Ottomar Enking
Familie P. C. Behm
Ottomar Enking

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Erstes Buch.

Klunnre, klunnre, klunnre sagte die Turmuhr auf Sankt Anschar, und es dauerte jedesmal lange, bis sie mit ihrem Schlage zustande kam, so lange, daß Frau Bolette Behm, die in ihrem kleinen Laden hinter der Theke zwischen Strickwolle und Bandwerk saß, das Ende nicht abwartete, sondern nach der alten Standuhr blickte, die auf dem Bort über der Ladenthür inmitten eines Packs roter Taschentücher und einer Schachtel aus weißer Glanzpappe ihr Pendel schwang. Und als Sankt Anschar zum sechsten Male aushob, fegte die Hausuhr mit einem schnellen, neunmaligen Schettschettschett dazwischen und war schon fertig, ehe vom Sankt Anschar das siebente Klunnre verzitterte. Es war also Zeit den Laden zu schließen. Frau Bolette Behm hörte auf zu stricken, verhängte das schmale Ladenfenster und blies die Hängelampe von unten aus. Dann tastete sie sich aus dem Laden, den sie abschloß. Draußen im Flur hing eine Lampe mit blankem Rückenschirm. Der Schein fiel grell in Frau Behms Augen, sodaß sie sich 4 mit tiefgekrausten Brauen abwendete. Bei der raschen Bewegung rutschte ihr aber die Brille von der Nase, und sie erschrak, als sie das Glas auf die Ziegelsteindiele aufklappen hörte. Geschwind nahm sie es auf und hielt es besorgt gegen das Licht. Ihre Falten wurden flacher, denn sie sah es unversehrt. Mit der Brille in der Hand ging sie die steile Treppe zum ersten Stock hinauf. Oben neben dem Geländerpfosten lag eine graue Katze hingekauert und glühte Frau Behm mit erwartungsvollen Augen an. – »Na ja, Mies, na ja, so sollst du strax haben,« sagte die Frau und streichelte das Tier, das einen hohen Rücken machte und den Schwanz wie eine hungrige Schlange spielen ließ.

Frau Behm trat ins Wohnzimmer und fragte. »Hast du die Kartoffeln warm gestellt, Anna?« – »Ach, Mutter, da hab' ich gar nicht dran gedacht,« rief das junge Mädchen, das hinter dem Sofatisch saß und eifrig häkelte. »Ich wollte gern erst die Decke fertig haben.« – »Die alte Häkelei,« warf Frau Behm tadelnd hin, »da verdirbst du dir bloß die Augen mit. Und wenn Bernhard kommt, und da ist kein Tisch gedeckt und nichts, so haben wir Ärger. Nu man rasch (sie sprach beinahe »rask«). Bernhard mag es garnicht, wenn wir abends sitzen und machen Handarbeit. Das macht ihn nervjös.« – »Na,« meinte Anna, indem sie ihr Häkelzeug zusammenpackte, »wenn ihn man sonst nichts nervös macht. Vorige Nacht kam er wieder erst um zwei.«

5 »Ja, Gott, junge Leute! Und das sind sehr feine Herren, wo er verkehrt mit. Dja, wenn einer ist bei die Post, so soll er wohl in feine Kreise kommen. Er trägt doch Uniform, als wär' er ein Officeer. Nu mach', nu mach',« drängte Frau Behm.

Das junge Mädchen ging hinaus. Gleich darauf hörte man in der Küche Teller, Messer und Gabeln klappern, und der Duft von gebratenen Kartoffeln drang in die Stube. Frau Behm nahm währenddessen die rote Wolldecke vom Tisch, auf dem nun ein blau und weiß gewürfeltes Wachstuch zum Vorschein kam, und holte Salzfaß, Butterdose und Rahmtopf von der Kommode. Darauf begab sie sich auch in die Küche.

Mies war allein im Zimmer. Erst sah sie mißtrauisch nach der Thür, dann war sie mit leichtem Satz auf dem Stuhl und stemmte die Vorderpfoten auf den Tischrand, mit gierig ausgestrecktem Halse nach dem Rahm schnobernd. Die rote Zunge leckte den Bart, und mehrmals krümmte sich der Hinterkörper des Tieres, das im Begriff war, vollends hinauf zu springen, um von dem fetten, weißgelben Milchseim zu lecken. Aber es war doch eine Scheu in der Katze welche die Gier überwog. Schritte auf Hausschuhen wurden hörbar, und lautlos verschwand Mies unter dem Sofa. – »Kleine Mies, wo bist du?« rief Frau Behm. – Die Katze kroch wieder hervor, wand sich und that freundlich. – »Na, da bist du ja, alter Spiegelberger. Komm. Eß nun.« – Sie setzte den Napf mit dem Futter beim Ofen hin, und Mies fiel 6 über ihr Abfallfleisch und den gekochten Reis her. Das Tier schnaufte und schmatzte leise dabei.

Frau Behm und Anna deckten den Tisch. – »Nein, die Anchovis solltest du eigentlich bei Stoltenberg nehmen,« fing die Mutter an. »Diese sind so weich und gar nicht in Dosen. Das sind wohl keine echten Christiania (sie sprach »Chrishänia«). In Dosen ist auch feiner.« – Bei dem Wort »feiner« legte sie ein Mundtuch neben das Eßgerät, das vor dem Sofaplatz stand. Der Ring um das Tuch trug die Inschrift »Bernhard Behm«. An die anderen beiden Plätze kamen keine Servietten. Dann waren sie fertig. Frau Behm rückte noch die Schlackwurst und die verdeckte Schüssel, aus der leckerer Bratkartoffeldunst zog, nahe um Bernhards Teller und stülpte die gestrickte Mütze über den Theetopf.

