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Band II

Zehntes Capitel.
Unter dem Platanenbaume.


Am St. Johannistage waren es gerade drei Wochen, daß Tito seine Gulden Cennini übergeben hatte, und wir haben gesehen, daß, als er sich auf den Weg nach der Via de' Bardi begab, er alle äußeren Zeichen der inneren Beruhigung zur Schau trug. Wie konnte es auch anders sein? Er war nie mit dem, was ihn unmittelbar umgab, im Streite, und sein Charakter war zu fröhlich, zu unbefangen, als daß ihm das Verborgene oder Entfernte Besorgniß hätte einflößen sollen. Als er aus dem heißen Sonnenscheine in den Schutz einer engen Gasse einbog, die schwarze Tuch-Bartetta, oder einfache Kappe mit aufgekrämptem Zipfel, die seine braune Locken umgab, abnahm, sein Haar bei Seite strich und sein Haupt rückwärts warf, um die frischere Luft willkommen zu heißen, lag weder das Brandmal der Falschheit, noch der Stempel der Unschuld auf seiner Stirn. Der langsame, zerstreute Blick, den er auf die oberen Fenster der Häuser umher richtete, zeigte weder mehr Verstellung, noch mehr Freimuth, als einem jugendlichen, gehörig aufgeschlagenen Augenlid mit seinem unermüdeten, weiten Blick, einem vollkommen durchsichtigen Augenstern, dem ungetrübten Dunkel eines tiefbraunen Augenrings, und der reinen, bläulich gefärbten, von weichen Schatten langer Augenwimpern gestreiften Weiße der Augenwinkel eigenthümlich ist. Zog Tito's Antlitz nun, je nach der Stimmung des Beobachters, denselben an oder stieß es ihn ab? War es ein Räthsel, das mehr als eine Lösung zuließ? Der kräftige, unverkennbare Ausdruck in seiner ganzen Miene und Person war ein negativer, und vollkommen richtig; er zeigte die Abwesenheit irgend eines unliebsamen Anspruchs, irgend einer ruhelosen Eitelkeit an, und ließ die Bewunderung, die ihm folgte, als er zwischen der Menge von Feiertagsspaziergängern hindurchschritt, als einen gern gezollten Tribut erscheinen.

Denn eben jetzt wurde die Bewegung des Festes selbst in den engsten Seitengäßchen bemerkbar. Die Menge, welche sich vorher in den Straßen, durch welche die Procession ziehen mußte, angesammelt hatte, strömte jetzt nach allen Richtungen auseinander, um etwas Anderes aufzusuchen. Solche Zwischenpausen bei einer Festlichkeit sind gerade die Augenblicke, wo die zu unbestimmter Thätigkeit aufgelegte, niedere Laune der Volkshaufen gewöhnlich am muthwilligsten und am meisten aufgelegt ist, irgend eine einzeln umherstreifende Person dem größeren Vergnügen der großen Menge zu opfern.

Als Tito in die Nähe von San Martino gelangte, fand er ein sehr starkes Gedränge; unweit des Gasthauses »zu den Bertucce (Affen)« mußte irgend ein Gegenstand vorhanden sein, der die Vorübergehenden zum Verweilen und zur Bildung eines Menschenknäuels anregte. Es bedurfte freilich keines besonders interessanten Gegenstandes, um Vorübergehende, die eben keinen besondern Zweck hatten, von ihrem Wege abzuziehen, und Tito wollte schon in eine Nebenstraße einbiegen, als sein Ohr mitten aus dem lauten Gelächter eine kindliche Stimme jammervoll ausrufen hörte: »Laßt mich los! Heilige Jungfrau, hilf mir!« Dies bewog ihn alsbald, sich durch das dichte Gedränge eine Bahn zu brechen. Er hatte eben Zeit gehabt zu gewahren, daß der Hülferuf von einem jungen Landmädchen ausgestoßen wurde, deren weiße Kappe in dem Ringen mit einem Manne im buntscheckigen Gewande eines cerratano oder Beschwörers abgefallen war, der unter Lachen versuchte, sie zu beruhigen und zu streicheln, wobei er augenscheinlich die Zuschauer auf seiner Seite hatte, die durch eine überredende Mannichfaltigkeit des Ausdrucks: »einfältiges Geschöpf,« für das der florentinische Dialekt so reich an Synonymen ist, dem Landmädchen ihren Eigensinn vorzuwerfen schienen. Im ersten Augenblick war ihr Gesicht abgewendet, und Tito sah nichts als ihr hellbraunes, geflochtenes und durch eine lange silberne Nadel zusammengehaltenes Haar, aber gleich darauf drehte sie, bei dem Bestreben, sich los zu ringen, ihr Antlitz ihm zu, und er erblickte die kindlichen Züge Tessa's, ihre blauen Augen in Thränen stehend und ihre Unterlippe bebend. Tessa gewahrte ihn gleichfalls, und durch den Nebel ihrer aufsteigenden Thränen schoß ein Hoffnungsstrahl hervor, wie der im Antlitze eines Kindes, das, wider seinen Willen von einem Fremden festgehalten, eine Freundeshand sich entgegengestreckt sieht.

