes im Evangelium Matthäi 14, 3–10 erzählt. Flaubert nahm hier den Stoff für seine Novelle «Herodias».

Flaubert hatte die Natur eines strengen und harten Künstlers, der sich seinen Aufbau logisch, klar und fest aus den gegebenen Voraussetzungen des Stoffes zimmert. Dieser Aufbau gibt ihm dann Gelegenheit zu seiner eigenen Art, wundervoll farbige Vorstellungen durch klangvolle Worte auszudrücken.

Mag ich an die Entwicklung des Motivs gehen als Dramatiker oder als Erzähler, so steht zunächst jedenfalls Folgendes fest:

Johannes ist als Prophet eine Macht, indem das Volk an ihm hängt. Durch seinen Tadel der Ehe des Herodes hat er diesen sowohl wie seine Gemahlin, die Herodias, an einer gefährlichen Stelle bedroht, so daß beide ihm todfeind werden müssen; die Feindschaft der beiden wird jedoch in Grenzen gehalten durch die Furcht vor seiner Macht im Volk. Die Herodias ist durch ihn mehr gefährdet wie Herodes, denn dieser kann schließlich vielleicht, wenn das aufgeregte Volk allzu sehr drängt, sie verstoßen und dadurch sich selbst retten, Herodias ist aber auf jeden Fall ein Opfer, wenn Johannes siegen würde. Außerdem kennt ein Mann mehr die politischen Gründe und handelt mehr nach Überlegung; Herodes wird also eine stärkere Furcht vor der Macht des Johannes haben wie Herodias, welche mehr unter dem Eindruck des Hasses über die empfangene Beleidigung stehen wird, die ja zudem auf sie schwerer fällt wie auf den Mann. Wie in der biblischen Erzählung angedeutet ist, wird also die Herodias das treibende Moment sein für die Ermordung des Täufers. Das Novellenmotiv liegt nun in der Art, wie sie den Herodes treibt: durch den Tanz ihrer Tochter und den hierdurch herausgelockten Schwur.

Das Novellenmotiv habe ich eben gesagt: denn offenbar ist hier kein Motiv für ein Drama vorhanden. Es handelt sich um ein auffälliges, höchst merkwürdiges Ereignis, das ein einziges Mal vorkam, daß eine Mutter ihre Tochter in solcher Weise für solchen Zweck verwendete: nicht um einen in die tiefsten Tiefen des Menschlichen hineinreichenden Kampf zwischen verschiedenen Menschen. Es sind zwar die großen Gegensätze der Welt vorhanden: ein buhlerisches Weib und ein asketischer Prophet; aber diese Gegensätze sind eben so groß, daß die beiden in gar keinen dramatischen Konflikt mehr kommen können: sie können sich nur vernichten, wenn sie aufeinanderstoßen, und dieses Aufeinanderstoßen und Einandervernichten wird dann immer den Charakter des Zufälligen tragen, wenngleich es notwendig ist: weil eben die Menschen nichts miteinander gemeinsam haben; es ist, wie wenn ein Mensch durch einen fallenden Ziegel erschlagen wird; er ging vorbei und der Ziegel fiel; sein Gehen hatte Ursachen und das Fallen, und wenn ein Ziegel einem Menschen auf das Haupt fällt, so stirbt er; aber es bestand keine vorherige Verbindung zwischen den beiden Kausalitätsreihen, erst der Tod des Menschen schafft die Verbindung. Deshalb nennen wir das Geschehnis einen Zufall. Geht eine derartige Zufälligkeit nun in so merkwürdiger Weise vor sich, wie in dem Fall der Ermordung des Johannes, so haben wir ein Novellenmotiv.