»Ja, da sitzen wir und warten. Die Kartoffeln werden kalt, und der Thee zieht sich aus,« schalt Frau Behm. – »Wer nicht pünktlich ist, das ist Bernhard,« entgegnete Anna gleichmütig. Sie holte ihre Geldbörse hervor und zog daraus kleine Stoffproben. »Ob ich das Graue hier nehme?« – »Ja,« antwortete Frau Behm und befühlte den Stoff. »Grau ist vornehm. Unsere Prindsessen trugen auch immer grau, wenn sie nach Dyrehave hinausfuhren.« – »Ach, Prinzessinnen! Die tragen nicht zu vierundfünfzig Pfennig das Meter. Weißt du, Mutter, laß mich mal was Helles nehmen. Dies Rot hier, nicht?« – »Rot kannst du nicht anziehen. Bei deinem Haar. Wenn man ist blond, muß 7 man sehen und haben lieber blau an sich.« – »Ja, aber hell! Und ein bißchen mehr als für mein voriges. Ich bin stärker.« – »Im Winter wird man immer dick. Das kommt von der schweren Luft. Wenn Sommer ist, geht das Fett wieder weg.« – »Ich wollte, es wär' erst Sommer. Da braucht man nicht immer in der Stube zu sitzen.« – »Na, du und sitzen. Jeden kommenden Tag gehst du und läufst Schlittschuh. Was sollen wir denn sagen? Wir haben gar kein Vergnügelse.« – Alte Leute wie ihr, wollte Anna erwidern. Aber sie besann sich und sagte: »Du hast doch alle Woche deinen Kaffee, und Vater geht in den Jordan und trinkt sein Bier. Die mit mir zur Schule gegangen sind, das sind jetzt große Damen und amüsieren sich. Die kennen einen am liebsten garnicht. Ich wollte, ich wär' bloß in die Bürgerschule gegangen. Dann hätt' ich Freundinnen. Aber so –.« – »Sei du froh, daß Vater hat das viele Geld ausgegeben und dich zu Fräulein Pedersen geschickt (sie sagte »gesjickt«). Das ist viel feiner als Bürgerschule. So kannst du einen gebildeten Mann kriegen.« – »Mich heiratet auch einer. Keinen Menschen kenn' ich.« – »Wenn man jung ist, kann man warten.« – »Na, meine zwanzig hab' ich. Ihr denkt immer, ich bin eben erst konfirmiert.«

»Nein, nein, die Kartoffeln!« jammerte Frau Behm und befühlte die Schüssel. Dann schwiegen beide Man hörte das Titititi von der Taschenuhr, die im Pantoffel neben dem Sofa hing. Draußen klappten 8 die Stiefel der Vorübergehenden hart auf. Es war wohl wieder kälter geworden. Tritte kamen rasch näher. Jemand stieg die steinerne Vortreppe zum Hause hinauf. Die Hausthürglocke machte lammellammellammel, aber nur matt, denn die Feder, an der sie saß, war alt und schlaff. – »Da ist er,« rief Frau Behm. Laut und pustend kam Bernhard die Treppe hinauf und zog ächzend den Mantel aus. – »So spät,« klagte Frau Behm. –»Ging nicht anders,« war die Antwort. »Zu gemütlich.« – Er warf die Gummischuhe mit solchem Schwung ab, daß Mies erschrocken einen Satz machte. »Gieb mir erst mal den Schlafrock und die Pampuschen. Hast sie ein bißchen warm gestellt? n' Abend.«

Damit trat Bernhard ins Zimmer und drehte seinen Schnurrbart spitz. Frau Behm brachte ihm alles. Er fühlte sich mollig und setzte sich auf's Sofa. – »Vater? Ach so, der hat ja Schafskopf heute. Schafskopf mit Schafsköppen. Danke.« – »Fü, Bernhard, wie kannst du nur und reden so. Vater seine besten Freunde!« ermahnte ihn Frau Behm und füllte ihm auf. – »Ach, wenn er vom Bier kommt, hat er immer solche Worte,« bemerkte Anna. Sie aß tüchtig und trank den lauen Thee mit wenig Rahm in großen Zügen. – »Ich mein's ja nicht bös', Kinder,« erwiderte Bernhard. »Immer gemütlich. Wenn man den ganzen Tag auf'm Amt geschuftet und bloß »was wünschen Sie?« und »jawohl, Herr Postdirektor!« gesagt hat, will man abends mal 'n freies Wort reden. Verstehst 9 du doch, Mudding, was?« – Während er sprach, verschwand ein großer Kartoffelhügel von seinem Teller. Er schmierte sich das Weißbrot dick mit Schmalz und streute reichlich Salz darauf. Dann schnitt er den Anchovis Kopf und Schwanz ab und legte die kleinen Fische auf sein Brot, das er zusammenklappte und in den Thee stippte. Ein Anchovis fiel dabei in die Tasse. Da holte er es mit dem Theelöffel heraus und verzehrte es mit einem Stückchen zerschmelzenden Zuckers, das sich im Löffel gefangen hatte. Das schmeckte ihm. Nun erzählte er von der Post: »Kolossal, was? Denkt euch! Über dreihundert Fünfpfennigmarken hab' ich heute verkauft. War ein Gelaufe, – nicht zum Aushalten. Wenn man eben mal was schreiben will, bumms, klopft da irgend so'n Mensch und schimpft womöglich, weil er nicht schon bedient ist. Na, überhaupt: bedienen! Ich will die! Einfach anschnauzen thu' ich sie. Widerrede ist nicht. Das giebt gleich drei Monate wegen Beamtenbeleidigung. Kaiserlich sind wir, ganz einfach. Der ganze Markenverkauf müßte aus den Ämtern heraus. Kann ja jeder Höker. Wir Beamten haben wirklich was Höheres zu denken. Aber wißt ihr: interessant ist es doch. Was man sich alles dabei vorstellen kann, wo die Marken hinkommen. Liebesbriefe sind natürlich die Hauptsache. Und geschickt muß man sein. So mit 'n leichten Griff abreißen und gleich das Geld zählen. Aufpassen! Das ist die Hauptsache bei unserem Dienst. Scharfer Geist sozusagen.«

10 Sie aßen. Bernhard fing von etwas neuem an. – »Denkt euch! Jetzt kommt unser Nest von Koggenstedt sogar vor den Reichstag. Oder Landtag, was weiß ich.« – Frau Behm und Anna blickten ihn fragend an. – »Jawohl,« sagte Bernhard. »Ob wir uns mit C oder mit K schreiben sollen. Die Poststempel sind doch mit C, nicht? Na, und die anderen, das Gericht und so, die schreiben mit K. Was ist nun richtig?« – »Das ist sacht einerlei,« meinte die Mutter. – »Nee, lange nicht. Große Geschichte. Wir von der Post geben nicht nach. Ich finde auch wirklich, C sieht auf den Briefen besser aus.« – »Ja,« bestätigte Frau Behm, »weil es ist ründer.« – »Ja, im ganzen. Und es ist bequemer. Man macht einfach so 'n Schlängsel, fertig. Aber du sollst mal sehen, Koggenstedt wird jetzt berühmt.«