Im Nu hatte Tito die Schranke der Umstehenden durchbrochen, deren Neugier sie gleich bereitwillig machte, sich bei der plötzlichen Einmischung des schönen jungen Herrn abseits zu wenden, und indem er Tessa umfaßte, rief er: »Laßt das Mädchen los! Welch ein Recht habt Ihr, sie gegen ihren Willen festzuhalten?«

Der Zauberer (ein Mann mit einem jener Gesichter, in denen die Winkel der Augen und Brauen, der Nasenlöcher, des Mundes und der scharf hervortretenden Backen sämmtlich in die Höhe gezogen sind), zeigte seine kleinen regelmäßigen Zähne in einem koboldähnlichen, aber nicht bösartigen Grinsen, indem er Tessa's Hände los ließ, und seine eigenen rückwärts hielt, wobei er die Achseln zuckte und sie in einer halb beschönigenden, halb abwehrenden Weise vorüberbeugte.

»Ich wollte der Dirne ja gar nichts zu Leide thun, Messere; fragt nur diese ehrenwerthe Gesellschaft. Ich wollte den Herrschaften nur einige Proben meiner Geschicklichkeit zum Besten geben, wobei mir das kleine Fräulein da wegen ihres Kätzchengesichts hätte helfen sollen, um ihnen zu zeigen, daß Alles ehrlich zuginge, und dafür hatte ich ihr einen Schoos voll confetti als Belohnung versprochen. Aber wie nun? Der Herr hier hat vielleicht bessere confetti in Bereitschaft, und das wird sie wissen.«

Ein allgemeines Gelächter der Umstehenden begleitete diese letzten Worte des Zauberers, welches wahrscheinlich durch den Blick des Dankes und Zutrauens veranlaßt wurde, mit dem Tessa sich an Tito's Arm schmiegte, als er sie los ließ und ihre Hand in seinen Arm legte. Sie achtete auf das Gelächter nicht mehr, als sie sich um das Gebrüll wilder Thiere, denen sie eben entronnen wäre, gekümmert hätte, ohne ein Gewicht darauf zu legen; Tito aber hatte sie kaum an seinem Arm, so sah er auch schon eine Verlegenheit in solcher Situation, und eilte, aus dem Kreise der Zuschauer zu kommen, welche, da sie einer gehofften Unterhaltung beraubt worden waren, sich sicherlich durch allerlei Späße zu entschädigen suchen würden.

»Hier da, Kleine,« rief der Zauberer, das Stück weißen Zeuges Tessa über den Kopf werfend, »hier ist Eure Kapuze. Orsù, seid mir nicht böse und kommt wieder her, wenn Messere Euch entbehren kann!«

»O, Maëstro Baiano, sie wird gleich wieder da sein, wie die Kröte zum Falken sagte!« rief einer der Zuschauer, als er sah, wie Tessa bei der Bewegung des Zauberers jäh auffuhr und zurückschreckte.

Tito machte sich kräftig Platz nach der Ecke einer Seitengasse zu, ein wenig verdrießlich über diesen Aufenthalt auf seinem Wege nach der Bia de' Bardi, und bemüht, die arme kleine Bäuerin so bald als möglich los zu werden. Die nächste Straße hatte gleichfalls ihre Spaziergänger, welche geneigt waren, ihre Feiertagsanmerkungen über ein so seltsames Paar zu machen; kaum befanden sie sich in derselben, als er freundlich aber sehr eilig zu ihr sagte: »Nun, mein Kind, wohin gehst Du? Bist Du so ganz allein zum Fest gekommen?«

»Ach nein,« erwiderte Tessa, wieder traurig und erschrocken darein blickend, »ich habe meine Mutter im Gedränge verloren, sie und meinen Stiefvater. Sie werden böse sein, und er wird mich schlagen. In der Menschenmenge bei San Pulinari, da stieß mich Jemand bei Seite und ich konnte mich nicht halten, so kam ich von ihnen fort. O, ich weiß nicht, wo sie hingegangen sind! Bitte, verlaßt mich nicht!«

Ihre Augen standen schon wieder voll Thränen, und sie sprach die letzten Worte unter Schluchzen.