Das eigentlich Interessante ist bis jetzt also nur diese Art, wie Herodias den Herodes zum Mord bewegt. Sehen wir uns den Bericht der Bibel genau an, so werden wir finden, daß kaum eine Änderung, Vermehrung der Worte, Ausmalung irgendwelcher Art nötig ist. Wir erhalten einen so starken Eindruck von dem Vorkommnis, daß wir uns schwer vorstellen können, wie hier verbessert werden könnte.

Es ist da nur durch eine Vertiefung oder ein Herausholen von Latentem zu wirken; und zwar könnte man das bei Johannes oder Herodias versuchen. Flaubert wählte sich die Herodias, mit großer Klugheit, denn das psychologische Problem des Propheten ist wohl so verwickelt, daß die einfache Form der Novelle, wenn man innerhalb der Möglichkeiten der strengen Kunst bleiben will, nicht ausreicht. Bei Herodias war mit Leichtigkeit ein Zug ins Große zu schaffen. Sie ist eine Makkabäerin, Herodes ein Edomiter niedrigster Abkunft. Flaubert läßt sie den Traum eines großen Reiches haben; als Weib kann sie den nicht ausführen, sie hat einen Mann nötig; deshalb verließ sie ihren ersten Gatten und ging zu Herodes; aber auch in ihm täuschte sie sich, er war nicht der starke Mann, den sie in ihm gesehen hatte. Auf der andern Seite, Herodes war durch sie in den Krieg verwickelt, der nun schon zwölf Jahre währte; von ihr rührte all sein Unglück her.

Weiter ging Flaubert nicht im Konstruieren; er fügte nur noch Farbe hinzu, schuf eine dramatische Situation durch bevorstehende Gefahr eines Überfalles, Schwanken des Herodes, ob er sich mit den Parthern verbinden solle, erwünschten und gefürchteten Besuch des Vitellius. Das alles gibt Gelegenheit zu lyrischen Schilderungen von Landschaft, Menschen, Trachten, Gastmahl, Kerker, Vorratsräumen und anderem mehr. So schwer ist das Gewicht dieser Schilderungen, daß die Handlung sehr geschickt verteilt werden mußte, damit sie nicht durch sie erdrückt wird.

Nehmen wir nun an, ein Dramatiker macht sich über die Novelle Flauberts; er vergißt den alten biblischen Bericht und sieht nur noch die moderne Novelle: was findet er da für sich?

In Herodias eine tragische Heldin: das Weib von großem Sinn, gewaltigem Wollen, das durch die Grenzen ihres Geschlechtes gehemmt wird, sich über die hinwegsetzt und dann doch wieder an die Grenze stößt. Herodes, mit dem sie durch ein gemeinsames Verbrechen verbunden ist, kann so wenig ihre Absichten erfüllen wie sein Bruder; er sieht in ihr seinen bösen Dämon, sie in ihm den Schwächling, der ihre Pläne vernichtet hat; sie möchten beide voneinander, aber sie können nicht. Der Tod des Johannes und der Tanz der Salome kann in dieser Tragödie eine Episode sein: mehr nicht. Man denke an die Lady Macbeth und an die allzu äußerliche Zenobia Calderons, um zu sehen, welche außerordentlichen Möglichkeiten hier für einen nach Großem strebenden Dichter liegen.

Wilde, der Dichter der Salome, ist ein Mann ohne jedes Gefühl für die Form. Er ist der Typus des Ästheten, der so gern sich einreden möchte, er sei ein Künstler, und dem die urteilslose Menge der Kritiker so gern glaubt, er habe «Stil» und «Form». Aber genau wie bei dem schwächeren Hofmannsthal: sieht man näher zu, so erkennt man, daß «Stil» und «Form» hier nur Surrogate sind. Solche Dichter sind die geborenen Virtuosen des Einakters.