Er war mit dem Essen zu Ende und sah zufrieden aus. Frau Behm holte aus dem Wandschrank eine kleine Flasche und ein Gläschen, das keinen Fuß hatte. – »Willst du lieber einen, mein Jung?« fragte sie. »Mich dünkt, die Kartoffeln waren ein bischen fett.« – Er nickte: »Natürlich. So was schadet der Seele nie.« – Frau Behm goß ein, so voll, daß ein Tropfen über den Rand des Glases und auf ihre Finger lief. Bernhard nahm das Glas, setzte es scharf an die Unterlippe und schüttete den Kümmel auf einmal hinab, indem er den Kopf heftig in den Nacken warf. Dann sagte er: »Brrr« und schauderte sich vor Vergnügen. Die Mutter barg Flasche und Glas wieder im Schrank.

11 »Zeitung schon da?« fragte Bernhard. – »Ja, längst,« antwortete Anna und legte die Blätter auf den Tische Bernhard streckte sich auf's Sofa aus, und Mutter setzte ihm die Lampe zu Häupten. Die Zeitung wurde verteilt. Bernhard bekam das Hauptblatt, und Frau Behm machte sich daran, die Geschichte in der Beilage zu lesen. – Anna hatte sich ein Buch geholt und schlug es auf, wo ein Stück Papier als Lesezeichen hervorragte. So lasen sie, und es wurde still im Zimmer. Nur das Papier raschelte dann und wann, die kleine Taschenuhr an der Wand sagte eilig tititititititi, und die Lampe bisweilen bh.

* * *

Allmählich wurden sie müde. Anna legte das Buch beiseite und räumte in ihrem Nähkram umher. – »Schon zehn geschlagen,« sagte sie. »Wollt ihr noch sitzen?« – Bernhard ließ die Zeitung sinken: »Ich rauch' noch meine Schlummerzigarre. Sonst kann ich nicht einschlafen.« – Frau Behm holte das Rauchgeschirr aus Laubsägearbeit, er ließ sich bedienen und paffte tüchtig. Dann meinte Frau Behm: »Ich will man aufbleiben, bis Pappa kommt. Vielleicht hat er kalte Füße von das alte Bier. So muß ich ihm lieber ein Paar Strümpfe wärmen, die er kann überziehen im Bett.« – Sie nahm aus der Kommode zwei dicke grauwollene, mit blau vorgestrickte Strümpfe und hängte 12 sie über die Messinghaken, die zwischen den Ofenkacheln eingelassen waren. – »Ich geh' zu Bett,« sagte Anna, »gute Nacht.« – Sie begab sich eine Treppe hinauf in ihre Kammer. Man hörte in der Wohnstube, wie sie oben ihre Schuhe abwarf. – Bernhard rekelte sich und brachte die Beine vom Sofa: »Ja, für einen braven Bürgersmann und Postschweden wird es denn wohl auch Zeit. Nacht, mein Mudding. Nacht, min lütt Olsch.« – Damit klopfte er seiner Mutter die Schulter. – »Gute Nacht, mein Jung.«

Bernhard ging nach oben, wo seine Stube neben derjenigen Annas lag, und nach einer Weile vernahm man einen Krach. – Frau Behm seufzte: »Wenn er sich doch nicht immer wollte in sein Bett werfen. Die Matras hat schon eine tiefe Kuhle.« – Sie strickte an einem gelbwollenen Unterhemde. Die Holznadeln pickten gegen einander. Elf schlug es. Da wurde die Hausthür geöffnet und nachher zweimal zugeschlossen. Frau Behm, die auf den Flur getreten war und sich über das Treppengeländer lehnte, fragte: »Nu, klein Pappa?«

»Ja, Mamma. Weiß ich. Weiß ich. Viel zu spät. Aber wir hatten was Wichtiges zu beraten.« – Der kleine Mann kam die Treppe hinauf. Frau Behm besorgte ihn, daß er bald vergnügt im Lehnstuhl saß. – »Ja,« fing er an, »das ist ein Gedanke. Daß man auf so etwas nicht eher gekommen ist.« – Ihn packte Unruhe, sodaß er im Zimmer auf und ab lief und den linken Zeigefinger kreuz und 13 quer durch die Luft spielen ließ. – Frau Behm wartete geduldig. – »Ist es nicht so?« begann er wieder. »Wird denn was für Koggenstedt gethan? Thut der Magistrat was und die andern? Das sind alles Schlafmützen. Da muß erst P. E. Behm kommen und Ideen haben. Jetzt sollst du mal sehen. Wenn wir den Klub haben« – und nun besann er sich, daß er vom verkehrten Ende zu erzählen begonnen hatte – »wir wollen nämlich einen Klub gründen. Einen geheimen Klub.« – »O Gott, geheim!« – »Ja, damit nicht gleich was davon in die Zeitung kommt. Sonst machen sie uns Schwierigkeiten im Ministerium und so. Neidisch sind sie. Hilft ihnen aber nichts. Wir gehen direkt an den Kaiser.« – »O Gott, den Kaiser!« – »Nun? Warum nicht? Ich meine, wenn der alte Kaufmann P. E. Behm aus Koggenstedt an den Kaiser schreibt, wird er das wohl lesen, he? Kriegshafen soll Koggenstedt werden Das haben wir beschlossen. Dafür gründen wir den Klub. Ordentlich mit Statuten.« – »Ja, in Kopenhagen (sie sagte fast »Köbenhaun«) hatten die Kaufleute auch einen Klub. Da bin ich mal zu Ball gewesen.« – »Ball, Ball,« meinte P. C. Behm geringschätzig. »Na ja, was die Kopenhagener zu thun haben. Die können Bälle geben. Aber wir. Wir müssen arbeiten. Für das Wohl der Stadt. Laß uns nur erst den Kriegshafen und die Werft und die Wasserleitung und das Pflaster aus schwedischen Kopfsteinen haben. Sollte der Kaiser sich da nicht 14 erkundigen, wer das alles gemacht hat? Ich meine: im Geiste aufgearbeitet. Und denn können der Bürgermeister und die anderen garnicht anders als sagen: P. C. Behm.« – »So kriegst du gewiß einen Orden, mein Pappa.« – »Nehm' ich nicht. Ich bin ein freier Mann. Ich würde sagen: Machestet entschuldigen . . . das heißt, ja . . . höchstens für euch nehm' ich ihn an. Ihr Frauen habt das ja gern. Wenn man mit euch spazieren geht oder so. Na, das ist noch alles im weiten Felde,« unterbrach sich der kleine Mann und richtete seine Gedanken auf die Gegenwart, »die anderen müssen mit arbeiten. Allein kann ich es nicht. Und es sind treue deutsche Männer, die ich gefunden habe. Von altem Schrot und Korn. Jaspersen ist mit dabei.« – »Einer war mal in Kopenhagen, der hieß auch Jaspersen. Aber der hatte braune Haare.« – Das letzte sagte Frau Behm leise, und es huschte ein Schimmer der Erinnerung über ihr Gesicht, als hätten die braunen Haare einmal etwas für sie zu bedeuten gehabt. Das war lange her, der Schimmer war auch nur ganz flüchtig.

