Ebner-Eschenbach
Die schönsten Erzählungen
Ebner-Eschenbach

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Der Erstgeborene

»Die Gräfin« wurde sie genannt, wenn die Dorfleute untereinander von ihr sprachen, angeredet aber nur kurzweg mit ihrem Namen. Ihre Vorgeschichte war lange bekannt; wer hätte sich noch Gedanken über die gemacht? Wenn man sagte: die Gräfin, sagte man's aus alter Gewohnheit und meinte dabei nichts Gutes und nichts Böses. Jetzt war die schöne Ilona die Frau des Bauers Stephan Bogozy, dem sie zwei prächtige Knäblein geboren hatte. Das eine zählte fünf, das andre vier Jahre, und sie hatten sammetbraune Augen und Haare wie ihre Mutter und blühten in Gesundheit wie sie.

Zehn Jahre waren vergangen, seitdem das damals noch sehr junge Ehepaar aus der niederungarischen Ebene nach Vicim an der Waag gekommen war, den Bauernhof des in Sünden und Schulden hingegangenen Richters erworben und die Forderungen aller Gläubiger beglichen hatte. Mann und Frau verstanden von Anfang an ihr Verhältnis zur neuen Umgebung so friedfertig und freundlich zu gestalten, als der Neid auf ihren Reichtum und das Vorurteil gegen die »Zugereisten« es irgend zuließ. Nach und nach gelangten sie zu einer maßgebenden Stellung im Dorfe, und da sie nicht suchten Vorteil aus ihr zu ziehen, wurde sie ihnen mehr oder weniger gern zugestanden. So gehörten sie zu den seltenen Ausnahmen, denen niemand in der Gemeinde offene Feindschaft entgegentrug. Dafür, daß es an tückisch versteckter nicht fehle, sorgte die illegitime Familie des Richters, die nach seinem Tode im Elend zurückgeblieben war; ein Haufen Kinder, von klein auf zu jeder Schlechtigkeit gedrillt, und ein von Natur boshaftes Weib.

Daß Fremde da wohnten und wirtschafteten, wo sie durch so lange Zeit, wenn auch nicht im Genuß der Würde, doch in dem der Macht einer Hausfrau gewesen war, bereitete ihr Höllenqualen. Jede Verbesserung, jede Verschönerung, die am ehemaligen Richterhause, an seinen Scheuern und Ställen angebracht wurde, war ihr »ein Biß ins Herz«. Stand der Hof nicht jetzt da, mitten im Orte, auf dem Platz in der Nähe der Kirche, wie ein Kastell? Die paar Schaluppen, die sich ganz schüchtern bis zur Rückwand des Hauses herangewagt und gleichsam unter seinen Schutz begeben, hatte Bogozy angekauft, niedergerissen und auf dem freigewordenen Grunde einen Obstgarten angelegt. So war nun der Besitz jeder unmittelbaren Nachbarschaft ledig. Die Eigentümer konnten sich breitmachen nach allen Seiten, ob sie zwischen Blumen- und Gemüsebeeten der Straße zuschritten, durch die getäfelte, buntbemalte Haustür, oder durch das Pförtchen ihr gegenüber am Ende des Flurs den Weg einschlugen zum grünumbuschten Ufer der Waag.

Mit stillen Flüchen begleitete Vilma Rezsa das Wachsen des Wohlstands ihrer Feinde und hatte für alles, was sie litt, nur den einen Trost, daß auch sie die Verhaßten leiden machen konnte. Wenn sie Stephan in der Nähe seines Hauses traf, die Hände voll Bewunderung zusammenschlug und sagte: »O wie schön Ihr's habt! Mein Seel, der König kann's nicht schöner haben! Wo Ihr nur auch das schöne Geld her habt, Euch alles das zu schaffen?«, da funkelten seine sonst so freundlichen Augen vor Zorn, und er drohte ihr mit Prügeln. Er machte ab und zu seine Drohung auch wahr; eine andere Antwort wußte er nicht. Und wenn die Rezsa im Gespräch mit Ilona sie fortwährend »Gräfin« titulierte und sie dabei höhnisch und unverwandt anstarrte, da brannten der Bäuerin die Wangen, und der Angstschweiß trat ihr auf die Stirn. Hätte sie die geringste Aussicht auf die Erfüllung ihrer Bitte gehabt, gewiß würde sie gebeten haben: »Verschont mich, Vilma Rezsa!«

In neuerer Zeit, nachdem die Kinder der Unholdin teils gestorben, teils schlecht und recht untergebracht waren, verlegte sie sich auf einen kleinen Handel mit Kurzware, den zu eröffnen das Ehepaar Bogozy sie instand gesetzt hatte, und bei dem sie ihr Auskommen fand. Sie zog im Land umher, ihren Kasten mit den vielen Lädchen auf dem Rücken, und blieb oft monatelang von Vicim fern zur Freude der ganzen Bewohnerschaft.

Die Einförmigkeit des Lebens im ehemaligen Richterhause erfuhr eine unerwartete Störung. Stephan wurde in einer Erbschaftsangelegenheit nach seiner Heimatgemeinde im Hajdu-Komitat berufen. Zuerst unangenehm überrascht, fügte er sich doch bald ins Unabänderliche. Was sein muß, muß sein, und – lauter Mißvergnügen ist die Sache am Ende nicht. Gewiß, er hatte sich im slowakischen Dorfe eingebürgert, es war ihm eine zweite Heimat geworden; aber seinen Fuß einmal wieder auf die Stätte setzen, wo der Mensch geboren wurde und aufgewachsen ist, das wird doch jeder gern, machte sich Stephan nach reiflicher Erwägung klar und fragte:

»Was meint die Frau?«

Sie lächelte. Es verstand sich von selbst, daß sie meinte, was er meinte, und es verstand sich auch von selbst, daß ein echter Hajduck eine Gelegenheit, die Heimat zu besuchen, nicht versäumt: »Vom Himmel würde ja so einer herabsteigen, daß er nur einmal wieder auf der Lehmbank sitzen könnt vor seinem Hause aus Luftziegeln. Glaubst nicht, Stephan?«

Er kaute an der Spitze seines Pfeifenrohrs und schmunzelte, als sie fortfuhr:

»Um fünfspännig aufs Feld zu rasen oder, mit der Kranichfeder am Hut und den Sporen an den Stiefeln, über die Pußta zu jagen . . .«

»Auf der Fecske – wie der Wind. Hej!« fiel er ein und stampfte mit dem Fuße.

An einem eisigen Wintertage um zwei Uhr früh brach er auf. Gute vier Stunden mußte Stephan scharf fahren im Schlitten mit seinen besten Pferden, wenn er auf die Bahnstation zurechtkommen wollte zum Pester Zug. Er hatte die Pelzmütze aufgesetzt, den Pelz über die Schultern geworfen, trat an die Bettchen seiner Buben und strich einem nach dem andern liebreich über den Scheitel. Dann, schon an der Tür, fiel ihm ein, daß er fast fortgegangen wäre, ohne der Frau Lebewohl zu sagen, die aufgeblieben war die ganze Nacht, um die Zurüstungen zu seiner Reise zu treffen und um ihm ein kräftiges Frühstück zu kochen.

Er blieb stehen, wandte sich und breitete die Arme aus. Sie legte, herantretend, die ihren um seinen Hals, und sie küßten einander lange und zärtlich. Stephan schlug den Pelz um die schlanke Gestalt seines Weibes: »Ich nehm dich mit, komm!« sagte er.

»Und die Kinder?« fragte sie.

»Ja – die Kinder . . .«

»Geh nur, geh, bist ohnehin nimmer da. Erst vergissest mich, dann die Buben. Geh und komm mir bald wieder.«

»Mein, mein, du Meine!« flüsterte er, seine Lippen auf den ihren, und die beiden Menschen dachten zugleich, daß es in der ganzen Zeit ihrer Ehe die erste Trennung war, der sie entgegengingen.

Seltsam auch ließ der erste Tag sich an im Hause, in dem nur einer fehlte, und das der Frau doch völlig leer erschien. Die Arbeit nahm den gewohnten Gang, die Mägde reinigten die Stallungen und gaben dem Vieh sein Futter, und ein helles Feuer brannte im Küchenherd, und zu Mittag erschien, gut und reinlich zubereitet, das Essen auf dem Tisch. Alles wie immer und dabei so ganz anders, so nichtssagend und gleichgültig, wie wenn es ebensogut auch unterbleiben könnte. Der Frau war, als fehle der rechte Anlaß zu dem, was sie tat und was ihre Leute taten. Ungeduldig machten sie ihre zwei kleinen Jungen, die sich einer ausgelassenen Lustigkeit ergaben.

»Der Vater ist abgereist«, hatte man ihnen am Morgen gesagt, und das war eine ungeheure Überraschung für sie. – Wie, abgereist? Wie reist man ab? Wie macht man das? Sie wurden nicht müde, sich erzählen zu lassen: Im Schlitten ist der Vater fort, mit dem Schimmel und mit dem Rappen und mit dem Janos. Und der Janos wird abends zurückkommen mit dem Schlitten und mit den Pferden, aber der Vater erst am Sonntag und vielleicht noch später.

Die Knäblein liefen in den Stall, um sich zu überzeugen, ob der Schimmel und der Rappe wirklich nicht da waren, und betrachteten staunend die leeren Stände. Und wenn man so erstaunt ist, und wenn sich etwas Unerhörtes begeben hat, muß man doch, wenn man ein Kind ist, in einen Taumel der Glückseligkeit über das neue Erlebnis geraten. Sie schrien und sangen und tollten wie kleine Kobolde im Hause herum, bis die Mutter sie zur Abkühlung an die Luft setzte. Nun bauten sie mit Hilfe anderer Dorfkinder neben die Tür des Staketzaunes zwei Schneemänner, die den Vater bei seiner Heimkehr begrüßen sollten. Und abends beteten sie, der liebe Gott möge nicht Tauwetter eintreten und ihre Schneemänner zerfließen lassen. Als die Mutter sie zu Bett gebracht hatte und sich zur Arbeit an den Tisch setzte, kam einer nach dem andern daher, sie krochen auf ihren Schoß und herzten und liebkosten sie, daß ihr beinahe der Atem verging. Sie nahm einen der Kleinen in jeden Arm, sah ihnen in die runden, rosigen Gesichter und sagte: »Ihr garstigen Buben, ihr! Warum sieht keiner von euch dem Vater ähnlich?«

Der vierjährige Feri nahm die Sache ernst und schämte sich; aber Pista, der ältere, wies den Vorwurf zurück. »Jetzt seh ich dir ähnlich«, sprach er, »weil ich noch klein bin. Wenn ich groß sein werd, werd ich sein wie der Vater. Ich werde einen schwarzen Schnurrbart haben und eine große Nase und Schritte machen so lang«, und dabei breitete er die Arme aus, soweit er konnte.

Nun schliefen sie in ihren Bettchen, die zu Füßen des Bettes der Eltern standen. Ilona hatte die Laden der beiden Fenster geschlossen. Die Lampe brannte auf dem Tische, der große Kachelofen in der Ecke sandte eine wohlige Wärme aus. Zwischen ihm und der Tür hingen an einem Rechen die Werktagskleider des Mannes, auf der anderen Seite sein Gewehr, seine Fiedel und sein Stock mit dem Hammer aus Messing. Zwei geschnitzte Schränke erhoben sich stattlich an der Längswand; auf jedem von ihnen stand ein Blumenstrauß aus Wachs, und den Ehrenplatz in ihrer Mitte nahm ein Bild des regierenden Königs Ferdinand I. ein. Zu dessen Füßen prangte, Stephans Erbstück aus dem Elternhause, eine mit Tulpen bemalte Truhe, die solide Verwahrerin des Bargeldes, der Steuerbücher und aller Wertsachen, die man irgend besaß. Auf einem Eckgestelle neben dem Bette lagen vor einem Kruzifix eine Bibel und einige Andachts- und Gesangbücher.