Tito eilte weiter; die Badia-Kirche war nicht weit entfernt. Sie konnten durch das Kloster hinter derselben hinein gelangen, und in der Kirche konnte er mit ihr sprechen, sie vielleicht verlassen. Aber nein, um diese Stunde war die Kirche ja nicht geöffnet; aber sie blieben unter dem Obdach des Klosters stehen, und er sagte: »Hast Du keinen Vetter oder Verwandten in Florenz, kleine Tessa, dessen Wohnung Du finden kannst? oder fürchtest Du Dich allein zu gehen, da der Zauberer Dir solchen Schreck eingejagt hat? Ich habe Eile, nach Oltrarno zu kommen, wenn ich Dich aber irgend wohin in der Nähe bringen könnte – –«

»O ja, ich fürchte mich; es war der Teufel, das weiß ich gewiß. Ich weiß auch nicht, wohin ich soll; ich habe Niemanden, und die Mutter wollte irgendwo zu Mittag essen, und ich weiß nicht wo! Heilige Madonna! ich werde Schläge bekommen!«

Die Winkel des schwellenden Mundes zogen sich traurig hernieder, und der arme kleine Busen mit dem Rosenkranz darauf über der grünen Gamurra von Sarsch hob sich so, daß da nichts zu machen war; ein lautes Schluchzen mußte erfolgen, und die hellen Thränen stürzten schon hervor, als wollten sie das Versäumte nachholen. Welch eine Lage! Es wäre eine Rohheit gewesen, sie zu verlassen, und Tito's Charakter war ganz Milde. Er wünschte in diesem Augenblicke, daß er nicht in der Via de' Bardi erwartet würde. Als er gewahrte, wie sie ihre Feiertagsschürze in die Höhe hob, um die herabstürzenden Thränen aufzufangen, legte auch er seine Hand auf die Schürze, und indem er eine von ihren Wangen streichelte, küßte er die kindliche Rundung.

»Nun höre nur auf zu weinen, arme kleine Tessa! wir wollen einmal sehen, was sich thun läßt. Wo ist Dein Haus? wo wohnst Du?«

Es erfolgte keine Antwort, aber das Schluchzen ließ etwas nach, und die Thränen rollten ein wenig langsamer herab.

»Komm! ich werde Dich ein Stückchen Weges begleiten, wenn Du mir sagst, wohin Du gehen willst.«

Die Schürze sank herab, und Tessa's Gesicht sah wieder so vergnügt aus wie das eines Cherubs, der aus einer Wolke herablugt. Der diabolische Zauberer, der Zorn und die Schläge schienen ganz aus ihrer Erinnerung verwischt.

»Ich möchte nach Hause gehen, wenn Ihr mich begleiten wollt,« sagte sie leise flüsternd, und zu Tito mit den großen blauen Augen und mit einer, selbst das Lächeln an Lieblichkeit übertreffenden, kindlichen Unbefangenheit aufblickend.

»Nun so komm, Kleine,« sagte Tito mit einschmeichelndem Tone, ihren Arm von Neuem in den seinigen ziehend, »wohin denn also?«

»Jenseits Peretola, wo der große Birnbaum steht.«

»Peretola? aus welchem Thore hinaus, Du kleines einfältiges Ding? denke doch daran, daß ich hier fremd bin.«

»Aus dem Prato-Thore,« sagte Tessa, indem sie, Tito's Arm festen Griffs haltend, vorwärts schritt.

Er kannte die Windungen der Straßen nicht genau genug, um es wagen zu dürfen, die ruhigsten Straßen auszusuchen, und dann fiel es ihm auch ein, daß da, wo am meisten Verkehr wäre, er auch die meiste Aussicht haben könnte, Monna Ghita anzutreffen und so seine fahrende Ritterschaft zu beenden. Er machte sich also geraden Weges nach der Porta Rossa und nach Ognisanti auf, indem er sein gewöhnliches, freundliches, mildes Antlitz dem gemischten Publikum, welches ihm begegnete, und mit Späßen über ihn und sein kleines, schwerbeschuhtes Mädchen nicht karg war, zeigte. Neben den anständigeren Feiertagsspaziergängern befanden sich auch einige lustige Gesellen, die sein Glück zu beneiden schienen, keckäugige Weibsbilder mit dem Abzeichen des gelben Schleiers Das gelbe Kopftuch ist im Mittelalter in verschiedenen Regionen Zeichen der Prostituierten. – Anm.d.Hrsg., Bettler, die ihre Mütze hinhielten, um ein Almosen zu erhaschen, indem sie Tito's augenscheinliche Eile verhöhnten, Würfler, Falschspieler und Lungerer der schlimmsten Art, Knaben, deren Zungen sich bei dem gemeinsten Straßenzeitvertreib gemeinschaftlich bewegten, denn die Straßen von Florenz boten damals nicht immer ein sittliches Schauspiel dar, und Tessa's Furcht, sich in der Menge zu verirren, war nicht ganz grundlos.