P. C. Behm hatte keine Ruhe: »Eigentlich müßte ich heute abend noch dabei und die Statuten ausarbeiten.« – »O das thu' man ja nicht. Die Uhr geht auf zwölf, und der Ofen wird schon eisekalt. Nu sollst du slafen gehn, mein klein Pappa. Du kannst morgen arbeiten, den ganzen lieben langen Tag lang.« – »Denn darf mich keiner stören. Ich wirke für eine heilige Sache, verstehst du?«

15 Er wollte wieder anfangen und eine Rede halten. Aber Frau Behm ergriff die Lampe und mahnte: »So wollen wir sehen, daß wir machen und kommen zu Bett.« P. C. Behm gestikulierte und murmelte, während er hinter seiner Frau, die die angewärmten Strümpfe trug, in das Schlafzimmer ging. Das lag neben der Wohnstube. Die Luft war eingeschlossen in diesem Raum, der nichts weiter war als ein großer fensterloser Alkoven.

Die beiden alten Leute froren beim Ausziehen, obschon sie die Thür zur Wohnstube offen gelassen hatten. Beide zogen ihre gestrickten Nachthauben über, und als sie so lagen, bis an den Hals zugedeckt, um erst ein bißchen anzuwärmen, da sahen sie einander ganz ähnlich. Bloß daß P. C. Behm einen kleinen, grauen Schnurrbart trug, den er genau längs der Oberlippe immer beschnitt und dessen Haare daher borstig abstanden. Aber beide hatten die schmalen Backen und die grade Nase und das flache Kinn, beide den etwas trüben Blick von Menschen, die mehr gehofft als erreicht haben, beide die Stirn mit den Querfalten, die die Hand der Sorge mit ihren dünnen Fingern nach und nach einstreichelt, fast unmerklich, jeden Tag ein wenig tiefer. Schließlich gehen die Falten beinahe bis auf den Knochen. So lagen die alten Behms neben einander in ihren Betten auf dem Rücken.

»Solche warmen Strümpfe sind was Schönes,« sagte P. C. Behm. – »Sie sollen dir wohl gut 16 thun, mein Pappa. Bist du schon warm?« – »O ja.« – »So kann ich das Licht auspusten.« – Sie richtete sich auf, hielt die linke Hand oben hinter das Lampenglas und blies. Beim dritten Mal erlosch die Flamme. Da legte sich Frau Behm wieder hin. – »Gute Nacht, Pappa.« – »Gute Nacht, Mamma. Nun will ich noch ein bischen an unsern Klub denken.« – »Thu' du das.« – »Sollst sehen, Koggenstedt wird Kriegshafen.«

Frau Behm schlief rasch ein. Sie atmete tief und etwas mühsam. P. C. Behms Gedanken wurden undeutlicher. Er sah einen Hafen voll von lauter großen Kriegsschiffen, und er selbst war ein Admiral, und als er ins Boot stieg und auf dem Wasser herumfuhr, ganz geschwind, ganz geschwind, da kanonierten die Schiffe alles, was sie konnten: bumm, bumm, bumm, denn auf Sankt Anschar schlug es eben zwölf, als P. C. Behm diesen schönen Traum hatte. Der Kaiser kam und hängte ihm ein großes Paket mit Strickwolle um den Hals, und Mamma saß auf der roten Boje mitten im Hafen und knüttete und sagte: »Ja, Herr Kommerzienrat, so hatten wir es auch einmal in Köbenhaun.« – Immer tiefer träumte sich P. C. Behm in seine Ehren hinein. Nichts regte sich mehr im Hause. Bloß Mies schlich von oben nach unten und vom Keller wieder nach dem Boden und fing sich kleine Piepmäuse. 17