Die Frau hatte eine Jacke vom Rechen geholt und sich in eine Flickarbeit zu vertiefen gesucht. Wenn ihr Mann wüßte, was alles für bangende Gedanken um ihn sie verfolgten, – auslachen, zanken würde er sie. Jedes Eisenbahnunglück, von dem sie je gehört hatte, kam ihr in den Sinn. Was sah sie nicht alles vor sich! Was für schreckliche Möglichkeiten fielen ihr ein! Nein, wirklich, besser nicht denken . . . »Denk nicht!« Als kleines Mädchen, als armes, kleines Csárdakind, weit drüben an der untern Theiß, hatte sie es zu hören bekommen von Vater und Mutter, wenn sie für ein Versehen die Entschuldigung vorbrachte: »Aber ich habe mir gedacht . . .« – »Denk nicht, gehorche!« Mit denselben Worten hatte der Herr Chef sie angeschrien, da sie später als Handlangerin in der Schloßküche diente.

Denk nicht – gehorche! hieß es auch in jener fürchterlichen Stunde, der scham- und gramvolle Jahre folgten . . . Nein, nicht denken, Gott danken, daß alles vorüber, was peinigte und quälte, und daß sie die geliebte Frau ihres geliebten Stephan ist und die Mutter seiner Kinder. O Glück, daß es noch so kommen konnte, o Glück, daß er ihr treu geblieben ist . . . Sie legte seine Jacke vor sich hin und preßte das Gesicht in ihre Falten. Es war spät geworden, – tiefste Stille herrschte, manchmal unterbrochen durch ein Gemurmel des einen oder des anderen Kindes, das aus dem Schlafe sprach. Ilona holte von dem Eckgestelle ein abgegriffenes Buch, ein Neues Testament, herab und schlug es auf. Sie tat das nie, ohne ihre Augen eine Weile auf dem Vorsatzblatte ruhen zu lassen. Da standen in steifer Handschrift die Worte:

Dein Tagewerk, wenn auch noch so reich an belohnten Mühen, ist nicht vollendet, bevor du in diesem Buche gelesen hast.

Dein Seelenhirt

Samuel Déry

Da war ihr, als würde die Tür des Gartengitters vorsichtig aufgeklinkt. Gleich darauf hörte sie deutlich das Knistern des festgefrorenen Schnees unter herannahenden Tritten, und nun ein leises, anhaltendes Klopfen an eines der Fenster.

Sie fuhr zusammen. Es durchzuckte sie: Er hat's nicht ausgehalten fern von uns . . . ist umgekehrt . . . kommt wieder . . . Aber jetzt vernahm sie den Zuruf einer bekannten Stimme:

»Grofka! Grofka! Hört mich an. Öffnet!« – Die Vilma Rezsa. Bei nachtschlafender Zeit kommt sie daher, die Menschen zu schrecken.

Aus jähem Entsetzen geriet Ilona in heftige Entrüstung. Sie eilte auf das Fenster zu und schlug den Laden zurück. Da stand vor ihr die zigeunerhafte Gestalt der Feindin und hob sich dunkel ab von der Schneedecke, die in gespenstiger Weiße über die Landschaft gebreitet war und sie unabsehbar erscheinen ließ, ohne Grenze als den kalten, grauen, sternenlosen Himmel, mit dem sie am Horizonte verschwamm.

Als Ilona nun auch rasch das Fenster öffnete, fiel der grelle Schein der Lampe auf Vilmas dunkles Gesicht. Ein tückischer Triumph sprach sich in ihm aus.

»Was ich will?« beantwortete sie die Frage, mit der die Bäuerin sie empfing. »Euch etwas erzählen, Grofka . . . Nein, nein, es hat nicht Zeit bis morgen. Morgen früh brech ich wieder auf. Ihr habt mich zur Handelsfrau gemacht, jetzt heißt's wandern . . . Was ich Euch erzählen wollt, was Euch freuen wird: Ich war nicht bloß in Budapest, war weiter. Bis an die untere Theiß bin ich gekommen, in ein stolzes Schloß mit Säulen so hoch wie hier die Kirche und mit fast so viel Dienerschaft, als bei uns im Ort Leute sind, und habe verkauft und habe einen jungen Grafen gesehen, schön wie die Sonne im Aufgang. Sind ja herzig, Eure Bauernbuben, aber im Vergleich zu dem dort drüben doch nur, was Spatzen gegen Goldamseln sind . . . Ihr gäbt was drum, wenn auch Ihr ihn einmal sehen könntet. Aber damit ist's nichts, Grofka, damit ist's nichts!«

»Was meint Ihr? Was sagt Ihr?« stieß Ilona hervor. »Wo wart Ihr? Sagt . . . Vilma, Vilma Rezsa!« Sie rief umsonst. Nichts ließ sich mehr hören als das Einschnappen des Schlosses der Gittertür und, immer schwächer werdend, die abgerissenen Laute eines unterdrückten Gekichers. Eine Weile stand Ilona wie angewurzelt und starrte völlig verloren in die Nacht, bis die Kälte, die schneidend hereindrang, sie aufrüttelte. Wieder kam es ihr: Nicht denken! Nicht denken!

Sie trat vom Fenster fort an die Bettchen ihrer Kinder: »Meine Bauernbuben«, flüsterte sie, »meine Spatzen.« – Ihr Haupt beugte, ihr Blick senkte sich, und zwischen den Kindern und ihr tauchte das Bild eines Knäbleins auf, schwarzgelockt mit blauen, auf sie gerichteten Augen, die sehnsüchtig um Liebe warben.

*

Als ihr Glück war es gepriesen und Ilona war sehr beneidet worden, da sie vor sechzehn Jahren aus ihrer armen Csárda in die Schloßküche kam, den Dienst einer Handlangerin anzutreten. Sie verdankte diese Verbesserung ihrer Lebenslage dem eifrigen Bemühen des helvetischen Predigers Samuel Déry. Er bewog den Chef, Herrn Alois von Sáskay (der angesehene Mann stammte aus gutem ungarischem Bauernadel), das schöne junge Mädchen aus der abscheulichen Atmosphäre der väterlichen Schenke zu retten. Herr von Sáskay, der nach dreißigjähriger kluger Regierung unbeschränkte Herrschaft in seinem Bereiche ausübte, Leute aufnahm und entließ, wie es ihm gefiel, konnte bald seinem ehrwürdigen Verwandten für die Empfehlung der Ilona danken. Sie machte ihr Ehre, sie war fleißig, anstellig, der gute Wille selbst und hatte bei aller Heiterkeit die feine Würde eines Fräuleins. Wenn der Herr Chef sich nicht vor seiner hochmütigen Ehehälfte geniert hätte, er würde seinen eigenen Töchtern die Art und Weise der Handlangerin Ilona als nachahmungswürdiges Beispiel aufgestellt haben.

»Sie hat nur einen Fehler, mehr eine schlechte Gewohnheit: eine Richtung ins Selbständige in ihren Gedanken. Sinniert, kritisiert: ›Aber Herr Chef . . .‹ ›Ach, Herr Chef, ich habe mir gedacht . . .‹ so oder so hat sie sich gedacht. Als ob sie zu denken hätte, – ich bitte Sie.«

»Da gehen unsere Ansichten übers Kreuz«, erwiderte der Prediger trocken. »Ich spreche keinem Menschen das Recht zu denken ab.«

Der Koch spitzte seinen kleinen Mund, als ob er anfangen wollte zu pfeifen: »Ich tu's! – bis zu einem gewissen Grade, Ehrwürden, lieber Vetter. Es gibt einen Grad, von dem an hat ein dienendes Wesen sich zu sagen: ›Wie's ist, so ist's, – ich hab's nicht zu verantworten und habe nicht darüber zu sinnieren.‹ »

Er saß in seinem blütenweißen Unschuldskleide, die blendende Tellermütze auf dem Kopfe, seiner Gewohnheit nach auf zwei nebeneinander gestellten Stühlen. Einem allein würde er seine Wucht nicht anvertraut haben.

Das Gebiet, in dem der hochansehnliche Meister seiner Kunst waltete, paßte zu seiner äußeren Erscheinung. Die Tünche der Wände wetteiferten an schneeiger Reinheit mit der seiner Gewänder. Die Tische und Tafeln aus Ahornholz, die mit Schüsseln und Töpfen reich besetzten Borde verbreiteten einen milden, die Panoplien aus kostbarem Kupfergeschirr, die über ihnen hingen, einen blendenden Glanz. Jeder Kasserolledeckel, vom kleinsten bis zum größten, spielte sich auf eine Sonne hinaus. Der Herd übertraf an Umfang so manche Hütte in der Ortschaft Ovaros. Um ihn versammelte sich an Winterabenden die ganze Schloßdienerschaft. Da erteilte Sáskay allgemeine Audienzen; man durfte gemütlich beisammensitzen und plaudern, durfte sogar, was der Chef zu einer anderen Tageszeit nicht gestattete, über die Herrschaft schimpfen.

An warmen Sommerabenden hingegen blieb Herr von Sáskay einsam in seinem Küchensaal. Er befand sich da am besten; er war kein Spaziergänger und verließ den Schauplatz seiner immer ruhmreichen Tätigkeit erst, um sich zur Nachtruhe zu begeben. Ein Besuch, namentlich der des Predigers, war ihm in solchen Stunden willkommen. Besonders freundlich hatte er seinen Vetter heute empfangen, und recht war es ihm gewesen, daß der sogleich das Gespräch auf Ilona gebracht. Er hätte es ohnehin selbst getan, um zu bejammern, wie schwer so ein schönes, junges Ding zu hüten sei. »Sie steigen ihr ja alle nach, die Mannsleute. In dem Punkt hat der feine Herr Kammerdiener denselben Geschmack wie der Reitknecht Stephan. Wenn da einmal ein Unglück geschieht, geistlicher Herr, nehmen Sie mich nicht bei der Nase.«

Der Prediger sah ihn an und lächelte über diese Warnung. Zu der Operation, die sie verhüten sollte, hätte man ein Zängelchen gebraucht, so völlig war sie, die sonst den Vorsprung im menschlichen Angesicht bildet, versunken zwischen den Wülsten der Wangen.

Samuel Déry nickte ihm zu, betrachtete ihn ein Weilchen und dachte: ›Dieser Mensch hat eine Seele voll Anmut und Lieblichkeit und im allgemeinen wie in jeder Einzelheit das Äußere eines Mehlsacks.‹

Seinerseits dachte der Koch: ›Gesegneter Mann! Dein Herz, das biederste, das ich kenne, schlägt in einer Latte. Zur Latte bist du schon verdorrt. Dazu dein schwarzer Anzug und deine Gewohnheit, die Ellbogen fest an den Leib zu drücken . . . Warst einmal ein schöner Mensch, lieber Herr Vetter. Vorbei damit – recht schade!‹

»Um die Ilona«, nahm der Prediger wieder das Wort, »ist mir trotz all und alledem nicht bang. Es ist hier nicht wie draußen in der Schenke, wo sie jeder Unbill schutzlos ausgesetzt war. Roheit hat sie nicht zu fürchten, und verführen läßt sich die nicht. Sie steht unter meiner Obhut, seitdem ich sie getauft habe. Sie ist mir – meine beständige Sorge! – fast zu fein geraten. Auf zu fruchtbaren Boden sind meine Lehren gefallen. Sie hätte ihrer überhaupt nicht bedurft, sie ist fein und lauter von Natur.«

Sáskay bejahte: »Ich bin Eurer Meinung. Aber ich staune. Wie kommt das Kind aus der verrufenen Csárda zu dieser exquisiten Natur? Das reine Wunder.«

»Die reine Gnade«, versetzte der bestellte Diener am Worte, und Sáskay gab ihm wieder recht:

»Sie hat sich sichtbar an ihr erwiesen. Ruhig – wie man so sagt: ruhig – bin ich trotzdem noch lange nicht . . . Es gibt eine Gefahr – ich meine jene, in die gar viele lieber heut als morgen kommen möchten.«

Seine Augen, klein und glänzend wie betaute Schwarzbeeren, blitzten den Freund aus der Tiefe ihrer Fettlagenumgebung mit einem pfiffigen und zugleich traurigen Blick an, den Samuel verstand:

»Behütet sie! behütet sie!« rief er.

