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3.

Am folgenden Tage, den 18. December, erwachte ich gegen sechs Uhr morgens. Es war schrecklich kalt. Mein kleines Fenster war gleichsam mit einem Eistuche bedeckt.

Schon am Tage vorher hatte ich meinen himmelblauen Frack, meine Hose, meine halbwollene Weste, ein reines Hemd und meine schöne schwarzseidene Halsbinde sorgfältig über eine Stuhllehne gebreitet. Alles lag bereit, meine Strümpfe und die wohlgewichsten Stiefel lagen am Fußende des Betts, ich brauchte mich nur anzukleiden, trotzdem aber verursachte mir die Kälte, die ich im Gesichte spürte, der Anblick der Fensterscheiben und die tiefe Stille draußen im Voraus einen Frostschauer. Wäre nicht Katherinens Geburtstag gewesen, ich würde bis Mittag im Bett geblieben sein. Doch dieser Gedanke veranlaßte mich, plötzlich aus dem Bett zu springen und eiligst nach dem großen Kachelofen zu laufen, denn fast immer pflegten einige Kohlen vom Abend vorher in der Asche glühend zu bleiben. Ich fand auch diesmal zwei oder drei, schob sie eiligst zusammen, legte klein gehackte Späne und zwei dicke Scheite darauf und verkroch mich dann schnell wieder in mein Bett.

Herr Goulden hinter seinen großen Bettvorhängen hatte die Decke bis zur Nase herauf und die baumwollene Nachtmütze bis über die Augen heruntergezogen. Er war eben erwacht, hörte mich und rief mir zu:

»Joseph, seit vierzig Jahren haben wir keine solche Kälte gehabt ... ich spüre das ... Was für ein Winter wird das werden!«

Ich antwortete nicht, sondern beobachtete von Weitem, ob das Feuer in Gang komme: die Kohlen brannten gut, man hörte den Ofen ziehen und mit einem Schlage entzündete sich Alles. Das Knistern der Flamme that uns wohl, aber es dauerte länger als eine gute halbe Stunde, ehe wir ein wenig warme Luft verspürten.

Endlich stand ich auf und kleidete mich an. Herr Goulden sprach immerfort, ich meinerseits dachte nur an Katherine. Gegen acht Uhr war ich fertig und wollte eben gehen, als Herr Goulden, der mich hin und her laufen sah, mir zurief:

»Joseph, was denkst du denn, Unglücklicher! Willst du etwa in dem dünnen Rocke nach Vier-Winden gehen? Du würdest ja unterwegs erfrieren. Geh in mein Zimmer und zieh den großen Mantel, die Fausthandschuh und die mit Flanell gefütterten Stiefel mit den Doppelsohlen an.«

Ich fand mich in meinem Anzüge so schön, daß ich überlegte, ob ich seinem Rathe folgen sollte. Er bemerkte es und sagte:

»Höre, gestern hat man auf der Straße nach Weschheim zu einen Menschen erfroren gefunden. Der Doctor Steinbrenner sagte, er klinge wie ein Stück trocken Holz, wenn man ihn anstieße. Es war ein Soldat. Zwischen sechs und sieben Uhr hatte er das Dorf verlassen, um acht Uhr hat man ihn aufgefunden – es geht also schnell. Wenn du dir Nase und Ohren erfrieren willst, brauchst du nur fortzugehen, wie du da bist.«

Ich sah nun ein, daß er Recht hatte, zog seine großen Stiefeln an, schlang das Band, an welchem die Fausthandschuh hingen, um die Schultern und warf den Mantel über. So ausstaffirt ging ich fort, nachdem ich mich bei Herrn Goulden bedankt hatte, der noch warnte, ich solle nicht allzu spät zurückkehren, da die Kälte nachts größer werde und eine große Menge Wölfe auf dem Eise über den Rhein gekommen sein sollten.

Ich befand mich noch nicht an der Kirche, als ich schon den Fuchspelzkragen am Mantel emporgeschlagen hatte, um meine Ohren zu schützen. Die Kälte war so streng, daß man sie wie Nadeln in der Luft spürte und unwillkürlich in sich zusammenkroch.