Als sie die Piazza d' Ognisanti erreichten, mäßigte Tito seine Schritte; beide waren jetzt, von dem hastigen Gange erhitzt, auf einem geräumigeren Platz, wo sie Athem schöpfen konnten. Sie setzten sich auf eine der Steinbänke, deren eine große Anzahl an den Mauern der alten florentinischen Häuser angebracht war.

»Heilige Jungfrau!« rief Tessa »wie bin ich froh, daß wir von diesen Weibern und Knaben fort sind, aber Angst hatte ich doch nicht, da Ihr mich beschützen konntet.«

»Liebe kleine Tessa,« sagte er lächelnd, »woher kommt es denn, daß Du Dich bei mir so sicher fühlst?«

»Weil Ihr so schön seid wie Die, welche in's Paradies kommen – die sind Alle gut.«

»Es ist schon lange her, daß Du gefrühstückt hast, Tessa,« sagte Tito, als er in der Nähe einige Buben mit Früchten und Süßigkeiten gewahrte, »bist Du hungrig?«

»Ja, ich glaube wohl, das heißt, wenn Ihr auch Etwas davon haben wollt.«

Tito kaufte Aprikosen, Kuchen und Confect, die er ihr in die Schürze legte, indem er sagte:

»Komm, laß uns bis zum Prato gehen, von da wirst Du Dich wol nicht fürchten, weiter bis nach Hause zu gehen.«

»Aber Ihr müßt auch etwas von den Aprikosen und dem Uebrigen nehmen!« erwiderte Tessa gehorsam aufstehend und ihre Schürze wie einen Vorrathsbeutel aufnehmend.

»Wir wollen sehen,« sagte Tito laut, bei sich selbst aber dachte er: »das ist eine kleine Contadina, die zu einem schöneren Idyll begeistern könnte, als Lorenzo de' Medici's Nencia da Barberino, für die Nello's Freunde so sehr schwärmen; wenn ich nur ein Theokritos wäre, oder Zeit hätte, die nothwendige Erfahrung durch ungelegene Spaziergänge dieser Art zu gewinnen. Indessen geschehen ist geschehen, ich habe mich ohnehin schon so verspätet, daß eine halbe Stunde mehr keinen Unterschied macht. Das reizende Täubchen!«

»Wir haben einen Garten und eine Menge Birnen,« sagte Tessa, »und außer den Maulthieren noch zwei Kühe, und ich habe sie sehr lieb. Aber der Stiefvater ist ein böser Mann, ich wünschte, die Mutter hätte ihn nicht geheirathet. Ich glaube, daß er nichts taugt, er ist sehr häßlich.«

»Und giebt Deine Mutter zu, daß er Dich schlägt, poverina? Du sagtest mir ja, Du habest Furcht vor Schlägen.«

»Die Mutter selbst schilt mich aus, sie liebt meine jüngere Schwester mehr als mich und meint, ich sei nicht fleißig genug. Niemand spricht freundlich mit mir, ausgenommen der Pfarrer, wenn ich zur Beichte gehe. Und die Männer auf dem Markt lachen mich aus und halten mich zum Besten. Noch nie hat mich Jemand geküßt und zu mir gesprochen so wie Ihr, gerade so, wie ich zu meiner kleinen Ziege mit dem schwarzen Kopf rede, weil ich sie so lieb habe.«

Es schien Tessa gar nicht aufgefallen zu sein, daß in Tito's äußerer Erscheinung eine Veränderung seit dem Morgen, als er sie um die Milch gebeten hatte, vorgegangen war, und daß er jetzt wie Jemand aussah, für den sie ihren kleinen Vorrath von achtungsvollen Worten und Geberden zusammennehmen mußte. Er war ihr zu verschieden von allen anderen ihr vorgekommenen menschlichen Wesen erschienen, als daß sie eine genauer eingehende Vergleichung angestellt hätte. Sie achtete nicht auf seinen Anzug, er war für sie weiter nichts als eine Stimme und ein Antlitz, ein Etwas, das vom Paradiese in eine Welt, wo fast Alles rauh und böse war, herniederstieg, und sie plauderte mit ihm so ungezwungen, als ob er ein wesenloser, von ihrem eigenen Lieben und der Sonnenwärme geborener Gefährte wäre.