»So gut ich kann. Unter eine Glasglocke stellen kann ich sie nicht . . . Wäre sie nur nicht gar so auffallend hübsch . . . Er ist keiner von den Ärgsten, aber die Schönheit tut es ihm an, – und wenn . . . wie gesagt, mit der Glasglocke ist es nichts . . . und wenn er sie sieht und wenn er just bei Laune ist – dann . . .«

Der Prediger seufzte schmerzlich: »Ja, dann!«

Beide Männer hielten den Fall für einen verzweifelten. Das gestanden sie einander zu. Ihre Unterredung dauerte noch lang, sie kamen vom Hundertsten ins Tausendste, sie sprachen von der alten Zeit, die nicht die gute für sie gewesen. Was hatten sie alles erlebt und miterlebt an Ungerechtigkeit und Härte, bevor der eine so dick und der andere so mager geworden, wie er jetzt war! Und alles auf demselben Stück Erde erlebt, in ihrem heimischen Ováros, einem der größten Magnatengüter im Königreiche. Die »blonde« Theiß durchströmte es, Dörfer und Marktflecken gehörten dazu, unabsehbares Weideland und fast ebenso unabsehbare Mais- und Weizenfelder. An und für sich ein stattliches Gebiet, allein gering im Vergleich zur weiten Welt und ein enger Schauplatz für die ganze Daseinstätigkeit zweier Männer, von denen doch einer große Gedanken genährt, davon geträumt hatte, als neuer Apostel der verkümmerten, verunstalteten Heilandslehre aufzutreten und der Menschheit eine leuchtende Spur seines Erdenwallens zu hinterlassen. Und noch heute war der Wunsch, als Wanderprediger auszuziehen, nicht ganz in ihm erstorben. Aber in nächster Nähe gab es immer etwas zu tun, das ihn an die Scholle band: einen Zweifler wieder im Glauben zu befestigen, einem Unglücklichen Trost zu bringen, einen armen Sünder zum Tode vorzubereiten. Die höchste Aufgabe, die er daheim hätte erfüllen mögen, war freilich unerfüllt geblieben und würde es bleiben, wenn er auch noch jahrelang Mühe an sie wenden wollte. Einfluß auf seinen Grafen würde er nie gewinnen. Manchmal, wenn ein Winterabend, den Samuel auf dem Kastell zwischen dem Herrn und dessen Schwester zubrachte, sich gar zu sehr in die Länge zog, kam es zu einer Erörterung sittlicher und religiöser Fragen. Der Prediger führte seine besten Argumente zugunsten jeder evangelischen Tugend an. Seine Worte perlten wie Blutstropfen aus seinem Herzen und verrauchten wie Dunst. Der Gebieter machte hie und da einen derben Einwand, die streng religiöse Gräfin schwieg, aber ihr Mund verzog sich schmerzhaft, und sie bekam eiskalte Hände. Immer, wenn der Prediger meinte, die rechten Worte gefunden und das Unantastbare, das Überzeugende ausgesprochen zu haben, – legte der Graf die türkische Pfeife auf den Tisch und gähnte. Die markige Gestalt streckte sich in dem geschweiften Lehnstuhl, der aufs Haar einem Ruhebette glich, ihrer ganzen Länge nach aus.

»Alles wohl und gut«, sprach er. »Bringen Sie das meinen Untergebenen bei. Machen Sie die Leute fromm. Mit der Frömmigkeit hapert's bei den Leuten. Oder nicht? Je nun, das geht Sie mehr an als mich.« –

»So werde ich regelmäßig entlassen. Ja, ja, daß es bei ihm am allermeisten hapert, daran denkt er nicht«, beschloß der Geistliche seine Anklage, und in ihm regten sich Gefühle, die nichts hatten von apostolischer Duldsamkeit.

Der Koch hielt seine Meinung aufrecht: Sei es, wie es sei, ihr Graf ist keiner von den Ärgsten. Das galt nicht bei Sáskay allein, der eine ausnahmsweise günstige Stellung im Hause genoß, es galt allgemein für ausgemacht. Wenn der Magnat Koloman Zápolya von Ováros, »der große Graf« genannt, nicht gerade von Milde und Rücksicht überfloß, mußte man es ihm verzeihen. »Du wirst Herr sein«, war ihm an der Wiege gesungen worden. »Du bist der Herr«, war ihm als kaum dem Jünglingsalter Entwachsenen feierlich verkündigt worden. Schmeichler und Rechtgeber bildeten seinen Umgang, eine Schar armer Verwandter, deren Wohl und Wehe von ihm abhing, seinen Hofstaat.

Trotz des schönen Lebens, das ihm daheim bereitet und als das einzig lebenswerte geschildert wurde, kam doch die Zeit, in der die Sehnsucht in ihm erwachte, noch ein anderes, abwechslungsreicheres kennenzulernen. Er verreiste für einige Monate, aus denen Jahre wurden. Unmittelbare Nachricht von ihm erhielt in der ganzen Zeit nur seine Schwester, und auch sie äußerst spärlich. Sie war oft darauf angewiesen, bei den Güterverwaltungen, die Gelder nachzusenden hatten, anzufragen, wo ihr Bruder sich jetzt befände, in England, in Frankreich oder – in der Türkei?

Seinen letzten und längsten Aufenthalt nahm er in Wien. Die Familie erfuhr durch gemeinsame Bekannte, daß er sich dort um eine der gefeiertsten jungen Damen am kaiserlichen Hofe bewarb. Aber, fügten die Berichterstatter hinzu, er hat gefährliche Nebenbuhler. Seine Verwandten brachen in Lachen aus, in Geschrei: ›Wer ist gefährlich da, wo unser Koloman auftritt? Wie müßte die beschaffen sein, um die er sich bemüht und die noch Augen hätte für einen anderen?‹ Im ganzen Komitat, in allen umliegenden Komitaten war es bald verbreitet: der große Graf kommt nächstens als Bräutigam zurück. Seine Schwester schrieb ihm, schüchtern anfragend, in ihrer ängstlich-ehrfurchtsvollen Art. Sie kannte keine andere gegen ihn, dem sie ihr Lebensglück verdankte. Seine Großmut, dessen gedachte sie stets in nie versiegender Dankbarkeit, hatte ihre Heirat mit einem mittellosen, von ihr längst im stillen geliebten Mann ermöglicht.

Sehr lange ließ seine Antwort auf sich warten und war, als sie endlich eintraf, ziemlich rätselhaft:

»Liebe Schwester! Ich komme, verbitte mir alle Empfangsfeierlichkeiten, Du kannst mich aber mit Deiner ganzen Familia caritatis in Ováros erwarten; Gäste werden sich nur zu bald einfinden, ich brauche eine Hausfrau. Ich verbitte mir auch jede Frage und jeden Ausbruch etwaiger schwesterlicher Anteilnahme und dergleichen. Das aber kannst Du auch den ärgsten Plappermäulern sagen, daß ich, Dein Bruder, lieber als alter, vertrockneter Junggeselle sterben als ein Mädchen meines eigenen Standes heiraten will.«

Er kehrte ziemlich unverändert zurück, nur noch etwas ungleicher in seiner Laune, noch etwas leichter zum Zorne gereizt und wilder als früher in seinen seltenen Anfällen von Lustigkeit.

»Immer martialisch!« sagte sein zur höchsten staatsmännischen Glätte zugeschliffener Schwager von ihm und meinte: »Am besten würde er sich im Harnisch machen. Die Rüstung wäre das rechte Kleid für seine übergroße, knochige Gestalt; seinem schmalen Gesichte mit den großen Zügen und dem gewaltigen, lang herabhängenden Schnurrbart müßte die Stahlhaube gut stehen.«

Herrischer denn je trat der Graf nach seiner langen Abwesenheit daheim auf. Seine ehemalige Strenge hatte sich zur Unerbittlichkeit verschärft; ein Zug von Mißtrauen, das er selbst peinlich zu empfinden schien, kam sogar dem ihm nächsten Menschen gegenüber zutage.

Von seinen letzten Erlebnissen sprach er nie, nicht einmal mit seiner Schwester. Doch erfuhr sie nach und nach alles durch andere. Ihr Bruder hatte für eine junge Dame am Wiener Hofe eine Leidenschaft gefaßt, die ihn um sein gesundes Urteil brachte, ihn mit Blindheit schlug. Wer ihn früher gekannt, wurde irre an ihm. Dieser König in seinem Bereiche, der Widerstand nie erfahren hatte, am wenigsten den einer Frau, hielt das Spiel, das die Geliebte mit ihm trieb, für eine Geduldsprobe, die sie ihm auferlegte und die er unbegreiflich glänzend bestand. Er machte sich weich und fügsam; der ungeleckte Bär war wie ein Seidenfaden in ihrer Hand. Wohlmeinende sagten ihm: »Sie hält dich zum besten, denkt nicht an dich; ein Glücklicher, der zu schweigen weiß, freut sich ihrer Gunst.«

Er wies die Warner in einer Art zurück, die ihnen das Wiederkommen verleidete. Sie hatten erfahren, daß die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, sich nur auf eine Person bezog. Für die übrigen blieb er der Selbstherrliche, sein eigener Ratgeber und Zweifelloser, der Mann, der lieber ertrinken als sich auf eine Planke retten will, die ein anderer ihm zugeschoben hat.

Die Stunde kam, in der die Unglückswellen über ihm zusammenschlugen. Er erlitt eine furchtbare Enttäuschung und hatte es nur seinem Stolze zu danken, daß er sie nicht als Demütigung empfand. Aber eine feierliche Absage leistete er an alle Mädchen und Frauen der Kaste, der die angehörte, die sich so schnöde an ihm versündigt hatte. Mit dem Glauben an die eine war ihm der Glauben an alle versunken.

*

Von nun an lebte der Graf als Landwirt und Jäger auf seinen Gütern, am liebsten in Ováros. Dorthin berief er auch seine Schwester nach dem Tode ihres Mannes zu bleibendem Aufenthalte. Sie gehorchte, sie kam, sie durfte ihm gegenüber keinen Willen haben, denn von ihm hing das Wohl und Wehe ihrer Kinder ab. Er hatte ihre fünf Söhne in adeligen Erziehungsanstalten untergebracht. Sie konnte darauf zählen, daß er für ihre Zukunft sorgen werde, wenn ihnen seine Gewogenheit erhalten blieb. Diese zu verscherzen war nur allzu leicht, und die Gefahr lag nahe. Zwischen ihnen und dem Onkel Wohltäter bestand keine Übereinstimmung; sie waren alle dem Vater nachgeraten und mehr Österreicher als Ungarn. Besonders die älteren ertrugen nur mit schwerer Selbstüberwindung die Gewaltherrschaft des Familienhauptes. Ihre Mutter verzichtete freiwillig auf das Glück, sie in der Ferienzeit bei sich zu haben, um jeder Gelegenheit zu einem Konflikte mit dem Grafen vorzubeugen.

Sie selbst schleppte ein armes Dasein in nervenaufregendem Unbehagen, in immerwährender Furcht des »Herrn« recht mühselig weiter. Verwöhnt worden, sagte sie sich selbst, war sie durch den Umgang mit ihrem verstorbenen Gatten. Der ihr an Geist und Bildung weit überlegene Mann hatte ihr jeden Wunsch abgelauscht, sie erfinderisch mit Rücksichten umgeben. Nun aber lag es an ihr, alle erdenklichen Rücksichten zu üben gegen ihren Bruder, den sie in so vielen Beziehungen übersah. Die Mutterliebe machte ihr das Martyrium einer widerstrebenden Geduld, einer überzeugten Demut zur Pflicht.