Unter dem Deutschen Thore sah ich den Wachtposten in seinem weiten, grauen Mantel wie einen Heiligen in seiner Nische stehen. Er drückte das Gewehr mit dem Rockärmel an sich, um nicht am Eisen die Finger zu erfrieren; an seinem Schnurrbart hingen zwei Eiszapfen. Auf der Brücke und vor dem städtischen Zollhause war Niemand. Ein wenig weiter, außerhalb des Bereichs der Vorwache, sah ich drei Wagen mit ihren großen, korbartig umschnürten Zeltdächern mitten auf der Straße stehen, sie waren weiß von Reif. Man hatte die Pferde abgespannt und sie stehen lassen. In der Ferne schien Alles todt. Alles Lebendige verkroch sich und hockte in irgend einem Zufluchtsort. Man hörte nur das Eis unter den Füßen knirschen.

Als ich am Kirchhof vorüberging, dessen Kreuze und Gräber aus dein Schnee hervorschimmerten, sagte ich zu mir selbst: »Wer da unten schläft, den friert nicht mehr!« Dann wickelte ich mich fester in den Mantel, verbarg die Nase in dem Pelzkragen und dankte dabei Herrn Goulden für den guten Gedanken, den er da gehabt hatte. Ich steckte auch die Hände bis an den Ellbogen in die Handschuh und lief so in dem großen, unabsehbaren Graben hin, den die Soldaten bis nach Vier-Winden ausgeschaufelt hatten. Es waren wirkliche Eismauern. An einigen Stellen, wo der Wind den Schnee weggefegt hatte, erblickte man die Tiefe von Fouquets Graben, das sogenannte Eichenholz und das bläuliche Gebirge: die Reinheit der Luft schien Alles näher gerückt zu haben. In den Pächtereien war das Gebell der Hunde verstummt – auch für sie war es zu kalt.

Mir aber hauchte der Gedanke an Katherine belebende Wärme ins Herz, und bald erblickte ich die ersten Häuser von Vier-Winden. Die Schornsteine und Strohdächer zur Rechten und Linken der Straße ragten kaum über die Schneewälle empor, und längs der Mauer hatten die Leute, um zu einander gelangen zu können, bis zum Ende des Dorfes hin einen Laufgraben ausgeschaufelt. An jenem Tage aber hielt sich jede Familie um den eigenen Herd, und infolge des flackernden Feuers drinnen schienen die kleinen, runden Fensterscheiben wie mit rothen Tüpfelchen besäet. Vor jeder Thür lag ein Strohbündel, damit nicht die Kälte von unten hereindringe.

An der fünften Thür zur Rechten stand ich still, um meine Handschuh auszuziehen. Dann öffnete ich die Thür und schloß sie eiligst wieder. Es war das Haus der Wittwe Mathias Bauers, meiner Tante Gredel Bauer, der Mutter Katherinens.

Als ich zähneklappernd in die Küche trat und Tante Gredel, die vor dem Herde saß, ganz erstaunt über meinen großen Pelzkragen den grauhaarigen Kopf umwandte, rief Katherine, die ganz sonntäglich mit einem gestreiften Rocke, einem kreuzweis um den Busen geschlungenen Tuche mit langen Fransen und einer rothen Schürze bekleidet war; deren Band ihre zierliche Taille einschloß, während eine niedliche, blauseidene Haube mit schwarzen Sammtbändern ihr helles, rosiges Gesicht umrahmte – Katherine also mit ihren sanften Augen und der kleinen Stumpfnase rief:

»Es ist Joseph!«

Und ohne langes Besinnen lief sie auf mich zu, umarmte mich und sagte:

»Ich wußte wohl, daß die Kälte dich nicht am Kommen hindern würde.«

Ich meinerseits war so glücklich, daß ich nicht reden konnte. Ich zog den Mantel aus und hing ihn mit den Handschuhen an die Wand. Auch Herrn Gouldens dicke Stiefel legte ich ab – ich fühlte, daß ich ganz blaß war vor innerer Wonne.