Sie hatten den Prato erreicht, welches damals ein freier Platz innerhalb der Stadt war, wo die florentinische Jugend sich mit ihrem Lieblingsspiel, dem Calcio (einer Art Ballspiel, wo der Ball mit den Füßen getrieben wird), und anderem Zeitvertreib beschäftigte. Jetzt, zur Mittagszeit, war dieser Platz aber verödet und ruhig, sogar bis an die Thore, wo ein Zelt für die Zurüstungen zu den Wettrennen errichtet war. Am Saum dieser breiten Wiese blieb Tito stehen und sagte:

»Jetzt, Tessa, wirst Du wol keine Angst haben, den Rest des Weges allein zu gehen, wenn ich Dich verlasse. Addio! Soll ich morgen früh auf den Markt kommen und Dir eine Schale Milch abkaufen, um zu sehen, daß Du wohlbehalten heimgekommen bist?«

Er fügte diese Frage in einem beschwichtigenden Tone hinzu, als er sah, wie sie ihre Augen kummervoll weit öffnete, und wie ihre Mundwinkel sich abwärts zogen. Zuerst sagte sie nichts, sondern öffnete nur ihre Schürze und sah ihre Aprikosen und Confituren an, dann aber blickte sie wieder zu ihm empor und sagte mit klagender Stimme:

»Ich hatte geglaubt, Ihr würdet mit mir kommen, und wir könnten unter einem Baume außerhalb des Thores sitzen und sie zusammen verzehren.«

»Aber, Tessa, Du kleine Sirene, Du würdest mich ja zu Schanden machen,« rief Tito lachend, indem er sie auf beide Wangen küßte, »ich hätte schon längst in der Via de' Bardi sein sollen. Nein, jetzt muß ich umkehren, Du bist außer aller Gefahr. So – eine Aprikose will ich nehmen. Addio!«

Als er diese Worte gesagt hatte, war er schon zwei Ellen weit von ihr. Tessa wäre nicht vermögend gewesen, ein Wort hervorzubringen. Sie war blaß und ein tiefer Seufzer war im Begriff, sich ihrem Busen zu entwinden; aber sie wandte sich um, als ob sie fühle, daß ihr keine Hoffnung mehr bliebe, und indem sie ihre Schürze so gedankenlos hielt, daß die Aprikosen in's Gras herniederrollten.

Tito konnte nicht umhin, sich nach ihr umzusehen, und als er gewahrte, wie ihre Schultern sich zu dem aufsteigenden Seufzer hoben und die Aprikosen niederfielen, trieb es ihn unwillkürlich, ihr nachzugehen und die Früchte aufzulesen. Es ging ihm sehr nahe; er war sehr weit entfernt von der Via de' Bardi und ganz dicht bei Tessa.

»Sieh' einmal her, Du einfältiges Ding,« sagte er, indem er die Aprikosen auflas, »komm, höre auf zu weinen, ich will mit Dir gehen und wir wollen uns unter einen Baum setzen. Nun komm, ich mag Dich nicht weinen sehen, Du weißt doch aber, daß ich einmal ja dennoch weggehen muß.«

So geschah es, daß sie eine große Platane nicht weit außerhalb des Thores fanden, und sie setzten sich unter dieselbe, und das ganze Festmahl wurde in Tessa's Schoos gelegt, während sie sich mit ihrem Rücken an den Baum lehnte und er sich ihr gegenüber hinstreckte, die Elbogen auf den rauhen grünen, vom Schatten gepflegten Rasen gestützt, während das Sonnenlicht sich durch die Zweige stahl und sie wie ein geflügeltes Wesen umspielte. Tessa's Gesicht drückte nun ihre ganze Zufriedenheit aus, und die Aprikosen und Confituren schienen ihr außerordentlich zu munden.

»Du kleines, reizendes Vögelchen!« rief Tito, sie betrachtend, während sie die Ueberbleibsel des Mahls ansah und augenscheinlich überlegte, wie sie dieselben bergen könne, da er erklärt hatte, nichts mehr zu sich nehmen zu wollen. »Wenn man bedenkt, daß es Jemanden gibt, der Dich ausschilt! Was für Sünden beichtest Du denn, Tessa?«

»O, eine große Menge! Ich bin oft ungezogen. Ich mag nicht arbeiten, und kann es nicht helfen, wenn ich gern faullenze, obgleich ich weiß, daß ich Schelte und Schläge dafür bekomme; und ich gebe den Maulthieren das beste Futter, wenn mich Niemand sieht, und wenn die Mutter böse darüber ist, so sage ich, daß ich es nicht gethan habe, und darum habe ich solche Angst vor dem Teufel. Ich glaube, der Zauberer war der Teufel. Ich bin aber nicht so ängstlich, wenn ich zur Beichte gewesen bin. Und seht nur, da habe ich ein Breve, das ein frommer Vater, der diese Ostern in Prato predigte, weihte und uns Allen gab« – dabei zog Tessa ein kleines, sorgfältig zusammengebundenes Säckchen aus dem Busen. – »Ich denke denn auch, die heilige Gottesmutter wird sich meiner annehmen; sie sieht gerade so aus, als würde sie es thun, und vielleicht ließe sie mich auch keine Schläge bekommen, wenn ich nicht faul wäre.«