* * *

Am andern Morgen um halb acht Uhr saß die Familie beim Kaffee. Auf dem Tische brannte die Lampe. Mutter schenkte aus der braunen Bunzlauer Kanne ein. – »Fabelhafte Schufterei das,« sagte Bernhard. »Jetzt bei stockdusterer Nacht in Dienst müssen. Die Leute sind auch um Weihnacht rein wild mit ihrer Schickerei. Und wenn wir denn mal nicht funktionierten, he? Dann wär' es einfach aus mit Weihnachten. Aber wer erkennt das an? Na, wenn man nur mit sich selbst zufrieden ist.« – »Ja,« nickte Anna, »und wenn man denn noch ein bißchen mehr Gehalt hätte, als ihr Assistenten.« – »Ach, du sagst immer von Geld, Geld,« meinte Frau Behm und ließ den Kopf hin und her wackeln. – »Gewiß, Mudding,« entgegnete Anna, »davon könnten wir recht viel gebrauchen.« – »Kommt,« fiel der Alte ein und tupfte mit dem Zeigefinger auf den Rand seiner Kaffeetasse. »Laß uns nur erst den Kriegshafen haben.« – »Wo wollt ihr den denn herkriegen?« fragte Bernhard. – »Das ist noch geheim,« war die Antwort. »Aber wir kriegen ihn.« – »Na, Vadding, ich glaube, ihr habt euch gestern im Jordan ein bißchen viel erzählt wie?« sagte Bernhard, stand auf und knöpfte seine Uniform zu. – P. C. Behm lächelte überlegen und erwiderte nichts.. – Anna fing an, die gebrauchten Teller und Tassen zusammenzuräumen, und fragte ihren Bruder: »Kommst du zur Eisbahn heute nachmittag?« – »Wenn man nur nicht so fürchterlich 18 viel zu thun hätte,« antwortete der. »Aber selbstredend komm' ich hin. Das ist man seiner Gesundheit schuldig. Mein Freund, der Dokter, kommt auch. Wir haben uns gestern beim Dämmerschoppen verabredet.« – »Herr Doktor Körting?« Anna sprach das leiser, ihre Augen waren dabei etwas weiter geöffnet. Sie wollte gerade einen Teller hinsetzen, und ihre Bewegung wurde unwillkürlich rascher. Der Teller klappte auf das Wachstuch.

»Wenn ich bloß wüßte, was wir heute sollen zu Mittag essen,« jammerte Frau Behm. – Bernhard wußte Rat. – »Biff von Hack, Mudding. Das mag ich am liebsten. Und Graupensuppe mit viel Pflaumen,« entschied er forsch. – »Biff von Hack,« wiederholte Frau Behm erleichtert. »Ja, das ist ein schönes Mittag.« – Bernhard sagte »Adieu!« und ging. – »Jetzt bloß nicht stören,« bat P. C. Behm und erhob flehend beide Hände. »Ich muß schreiben, die Statuten.« – »Ja, klein Pappa,« sagte Frau Behm freundlich, »nun macht Anna schnell und wischt hier auf, und so kommt kein Mensch und stört dich.«

Anna sputete sich und war bald mit der Wohnstube fertig. Der alte Behm saß und schrieb. Dabei hielt er den Kopf schief, dicht über dem Blatt. Jige, jige, jige sagte die Feder. Das wurden die Statuten für den geheimen Klub. – Anna machte das übrige Haus und schaffte von oben bis unten tüchtig mit Wischtuch, Besen, Feudel, Eule und Eimer. Nachher holte sie ein. Ein halbes Pfund Schweine- und ein 19 halbes Pfund Rinderhackfleisch, Graupen, Pflaumen, ein Pfund Salz und eine Flasche Petroleum. Und dann kochte sie. So ging dem jungen Mädchen der Morgen hin.

Frau Bolette Behm hatte sich einen alten Henkelkorb voll Kartoffeln und einen Wassertopf mit in den Laden genommen und schälte. Mies saß auf der Theke und sah zu, und wenn die Katze den Kopf bewegte, stieß er an die Wagschale, deren Teller sich bedächtig auf und ab wiegten. Im kleinen eisernen Ofen knisterten die Kohlen. Frau Behm hatte das Rollzeug am Fenster hochgezogen, und der graue Tag drang in den Laden und gab der verschiedenen Wolle, die in den Regalen aufgeschichtet lag, und den Schürzen, Taschentüchern, Bändern, Garnen ihre Farben. Es ward heller, die schimmernden Eisblumen an den Fenstern wurden glasig, die Kristalle schmolzen ineinander, und langsam rutschte die feuchte Schicht die Glasfläche hinab. Unten am Fenster sammelte sich das Wasser in einer Rinne und tropfte durch ein Röhrchen nach außen ab. – Lammel lammel lammel ließ sich die Hausglocke vernehmen. Die Käufer kamen. Zuerst kam Minna von gerade schräg über vor: »Ach Chott, Frau Behm, haben Sie Korsettstangen? Min Serschant hett mi bi'n Danz in'n Lindenhof een tweidrückt. De Mannslüd quetschen een rein to Schand.« Dabei preßte sie die Hand gegen den vollen Busen, als fühle sie den Druck noch und wisse nicht recht, ob er wohl oder wehe 20 gethan hätte. Frau Behm hatte schöne Korsettstangen.

Dann kam Johanna, Generalagent Petersen ihre Johanna. »Een Pack Hoornadeln, Fru Behm. Aber man schnell. Min Olsch is hüt wedder ut Rand un Band.« – Auch sie wurde wohlbedient. Von neuem ertönte die Klingel mit schwächlichem Geschell. Ein Handwerksbursche trat ein: »Armer Reisender . . . bittet um kleine Unterstützung.« – Frau Behm seufzte mitleidig und reichte ihm ein Zweipfennigstück. – Nach ihm erschien ein Landarbeiter, ein kleiner schmutziger Polak mit tiefliegenden Augen und den Haaren weit in der Stirn. »Dobberipritschlyrzsinski,« oder so ähnlich sagte er, und Frau Bolette Behm wußte nicht, was er wollte. – »Baller, baller, hau, Fehrrd,« machte der Polak, »klitsch Fehrrd!« – Aus seiner Gebärde merkte Frau Behm endlich, daß er Peitschenschnüre wünschte. Die hatte sie auch, der Pole sagte wieder: »Dobberipritschlyrzsinski« oder so ähnlich und schob verklärten Angesichts ab. – Ein Bauer trampfte herein und fragte, wo hier der nächste Advokat wohnte, und erzählte eine lange Erbschaftsstreiterei, wegen deren er jetzt vor Gericht gehen wollte. Frau Behm hörte geduldig zu und gab ihm die Auskunft. Dankend trampfte er wieder fort.