Ich hätte etwas Angenehmes und Zierliches reden mögen, da mir aber nichts einfiel, sagte ich plötzlich: »Hier, Katherine, da hast du etwas zu deinem Geburtstage. Aber ehe du die Schachtel aufmachst, mußt du mich erst noch einmal küssen.«

Sie hielt mir ihre schönen, rothen Backen hin, und dann trat sie an den Tisch. Tante Gredel kam auch herbei, um zu sehen. Katherine knüpfte das Band auf und öffnete. Ich stand hinter ihnen und hatte Herzklopfen: ich fürchtete in diesem Augenblicke, die Uhr wäre nicht schön genug. Aber nach kaum einer Minute faltete Katherine die Hände und hauchte ganz leise:

»O mein Gott! wie schön das ist! ... Es ist eine Uhr.«

»Ja,« sagte Tante Gredel, »sie ist wunderbar schön ... ich habe noch nie eine so schöne Uhr gesehen ... Man sollte meinen, sie wäre von Silber.«

»Aber sie ist ja von Silber,« entgegnete Katherine, indem sie sich umdrehte und mich fragend ansah.

Und nun sagte ich:

»Glauben Sie denn, Tante Gredel, ich wäre im Stande, der, die ich mehr als mein Leben liebe, eine Uhr von versilbertem Kupfer zu schenken? Wenn ich dazu fähig wäre, würde ich mich mehr verachten, als den Schmutz an meinen Stiefeln.«

Als Katherine mich so sprechen hörte, schlang sie ihre beiden Arme um meinen Hals, und als wir so dastanden, dachte ich: »Das ist der schönste Tag deines Lebens!«

Ich konnte sie nicht mehr loslassen. Tante Gredel fragte:

»Was ist denn da auf das Glas gemalt?«

Aber ich war nicht mehr im Stande, Antwort zu geben, und erst als wir uns neben einander niedergesetzt hatten, nahm ich die Uhr in die Hand und sagte:

»Dies Bild, Tante Gredel, stellt zwei Verliebte vor, die sich unaussprechlich gut sind: Joseph Bertha und Katherine Bauer. Joseph überreicht seiner Geliebten einen Rosenstrauß, und sie streckt die Hand aus, um ihn in Empfang zu nehmen.« Als Tante Gredel die Uhr genug besehen hatte, sagte sie:

»Komm, Joseph, und laß dich auch von mir umarmen. Ich sehe wohl, daß du tüchtig hast sparen und arbeiten müssen, um diese Uhr zu erlangen, und meine, daß das sehr schön von dir ist, und daß du ein tüchtiger Arbeiter bist und uns Ehre machst.«

In der Freude meines Herzens umarmte ich sie und ließ dann bis Mittag die Hand Katherinens nicht mehr los: wir waren glücklich, indem wir uns ansahen.

Tante Gredel hantirte inzwischen am Herde herum, um einen Pfannkuchen mit gedörrten Pflaumen, in Zimmtwein getunkte »Küchle« und andere rare Sachen zu bereiten. Wir aber achteten nicht darauf, und erst als die Tante, nachdem sie ihren rothen Hausrock und ihre schwarzen Pantoffeln angezogen hatte, ganz vergnügt ausrief: »Nun zu Tische, Kinder!« erblickten wir das schöne Tischtuch, die große Suppenschüssel, den Weinkrug und den runden, goldgelben Pfannkuchen auf einer breiten Assiette mitten auf dem Tische. Dieser Anblick ergötzte uns, und Katherine sagte:

»Setz dich dem Fenster gegenüber, Joseph, damit ich dich gut sehen kann. Erst mußt du mir aber die Uhr anlegen, denn ich weiß nicht, wo ich sie hinthun soll.«

Ich schlang die Kette um ihren Hals, und dann begannen wir, nachdem wir uns gesetzt hatten, mit gutem Appetite zu essen. Draußen vernahm man keinen Laut. Nur das Feuer knisterte auf dem Herde. Es war recht behaglich in der Küche; und die graue, etwas scheue Katze betrachtete uns von Weitem durch das Treppengeländer hinten, ohne daß sie herabzukommen wagte.