»Wenn sie so grausam gegen Dich sind, Tessa, würdest Du sie denn da nicht gern verlassen und zu einer schönen Dame gehen, die gut gegen Dich wäre, wenn Du sie bedientest?«

Tessa schien ein paar Augenblicke ihren Athem an sich zu halten, dann sagte sie wie zweifelnd: »ich weiß nicht.«

»Würdest Du denn gern meine Dienerin sein und bei mir bleiben?« fragte Tito lächelnd; er meinte aber mit diesen Worten nichts, sondern wollte nur sehen, welchen lieblichen Blick sie ihm zuwerfen und was sie antworten würde.

Eine freudige Röthe überflog ihr Gesicht: »wollt Ihr mich gleich mit Euch nehmen? dann würde ich gar nicht nach Hause gehen und keine Schläge bekommen« – hier hielt sie inne und fuhr dann, etwas mehr unsicher werdend, fort: »aber ich muß erst meine schwarzköpfige Ziege holen.«

»Ja, Tessa,« sagte Tito sich erhebend, »Du mußt zu Deiner Ziege zurückkehren, und ich muß dorthin gehen.«

»Beim Jupiter,« fuhr er fort, als er aus dem Schatten des Baumes hervortrat, »das ist keine angenehme Tageszeit, um von hier nach der Via de' Bardi zu gehen; ich hätte viel mehr Last, mich niederzulegen und hier im Schatten zu schlafen.«

So kam es auch. Tito hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen alles Unangenehme, selbst wenn ein sehr ersehnter oder geliebter Gegenstand dadurch zu erreichen war. Er war früh aufgestanden, hatte gewartet, verschiedenen Scenen beigewohnt und Spaziergänge in der Sonnenhitze gemacht; er war aufgelegt Siesta zu halten, und dieses zwar um so mehr, als die kleine Tessa da war, die diese Siesta noch sanfter zu machen schien. Er streckte sich nieder, die Mütze unter den Kopf legend, auf dem grünen Rasen in das Gras neben Tessa. Das war nicht ganz bequem, er rückte also wieder weiter und bat Tessa, seinen Kopf in ihren Schoos legen zu dürfen, und in dieser Stellung entschlummerte er schnell. Tessa saß ruhig da wie eine Taube in ihrem Nest, und getraute sich nur, als er fest eingeschlafen war, die wunderbar schönen Locken, die hinter seinem Ohr sich herabringelten, zu berühren. Sie war zu glücklich, um schlafen zu können, zu glücklich, zu denken, daß Tito erwachen, daß er sie dann verlassen würde, und daß sie dann nach Hause gehen müßte. Es braucht wenig Wasser, um für einen kleinen Fisch einen vollständigen Teich zu bilden, wo er seine Welt und sein Paradies vereinigt findet und keine Ahnung vom trockenen Ufer hat. Der spielende sommerliche Schatten, die Ruhe und der leise Athem eines theuren Lebens in der Nähe – das wäre für uns Alle ein Paradies, wenn seine Pforten nicht vom grübelnden Gedanken, dem starken Engel mit der finstern Stirn, schon längst verschlossen wären.

Es währte lange, bis er erwachte, bis seine großen dunklen Augen sich erschlossen, erst wie staunend, dann mit einem Lächeln, das aber bald von einem beunruhigenden Gedanken vertilgt ward. Tito's fester Schlaf war in einen Halbschlummer übergegangen, in welchem er sich in die Via de' Bardi versetzt glaubte, sein Ausbleiben zur bestimmten Stunde entschuldigend. Die deutlichen Bilder dieses Halbschlafs machten, daß er aufschnellte und in sitzender Stellung seine Arme reckte und die Mütze schüttelte, indem er ausrief:

»Kleine Tessa, Du hast mich zu lange schlafen lassen. Mein Hunger und der Schatten, beide sagen mir, daß die Sonne schon einen großen Weg gemacht hat, seit ich eingeschlafen bin. Ich darf keine Zeit mehr verlieren. Addio!« Mit diesen Worten schloß er, ihre Wangen mit der einen Hand streichelnd und mit der andern seine Mütze ordnend.