Der Einakter ist vom abendfüllenden Stück grundverschieden. Er ist nicht die Kondensierung eines Fünfakters in einen Akt; auch nicht ein fünfter Akt, in welchem die Voraussetzungen der vier vorhergehenden Akte in der Exposition gegeben werden: in seiner reinsten Form ist sein Inhalt ein merkwürdiges Ereignis, das in solcher Art dargestellt ist, daß es mit Beihilfe des Bühnenbildes, lyrischer Mittel, der Überraschung, allerhand an sich undramatischer Spannungen und Vorgänge, für eine halbe Stunde den Zuschauer fesselt. Sein Aufbau ist nicht grundlegend verschieden vom Aufbau der Novelle und grundlegend verschieden von dem des großen Dramas. Einige seiner Mittel sind ganz undramatisch, wie die Überraschung, andere spielen im großen Drama nur eine nebensächliche Rolle oder können ganz fehlen, wie die Lyrik und das, was man mit dem unbestimmten Wort Stimmung bezeichnet.

Sein Aufbau ist nicht grundlegend verschieden vom Aufbau der Novelle: aber er ist viel weniger schwierig; denn der Novellist kann nur durch die feste Fügung der Erzählung wirken; wer die «Herodias» Flauberts aufmerksam durchliest, wird eine Stilschwäche in dem Werk empfinden: Flaubert beherrscht nicht die Technik der Novelle, er gab in ihr zu viel Unwirksames, das nicht in den logischen Gang der Erzählung einmündet, sondern als Lyrisches und Stimmungsmäßiges den Leser aufhält. Man vergleiche, wegen einer gewissen entfernten Ähnlichkeit des Stoffes, die Novelle von Ghismonda beim Boccaccio (4, 1), um die vollendete Form zu sehen. Im Einakter wirkt der bei weitem größte Teil dieser Elemente; und so sehen wir Wildes Salome, trotzdem Wilde weder als Dichter noch als Künstler einem Mann wie Flaubert das Wasser reichen kann, doch in ihrer Art stärker wirkend wie die Novelle Flauberts.

Wilde hat auch in anderen Werken bewiesen, daß er nicht aufbauen kann und daß er dafür die feminin-komödiantische Fähigkeit besitzt, durch Surrogate diese Hauptschwäche zu verdecken, ja dem Zuschauer vorzutäuschen, er gebe ihm etwas Besonderes. Er ist imstand, uns ein Lustspiel abgenutztesten französischen Rezeptes zu bringen und durch sein geistreiches Drum und Dran – das man freilich auch nicht allzu genau ansehen darf, denn der Witz ist ziemlich schematisch, in neunundneunzig von hundert Fällen ist seine Geistreichigkeit nur eine umgekehrte Banalität, und die Geistesverwandtschaft mit dem großen Dichter Tupper Verfasser der ‹Proverbial Philosophy› (1838–1876), dessen Ideal die bürgerliche Rechtschaffenheit und die Religion der Zufriedenheit ist (Anm. des Herausgebers) verleugnet sich nie – es so aufzustutzen, daß man es für etwas Besonderes hält. In Salome kommt ihm diese Schwäche zugute.

Er denkt nicht daran, das tragische Element aufzunehmen, zu welchem Flaubert in seiner Weiterbildung des Motivs gekommen war und bei welchem das Salome-Motiv zur Episode geworden wäre, sondern er baut auf dem spezifischen Novellenmotiv, dem Salome-Motiv, auf.

In der Bibel und bei Flaubert ist Salome eine gleichgültige Nebenperson, ein Mittel in der Hand der Herodias. Will ich aus dem Motiv einen Einakter entwickeln, so muß ich ihn auf Salome aufbauen. Die Herodias würde zu schwer werden, einen zu großen Aufbau erfordern, und Herodes ist in diesem Konflikt zwar psychologisch interessant, aber das läßt sich nicht dramatisch zeigen, weil die Kämpfe gegen ihn in ihm vor sich gehen.

Salome ist von der Bibel wie von Flaubert als ein unbeschriebenes Blatt auf uns gekommen. Wir können mit ihr machen, was der Stoff erfordert.