Nach dem Essen sang Katherine das Lied: »Der liebe Gott im Himmel droben.« Sie hatte eine klare, weiche Stimme, die bis zum Himmel aufzuklingen schien. Ich sang ganz leise mit, nur um sie zu begleiten. Tante Gredel, die nie, selbst Sonntags nicht, unthätig bleiben konnte, hatte sich aus Spinnrad gesetzt. Das Schnurren des Rades füllte die Pausen aus – uns wurde ganz weich dabei zu Muthe. Wenn ein Lied zu Ende war, fingen wir ein anderes an. Um drei Uhr trug die Tante die »Zimmtküchle« auf, wir aßen zusammen und lachten dabei so glücklich und übermüthig, daß die Tante bisweilen ausrief:

»Hört doch einmal auf! Man muß ja meinen, ihr wäret wahre Kinder.«

Sie steckte dabei eine ärgerliche Miene auf, aber an ihren zusammengekniffenen Augen sah man wohl, daß sie innerlich von Herzen mitlachte. Das dauerte bis vier Uhr Nachmittags. Dann begann die Nacht hereinzubrechen; durch die kleinen Fenster schlüpften dunkle Schatten in die Küche, wir dachten an das nahe Scheiden und setzten uns traurig neben den Herd, auf welchem die Flamme hin und her tanzte. Katherine drückte mir die Hand, und ich ließ den Kopf hängen: mein Leben hätte ich drum gegeben, hätte ich bleiben können. So saßen wir eine gute halbe Stunde, bis Tante Gredel sagte:

»Höre, Joseph ... es wird Zeit, daß du gehst. Der Mond geht nicht vor Mitternacht auf, es wird draußen bald dunkel werden wie in einem Backofen, und bei der großen Kälte ist ein Unglück bald geschehen« ...

Diese Worte trafen mich wie ein Donnerschlag. Ich fühlte, daß Katherine mich bei der Hand zurückhielt. Tante Gredel aber hatte mehr Verstand als wir.

»Genug für heute,« sagte sie, indem sie aufstand und den Mantel von der Wand nahm. »Am Sonntag wirst du wiederkommen.«

Wohl oder übel mußte ich die dicken Stiefel, die Handschuh und den Mantel Herrn Gouldens wieder anziehen.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte das hundert Jahre gedauert, unglücklicherweise aber half die Tante mir dabei. Und als ich endlich den großen Kragen über die Ohren gezogen hatte, sagte sie:

»Umarmen wir uns, Joseph.« Ich umarmte zuerst sie, dann Katherine, die kein Wort mehr sprach. Alsdann öffnete ich die Thür, und die fürchterliche Kälte, die nun plötzlich hereindrang, zeigte mir, daß ich nicht mehr zögern durfte.

»Beeile dich,« sagte die Tante.

»Gute Nacht, Joseph, gute Nacht!« ... rief Katherine. »Vergiß nicht, am Sonntag zu kommen.«

Ich wandte mich um, um ihr noch einen Gruß zuzuwinken, und begann dann zu laufen, ohne den Kopf aufzuheben, denn die Kälte war so stark, daß mir hinter dem dicken Pelzkragen die Augen thränten.