Den ganzen Morgen ging es so. Frau Behm bediente alle, so gut sie konnte, und sprach nicht viel dabei. Sie war vorsichtig, seitdem die große Klatschgeschichte gewesen war, daß sie im Laden zu Frau 21 Nebendahl gesagt haben sollte, Frau Petersen hätte gesagt, sie wüßte von Fräulein Ehmke, daß Fräulein Rohwedder sich auf dem Sommerfest vom Radfahrerverein All Heil 1881 von Herrn Meinecke hätte küssen lassen. Frau Behm hatte es wirklich nicht gesagt, aber ihre Verteidigung nützte ihr nichts. Die halbe Peterstraße verschwor sich, nicht mehr bei P. C. Behm zu kaufen. Das war hart für die Familie, denn sie war auf das täglich Einlaufende angewiesen. P. C. Behm konnte bei seinen sechzig Jahren nicht gut mehr mit dem Pack holländischer Waren auf dem Rücken zu Lande gehen. Nach und nach sah die Straße auch ein, wie unrecht sie Frau Behm that. Die Stimmung schlug jählings um, und alle kamen und holten für einen Groschen: eine Rolle Zwirn, eine Häkelnadel, ein Stück Einfaßband, ein Ende Lampendocht und was man sonst noch, ohne es für den Augenblick gerade nötig zu haben, kaufen und hinlegen konnte. Frau Bolette Behm wurde leicht ums Herz, als sie die Gesichter wieder bei sich sah, aber seitdem blieb sie wortkarg gegen ihre Kunden.

Es wollte Mittag werden. Da ging Anna zum Vater hinein: »Ja, Vadding, nun solltest du aber aufhören. Ich muß den Tisch decken.« – P. C. Behm saß zusammengesunken in seinem Lehnstuhl und fuhr aus tiefem Sinnen auf: »Weißt du was, Anna? Wenn wir erst den Kriegshafen haben, dann bekomm' ich sicher die Lieferungen. Denk' mal, was die für Wolljacken und Unterhosen und Schlafdecken brauchen. 22 All die Mariners. Und ich bin doch der nächste dazu. Wem verdankt Koggenstedt den Kriegshafen? Mir zu allererst. Und damit bin ich ein gemachter Mann.« – »Ja, ja, Vater,« entgegnete Anna und nahm Tinte, Feder, Papier und Löschblatt beiseite. Der Alte lief hinterher: »Nicht verwischen, nicht verwischen! Das sind die Statuten. Ich bin schon bei Paragraph neunundzwanzig.« – Anna deckte auf.

Zehn Minuten nach zwölf kam Bernhard. – »Fürchterlichen Hunger«, war das einzige, was er zur Begrüßung sagte. – Frau Behm schloß den Laden ab, ging hinauf, und die Familie setzte sich zu Tisch. Der Alte aß still und kaute umständlich. Frau Behm nahm wenig. Den meisten Genuß vom Essen hatte Bernhard. In einem tiefen Teller füllte er sich Suppe auf, auf einen flachen nebenan legte er das Biff von Hack mit viel Sauce und dem großen Haufen Kartoffeln. In einen kleinen Glasteller that er Kronsbeeren. Und bei den Tellern stand ein Glas voll Wasser. Nun aß er schlürfend bald einen Löffel Graupensuppe und legte die Kerne von den Pflaumen rund um den Tellerrand, bald häufelte er sich mit Messer und Gabel gebratenes Hackfleisch und Kartoffeln in den Mund, dann wieder machte er sich über die Kronsbeeren her und kleckerte von dem Saft auf das Wachstuch, und schließlich trank er Wasser dazu. Das ging immer abwechselnd, von einem Teller zum andern. Er nannte das sein Eß-Klavier.

23 Als er satt war, knackte er die Pflaumensteine auf und puhlte die Kerne heraus. – »Da ist Blausäure drin,« fing er an, »Dokter Körting sagte das gestern. Sie haben auf der Universität mal 'n Huhn damit gefüttert, weil sie es vergiften wollten, aber das Huhn wollte nicht tot bleiben und legte bloß immer blaue Sooleier. Der Dokter sagt, das Blau in der Blausäure hätte die Schale und das Eiweiß angefärbt, und das Saure machte die Eier geronnen.« – Er lachte, und Anna stimmte mit ein. Bernhard fuhr fort: »Na überhaupt, erzählen kann der. Zum Schießen. Aber Praxis hat er noch nicht die Spur. Er ist ja auch erst ein halbes Jahr hier. Das wird schon kommen. Wir beide sind Freunde. Wir sitzen jeden Abend zusammen und führen die tiefsten Gespräche. Über Unsterblichkeit und Elektrizität und so. Das wird einem nett klar, wenn man sich darüber ausspricht. Ja, er weiß was. Sonst würd' ich auch nicht mit ihm verkehren.« – Krach! sagte der letzte Pflaumenstein, und die Blausäure floß ihm zwischen die Zähne.

Sie sagten sich: »'segnete Mahlzeit,« bloß Frau Behm sagte »Tak for Maden.« Dann machten sie ihren Nick. Bernhard legte sich auf seiner Stube ins Bett, rauchte und las, bis er einschlief, der alte Behm aber ruhte sich auf dem Sofa vom Statutenentwerfen aus und zog sein Käppi bis über die Augen hinab. Frau Behm drusselte im Laden an ihrem gewohnten Platz und fuhr alle paar Minuten 24 auf, wenn ihr der Kopf so weit vorsank, daß sie nicht mehr Luft kriegen konnte. Ihr Strickzeug ließ sie dabei nicht aus der Hand. – Anna schaffte indessen, sie schlief nie zu Mittag. Sie gab Mies in der Küche reichlich Futter, wusch hurtig ab, und in einer halben Stunde war die Küche blitzeblank.

Nun mahlte sie Kaffee, halb Malz- und halb Bohnen-Kaffee, und goß ihn auf. Nach gethanem Werk huschte sie in ihr Stübchen hinauf und zog sich hübsch an.