Nach zwei Richtungen strahlte es von ihr aus: es muß ein Grund vorhanden sein, daß Herodes ihr das Versprechen für den Tanz gibt; das kann nur eine sinnliche Liebe des Herodes zu ihr von wahnsinniger Stärke sein; und sie muß einen Grund haben, das Haupt des Täufers zu fordern; da sind nun viele Möglichkeiten; kindliche Liebe zur Mutter: das konnte ein hysterischer Dichter wie Wilde sehr unterhaltend und überraschend gestalten; oder irgendein heroisches, patriotisches, ethisches, religiöses Motiv: das konnte im Verein mit dem Tanz eine hübsche Groteske werden für einen dekadenten Dichter; oder endlich verschmähte Liebe in Verbindung mit Hysterie: das hat Wilde gewählt; wenn man schon ein Dichter seiner Art ist, so ist das die am wenigsten dankbare, schwere und interessante Aufgabe. Damit ist denn das Ganze gegeben. Von Natur haben wir drei Teile: erster, die Entstehung der Liebe Salomes zu Johannes und sein Verschmähen; zweiter, ihr Tanz und die Faszinierung des Herodes; dritter, ihre Forderung, die Enthauptung und die Befriedigung ihres Liebesgenusses an dem Haupt des Toten.

Wie schon gesagt: Der Einakter kann nicht die Mittel des großen Dramas gebrauchen. Man frage sich: wie will man in den drei Teilen ein dramatisches Interesse erwecken? Im ersten: Salome und Johannes sprechen und empfinden aneinander vorbei, sie können in gar keinen Konflikt geraten, sie können jeder nur Monologe sprechen. Auch sprechen sie bei Wilde nur Monologe. Um sie interessant zu machen, haben sie ein lyrisches und hysterisches Parfüm erhalten, auch war die Verliebtheit des Syriers nötig, die sich gleichfalls nur in kaschierten Monologen äußern kann, um der Salome das Relief zu geben und den Zuschauer aufmerksam zu machen, was von ihr zu erwarten ist. Es folgt der zweite Teil, das Spiel zwischen Herodes und Salome. Hier hätte ein starker Dichter eine schöne Gelegenheit gehabt, indem er dem Herodes Größe gegeben hätte, ein starkes Gefühl seiner fürstlichen Pflicht und einen Kampf mit einer überwältigenden sinnlichen Leidenschaft; und der Kampf geht denn doch auch, weiß Gott! um etwas Großes, um das Haupt des Vorläufers Jesu. Auch hier wäre nur ein kaschierter Monolog möglich gewesen, denn des Herodes Gegenspielerin wäre doch nicht die unwürdige Salome, sondern seine eigene Leidenschaft; aber immerhin, eine ganz große Szene war möglich, welche das Stück beherrschte. Aber Wilde machte es sich leichter: wir sehen einen verblödeten Lüstling, in welchem nur Angst und Gier streiten; und das Interesse des Zuschauers erweckt daher allein Salome, nicht bloß durch das – jenseits des Dramatischen liegende – Mittel ihres Tanzes, sondern weil sie die ist, welche etwas will. Über den dritten Teil, welcher bloß Konsequenz ist, bleibt nichts weiter zu sagen.

Herodias kann bei alledem nur Nebenfigur sein, eine Nebenfigur, welche für die Handlung gar nicht nötig ist. Auch das starke Element der Bedrohung durch den Krieg, der Furcht vor den Römern und der Hoffnung auf sie, die Zuspitzung dieser politischen Interessen auf den augenblicklichen Moment, das Flaubert in seine Novelle hineingebracht hatte, muß verschwinden. Es bleibt nichts wie Salomes Liebe und Rache: eine hysterische Sinnlosigkeit.