So lief ich zwanzig Minuten lang, indem ich kaum Athem zu holen wagte, als eine heisere Stimme, die Stimme eines Trunkenbolds, mir von Weitem entgegenrief: »Wer da?«

Ich schaute auf und erblickte im abendlichen Halbdunkel, kaum fünfzig Schritte vor mir, den Hausirer Pinacle mit seinem großen Tragkorbe, seiner Otterfellmütze, seinen wollenen Handschuhen und dem eisenbeschlagenen Stocke. Die am Tragbande des Korbes hängende Blendlaterne beleuchtete sein vom Prunke aufgedunsenes Gesicht, das mit gelblichen Borsten bedeckte Kinn und die dicke Nase, die die Form eines Löschhorns hatte. Er sperrte seine kleinen Augen auf wie ein Wolf und wiederholte: »Wer da?«

Dieser Pinacle war der größte Halunke im Lande. Im Jahre zuvor hatte er sogar eine böse Geschichte mit Herrn Goulden gehabt, der den Preis für eine Uhr von ihm verlangte, die Pinacle dem Pfarrer in Hommert, Herrn Anstett, zuzustellen übernommen und für die er das Geld in die Tasche gesteckt hatte, indem er behauptete, er habe es an mich abgeliefert. Doch Herr Goulden wußte das Gegentheil, obgleich der Spitzbube vor dem Friedensrichter einen Schwur darauf abgelegt hatte, denn an dem gedachten Tage hatten weder er noch ich das Haus verlassen. Dazu kam noch, daß Katherine, als Pinacle auf der Kirchweih in Vier-Winden mit ihr tanzen wollte, ihm den Tanz abgeschlagen hatte, weil sie die Geschichte mit der Uhr kannte und zudem immer an meiner Seite blieb.

Der boshafte Schurke hatte deswegen einen Haß auf mich, und ihn so plötzlich mitten auf der Straße, fern von der Stadt und von jeder Hilfe mit seinem eisenbeschlagenen Eschenstocke vor mir zu sehen, war daher ein wenig erbaulicher Anblick für mich. Glücklicherweise hatte ich den kleinen Fußsteig, der um den Kirchhof herumläuft, zu meiner Linken und ohne daher zu antworten, eilte ich auf demselben fort, obgleich der Schnee mir beinahe bis an die Hüften reichte.

Nun aber errieth er, daß ich es wäre, und schrie wüthend:

»Aha! das ist der kleine Lahme ... Halt! Halt! ... ich muß dir doch Gutenabend sagen. Du kommst ja von Katherine, Uhrendiebl«

Ich sprang wie ein Hase über die Schneehaufen. Anfangs versuchte er, mir zu folgen, aber der Tragkorb behinderte ihn. Als er daher sah, daß ich immer mehr Vorsprung gewann, legte er beide Hände an den Mund und rief:

»Das bleibt sich gleich, Lahmer ... ganz gleich! ... Du wirst nichtsdestoweniger dein Theil kriegen: die Aushebung kommt ... die große Aushebung der Blinden, der Lahmen und der Buckligen! ... du wirst mit ausmarschiren und da unten verrecken mit allen Andern!« ...

Dabei setzte er seinen Weg fort und lachte wie ein Trunkener, was er denn auch in Wirklichkeit war, während ich, obgleich ich kaum noch im Stande war, Athem zu holen, am Saume des Glacis wieder auf die Landstraße zurückkehrte und Gott dankte, daß ich den kleinen Fußsteig so ganz in meiner Nähe gehabt hatte. Denn dieser Pinacle, der dafür bekannt war, daß er bei jeder Schlägerei, in die er verwickelt war, das Messer zog, hätte mir einen bösen Schlag oder Stich versetzen können. Trotz der heftigen Bewegung, die ich mir da eben gemacht hatte, waren mir doch die Zehen in den gefütterten Stiefeln erstarrt, und ich begann daher von Neuem zu laufen.

In jener Nacht gefror das Wasser in den Brunnen und der Wein in den Kellern, was seit sechzig Jahren nicht vorgekommen war.

Die Stille an der Vorwache, auf der ersten Brücke und unter dem Deutschen Thore erschien mir noch größer als am Morgen: die Nacht verlieh ihr etwas schauerliches. Zwischen den großen, weißen Wolken, die über die Stadt hinzogen, blitzten nur hier und da einige Sterne auf. Ich begegnete keiner Seele auf der Straße, und als ich in unsern Hausflur gelangte, kam es mir, nachdem ich die Thür geschlossen hatte, ordentlich warm darin vor; dennoch war der kleine Rinnstein auf dem Hofe, der an der Wand entlang lief, mit Eis bedeckt. Ich stand einen Augenblick still, um Athem zu schöpfen, und stieg dann im Dunkeln, die Hand auf das Geländer stützend, die Treppe hinauf.