Alle Diener, alle Dorfleute wußten: sie meint es gut mit uns. Ihr blutet das Herz bei jeder Härte, die vom Grafen, bei jeder Ungerechtigkeit, die von seinen Beamten verübt wird; aber auch nur die geringste verhüten kann sie nicht. Sie getraut sich kaum, beim Hofrichter ein gutes Wort für einen armen Teufel einzulegen. »O die! Die dankt Gott, daß sie das Leben hat«, sagten die Leute, und so war denn ihr Ansehen sehr gering. Aber Befehle erteilen sollte sie doch, die große Haushaltung hatte sie doch zu führen und für die vielen Gäste zu sorgen, die tagaus, tagein in Ováros sich einfanden. Unschätzbar war da die Hilfe des guten Sáskay, der mit seiner Autorität eintrat, wenn die ihre nicht ausreichte. Nur die Kosten der Liebenswürdigkeit konnte er ihr nicht tragen helfen, die mußte sie allein aufbringen. Der Graf kam selten rechtzeitig zu einer Mahlzeit. Er kümmerte sich nicht um die »Sippschaft«, wie er verächtlich sagte, die bei ihm aß und trank. Zu einem Tor fuhr die herein, zum anderen ritt er hinaus, gefolgt von seinem Reitknecht Stephan. Schenkte er den Nachbarn, den Verwandten einmal ein paar Stunden, waren sie beglückt; ließ er sich zu einer Partie Tarock mit ihnen herbei, war es für sie der Gipfel der Ehren. Er spielte nachlässig, zerstreut, als Grandseigneur, der die guldengierigen Partner gewinnen läßt. Oft geschah's, daß man erfuhr: er ist eben angelangt, hat das Essen auf sein Zimmer befohlen und den Hofrichter rufen lassen. Da herrschte Bestürzung, da wußte man, irgendeine Unregelmäßigkeit ist entdeckt worden, und jetzt wird ins Gericht gegangen. Drakonische Strafen werden diktiert, Familien werden brotlos, vielleicht wegen eines unbedeutenden Versehens, vielleicht sogar wegen eines unbegründeten Verdachts.

Was die Beschlüsse, die der Graf in solchen Augenblicken faßte, furchtbar machte, war ihre Unwiderruflichkeit. Wenn sich die Unschuld eines Verurteilten auch sonnenklar herausstellte, zurückgenommen wurde das Urteil nicht. Der so ungeschickt war, eine schlechte Meinung zu erwecken, mochte sich mit dem Bewußtsein seiner Makellosigkeit trösten, wenn er jetzt betteln ging.

Einen Widerruf wird er aber dennoch leisten, hatte die Familie lange gemeint. Heiraten wird er doch, und daß er eine andere als eine hochgeborene Dame wählen könne, war ausgeschlossen. Wenn er stürbe, ohne Erben zu hinterlassen, ginge das Majorat auf die Angehörigen einer Linie über, mit der die seine von jeher auf dem Kriegsfuß gestanden hat. Denen wird er es doch nicht zuwenden wollen.

Trafen ihn seine Bekannten einmal ausnahmsweise gut gelaunt, dann wagten sie von der oder jener schönen Magnatentochter zu sprechen, die zur Herrin von Ováros wie geschaffen sei. Diese Andeutungen nahm er mit der Gleichgültigkeit hin, die man Angriffen auf unwiderrufliche Entschlüsse entgegensetzt.

»Hat sie selbst euch hergeschickt? Was kriegt ihr für eure Freiwerberei?« Sein letztes Wort war immer: »Gebt mir Ruh mit den Weibern!«

Die »Weiber« spielten keine Rolle in seinem Leben, er verschwendete wenig Gedanken und wenig Zeit an sie. Für die Schönheit behielt er aber auch in vorgerückten Jahren scharfe Augen, und wenn der Anblick eines jungen Mädchens oder einer jungen Frau besonderen Eindruck auf ihn gemacht hatte, ließ er sie zu sich laden. Und weil die Zeugin seiner schwachen Stunden immer reich beschenkt entlassen wurde, und weil die Moralbegriffe auf den Höfen von Ováros nicht strenger waren als die an den Höfen des vierzehnten und des fünfzehnten Ludwig, herrschte allgemeines Bedauern, daß der Herr und Gebieter nicht mehr schwache Stunden hatte.

Ilona war schon seit einigen Wochen im Hause, als Gräfin Elisabeth zum ersten Male auf sie aufmerksam wurde.

Das Schloß, von dessen Turme vor dreihundert Jahren der Halbmond auf das verwüstete Land herab geglänzt hatte, sah heute mit seiner Front auf einen grünen, baumreichen Park. Nördlich begrenzte ihn der Weg, der zum Dorfe führte, gegen die andern Himmelsgegenden hin die Umzäunung des liebevoll gepflegten Obstgartens. Der rückwärtige Trakt des Schlosses umgab einen großen, viereckigen Hof, auf den die Fenster der verschiedenen Küchen und Dienerzimmer gingen. Die Räume, die der Graf und seine Schwester im ersten Geschosse bewohnten, waren durch den Ahnensaal und die Prunkgemächer getrennt. Das zweite Geschoß wurde von zahllosen, uralten Geschlechtern entstammten Mäusefamilien als erbgesessene Domäne betrachtet. Doch ehrten sie den Brauch des Hauses und zogen sich während der Anwesenheit seiner Gäste hinter die Tapeten zurück. Den Zugang zum Hof bewachten von hohen, steinernen Pfeilern aus zwei unförmige, graue Gebilde, die dereinst aufwartende Wappenlöwen gewesen sein mochten. Außerhalb des Hofes lief zwischen windbrüchigen, überständigen Eichen ein breiter Weg bis zu den Wirtschaftsgebäuden und Stallungen. Der Wiesengrund neben ihm war von Kieswegen durchschlängelt und mit Flieder- und Jasminsträuchern bepflanzt.

Dort befand sich Gräfin Elisabeth an einem sonnigen Frühlingsmorgen. Sie ging von Gebüsch zu Gebüsch und schnitt die am reichsten blühenden Zweige ab, sie zu Sträußen zu binden, mit denen sie ihre Zimmer schmückte. Die schmale Dame im schwarzen Witwenkleide hatte immer etwas ängstlich Hastendes in ihren Bewegungen und wandte sich auch jetzt mit ganz unbegründeter Eile dem Schlosse zu. Aber plötzlich bannte ein gar lieblicher Anblick sie auf ihren Platz.

Aus dem Hofe kam, einen Korb am Arme, ein junges Mädchen in Bauerntracht, zierlich und schlank und fein gegliedert. Sie hatte die schweren braunen Haarzöpfe um den wundervoll geformten Kopf geschlungen; auf ihrem zarten, rosig angehauchten Gesichte lag ein sanfter, still in sich beglückter Friede, wie er aus den Augen ganz junger, ahnungslos in die Welt blickender Kinder spricht. Sie schritt dahin, sanft und sicher, im unbewußten Genuß ihrer blühenden Jugend, daheim auf dieser schönen Erde, in wonniger Übereinstimmung mit dem Frühlingsleben, in dem ihr eigenes knospete und prangte.

›O du Glückskind!‹ dachte die arme, in steter Bangnis schwebende Gräfin beim Anblick des holden Geschöpfes, das ihr erschien wie die verkörperte Anmut und Seelenruhe. Sie war im Begriffe, aus dem Gebüsch hervorzutreten, als sie den Reitknecht Stephan vom Stalle herüber dem jungen Mädchen entgegenkommen sah und unwillkürlich dachte: ›Ich möchte doch sehen, ob er an der Schönheit gleichgültig vorbeigeht.‹ Stephan führte an jeder Hand ein gesatteltes Pferd am Zügel und ging zwischen den zwei edlen Tieren gemächlich dem Schlosse zu. Er hatte offenbar noch Zeit. Ein paar Schritte vor dem jungen Mädchen blieb er stehen und betrachtete sie wohlgefällig und sie nicht weniger wohlgefällig ihn oder vielmehr – seinen Anzug. Der gefiel ihr über die Maßen. Die seltsame Mütze, der dunkelgrüne Leibrock aus feinstem Tuch mit den goldenen Knöpfen, die weißen Lederhosen, die blinkenden Stulpstiefel, das war alles so kostbar und so eigentümlich, daß sie vor Staunen über die Adjustierung kaum beachtete, wie hübsch der braune Bursche war, der in ihr steckte.

»Du!« rief er sie an, »du bist gewiß die Ilona aus der Csárda, die der Herr von Sáskay unlängst aufgenommen hat. Bist du's nicht?«

»Warum soll ich's nicht sein?« erwiderte sie; »freilich bin ich's. Und Sie, wer sind Sie?«

»Sag nur ›du‹. Ich dien im Stall und bin ein Reitknecht.«

»Nur ein Reitknecht und hast so schöne Kleider? Ist dir nicht leid um die schönen Kleider drin im Stall?«

»Im Stall trag ich sie nicht. Nur zum Ausreiten mit dem Herrn Grafen.«

»So – du reitest aus mit dem Grafen?« fragte sie und entsann sich der Warnungen des Predigers und Sáskays vor jedem Zusammentreffen mit dem Herrn. »Fürchtest du dich nicht vor ihm? Er soll so bös sein.«

»Hej, ja! Bös ist er schon. Mir hat er aber noch nichts getan.« Während er sprach, hatte eines der Pferde nach dem anderen die weiche Nase seinem Gesicht genähert und ihn sanft und freundschaftlich angetupft.

»Mir scheint«, meinte Ilona, »deine Pferde haben dich gern.«

»Ja, ja, die dummen Tiere – ich sie auch.«

»Das glaub ich, sie sind so schön.«

»Schön sind sie schon. Pferde sind das Schönste auf der Welt, außer, ja – was denn?« Er blinzelte sie pfiffig an: »außer vielleicht die schönen, jungen Mädchen. Hej! da müßte aber eines ganz schön, ganz jung sein, es müßte sein . . .« wie »du« schwebte es ihm auf den Lippen, leuchtete es ihm aus den Augen.

Sie hob drohend den Finger: »Sprich keinen Unsinn! sonst verklag ich dich beim Prediger.«

»Der dich hergebracht hat?«

»Der mich hergebracht hat. Vergelt's ihm Gott! Ich bin so froh! so froh!«

»Ich bin auch froh, weiß Gott warum«, sagte er lachend und setzte seinen Weg fort.

Die Gräfin hatte von dem Gespräch nur die letzten Worte deutlich verstanden. Sie klangen wie ein leises Jauchzen und erquickten das Herz der armen Frau, die fast nie allein und doch schrecklich einsam, fast immer von lärmender Lustigkeit umgeben und selbst doch so traurig war. Sie hatte viele Kinder und entbehrte die Nähe aller. Wie der Stephan hergekommen war mit den Pferden, hatte sein längliches Gesicht, hatten die feine, etwas aufgestülpte Nase, der frische Mund und besonders der gutmütige Ausdruck der dunkelblauen Augen sie an ihren Ältesten, ihren Ludwig, gemahnt. Ihr, die an Wahrzeichen glaubte, hatte Stephans: »Auch ich bin froh!« wohlgetan. Vielleicht war das eine gute Vorbedeutung. Vielleicht erwarb sich ihr Ludwig eben neue Ehren zu den vielen, die er als Zögling der Theresianischen Ritterakademie in Wien schon errungen hatte.

Am selben Tage noch ließ sie Sáskay rufen, erkundigte sich bei ihm nach der jungen Schönheit, die in seiner Küche aufgetaucht war, und sagte ungefähr dasselbe, was der Prediger gesagt hatte. Sáskay wußte auch ihr nichts anderes zu erwidern, als er seinem Verwandten erwidert hatte.

Bald aber konnten alle, die an Ilonas Geschicken teilnahmen, sie für geborgen halten.

Stephan hatte dem Herrn Chef gehorsamst angezeigt, daß er sich mit ihr verlobt habe und auf sie achtgeben und jedem die Zähne einschlagen werde, der sich erfrechen sollte, einen »unrechten« Blick nach ihr zu werfen. »Denn«, schloß er seine Anrede, »gnädiger Herr von Sáskay, eifersüchtig bin ich schon wie der Teufel.«

»Sei nur auch eifersüchtig auf dich selbst«, sprach der Chef; »halte deine zukünftige Frau in Ehren.«

Mit einem schönen Aufleuchten in seinen Augen versicherte der Bursche, darauf könne der Herr von Sáskay sich verlassen, und die gleiche Versicherung gab er auch dem Prediger.