Diese hysterische Sinnlosigkeit, dieses Nichts, ist aber mit dem äußersten Aufwand von Geschicklichkeit so zugerichtet, daß sie einen ganz bemerkenswerten Eindruck macht, einen Eindruck, den die meisten schwer von dem Eindruck einer großen Dichtung werden unterscheiden können. Es ist ein wahres Vergnügen, dem zuzuschauen, ein Vergnügen, wie man bei den Kunststücken eines Taschenspielers empfindet, auch wenn man alle seine Mittel kennt. Und für unsere Zeit wüßte ich nichts Angemesseneres wie dieses Werk: hier ist die wahre Kunst der gegenwärtigen Kulturmenschheit. Deshalb mag auch ein ernstes Gemüt sich an diesem Kunststück erfreuen: ein Kunststück ist das Werk, wie es raffinierter noch nie eine absterbende Kultur hervorgebracht hat – eine Anklage, wie sie schärfer nicht Juvenal und Tacitus geformt haben.

Vom Komischen

Zu einem Essay von Meredith (1898)

Meredith ist ein englischer Schriftsteller, welcher bei den jüngsten Franzosen in großem Ansehen steht. So erscheint augenblicklich beim «Mercure de France» die Übersetzung seines merkwürdigen Essays über die Komödie. Wer einmal versucht hat, etwas von Meredith zu lesen, wird diese Sympathie der Franzosen begreiflich finden, denn er nähert sich in ganz eigentümlicher Gestalt als Engländer französischer Art, was dem Deutschen vielleicht so erscheinen mag, daß er in nicht angenehmer Weise die Schwächen des englischen mit den Schwächen des französischen Dichters verbindet, was zur Folge hat, daß seine unleugbaren großen Qualitäten nicht recht aufkommen können. Von deutschen Lesern werden gewiß viele ein Buch von ihm seufzend aus der Hand legen mit dem Gefühl, daß George Meredith zwar ein offenbar sehr bedeutender Schriftsteller sei, daß man aber seine Bücher ganz unmöglich lesen könne, weil sie einem auch nichts von dem geben, was man sucht.

In dem Essay über die Komödie macht sich dieses eigenartige Wesen gleichfalls bemerkbar. Bei uns wird man die Engländer gerade in der komischen Literatur für stark halten und wird gar nicht daran denken, daß die Franzosen ihnen den Rang streitig machen könnten. Meredith jedoch erteilt die Palme an Menander und Molière und hat für seine Landsleute wenig übrig.

Noch weniger natürlich für uns Deutsche. Da es immerhin interessieren mag, uns in dem Spiegel eines sicher originellen und geistreichen Mannes zu sehen, so mögen seine diesbezüglichen Ausführungen folgen. Er schreibt:

«Die Länder, wo der komische Geist nebelhaft und dunkel ist, ergeben nur rohes Material. Der Reisende ist verblüfft, unter so vielen schönen und liebenswürdigen Dingen einer so merkwürdigen Barbarei zu begegnen. Ein Engländer machte in dem Lande der Gelehrsamkeit einem Professor einen Besuch, um ihm seine Bewunderung auszudrücken, und wurde von diesem einem andern berühmten Professor vorgestellt, dem er so gut gefiel, daß derselbe einen Nachmittagsspaziergang mit ihm machte. Der erste Professor, ein Gelehrter, welcher völlig die Hochachtung verdiente, welche den Besuch verursacht hatte, betrug sich wie eine eifersüchtige Spanierin. Nach einem kurzen Vorspiel unverständlicher Explosionen entlud er auf seinen untreuen Bewunderer folgende Blitze leidenschaftlicher Logik: ‹Entweder bin ich ein würdiger Gegenstand Ihrer Bewunderung, oder ich bin es nicht; entweder sind Sie kompetent, das zu beurteilen, dann halte ich mich für von Ihnen verurteilt; oder Sie sind inkompetent, dann sind Sie ein unverschämter Mensch und können nur recht schnell machen, daß Sie wieder nach Hause kommen.› Der unglückliche Bewunderer suchte den beleidigten Gelehrten zu überzeugen, daß man doch zwei Professoren gleichzeitig bewundern könne. Es gelang ihm nicht!