Als ich mein Zimmer öffnete, that die hervorströmende Ofenwärme mir ordentlich wohl. Herr Goulden saß mit der schwarzseidenen Mütze auf dem Kopfe und die Hände auf die Kniee stützend im Lehnstuhl vor dem Feuer.

»Bist du's, Joseph?« fragte er, ohne sich umzudrehen.

»Ja, Herr Goulden,« erwiderte ich. »Hier ist's gut. Welche Kälte draußen! Einen solchen Winter haben wir noch nie gehabt.«

»Nein,« entgegnete er in ernstem Tone, »gewiß nicht. Es ist ein Winter, an den man noch lange denken wird.«

Ich ging darauf in das Kabinett, um den Mantel, die Handschuh und die Stiefel wieder an Ort und Stelle zu bringen.

Eben wollte ich ihm dann mein Zusammentreffen mit Pinacle berichten, als er mich bei meinem Wiedereintreten in die Stube fragte: »Du hast dich gut amüsirt, Joseph?«

»O ja! Tante Gredel und Katherine haben mir viele Grüße für Sie aufgetragen.«

»Ei, um so besser! um so besser!« sagte er. »Die Jugend thut recht, wenn sie sich amüsirt; denn wenn man alt wird, ist einem Alles im Voraus vergällt, weil man zuviel gelitten, zuviel Unrecht, Unglück und Selbstsucht gesehen, hat.«

Er sprach das zu sich selbst, indem er in die Flamme starrte. Ich hatte ihn noch nie so traurig gesehen und fragte daher:

»O ja! Tante Gredel und Katherine haben mir viele Grüße für Sie aufgetragen.«

»Sind Sie krank, Herr Goulden?«

Er aber, ohne mir zu antworten, murmelte vor sich hin:

»Ja, ja, das sind die großen kriegerischen Nationen ... das ist der Ruhm!«

Er hatte sich ganz träumerisch zusammengekrümmt, die dicken, grauen Augenbrauen fest zusammengezogen und schüttelte den Kopf.

Ich wußte nicht, was ich von alledem denken sollte, als er sich plötzlich aufrichtete und sagte:

»Joseph, in diesem Augenblicke gibt es viermalhunderttausend weinende Familien in Frankreich: unsere große Armee ist auf den Eisfeldern Rußlands zu Grunde gegangen. All die jungen, kräftigen Männer, die wir während zweier Monate haben vorüberziehen sehen, liegen unter dem Schnee begraben. Heute Nachmittag ist die Nachricht angekommen. Es ist entsetzlich, wenn man daran denkt – entsetzlich!«

Ich schwieg. Mir wurde klar, daß bald, wie nach allen Feldzügen, eine neue Aushebung stattfinden würde, und daß diesmal wol auch die Lahmen genommen werden könnten. Dieser Gedanke trieb mir alles Blut nach dem Herzen, so daß ich ganz blaß wurde, und bei der Erinnerung an Pinacle's Weissagung stiegen mir die Haare zu Berge.

»Geh, Joseph,« sagte Vater Goulden, »und leg' dich ruhig zu Bett. Ich meinestheils kann nicht schlafen, ich will aufbleiben ... die Geschichte bringt mich außer Fassung. Du hast nichts in der Stadt bemerkt?«

»Nein, Herr Goulden.«

Ich ging in mein Zimmer und legte mich zu Bett. Lauge Zeit konnte ich kein Auge schließen: ich dachte an die Aushebung, an Katherine, an all die Tausende unter dem Schnee begrabener Männer und sagte mir dabei, daß ich gut thun würde, wenn ich nach der Schweiz flüchte.

Gegen drei Uhr hörte ich Herrn Goulden zu Bett gehen. Einige Minuten später schlief ich im Vertrauen auf Gottes Gnade ein.


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