Vom Heiraten war freilich noch keine Rede; die Brautleute mußten noch so manches Jahr dienen und sparen, bevor sie daran denken durften, einen Haushalt zu gründen. Aber die Gegenwart wurde ihnen durch die Aussicht in die Zukunft vergoldet, und auch diese Gegenwart war ja so übel nicht. Selten verging ein Tag, an dem sie einander nicht sahen und nicht wenigstens ein paar Worte wechseln konnten. Am Sonntagnachmittag aber, wenn alles, was »frei« hatte und junge Beine, ins Wirtshaus tanzen ging, trafen die Verlobten beim Prediger zusammen, der ihre kleinen Ersparnisse verwaltete. Sie überzählten ihre Gulden und Kreuzer und bauten in Gedanken an einer zukünftigen Wohnstätte, einem kleinen, allerkleinsten Hause. Sie richteten es in Gedanken auch ein, und in einen Grund, den sie sich dazu träumten, säten sie Mais und legten Gemüsebeete an.

Rasch wie noch nie floß ihnen der Sommer dahin. Der Herbst kam heran und mit ihm die Jagdzeit, die Scharen von Gästen nach Ováros brachte. In den Küchen und in den Stallungen gab es so viel zu tun, daß manche Woche verging, in der Stephan seine Ilona nicht einmal von weitem erblickte, und mancher Sonntag schwand dahin, an dem von einem Besuch beim Prediger nicht die Rede sein konnte.

Im Leben des Herrn Chefs bildeten die Jagdzeiten die Glanzperioden; da zeigte er sich in seiner Gloria, da betätigte sich die Unerschöpflichkeit seiner Phantasie bei der Zusammenstellung von Mahlzeiten ebenso glänzend wie seine Kunst bei der Ausführung jedes einzelnen Gerichtes. Die schmeichelhaftesten Botschaften wurden ihm schon von der Tafel aus zugeschickt, und nachmittags erschienen die leutseligen unter den Herrschaften persönlich in seiner Küche und spendeten ihm die überschwenglichsten Lobeserhebungen. Er nahm sie würdevoll, beinahe mit Herablassung entgegen; niemand hätte ahnen können, wie sehnsüchtig er nach dieser Anerkennung gelechzt hatte, wie entsetzlich ihm ihr Ausbleiben gewesen wäre.

Nun geschah's, daß eines Vormittags, kaum eine Stunde, ehe das Diner aufgetragen werden sollte, und als der Koch vor seinen der Vollendung entgegenreifenden Werken am Herde stand, ein Küchenjunge hereinstürzte. Er war purpurrot vor Entzücken, der Überbringer einer schlimmen Botschaft zu sein, und rief: »Herr von Sáskay! Herr von Sáskay! Der Herr Haushofmeister läßt Ihnen sagen, daß Gäste gekommen sind, zwei Wagen voll! Acht Personen! Bleiben alle beim Diner, Herr von Sáskay!«

Das war nun doch auch seinem an Auskunftsmitteln so reichen Geiste zuviel. Der Chef murmelte etwas von Schlagtreffen, ließ sich seine zwei Stühle in die Mitte der Küche rücken, stemmte beide Arme in die Seite, so daß er den ganz ungewöhnlichen Anblick eines Mehlsackes mit Henkeln bot, und dachte nach. Das Küchenpersonal sah ihm zu. Niemand gab einen Laut von sich. Plötzlich rief Sáskay die Namen der beiden Mehlspeiseköchinnen.

»Marina! Susi! Hierher! Und du, Ilona, du hast die schnellsten Beine, du läufst, was du kannst, zum Fischmeister, verstehst? Er soll gleich – gleich! verstehst? – das Beste schicken, was er hat. Nimm den kürzesten Weg durch den Park in den Obstgarten und gradaus zum Bach; dann sind's nur noch ein paar Schritte bis zur Fischerei. Lauf! lauf! Solltest schon wieder da sein.«

Und Ilona lief – ach, so gern, so freudig. Lange war sie nicht mehr gerannt wie früher als Kind und als ganz junges Mädchen, daß die Zöpfe flogen, gerannt ohne Ziel und Zweck, aus purer Lust am tollen Laufe.

Wie der Blitz geht's über die Wiesen dem Tore des Obstgartens zu . . . Es ist verschlossen; nachzusehen, ob versperrt oder nur eingeklinkt, hat sie keine Zeit. Der Zaun ist nicht allzu hoch – mit einem tüchtigen Anlauf nimmt sie das Hindernis. Vorwärts! Hurra! Sie springt, ist darüber und liegt – an der Brust eines Mannes, der quer durchs Wäldchen gekommen und eben hinter den Bäumen hervorgetreten ist.

Sie schnellt zurück, von Entsetzen erfaßt. Der Graf! Es ist der Graf, an den sie angeprallt. Sie hat ihn schon mehrmals gesehen zu Pferde, und das mächtigste war ihr unter ihm klein vorgekommen und Stephan wie eine Knabe, wenn er hinter ihm her ritt. Aber so groß, so furchtbar wie jetzt ist der Gebieter ihr noch nie erschienen.

»Herr Jesus! Herr Jesus!« stammelt sie und starrt in Todesangst zu ihm hinauf. In seinen tiefliegenden, stechenden Augen blinkt es so merkwürdig, so unheimlich. Eines Herzschlags Dauer hat Schrecken sie gelähmt, dann ist sie auf der Flucht. Leichtfüßig, angstgepeitscht rennt sie über den Fußsteig im Gehölz.

Der Graf war stehengeblieben; er sah ihr nach, bis ihre schlanke, elastische Gestalt im Grün verschwand.

Am Abend, als Ilona und ihre zwei Kameradinnen sich nach dem Zimmer in der Nähe der Küche, das sie miteinander teilten, begeben wollten, kam ihnen im noch hell erleuchteten Gang der Sekretär entgegen. Auf seinem olivenfarbigen Gesichte lag der Ausdruck höhnischer Freundlichkeit. Er verlor ihn nie, selbst nicht nach einem Auftritt mit dem Herrn, der – was oft vorkam – in tätlicher Mißhandlung des treuen Dieners geendet hatte. Auch jetzt trat er bissig lächelnd auf Ilona zu, drehte die nadelfeinen Spitzen seines Schnurrbarts und sprach nachlässig:

»Gut, daß ich dich treffe. Du sollst zur Frau Gräfin. Komm gleich mit. Und ihr«, wandte er sich an die andern Mädchen, »geht schlafen.«

Zur Gebieterin, die ihr die Pflege ihrer Blumen anvertraut hatte, gerufen zu werden, war für Ilona nichts Ungewöhnliches; nur war es bisher zu so später Stunde nie geschehen.

»Was befiehlt die Frau Gräfin?« fragte sie.

»Weiß nicht«, antwortete er. »Solltest du es nicht besser wissen als ich?«

Als sie die große Treppe betreten wollte, zog er sie lachend zurück: »Nicht dorthin; dort wartet die Frau Gräfin nicht.« Er führte sie durch einen Eingang, der sonst immer geschlossen blieb, über eine teppichbelegte, bildergeschmückte Seitentreppe. Sie standen vor einer in dunkelm Getäfel angebrachten Tür. Der Sekretär stieß sie auf:

»Da hinein und verstell dich nicht! Du weißt, wer dich rufen läßt.«

Sie schauderte; ihr war, als grinse der leibhaftige Böse sie aus seinen gelben Zügen an. »Ich . . . ich . . .« stöhnte sie verwirrt, außer sich . . . »ich habe gedacht . . .«

»Denk nicht, gehorche!« war das letzte, was sie vernahm, als die Tür des halb dunkeln, hoch gewölbten Raumes, in den der Sekretär sie gestoßen hatte, hinter ihr ins Schloß fiel.

*

Das war eine andere Ilona, die von gestern und die von heute und die von all den Tagen, die dem Heute folgten. Eine, der aus der Seele gerissen worden ist mit Stumpf und Stiel und bis aufs letzte Würzelchen, was in ihr geblüht hatte an stiller Heiterkeit, an Lebensfreude und an schöner Zuversicht. Eine, die statt Sehnsucht nach ihrem Stephan unsagbare Scheu vor ihm empfand. – Nur ihm, Herrgott im Himmel, nur ihm nicht unter die Augen kommen! In der ihr durch das halbgeöffnete Gitterfenster hell Ferne erspähte. Lieber totgeschlagen werden, lieber verbrennen bei lebendigem Leibe, als ihm in die Augen sehen müssen.

Er war ratlos, wußte nicht, was er denken sollte; er glaubte anfangs an einen Scherz, eine Überraschung, die sie vorbereitete. Er schickte ihr Botschaft auf Botschaft, und da keine Antwort kam, fing er endlich an zu schmollen und wartete, daß sie einlenken werde . . . wartete umsonst, Ilona ließ sich nicht mehr blicken, weder bei den Versammlungen in der Schloßküche noch außerhalb des Hauses.

Durch den Prediger, dem Stephan sein Leid klagen ging, erfuhr er eines Tages die ganze, furchtbare Wahrheit und mußte sie, aus diesem Munde kommend, gelten lassen. Die Andeutungen seiner Mitdiener hatte er mit Faustschlägen beantwortet.

Im Schlosse konnte, was geschehen war, kein Geheimnis bleiben; Ilona selbst verriet es durch ihre Verzweiflung. Einige der Hausleute bemitleideten sie; von den meisten wurde sie verspottet.

»Was die für Geschichten macht!« sagte die hübsche Köchin Marina. »Als ob sie eine Prinzessin wäre, die keiner anrühren darf, der sie nicht gleich zum Traualtar führt.«

Ein kecker Küchenjunge setzte den Zeigefinger an die Stirn, tat, als ob er nachsänne, und schlug dann ein Schnippchen: »Wer weiß? Vielleicht ist sie eine Prinzessin und wäscht nur zum Vergnügen Geschirr ab.«

Die Schlafkameradin Ilonas, die sich zuerst und am meisten über sie lustig gemacht hatte, war auch die erste, die Erbarmen mit ihr fühlte. Das Mädchen erwachte einmal des Nachts, vom Mondschein geweckt, der ihr durch das halb geöffnete Gitterfenster hell ins Gesicht fiel, und sah Ilona noch angekleidet am andern Ende des Zimmers vor ihrem Bette knien. Sie vergrub den Kopf in das Kissen und suchte ihr herzbrechendes Schluchzen zu unterdrücken.

Ein Weilchen zögerte die Gefährtin; bald aber stand sie auf, trat leise zu der Weinenden heran, legte ihr liebkosend die Hand auf den Nacken, beugte sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Du bist dumm, Ilona, kränkst dich. Eine andere wäre froh . . . Hätte doch der Sekretär sich geirrt und statt deiner mich zum Grafen gerufen!«

Ilona fuhr empor: »Sprich nicht so, sprich nicht so! – So etwas zu denken ist schon Sünde.«

»Glaub das nicht«, erwiderte die kleine Erzsi; »gar keine Sünde war's! Etwas Gutes käme dabei heraus.«

»Etwas Gutes?«

»Ja. Mir würde jetzt der Beutel mit dem vielen Geld gehören, den der Sekretär in deine Truhe gelegt hat, und ich würde meinen János vom Militär loskaufen, und wir könnten heiraten und glücklich sein.«

Ilona blickte sie lange schweigend mit maßlosem Staunen an: »Heiraten? . . . Würde er dich denn noch nehmen?«

»Noch nehmen?« wiederholte Erzsi, »o wie gern – er hat mich ja lieb; er wäre froh, daß er mich früher bekommt, als wir je gehofft haben.«

Wieder blickte Ilona nachdenklich zu ihr hinauf und sagte unendlich traurig: »Mein Stephan ist anders.«

»Ach was! Das bildest du dir ein.«

»Das weiß ich. Zwischen ihm und mir ist alles aus, und ich will und brauche in der Welt nichts mehr. So geh du nur zu meiner Truhe, nimm das Geld heraus und kaufe deinen János los.«

Der Freudenschrei, den Erzsi ausstieß, weckte die dritte der Kameradinnen. Sie richtete sich zürnend auf in ihrem Bette und befahl Ruhe.

Dem bewegten Herbst folgte ein stiller Winter. Wie alljährlich, verlebte ihn der Graf auf einem seiner Güter in Slawonien. Einige Diener und Stephan mit den Lieblingspferden waren dahin vorausgeschickt worden.