Das hätte überall passieren können, und eine Komödie «Der Pedant», welche unter der verstaubten Gelehrsamkeit das Allgemein-Menschliche zum Vorschein brächte, brauchte nichts Nationales zu haben. Aber ich bezweifle, daß sie in Deutschland geschrieben würde, denn ich finde, daß die Deutschen keinerlei komische oder satirische Erziehung erhalten haben für die seine und kluge Art, die Dinge von oben zu betrachten. Heinrich Heine war nicht genug, um sie einzuführen. Als Nation wie als Individuen laufen sie Gefahr, in der Erregung grotesk zu werden. Sie haben feine Kritiker; aber dieselben schlagen immer mit der Keule zu. Man muß sie in dieser Hinsicht mit dem durch La Bruyère, La Fontaine und Molière erzogenen Volk vergleichen; mit dem Volk, welches die Typen eines Trissotin und eines Vadius vor Augen hat als komische Garantie gegen die persönliche Eitelkeit des angebeteten Professors. Das ist mehr als Kastenunterschied, das ist Unterschied der Tradition, des Temperaments, des Stils, der von der Bildung kommt.

Die Deutschen sind Könige in der Musik; wir können sagen, Fürsten in der Poesie, ausgezeichnete spekulative Köpfe in der Philosophie und unsere Meister in der Gelehrsamkeit. Daß eine so begabte Rasse, die noch dazu den nüchternen Sinn hat, welcher die Bäche des Lachens sammelt, um mit ihnen die Brunnen zu nähren, hierin nichts leistet, achte ich als sehr lehrreich für uns, daß nämlich die Erziehung des komischen Sinns für seine Entfaltung nötig ist. Wir sehen, wie weit sie kommen können, an dieser mächtigen Gestalt moderner menschlicher Natur, an Goethe. Sie sind ein aufsteigendes Volk; sie sind sozial; und wenn ihre Männer, wie in Frankreich und gelegentlich in den Berliner Salons, auf gleichem Fuß mit ihren Frauen sprechen werden, so beschleunigt sich ihr Fortschritt und wird regelmäßiger. Die Komödie oder der komische Geist in allen seinen Formen wird alsdann bei ihnen eine Anzahl Figuren herausarbeiten, ihnen den Spiegel vorhalten und die soziale Intelligenz beleben.»

Da ist ja, wie man sieht, ziemlich viel von dem populären englischen Vorurteil der Engländer über uns; aber die Meinung von der nationalen Erziehung zum Verständnis der Komik hat doch recht viel Interessantes in sich, Nur freilich nicht in der Art, wie Meredith es sich denkt.

Mir scheint der Sinn für das Komische angeboren zu sein, nur seine Äußerung ist verschieden, je nach der Bildung der Betreffenden und, wenn man Nationen vergleicht, nach der Bildung der Nationen. Wenn man mit Meredith ein gewisses Ideal von Komik als das Höchste sich denkt, nämlich jene Komik, wo das rein Künstlerische durch ein Verstandesmäßiges ergänzt wird, so ist natürlich eine allgemeine Erziehung dazu notwendig, welche allen Sinn von dem den Personen sonst Besonderen ablenkt auf dieses Eine.