Sie antwortete nichts, aber in ihrem Gesichte machten sich Anzeichen bemerkbar, welche ihn veranlaßten, so ernst und tadelnd, wie es ihm möglich war, zu sprechen.

»Tessa, Du mußt nicht weinen, sonst werde ich böse. Ich habe Dich nicht lieb, wenn Du weinst. Du mußt jetzt nach Hause zu Deiner Ziege mit dem schwarzen Kopf, oder wenn Du willst, kannst Du zurückgehen bis an's Thor und dort das Pferderennen mit ansehen. Ich kann nicht länger bei Dir bleiben, und wenn Du weinst, so wirst Du mir lästig.«

Die aufsteigenden Thränen wurden bei diesem Wechsel in Tito's Stimme vom Schreck gebannt. Tessa erblaßte und saß mit von zurückgehaltenen Zähren weitgeöffneten Augen zitternd und schweigend da.

»Sieh,« fuhr Tito begütigend fort, indem er die Tasche, die an seinem Gürtel hing, öffnete, »hier ist ein hübsches Amulet, das ich schon lange habe, schon als ich in Sicilien, weit weg von hier, war.«

Seine Tasche enthielt zwischen Kleingeld eine Menge kleiner Gegenstände, und er hatte die Schwierigkeit, die man gewöhnlich hat, gerade das zu finden, was man sucht. Er hakte die Tasche also los und streute den Inhalt derselben in Tessa's Schoos ans; es war auch sein Onyxring darunter.

»Ah, mein Ring!« rief er, ihn auf den Zeigefinger der rechten Hand gleiten lassend, »ich vergaß ganz, ihn heut' morgen anzustecken. Merkwürdig, ich habe ihn auch gar nicht vermißt. Sieh, Tessa,« fuhr er fort, als er die kleineren Gegenstände auskramte, und denjenigen, den er gesucht hatte, herausnahm, »sieh dieses hübsche spitze Stück rother Koralle – wie das Horn Deiner Ziege, nicht wahr? und hier ist ein Loch darin, so kannst Du es an der Schnur um Deinen Hals zusammen mit dem Breve tragen, und dann können die bösen Geister Dir nichts anhaben. Wenn Du sie jemals im Halbdunkel um die Ecke kommen siehst, so brauchst Du ihnen nur dieses kleine Korallenhörnchen entgegenzuhalten, und sie werden sich aus dem Staube machen. Es ist eine › buon' fortuna,‹ und wird Dich vor Leid beschützen, wenn ich nicht bei Dir bin. Komm, nimm die Schnur ab!«

Tessa gehorchte mit der beruhigenden Idee, daß das Leben ihr jetzt ganz neu erblühen und Tito sehr oft bei ihr sein würde. Wer sich seiner Kindheit erinnert, wird sich auch der seltsamen unbestimmten Empfindung erinnern, die ihn, wenn er etwas Neues erlebte, beschlich, nämlich der Empfindung, daß nun Alles verändert werden und die alte Eintönigkeit nicht wiederkehren werde. So wurde das Stück Koralle neben den kleinen Beutel mit dem bekritzelten Pergament gehängt, und Tessa fühlte sich muthiger.

»Und jetzt wirst Du mir einen Kuß geben,« sagte Tito, die Zeit weise benutzend, indem er sprach, während er zugleich den Inhalt der Tasche einpackte und sie wieder an den Gürtel hängte, »und vergnügt aussehen, wie es einem braven Mädchen zukommt, und dann –«

Aber Tessa hatte schon gehorsamlichst ihre Lippen gespitzt und küßte ihn auf die Wange, während er den Kopf bückte.

»O Du reizendes Täubchen!« rief Tito lachend, indem er ihre runden Wangen mit den Händen drückte und ihr ganzes Gesicht so zusammenpreßte, daß er ihr einen unparteiischen allgemeinen Kuß gab.

Dann sprang er auf und entfernte sich, sich nicht eher umwendend, als bis er etwa zehn Ellen weit gegangen war, da erst sah er sich nach ihr um, ihr ein Lebewohl zuwinkend. Tessa schaute sich auch nach ihm um, aber er bemerkte, daß sie kein Zeichen des Kummers von sich gab. Tito war schon zufrieden, wenn sie in seiner Gegenwart nicht weinte, denn die Milde seines Charakters verlangte, daß jeder Gram vor ihm verborgen bleiben solle.