Als Sankt Anschar zwei schlug, waren alle wieder munter. Sie tranken gemütlich zusammen, und danach mußte Bernhard gehen: »Na denn nachher, Annsch,« sagte er, »auf'm Eis. Meine Schlittschuhe hab' ich im Amt.« – Ein Stündchen noch vertrödelte das junge Mädchen, dann rief sie in die Wohnstube hinein: »Adieu, Vadding. Ich geh' zu Eis.« – Aber sie hörte nur »jige, jige, jige.« Das wurde gewiß schon Paragraph fünfunddreißig. Auch der Mutter sagte Anna im Laden Adieu und sprang frisch die sieben Steinstufen hinunter, die von der Hausthür zur Straße führten. Ihre Schlittschuhe klirrten dabei wider das eiserne Geländer. Das klang lustig. 25

* * *

Froh schritt Anna dahin, über den breiten Markt und zum Hafen hinab. Ihr kräftiger Fuß bog sich geschmeidig in dem glänzenden Stiefel, sie machte tüchtige Schritte, und die Klinker klangen unter ihrer Sohle. Die kalte, reine Luft sog sie gern ein, und ihre Augen waren hell, wenn sie zum Himmel aufschaute. Die Schlittschuhe flogen bei jedem Ausschreiten klappend ein Stück von ihrem linken Knie zur Seite. Sie war vergnügt. Daß sie in dem blauen Kleide und mit dem Federbarett schmuck aussah, zeigten ihr die Ladenfenster, in die sie zuweilen beim Vorübergehen verstohlen einen Blick streifen ließ. – Hier und da grüßte sie freundlich einen Bekannten und fragte wohl ein anderes junges Mädchen, das am Fenster saß und nähte: »Kommst du nicht auch? Heute ist es herrlich! Komm doch!« Und grüßend eilte sie vorwärts.

Bald war sie am Hafen, da, wo der Steg vom Bollwerk auf's Eis führte. Schiffszimmermann Johsten hatte ihn so fest gefügt, als ob auch noch im Sommer Eisbahn sein sollte. Anna zog die Börse und wollte ein Fünfpfennigstück in den Teller werfen, der rechts vom Steg auf dem Stuhl stand. Aber der kleine, dicke Mann, der die Wache über alle die Kupfermünzen hatte, die im Teller lagen, trat auf Anna zu, legte ihr die Hand mit dem Fausthandschuh an den Arm und sagte kopfschüttelnd: »Wenn ick de Kass' heff, bruken Se nix to betahlen, Fräulein. Min Söhn is ja ock bi de Post. Und wat Ehr Broder is, dat mutt 26 gell'n: dat is 'n netten Mann. Ick kööp min Postkorten ock ümmer blots vun em. Gahn se man rup.« – »Ja, aber was sagen denn die anderen, Wischer? Sie müssen heute Abend doch teilen.« – »Ja, dat mööten wi. Wi hefft'n Kunsortium. Welk mööten ümmer fegen. Abers up de fiew Penning kummt dat nich an. Gahn S' man rupper. Hut is dat Is örntlich knackig.« – »Bleibt es wohl noch lange Frost?« fragte Anna und ließ ihren Blick über die Menge schweifen, die auf dem Eise durcheinandersurrte. – »Kann sien. Wenn wi annern Maand kriegen, un dat blifft denn düssen Wind, denn kann 't so bibliwen. Wenn de Wind abers mehr so herum geiht (er beschrieb mit dem kurzen Arm einen Bogen in der Luft), denn ward dat vellicht Dauwetter. Kann abers ock sien, dat dat denn doch noch wieder freert.« – Anna bedankte sich für die Auskunft und stieg auf die blinkende Fläche. Sie wartete, bis ein Platz auf der Bank frei war, und ließ sich von einem Mitgliede des Konsortiums die Schlittschuhe anschnallen, wofür sie ihm die fünf Pfennige gab, die sie in der Hand behalten hatte. Als die Schlittschuhe saßen, erhob sie sich, bohrte erst die Hacken ins Eis, um das Gefühl der Sicherheit zu bekommen, gab sich dann einen schnellen Ruck und fuhr davon. Sie lief gewandt. Das abstoßende Bein schwang weit aus, ihr Körper bog sich von einer Seite zur anderen, und sie hielt sich gerade und anmutig dabei. Ihre Arme hingen hinabgestreckt mit oben angedrückten Ellenbogen eng am Körper, die Handrücken 27 waren leicht gerundet. So durchmaß sie die Bahn acht-, neunmal an der Seite, wo sonst nicht viele dahinglitten. Es war ein schöner Tag, und die Schulen hatten frei. Da hatte sich alles eingefunden, was den Stahl zu regieren vermochte. Das schurrte und sauste und rief und schrie und lachte und plauderte durcheinander, wich sich aus, stieß zusammen, grüßte und mied sich, verschwand eins hinter dem anderen, tauchte wieder auf und zerschmolz gleichsam von neuem im Quirlen all der Menschenkinder. Die Kleider wehten, und wenn einer fix vorüberschnitt, fühlte der andere den Luftzug im Gesicht. Ein dünner Hauch von Atem kräuselte sich über dem Durcheinander, und die Bahn ward immer weißer übersät mit feingeschabtem Eis. Anna freute sich des Treibens. Da hörte sie jemanden mit starken Strichen hinter ihr herfegen und rufen: »Guten Tag, Fräulein Behm! Heute ist's so voll, da findet man keinen Menschen. Sind Sie schon lange hier?« – Anna stoppte ab. – »Guten Tag, Herr Doktor. Nein, eben erst.« – Er schlug einen kurzen Bogen um sie herum, ließ die Schärfen einritzen, daß die Eisspähne davonsprühten, machte Halt und zog die Pelzmütze. Er trug keinen Rock. In der Jacke stand der stramme junge Mann stur aufrecht vor ihr und lachte sie vergnügt an. An seinem weichen, flotten Schnurrbart saßen Eisperlen, die unteren Augenlider waren feucht, und die Hiebnarbe, die die runde Wange teilte, war gerötet vom scharfen Laufe. – »Ein Glück, daß ich Sie finde, Fräulein Behm. Allein zu 28 laufen ist gar nicht mein Fall. Und ich kenne hier noch nichts Vernünftiges. Bloß mit Ihnen kann ich ein ordentliches Wort schnacken. Die anderen sind in meinen Augen einfach . . . na ja. Zu schön, daß Ihr Bruder uns miteinander bekannt gemacht hat. Laufen wir wieder zusammen?« – Das sagte er mit lauter Stimme, in sicherem, ehrlichem Tone. – Anna blickte ihn freundlich an: »Sie müssen nur nicht so große Bogen schlagen, Herr Doktor. Sonst kann ich nicht mit und fall' hin.« – »Ach was, fallen. Wollen Sie schon festhalten. Kommen Sie . . . ganz weit hinaus aus dem Gewühl. Hier sieht man den Wald vor Bäumen und das Eis vor Schlittschuhläufern nicht!« – »Ich muß warten, bis mein Bruder kommt,« erwiderte Anna und spähte am Ufer entlang. – »Kann der nicht allein laufen?« – »Er sucht mich dann. Und es ist drückend, wenn man weiß, daß jemand nach einem sucht, und man ist mit Absicht fort. Finden Sie nicht?« – »Ach, ganz so feinfühlig und rücksichtsvoll bin ich nun nicht. Wenigstens nicht gegen meine Fräulein Schwestern. Aber da kommt der Herr Kaiserliche Postassistent schon.« – Das Wort bekümmerte Anna ein wenig. Ihr war, als läge in der Art, in der Körting den Titel aussprach, etwas wie Spott. Einen Augenblick wurden ihre Züge schlaffer. Und als sie sah, wie Bernhard, besorgt, er könne gleiten, und deshalb ungeschickt, den Steg hinabtrippelte, da wurde ihr kleiner Kummer von einer kleinen Scham beiseite geschoben. Die hatte sie noch 29 nie beim Anblick ihres Bruders gefühlt. Sie schaute Körting nicht an, aber sie verglich ihn doch rasch mit Bernhard. Ihr Bruder, über den sie bis jetzt niemals in dieser Weise nachgedacht hatte, dünkte sie auf einmal anders als vorher, plumper. Ihr Kopf neigte sich vorn über, und langsam, steifer, lief sie von Körting gefolgt zum Anschnallplatz.