In Ováros führte während der Abwesenheit ihres Bruders die Gräfin eine sogenannte Regierung. Wem es gefiel, der beugte sich ihrem milden Zepter. Die Weihnachtszeit, die freudig erwartete goldene Zeit, brachte ihr das Wiedersehen mit ihren Söhnen. Da hatte sie alle um sich, da schwelgte sie in Mutterstolz und Mutterglück. Ein wonniges Beisammensein, ein schweres Scheiden. Nach Neujahr waren die Kinder wieder fortgezogen, und Elisabeth wanderte blaß und verweint durch das Haus, durch die Gärten, saß mittags und abends bei ihrem traurigen Mahle, empfand mit bitterem Wehgefühl ihre tiefe Einsamkeit und fürchtete doch die Stunde, die den Grafen und mit ihm eine lästige, ihr widerstrebende Geselligkeit zurückbringen werde.

Woche um Woche verging. Eines Tages klopfte es sachte an ihrer Tür. Aus den Gewächshäusern waren frische Blumenstöcke gebracht worden. Ilona kam, um sie mit den welkenden zu vertauschen, ging ein und aus und ordnete die Pflanzen in den Körben und auf den Tischen.

Die Gräfin sah ihr zu. Sie waltete mit Ernst, mit großer Sorgfalt ihres Amtes. Und doch, was konnte ihr daran liegen, ob es etwas besser oder etwas schlechter versehen wurde? Ihr, mit ihrem schweren Herzen, ihr, der Trostlosigkeit mit steinernen Zügen auf der Stirn geschrieben stand?

Wohin war der selige Frieden gekommen, um den Elisabeth das arme Kind beneidet hatte?

Gewiß, später als jedem andern im Schlosse war ihr zur Kenntnis gelangt, wie es um Ilona stand, und auch dann noch wollte sie den Schein des Nichtwissens wahren, wollte nicht hören noch sehen. Das ihr selbst unerklärliche Gefühl einer Art Abneigung gegen die Unglückliche hatte sich mit der Erkenntnis der Schuld, die an ihr begangen worden, ins Herz der Gräfin gestohlen. Heute schmolz die ihrem eigensten Wesen völlig fremde Härte. Sie erhob sich, ging auf Ilona zu und klopfte ihr sanft auf die Schulter!

»Kränke dich nicht so herunter, liebes Kind«, sprach sie; »es kann noch alles gut werden.«

Wie aus dem Schlummer aufgeschreckt, fuhr das Mädchen zusammen; brennende Röte flammte auf ihren Wangen, ihre Augen blieben gesenkt: »Nichts kann mehr gut werden«, stammelte sie, »nichts mehr, hochgeborne Frau Gräfin.«

Elisabeth suchte ihr Trost zuzusprechen, fühlte aber bald, daß ihr Bemühen eitel war, und hielt auf einmal inne. Alles, was sie sagte, erschien ihr selbst als hohles Gerede, diesem bedauernswerten Geschöpfe gegenüber, das sich seines Elends so klar bewußt war.

Ilona schlich die Treppe hinab und langsam, durch den Gang, am Morgen schon müde, erschöpft vor Beginn des Tagewerks. Draußen lag dichter, frisch gefallener Schnee, Märzschnee. Traumhaft schön war das Licht, das durch die hohen Fenster mit den steilen Spitzbogen drang, auf dem ziegelgepflasterten Boden ruhte, einen zarten Schmelz auf die altersgrauen Steinmauern zauberte und sie stellenweise wie angehauchte Spiegel erscheinen ließ.

O heiliges Licht! Silbern glänzender Himmel, lilienhaft schimmernde Erde! Dumpf und leidvoll empfand ein entwürdigtes Menschenkind euern Anblick als Symbol der Reinheit und weinte über sich.

»Du!« rief plötzlich eine wuterstickte Stimme hinter ihr, und sie wandte den Kopf. Nun ja! all die Tage hatte sie davor gezittert. Man wußte schon im Schlosse: der Stephan wird nächstens da sein mit den Pferden.

Und da war er, hatte ihr in einer Fenstervertiefung im Gang aufgelauert, sie vorübergehen lassen, schrie ihr jetzt zu und näherte sich dräuend. Ihre Knie wollten versagen; sie lehnte sich, um nicht umzusinken, mit dem Rücken gegen die Wand, an die sie auch krampfhaft die herabhängenden Arme, die flachen Hände preßte.

Stephan trat dicht vor sie hin, bleich vor Zorn; unbarmherzig maß sie sein Blick vom Wirbel bis zur Sohle; zwischen den knirschenden Zähnen stieß er sinnlose, unzusammenhängende Reden und Schimpfwörter hervor. Sie zuckte unter jedem wie gepeitscht, aber ihre Qual blieb stumm und ohne Laut, bis endlich seine Maßlosigkeit ihren Widerstand weckte. Als er keuchend, mit versagendem Atem nach Worten rang, sagte sie:

»Ich habe gewußt, was ich von dir zu erwarten habe, wie arg du sein kannst und schrecklich.«

»Gewußt hast du's, gefürchtet hast dich nicht!« Er hielt ihr die geballte Faust vor die Augen: »Ich müßt noch viel ärger sein, du Schlechte!«

»Ich bin nicht schlecht«, brachte sie mühsam hervor. »Ich kann nicht für mein Unglück . . . Wie soll ich dafür können? . . . Wer ist stärker, der Herr oder ich?«

»Du hast Zähne, du hast Nägel, hast eine Stimme, kannst schreien.«

»Und wer kommt auf mein Geschrei? Wer getraut sich? Wer hat dem Herrn etwas zu befehlen, Stephan, Stephan – du Narr!«

Er stutzte; ein wilder Fluch starb auf seinen Lippen.

»Wenn ich das ganze Schloß zu Hilfe rufe, wer hilft mir; sag mir, wer mir hilft!«

Auch darauf wußte er nichts zu erwidern; das war aber keine Milderung seiner Pein – gefoltert wand er sich in ihren Krallen.

Die ihn liebte, wurde von einem großen Erbarmen mit ihm erfaßt.

»Beschimpf mich nicht, Stephan«, bat sie gepreßt und leise; »wenn du wieder zu dir kommst, wird dir's leid sein . . . Schau dich nicht mehr um nach mir, schau mich nicht an! . . . Ich vergeh vor Scham, und ich kann ja nichts dafür – und ich bitte dich, spare nicht mehr, geh tanzen am Sonntag. Suche dir eine andere aus – du brauchst nur auszusuchen . . . wie viele haben mich beneidet . . .«

Ein der Rührung verwandtes Gefühl wollte ihn erfassen; er rang dagegen, er trieb sich selbst in einen neuen Zornesausbruch hinein. Diesem aber blieb Ilona nicht mehr schutzlos ausgesetzt.

Stephans Toben hatte Zeugen herbeigelockt. Die einen, die ihn auf den veränderten Stand der Dinge aufmerksam gemacht und dafür Faustschläge geerntet hatten, triumphierten; die Neugier der andern, die voll Spannung das Wiedersehen der Brautleute kaum mehr erwarten konnten, war befriedigt. In schönster Einmütigkeit legten alle sich ins Mittel, Ilona wurde von allen verteidigt. Die kleine Erzsi schlang die Arme um ihre Freundin und rief empört dem schonungslosen Ankläger zu:

»Fort! Schäm dich! Versteck dich! . . . Etwas Besseres, heißt es immer, bist du . . . Du etwas Besseres! . . . Ein Finger meines János, ein Haar ist mehr wert als du!« Sie glühte, sie schrie: »Was würde er tun, wenn ich etwas Schlechtes getan hätte, wenn ich's gern getan hätte? – Durchprügeln würde er mich, und dann wäre alles wieder gut. So macht's einer, der einen liebhat. Du hast nur dich selbst lieb, denkst nicht an sie, fragst nicht einmal: ›Hat sie's gern getan? Kann sie dafür? Kränkt sie sich nicht ab Tag und Nacht, weint sie sich nicht zu Tod!‹« Die kleine Erzsi war in ihrer flammenden Entrüstung ein wenig lächerlich und sehr bewunderungswürdig, und ihre Beschuldigungen übten auf Stephan, statt ihn zu reizen, einen beschwichtigenden Einfluß aus.

Am nächsten Tage kam der Graf zurück, und schon wenige Stunden nach seiner Heimkehr wurde Stephan mit den Pferden zum Ritte nach dem entlegensten Fohlenhof befohlen.

Nun ging's im bequemen, gleichmäßigen Galopp über die Heide. Sie schien sich ins Unendliche zu dehnen in ihrer melancholischen Einförmigkeit, trübselig, wie der Gedanke an ein freudenbares ewiges Leben. Der fast verwehte, fast geschmolzene Schnee breitete nur noch in den seichten Mulden des Bodens mißfarbene Laken aus. Ein weißlich schimmernder Fleck am trüben Himmel bezeichnete die Stelle, an der die Sonne schon ziemlich niedrig stand. So eisig scharf strich der Wind, als ob jede Hoffnung auf den nahenden Frühling in den Herzen der Menschen abgeschnitten werden sollte. Den Stempel der Trostlosigkeit trug diese große Ebene, auf der ein junger Reiter hinter einem alten einherjagte. Der alte hatte den breiten Rücken gebeugt, den Kopf gesenkt, wie wenn er Sturm laufen wollte gegen den Sturm.

»Du Mörder! o Mörder du, vermaledeiter!« fluchte der junge lautlos vor sich hin. »Mörder der Ehre, der Unschuld, Mörder meines Glückes. Da reitet der Verdammte und ist voll Galle und denkt: Die Kerle dort im Fohlenhof erwarten mich nicht, die will ich überraschen . . . gewiß bei einer Fahrlässigkeit, und dann – weh ihnen! . . . Immer ein Richter über andere, du Mörder, du Henker . . . Und du sollst nie gerichtet werden? Du sollst nie erfahren, wie es denen tut, die immer unter deiner Fuchtel stehen? Sollst die Fuchtel nie sausen hören über deinem verruchten Haupte?«

›Einmal doch!‹ erfaßte es ihn mit tollkühnem, mit unwiderstehlichem Entschluß – ›und henken sie mich dafür, mir ist's recht!‹

Er gab seinem Braunen die Sporen, überholte den Grafen, wendete plötzlich und sprengte mit geschwungener Peitsche dicht an den Herrn heran, Schaum auf den Lippen, Wahnsinn in den Augen. Aber schon sank der zum Hieb ins Gesicht des Grafen erhobene Arm. Mit einem Griff am Kragen gepackt, aus dem Sattel gerissen, lag Stephan auf den Boden hingeschmettert wie tot.

Hatte er den Hals gebrochen? Sein Gebieter sah zu ihm hinab. Nein, er war nur betäubt, regte sich jetzt und machte Versuche, sich aufzurichten. ›Betrunken ist der Kerl‹, dachte der Graf. ›Es gab gestern tolles Spektakel im Orte. Drei Hochzeiten wurden zugleich gefeiert. Da betrinkt sich auch ein so nüchterner Bursche, wie der Stephan sonst ist, und auch gleich gehörig.‹

»Verflucht seien Sie! Verflucht!« schrie der ihn an. »Sie haben mir meine Ilona gestohlen . . . unglücklich gemacht meine Ilona, meine Braut . . .«

Braut . . . Ilona? – Der Graf besann sich. – War das nicht die Hübsche, die Widerspenstige, die ihn so inbrünstig angefleht hatte, auf den Knien vor ihm herumgerutscht war? . . . Ja, fast hätte sie ihn dahin gebracht, sie unberührt zu entlassen. Aber sie gefiel ihm . . . hol der Teufel den Bräutigam, dem's nicht recht ist, und der es jetzt im Rausche verrät!

Stephan war auf gesprungen, stierte den Herrn an, die Verrücktheit der Wut im blauroten Gesicht, und schrie: »Ich hab nichts mehr auf der Welt, Sie haben mir alles genommen; lassen Sie mir das elende Leben nicht! Ich hab Sie hauen wollen, hauen! Ein Magnat wird keinen am Leben lassen, der ihn hauen wollt!«

»Schlaf deinen Rausch aus, dann kriegst du dein Teil«, sprach der Graf zwischen den Zähnen. Eine flüchtige Regung des Mitleids milderte einen Augenblick seinen Widerwillen gegen den Betrunkenen: »Geh aus dem Wege!«

In einer Raserei der Verzweiflung warf sich Stephan vor die Hufe des Rosses. »Ich nicht. Sie sollen auch mich auf dem Gewissen haben. Reiten Sie mich nieder – ich will sterben!«

Der Graf war am Ende seiner Geduld. »So probier, wie's schmeckt!« knirschte er und trieb sein Pferd gegen ihn an.