»Ich möchte wissen, ob Romola jemals meine Wangen auf diese Weise küssen wird?« dachte Tito im Gehen bei sich. Die Entfernung erschien ihm jetzt sehr ermüdend, und er wünschte fast, daß er nicht so weichherzig gewesen wäre, oder sich so hätte verleiten lassen, im Schatten auszuruhen. Bei Bardo und Romola bedurfte es übrigens keiner andern Entschuldigung, als daß er sagte, er wäre unvermuthet verhindert worden, und er war überzeugt, daß ihr stolzes Zartgefühl nicht weiter nachforschen würde. Er verlor keine Zeit, nach Ognisanti zu kommen, und nachdem er dort eiligst etwas zu sich genommen hatte, überschritt er die Arnobrücke alla Carraja, und ging auf dem kürzesten Wege nach der Via de' Bardi.

Es war aber eben die Stunde, da Alle, welche bei Zeiten zum Corso zurecht kommen wollten, aus den nächsten umliegenden Dörfern, wo sie zu Mittag gespeist und ausgerastet hatten, zurückkehrten, und die zu den Brücken führenden Durchwege waren natürlich die Plätze, wohin der Strom der Schaulustigen sich ergoß. Gerade als Tito den Ponte vecchio und die Via de' Bardi erreicht hatte, wurde er plötzlich nach der Ecke der Querstraßen zurückgedrängt. Eine Schaar Reiter, die von der Via Guicciardini die Via de' Bardi heraufkam, nöthigte die Fußgänger, eilig zurückzuweichen. Tito ging nach seiner Gewohnheit, den Daumen der rechten Hand in den Gurt gesteckt, und als er auf obige Weise gezwungen war stehen zu bleiben, und den vorüberziehenden Reitern gleichgültig nachsah, fühlte er, wie sich eine magere kalte Hand auf die seinige legte. Er drehte sich rasch um und erblickte den Dominikanermönch, dessen zu ihm emporgerichtetes Gesicht ihm am heutigen Morgen so sehr aufgefallen war. Wenn man diese Züge näher betrachtete, so waren sie augenscheinlich von Krankheit, nicht aber vom Alter erschlafft, und sie riefen auf's Neue in Tito eine unbestimmte Erinnerung wach.

»Verzeiht, aber nach Eurem Gesicht und nach Eurem Ring zu urteilen,« sagte der Mönch mit matter Stimme »ist Euer Name wol Tito Melema?«

»Ja,« antwortete Tito, gleichfalls mit leiser Stimme, doppelt erschüttert von der kalten Berührung und dem Geheimnißvollen. Er war nicht furchtsam oder ängstlich durch die Phantasie, aber seine Empfindungen und Wahrnehmungen konnten ihn leicht erbeben und wie ein Mädchen erbleichen machen.

»In diesem Falle will ich meinen Auftrag ausrichten!«

Der Mönch fuhr mit der Hand unter sein Scapulir, und indem er einen kleinen leinenen Beutel, der um seinen Hals hing, hervorzog, nahm er aus demselben ein zusammengefaltetes, von einer klebrigen Substanz fest zusammengehaltenes Stück Pergament, das er in Tito's Hände legte. Auf der Außenseite stand in kleiner aber deutlicher Schrift Folgendes auf Italiänisch geschrieben:

» Tito Melema, dreiundzwanzig Jahre alt, mit einem dunklen, schönen Gesicht, langen braunen Locken, einem reizenden Lächeln, und einem großen Onyxringe an seinem rechten Zeigefinger.«

Tito sah den Mönch nicht an, sondern erbrach mit zitternder Hand das Pergament. Drinnen standen die Worte:

» Ich bin in die Sklaverei verkauft. Ich glaube, sie wollen mich nach Antiochia bringen. Die Edelsteine allein genügen, um mich auszulösen.«

Tito sah sich nach dem Mönch um, war aber nicht im Stande, anders als mit den Augen zu fragen.

»Ich bekam es in Korinth,« antwortete dieser, mühsam die Worte hervorbringend, wie Jemand, dessen schwache Kräfte zu stark angestrengt worden sind, »ich erhielt es von einem Sterbenden.«

»Er ist also todt?« rief Tito mit hochklopfendem Herzen.

»Nicht der Schreiber; der Mann, der es mir gab, war ein Pilger wie ich, und ihm hatte der Schreiber es anvertraut, weil er nach Italien reiste.«

»Ihr kennt den Inhalt?«

»Nein, ich kenne ihn nicht, aber ich ahne ihn wohl. Euer Freund befindet sich in der Sklaverei – Ihr wollt hin und ihn befreien; aber jetzt kann ich nicht weiter sprechen.« Der Mönch, dessen Stimme immer schwächer und schwächer geworden war, sank auf die steinerne Bank an der Mauer, von welcher er sich erhoben hatte, um Tito's Hand zu berühren.

»Ich bin in San Marco, mein Name ist Fra Luca!«



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