»Tach, Dokter!« rief Bernhard schon von fern, damit alle hören konnten, er sei mit einem Doktor so befreundet, daß er ihn nicht einmal Herr zu nennen brauchte. »Tach, Dokter!« Dabei grüßte er schneidig wie ein älterer wohlkonservierter Reserve-Leutnant. – »Wirtschaft hier, was?« redete er weiter. »Kein Platz zu kriegen. Müßten doch viel mehr Bänke her. Warum stellen Sie denn bloß eine Bank hin?« fragte er scheltend ein Konsortiummitglied, das gerade einer Dame die Schlittschuhe anschnallte. Das Mitglied drehte den Kopf halb herum, behielt den Fuß der Dame in der Hand und sagte bedächtig: »Wenn wi wußt harrn, dat Se hüt kamen dehn, harrn wi för Se glicks noch twee Bänk upstellt. För jedes Been een.« – Die Leute lachten. Körting auch. Anna aber sah ernst drein, und ihre Stirn war gekraust. Sie hätte sonst harmlos mitgelacht, doch die Verstimmung, die sie eben zuvor gehabt hatte und die noch nicht verflogen war, ließ die Lust am Scherz nicht hochkommen. Sie schämte sich noch für ihren Bruder, der sich stolz umdrehte und vertraulich zu Körting sagte: »Frech, was?« – Körting zuckte mit den Achseln. 30 Anna wußte nicht recht, ob er damit Bedauern ausdrücken wollte. Endlich fand Bernhard einen Platz. Er schlug die Schöße des Überziehers auseinander und legte den linken Fuß auf das rechte Knie. Das ging nicht leicht. Sein Bäuchlein war ihm im Wege. Das Blut drang ihm zu Kopf. Und nun wollte er den Schlittschuh festschrauben, aber der paßte nicht zum Stiefel. Er probierte hin und her, schrob, schlug, pustete, schimpfte: der Schlittschuh paßte nicht. Matt ließ er den Fuß wieder neben den anderen sinken und sagte: »Du, Anna, du hast mir heute morgen die verkehrten Stiefel gegeben. Jetzt sitz' ich hier. Daran hätt'st aber auch denken können!« Das kam herrisch und barsch heraus. Körting machte ein erstauntes Gesicht, und Anna war unmutig. – »Was weiß ich von deinen Stiefeln?« entgegnete sie, »sorg' selbst dafür, daß du die richtigen kriegst.« – Solche Antworten war Bruder Bernhard nicht gewohnt und wollte lospoltern. Aber er scheute sich vor den vielen Leuten und verschluckte seine Gegenrede. – »Da geh' ich eben wieder weg,« meinte er beleidigt, als wolle er Anna damit bestrafen, daß er nicht blieb. Er hängte die Schlittschuhe wieder in den Riemen. In Anna verschwand der Unmut gleich, und es that ihr leid, daß er um das Vergnügen kam. – »Wie schade, Bernhard,« sagte sie, »aber ich hab' wirklich nicht an die Stiefel gedacht.« – Das Mitleid, das wie eine Entschuldigung klang, schmolz Bernhards Groll, und um sein Fortgehen in einer Weise zu begründen, die 31 für ihn ehrenvoll war, bemerkte er großmütig: »Laß man. Ich hätte doch nicht lange bleiben können. Schauderhaft viel zu thun. Na, denn amüsiert euch! Sehen wir uns nachher beim Dämmerschoppen, Dokter?« – Das rief er abermals mit erhobener Stimme, damit das Volk seine feinen Beziehungen kennen lernte. – »Allemal,« antwortete Körting, der froh war, mit Anna allein zu bleiben. – »Adjüs denn!« sagte Bernhard und grüßte wieder so schneidig, wie ein älterer wohlkonservierter Reserve-Leutnant. Auf dem Steg glitt er richtig aus, weil er zu zaghaft darauf trat, stieß sich das Knie und humpelte an dem Konsortiummitglied bei der Kasse vorüber: »Sand streuen, Wischer. Scheußlich glatt. Kann ja kein anständiger Mensch 'raufkommen.« – »Ick heff man keen Sand, Herr Postassistent,« erwiderte Wischer, der Bernhard gern gefällig gewesen wäre, weil sein Sohn doch auch bei der Post war.

Anna sah ihrem Bruder nach: »Wenn er sich nur nicht weh gethan hat.« – »O,« meinte Körting, »nachher gießt er ein paar Seidel Bier ins Knie. Alkohol stillt den Schmerz.« – Ob ihn andere auch wohl so wenig achten? dachte Anna. Sie war schweigsam und grübelte. Das kleine Erlebnis, das sie eben gehabt hatte, ließ sie stutzig werden. Bernhard stand in fahlerem Lichte vor ihr. 32

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