Denken wir an die bekannte Anekdote von dem Bauern, der in der Stadt zum erstenmal von Haus zu Hans geleitete Telegraphendrähte sieht und glaubt, daß die Drähte gezogen sind, um die Häuser festzuhalten, und darüber lacht. Der Mann hatte sicher Sinn für Komik, denn es fiel ihm sofort der Widerspruch auf, daß die schwachen Drähte die Häuser halten sollen; aber es fehlte ihm an Intelligenz, um auf den Gedanken zu kommen, daß die Städter vielleicht doch noch eine andere, ihm verborgene Absicht gehabt haben; er hielt sich mit seinen beschränkten Kenntnissen für zuständig, ohne weiteres solche Dinge zu verstehen, und so wird er sogar selber komisch. Erinnern wir uns, wenn wir zugegen waren, wo einmal eine alte Person im Winter auf der glatten Straße fiel und ein zusehender Mensch lachte. Auch dieser Mann hatte Sinn für Komik; er wußte, daß das Fallen eigentlich nur Kindern zukommt; aber es fehlte ihm das Mitgefühl, welches bei jedem anderen dieses komische Moment sofort seelisch unwirksam macht, und so wirkt er roh. Und denken wir endlich an Herrn George Meredith, der über seinen Professor lacht, indem er ihm gleichzeitig das Attribut gibt, daß er wirklich ein gelehrter und jeder Achtung würdiger Mann war. In diesem Lachen des Herrn Meredith finden wir nichts Komisches oder Verletzendes, sondern wir stimmen mit ein. Wir stehen mit ihm auf einer Stufe der Bildung von Charakter und Intelligenz; ebenso werden in das Lachen des Bauern und des andern Menschen alle die mit einstimmen, welche mit ihnen auf gleicher Stufe stehen, ohne daß sie die Komik und Roheit ihres Lachens bemerken.

Fragt sich: eine Intelligenz oder ein Charakter, welche Herrn Meredith oder uns überlegen wären, ob die nicht auch wohl an unserem Lachen etwas auszusetzen fänden?

Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nicht nur der bekannte eine Schritt; wir finden oft, daß, was der vorigen Generation erhaben schien, der jetzigen komisch vorkommt. Denken wir vielleicht an manches von Schiller. Und können wir uns nicht vorstellen, daß ein besonders empfindlicher Geist das als eine Roheit empfindet, was diese zweite Generation fühlt und ausdrückt?

Ich glaube, wenn man mit Meredith ein absolutes Ideal der Komik für die höchste Bildung aufstellt, daß man damit genau denselben Fehler begeht, den man sich mit der Aufstellung eines absoluten Ideals auch in jeder anderen Sache zu Schulden kommen läßt. Für jeden ist etwas Besonderes komisch, was gerade seinem Wesen entspricht. Menander ist gegenüber Aristophanes ein Bildungsdichter gegenüber einem unmittelbaren. Wer Bildung und Geschmack in der Kunst sehr hoch achtet, wie alle Romanen, wird natürlich Menander höher stellen als Aristophanes; wir selbst haben ja augenblicklich in Deutschland eine derartige Richtung, die sich um Stefan George scharende Gruppe. Gerade in der komischen Kunst zeigt sich hier die Tradition alter Kultur. Diese Leute haben von ihrem Standpunkt aus ganz recht, wenn sie, wie Meredith den englischen Humor gegenüber Molière, das Gegnerische als roh und plump betrachten.

Indessen hat die Medaille auch noch eine andere Seite. Wir, die wir nicht die Kinder alter Kultur sind, finden diese Bildungs- und Geschmacksrichtung blaß, abstrakt, und werden durch sie nicht so stark getroffen, wie wir von der Kunst getroffen werden wollen. Die anderen erhalten auch keine starken Affekte, aber sie wollen solche auch gar nicht. Wir jedoch stehen da dem Naturmenschen noch näher.

Und nun kann man, je nachdem, das eine betrachten als kräftige Natürlichkeit oder rohe Barbarei, und das andere als Verfeinerung oder Dekadenz. Je nachdem ein Volk schon viel hinter sich oder noch viel vor sich hat, wird es sich zum einen oder anderen hinneigen; wer aber «objektiv» recht hat in diesem Widerstreit und wem daher der Kritiker die Krone als dem Vertreter der wahren Komik geben darf, das kann niemand entscheiden. Man weiß nichts, als daß Menander auf Aristophanes folgt; aber die Aufeinanderfolge berechtigt uns zu keinerlei Vorurteil.