Das edle Tier bäumte sich, wich zurück, voll Scheu, seinen Pfleger zu verletzen. Stutzig gemacht durch die grausamen Hilfen, die der Reiter ihm gab, versagte es den Gehorsam, blies die Nüstern auf, schüttelte den Kopf und stob in wilder Flucht über die Heide, taub für den Zuruf, unempfindlich für den Zügel.

Stephans Brauner war ledig in den Stall gekommen; ihn selbst erwartete man vergeblich und suchte ihn dann auch vergeblich zwei Tage lang. Endlich fand ihn ein Stallpage schwer betrunken in einer Räuberschenke. Dort wurde er abgeholt und mit Gewalt nach Hause gebracht.

Wenige Stunden später ereignete sich etwas Unerhörtes.

Der Reitknecht war auf Befehl des Herrn sogleich hinter Schloß und Riegel gesetzt worden und hatte in seiner Armensünderzelle den Besuch des Predigers empfangen. Von ihm weg begab sich Déry stehenden Fußes ins Kastell und ließ sich bei der Frau Gräfin melden. Nach einer langen Unterredung, die er mit ihr gehabt hatte, geschah dann das Wunder. Die Gräfin ließ fragen, ob ihr Bruder zu sprechen sei, und nachdem sie eine bejahende Antwort erhalten hatte, begab sie sich zu ihm. »Von selbst!« raunten die Leute einander zu. Sie begibt sich »von selbst« zu ihm, sie, die seine Gemächer noch nie unaufgefordert betreten hat und, wenn es geschah, nur mit Zittern und Zagen. Was geht vor? Wessen hat man sich zu versehen?

Kürzlich, nachdem der Graf auf schweißtriefendem Pferde – vermutlich war es mit ihm durchgegangen – in den Fohlenhof kam, hat es dort ein fürchterliches Gericht gegeben. Vielleicht erbarmt sich die Gräfin und geht bitten für die Unglücklichen; unter den zum Bettelstab verurteilten befinden sich viele Unschuldige . . . Aber nein, die Hoffnung ist ausgeschlossen, die Gräfin ist zu ängstlich, – eine Fürbitte einzulegen wagt sie nicht.

Ihr Besuch hat eine andere Veranlassung, – aber welche?

Der Sekretär, vor Neugier unwohl, würde ums Leben gern gehorcht haben; er wagte es nur nicht, aus Furcht vor dem alten Husaren, der im Vorzimmer saß. ›Verfluchte alte Kanaille!‹ dachte er, nachdem er die Tür ein wenig geöffnet und das Befremden gesehen hatte, mit dem der Husar seine treuherzigen Jagdhundaugen sofort auf ihn richtete. ›Die alte Kanaille hört, – gewiß hört sie jedes Wort!‹ es erfüllte ihn mit grimmigem Neide. Jeder Zweifel schwand, als er nach einer Weile den Kopf wieder durch den Türspalt steckte und gewahrte, daß der Husar aufgestanden war, die Hände der Gräfin, die eben aus dem Zimmer ihres Bruders trat, ergriff und mit unaussprechlicher Ehrfurcht küßte. Dabei flüsterte er etwas von untertänigster Bewunderung und glühendsten Segenswünschen.

Ganz zufällig traf dann Elisabeth den Sekretär auf dem Korridor. Äußerst dienstfertig näherte er sich mit der Frage, ob sie keine Befehle für ihn habe. Sie hatte nur eine Bitte: den Reitknecht Stephan rufen zu lassen und zu ihr zu schicken.

Den Reitknecht Stephan? Wollte die gnädigste Frau Gräfin nicht gleich den Sekretär zu ihrem Boten machen? Durfte er nicht ihren Auftrag bestellen an den – hochgräfliche Gnaden werden sich besinnen – zur Zeit im Gefängnis befindlichen Reitknecht? – Dort sollte man ihn abholen, erwiderte die Gräfin sehr freundlich, aber mit ungewohnter Entschiedenheit. In ihren Augen war ein feuchter Glanz, und sie sah so glücklich aus wie sonst nur während der Anwesenheit ihrer Söhne in Ováros.

»Lieber Stephan«, sagte sie, als der Bursche vor ihr erschien, verstört, verwildert, mit einer Miene stumpfsinnigen Trotzes, aus der es sprach: ›Tut mit mir, was ihr wollt, – ich bin auf alles gefaßt; was liegt an mir?‹ »Lieber Stephan, der Graf hat dich aus seinem Dienst entlassen, mir aber erlaubt, dich in den meinen zu nehmen. Hörst du?«

»Ja«, antwortete er gedankenlos und gab sich keine Rechenschaft von dem, was er bestätigte.

»Als Kutscher«, setzte sie hinzu, »du kannst ja doch kutschieren?«

»Zweispännig, vierspännig ist mir gleich.«

»Also, du wirst die Schecken führen.«

Er wiederholte: »Die Schecken führen«, und dachte: Das muß heute sein, denn morgen stehe ich gewiß vor Gericht.

»Die Schecken, lieber Stephan. Aber keinen Rausch mehr!« – sie erhob warnend den Zeigefinger – »das bitte ich mir aus. Du würdest dich zu Tode schämen, wenn man dir erzählte, was du neulich im Rausche getan hast. Ich will dir auch nur sagen: du hast meine Ilona beschimpft. O wie häßlich! wie grausam! . . . Du bist auch im Rausche vom Pferde gefallen, lieber Stephan, man hat dich drei Tage später, immer noch oder vermutlich frisch betrunken, weiß Gott in welcher Schenke aufgelesen. An alles das erinnerst du dich nicht mehr, lieber Stephan.«

Während sie redete, hatten seine Augen, die anfangs halb zugedrückt aus ihren geschwollenen Lidern mißtrauisch und scheu hervorgeblinzelt, sich immer weiter geöffnet. Nun sah er die Gräfin mit dem Blick eines Menschen an, der etwas Rätselhaftes zu erraten beginnt.

»Versprich mir, lieber Stephan«, schloß sie, »daß es bei diesem ersten Rausche – er hat lang genug gedauert – bleiben wird. Versprich es mir, und ich werde dir glauben. Ich weiß ja, daß du im Grund ein braver Mensch bist.«

»Ich verspreche es der hochgeborenen Frau Gräfin«, sagte Stephan und brach in ein leidenschaftliches, unaufhaltsames Schluchzen aus.

*

Im Mai genas Ilona eines Knäbleins. Die Natur hatte ihr Werk getan, unbekümmert darum, ob es in Leid oder in Lust entstanden war. Kräftig und gesund kam das Kind zur Welt; lieblich und schön blühte es heran. Als man es seiner Mutter zum ersten Male an die Brust gelegt, hatte ein Schauer ihren ganzen Körper durchlaufen, hatte sie die Augen zugedrückt, und unter ihren geschlossenen Lidern waren große Tränen hervorgequollen.

»Du liebst dein Kind nicht«, sagte die Gräfin vorwurfsvoll zu ihr, und sie antwortete:

»Gerechter Gott, wie soll ich's lieben!«

Sie war mit ihrem kleinen Akos bei zwei alten Jungfrauen, den Schwestern Maria und Etelka von Zátonyi, den obersten Beherrscherinnen des Hühnerhofs, untergebracht. Diese bewohnten, knapp am Eingang zu ihrem Bereich, ein nettes Häuschen. Vier steinerne Stufen führten zu seiner bunt bemalten, doppelflügeligen Tür hinauf. Mit seinen alljährlich frisch getünchten Mauern, mit seinen blanken Fenstern, die alle voll von Blumentöpfen standen, mit seinem roten Ziegeldach lachte es jedem Vorübergehenden farbenhell entgegen. Zu beiden Seiten schmückten große Holunderbüsche seine Wände und durchdufteten die ganze Umgebung, wenn sie sich über und über mit Blüten bedeckten. Die äußere Freundlichkeit des Häuschens war das passendste Futteral für die Freundlichkeit, die es in seinem Innern barg. Welcher von den Schwestern die Palme der Liebenswürdigkeit gebührte, wäre zu sagen unmöglich gewesen. Immer verbindlich, zutraulich, hilfsbereit, von einer Nächstenliebe beseelt, die nur danach verlangte, ihre Unerschöpflichkeit betätigen zu dürfen, waren sie das Stichblatt des Spottes der Übermütigen und die Zuflucht der Betrübten.

Die Gräfin wußte, daß sie ihren Schützling in bessere Hut als in die der Jungfrauen Zátonyi nicht hätte geben können, und ihr Vertrauen wurde glänzend gerechtfertigt. Wenn sie fragte: »Sind sie gut mit dir, Ilona? Pflegen sie dich? Geben sie acht auf dich?« erhielt sie zur Antwort:

»Viel zuviel, hochgeborene Frau Gräfin. Sie plagen sich, und ich darf keine Hand rühren, muß immer dasitzen und . . .« denken, hätte sie hinzufügen können, wollte es aber nicht aussprechen; die Gräfin gab ihr oft zu hören: »Denk nicht zuviel, vertraue auf Gott. Er wird alles gutmachen. Wie würde es aussehen in der Welt, wenn er nicht gutmachen würde, was die Menschen Böses tun!«

Einmal antwortete Ilona: »Oh, gnädigste Frau Gräfin, Gott selbst kann Geschehenes nicht ungeschehen machen.« Da seufzte Elisabeth, legte ihr die Hand auf den Kopf und ermahnte:

»Liebe! Liebe! verliere nur deinen Glauben nicht.«

Sie empfahl an dem Tage ihren Schützling ganz besonders der Pflege der beiden Schwestern, und die Schwestern knicksten so tief, als ob sie sich niedersetzen wollten, und durften versichern, daß sie nicht einmal an die Goldfasanin und ihre Brut mehr Sorgfalt gewendet hatten als an die junge Wöchnerin.

Wenn sie Ilona traurig und in sich versunken im Zimmer oder vor dem Hause antrafen, liefen sie zur Wiege, holten das Kind heraus und legten es ihr in den Arm. Und sie wartete nur, bis sie ihr aus den Augen kamen, um es wieder zurückzutragen und sich von ihm fortzuschleichen. Seine unausgebildeten Züge waren doch unverkennbar, wie durch einen Schleier und in verkleinertem Maßstab gesehen, die des Urhebers seines Lebens. Sie riefen eine stete Erinnerung hervor an eine Stunde voll Grauen, in der ein junges stolzes Geschöpf um Glück und Würde, um die Lauterkeit seiner Gedanken, um den Frieden seiner Seele gebracht worden war.

Sobald der Säugling entwöhnt werden konnte, trat Ilona ihren Dienst wieder an. Ihr Söhnchen blieb bei den alten Jungfrauen zurück, die Abgötterei mit ihm trieben. Sie wurden in dieser erzieherischen Tätigkeit sanft und still, aber sehr nachdrücklich von der Gräfin mit dem ewig dürstenden Mutterherzen unterstützt. Der Reichtum an zärtlicher und ängstlicher Liebe, mit dem sie ihre eigenen Kinder nicht überschütten konnte, ergoß sich über den kleinen, illegitimen Neffen. Sie besuchte ihn täglich und fand immer Gründe zu neuen Entzückungen.

»Maria, meine Liebe«, hieß es, »finden Sie ihn heute nicht recht blaß? Seine Händchen kommen mir kalt vor, Maria. – Etelka, meine Gute, sehen Sie ihn doch an! Die Augen, nicht wahr?«

»Schön! Schön!« hauchte Etelka, so überwältigt von der Pracht des Anblicks, daß sie nicht Atem genug hatte, um ihre Bewunderung laut auszusprechen.