Bei den modernen Nationen werden diese historischen Entwicklungen des einen aus dem anderen dadurch gestört, daß eine jede Nation nicht nur ihrer eigenen Entwicklungslinie folgt, sondern daß sich die Nationen von verschiedener Kulturhöhe und verschiedener Tradition gegenseitig beeinflussen. Vor allem findet regelmäßig ein Einfluß der älteren Kultur auf die jüngere statt und bewirkt hier in der Kunst, daß das eigentlich der Nation Entsprechende vernachlässigt wird, weil es im Licht der aufgenommenen höheren Kultur als barbarisch und geschmacklos erscheint; und da das andere, dem Volk der höheren Kultur Entsprechende, in ihm nicht ursprünglich entstehen kann, sondern nur in der Form der Nachahmung herübergenommen werden muß, so entsteht etwas in keinem Sinn Rechtes. In unserer eigenen Kunstentwicklung können wir deutlich das Verderbliche dieses Umstandes sehen, daß wir in Frankreich stets einen Nachbar mit älterer Kultur hatten. Zweimal sind die französischen Anregungen fruchtbar gewesen: in der ritterlichen und höfischen Dichtung und in der gotischen Architektur. Die Ursache war, daß beide Male der fremde Einfluß auf eine fest umschriebene, kleine, unter künstlichen Bedingungen lebende Klasse traf, die sich von den nationalen Traditionen bis zu einem gewissen Grade loslösen konnte, um die fremden Dinge ganz energisch in sich aufzunehmen. Überall sonst da, wo der französische Einfluß, um Lebendiges zu schaffen, im ganzen Volk hätte lebendig sein müssen, haben wir nur Schaden gehabt: Unser Einheimisches wurde zerrüttet und das Fremde war wertlos.

Es ist gewiß kein Zufall, daß die große Blüte der russischen Literatur, welche sicher das wichtigste Ergebnis der Gegenwart in künstlerischer Hinsicht ist, hervorging aus einer geradezu fanatischen Hochschätzung des eigenen Volkstums und der eigenen Tradition und einer unerhörten Verachtung alles Fremden. Daran sollten wir lernen. Wir sollten nicht auf solche Rattenfänger hören, welche im Sinn von Meredith uns heute, wo wir die ersten, wenn auch wirklich bescheidenen Anfänge nationaler Dichtung wieder haben, von deren «Roheit» und «Plumpheit» hinweglocken wollen. Wenn wir ehrlich das aus uns herausbringen, was wirklich in uns ist, unbekümmert um das Geschrei der Ästheten, dann werden wir auf jeden Fall doch wenigstens etwas schaffen. Wie das später bewertet wird, das ist ja nicht unsere Sache. Wer unsere alte Kunst kennt, weiß, daß die Deutschen immer viel komischen Sinn gehabt haben. Da ihre Bildung barbarisch war, äußerte sich derselbe stets in grober Weise. Diese Weise entsprach aber durchaus den gesellschaftlichen Sitten. Die äußerliche Verfeinerung hat dann schnell um sich gegriffen unter der Nachahmung des Fremden, aber unser Innerstes entsprach dieser Verfeinerung durchaus nicht. Darüber ist uns die sogenannte niedere Komik verlorengegangen, und da von allem, was man nachahmen möchte, die Komik das Unnachahmlichste ist, haben wir an ihre Stelle gar nichts bekommen, so daß ein Meredith behaupten kann, uns fehle sie überhaupt. Die Engländer, die sich überhaupt viel nationaler, viel freier von äußerem Einfluß entwickelt haben, konnten das herausbringen, was sie in sich hatten, und besitzen eine reiche komische Literatur.

Die Kunst muß national sein, wenn sie das höchst Erreichbare erlangen will; vor allem aber muß das die komische Kunst.


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