Sie genoß das besondere Vertrauen der Gräfin, die ohne eigentlichen Grund noch größere Stücke auf sie hielt als auf Maria. Nur mit Etelka tauschte sie manchmal eine Bemerkung aus über die außerordentliche Ähnlichkeit des Knäbleins Akos mit einer gewissen hohen Person. In ihrer Zerstreutheit verwechselte sie gar oft die beiden Schwestern, die einander sehr ähnlich sahen, und flüsterte der Maria geheimnisvoll ins Ohr: »Er, nicht wahr? Wie er leibt und lebt, in jedem Zug, sogar schon in jeder Bewegung, nicht wahr? . . . Aber nicht reden! kein Wort, Etelka!«

Maria gab keinen Laut von sich und ignorierte, zartfühlend, wie sie war, die wider Willen erlauschten Worte. Sie wisperte mit zu einem O zusammengezogenen Munde: »Hochgräfliche Gnaden, ich bin die Maria«, schob sich in sich zusammen und verschwand der Gräfin gleichsam unter der Hand.

Auch Déry erschien oft in der Hühnerhofvilla, seitdem das Knäblein dort eingenistet war, und bemühte sich, dem Einfluß der verwöhnenden Liebe der drei Anbeterinnen entgegenzuwirken. Der Prediger sagte ihnen sehr ernsthaft, daß ein Kind durch Zärtlichkeiten belästigt und durch die fortwährende Bezeichnung mit Kosenamen lächerlich gemacht wird. Um etwas Gleichgewicht herbeizuführen, sprach er von ihm nie anders als von dem Jungen und rief ihn rauh mit »Akos!« an. Er stellte ihn zwischen seine Beine wie zwischen zwei Schrägen und teilte ihm mit, daß er weder ein Schatz noch ein Seelchen, noch ein Engel sei, sondern vorläufig noch ganz einfach der Niemand.

Und Akos lachte und wiederholte: »Der Niemand.« Ihm gefiel die männliche Art des Alten; er warb um die Gunst dessen, dem an seiner Gunst nichts zu liegen schien, der ihn nie küßte, ihm nie schmeichelte, auch nicht unhörbar herumschwirrte wie die Fräulein, sondern wuchtig einherschritt mit seinen großen Stiefeln, die so stolz knarrten und die Bewunderung des Bübchens ausmachten.

Er wuchs auf zwischen Gockeln und Hühnern, Tauben und Pfauen, Gänsen und Enten und befreundet mit allem, was in der Nähe nistete, zwitscherte und flog. Er jauchzte und schlug beglückt in die Händchen, wenn Singvögel und Spatzen sich heranwagten und den rechtmäßigen Besitzern des ausgestreuten Futters einige Körnlein vor den Schnäbeln wegstahlen. Stundenlang konnte er auf den Stufen des Hauses sitzen und dem Tun und Treiben des gackernden, gefräßigen, streitsüchtigen Getiers zusehen. Akos maßte sich eine Herrschaft über das Völkchen an; er machte sich zum Beschützer der Schwachen und Ängstlichen gegen die Starken und Kecken. »Du Hahn fort!« rief er dem gierigen und geizigen Familienvater zu, der vor allem sich dem Wohle der Gesamtheit erhalten wollte. »Du Hahn fort!« und er suchte den Ton des Herrn Déry nachzumachen und hieb mit seiner kleinen Peitsche nach dem buntbefiederten Sultan. Maria und Etelka blickten einander an und flüsterten: »Ja, das Befehlen liegt ihm im Blute.« Immer flüsterten sie, taten immer geheimnisvoll, und doch wußte das ganze Schloß, wußte das ganze Dorf, daß bei ihnen ein falsches Gräflein hauste und gehalten wurde wie ein echtes. Die Bemühungen seiner Erzieherinnen, ihn vor jeder Berührung mit der Außenwelt zu bewahren, blieben fruchtlos. Beständig konnten sie ihm doch nicht auf den Fersen sein, und sobald er die Gittertür des Hausgärtchens offen fand, lief er auf die Straße und hob von jedem Vorübergehenden den Zoll eines Grußes, eines freundlichen Wortes ein. Für den Spott, der beides oft begleitete, hatte er kein Verständnis. Sein liebevolles Herzchen nahm alles, was ihm mit dem Scheine der Liebe gespendet wurde, als echte, bare Münze an. Sie einzuheimsen war ihm Bedürfnis; er geizte nach ihr, und niemand versagte sie ihm. Nur der stillen Frau, die ihn von Zeit zu Zeit auf Befehl der Gräfin besuchte, hatte er noch nie eine Äußerung der Zärtlichkeit abgewonnen, und gerade deshalb warb er um ihre Zuneigung in unbewußtem kindischem Eigensinn, wie er um die Herrn Dérys warb.

Er empfing Ilona stets mit jubelndem Aufschrei, lief ihr mit offenen Armen entgegen, trug seine Spielereien herbei, wollte sie ihr schenken und fragte bei jeder: »Willst du die? Willst du diese da?« Er setzte ihr sein Kaninchen auf den Schoß und erlaubte ihr, es zu streicheln, was nicht einmal die Gräfin, nicht einmal Déry durfte. Sie hatte an alledem keine Freude, war nicht zu zerstreuen, nicht zu gewinnen. Allmählich ging ihre Beklommenheit auf den Kleinen über, und er wurde schweigsam und traurig in ihrer Nähe. Aber seine junge Energie bäumte sich bald auf gegen den Druck eines peinlich lastenden Gefühls und reizte ihn zum Kampfe gegen den stummen Widerstand der jungen Frau. Eines Tages, da sie nach kurzem Verweilen Abschied nehmen wollte, sprang er auf sie zu, hielt sie am Kleide fest, stampfte mit den Füßchen, schrie und befahl: »Dableiben! Ilona dableiben! Mich liebhaben, Ilona!«

Es überrieselte sie. Dieses Fordern, dieses Heischen, der jäh erwachte Zorn in den Augen des Kindes mahnten mit unheimlicher Deutlichkeit an andere zornige Augen, an ein in Drohung verwandeltes Werben um Willfährigkeit, an eine unsagbar häßliche Stunde. Gequält wandte sie den Kopf und streckte die Hand abwehrend aus.

Die gute Gräfin, die das Unglück hatte, Unausgesprochenes meistens mißzuverstehen, gab der Gebärde Ilonas eine ihren eigenen Empfindungen entsprechende Deutung. Sie zog Akos an sich und belehrte ihn: »Du darfst nicht so zu ihr reden, du mußt schön bitten, und du sollst nicht Ilona sagen, du sollst sagen: Mutter!«

Ein kaum unterdrückter Ausruf antwortete ihr: »O nein, Frau Gräfin, ich bitte, nein!« und Ilona eilte hinweg, wie von einem Schrecknis verfolgt, und wich seitdem scheuer denn je den Aufforderungen Elisabeths aus, sie zu dem Kinde zu begleiten.

Die Gräfin wußte keinen Rat, marterte sich ab für andere in Gewissensqualen. Es war eine stete Verletzung ihres religiösen, ihres sittlichen Gefühls, ein Kind in der Nähe seiner Eltern aufwachsen zu sehen – als Waise. Und doch vermochte sie nur unter dem Mißverhältnis zu leiden, nicht aber es umzugestalten. Daß ihr Bruder von der Existenz des Knäbleins wußte, konnte sie kaum bezweifeln, und ebensowenig, daß er von ihr nichts wissen wollte. Er wies alles, was auch nur dem Schatten einer Anspielung glich, barsch zurück; er wurde seiner Schwester gegenüber schroff und unzugänglich bis zur Unerträglichkeit.

Da begab es sich, daß sie einmal, nach Hause zurückkehrend, den Grafen in ihrem Zimmer fand. Er wartete schon seit einigen Minuten und war voll Ungeduld: »Wo steckst du den ganzen Tag?« fragte er, und sie erwiderte bestürzt:

»Ich war bei den Zátonyi.«

»Ja so« – ein wegwerfendes Wort trat ihm auf die Lippen, die Gräfin kam dem zuvor. Ihr selbst unbegreiflich blitzte in der ängstlichen Frau eine Regung der Tollkühnheit auf.

»Ich bin oft bei ihnen. Sie haben ein Pflegekind«, brachte sie stoßweise hervor.

»Was geht's dich an?«

»Was es mich . . .« Vorwärts! ermutigte sie sich selbst. Wenn sie heute schweigt, schweigt sie immer; so verwegen wie heute würde sie nie mehr sein. »Es geht mich an«, fuhr sie fort mit verzweifelter Entschlossenheit; »es ist das Kind der Ilona und deines, und du hast heilige Pflichten gegen sie und gegen das Kind.«

Er blieb unbeweglich. Fast hatte er die Äußerung erwartet. Das milderte aber nicht im geringsten ihren schlimmen Eindruck. Seine Schwester sollte wissen, daß es sein unantastbares Herrenrecht war, zu bestimmen, worüber gesprochen und worüber nicht gesprochen werden durfte. Ihr unbegreiflich kühner Ausfall rief ihm überdies die Warnungen ins Gedächtnis, die seine nächsten Verwandten und ihr Anhang von Zeit zu Zeit verdeckt oder offen ins Gespräch einflochten: »Man erzieht dir in aller Stille einen Sohn. Was man nur will? Sich vielleicht die Zukunft sichern. Man spinnt da ein Lügennetz . . .«

Er erriet, wer unter dem »man« verstanden werden sollte, und rief: »Meine Schwester spinnt kein Lügennetz!«

»Sie nicht! Da sei Gott vor, daß so etwas behauptet würde; aber ihre Arglosigkeit wird mißbraucht.«

»Arglosigkeit, soll heißen Dummheit«, spöttelte der Graf und ließ die Ohrenbläser in Unkenntnis über die Wirkung ihrer Einflüsterungen. Die Sorge dieser Leute um die Schmälerung ihres Erbes machte ihm Vergnügen; es fiel ihm nicht ein, sie zu verringern. Seine Schwester jedoch sollte geweckt werden aus dem Dusel ihrer »Arglosigkeit«.

»Lasse dich nicht narren von dem Gesindel«, sprach er, und als sie einzuwenden wagte: »O Lieber, du begehst ein schweres Unrecht!« sah er sie mit verächtlichem Mitleid an.

»Meine Sache. Kein Wort mehr – du verstehst mich, du kennst mich.«

Ja, sie kannte ihn – und sie schwieg.

Sehr bald darauf kam er eines Mittags bei glühender Sonnenhitze von der Jagd zurück. Seine Stimmung war schlecht, denn er fühlte sich müde – müde nach ein paar elenden Stunden auf der Hühnerjagd in einem nahen Reviere. Verflucht! Traten Zeichen des Alters ihn an? Waren denn die Jahre danach? – Er zählte: – sechzig und fünf. Ja, eine Nummer, die ausgibt, aber was sind Nummern? Und was hat eine mehr oder weniger zu bedeuten? Wie seltsam, daß er im vorigen Jahre noch jeden einen Weichling schalt, der Empfindlichkeit gegen Hitze oder Kälte verriet, und daß er jetzt selbst ein Weichling war, der die drückende Schwüle des Hochsommertags bleischwer in allen seinen Gliedern fühlte. In Gedanken hinschreitend, hatte er versäumt, den Fußsteig einzuschlagen, der über die Wiese zum Tiergarten führte, verfolgte die gerade Straße und sank bei jedem Schritte bis an die Knöchel in den Staub. Ihm auf den Fersen folgte sein Hund mit gesenktem Kopfe, melancholisch herabhängenden Ohren und triefender Zunge. Sie kamen nun an der Mauer vorbei, die den Hühnerhof begrenzte, und Herr und Hund blinzelten, geblendet bis zum Schmerze durch den Lichtstrom, der sich über die helle Mauer, den hellen Straßenstaub ergoß. Nun plötzlich bewegte sich vor ihnen etwas Kleines, Rundes und sprang in Bogenlinien über den Weg. Im selben Augenblick der Hund darauflos und zugleich das Erklingen des grellen Aufschreis einer Kinderstimme und des Grafen zorniger Ausruf: »Pfui Has! Pfui Has! Herein! Wirst kuschen!« Der Hund gehorchte, doch hatte ein rascher Kampf zwischen ihm und dem Kinde, das eiligst herbeigestürzt war, schon stattgefunden, und seine Spuren machten sich an dem Knäblein sichtbar. Es stand da verwundert, aber keck und herausfordernd, schrie seinerseits den Hund an: »Wirst kuschen!« und drückte voll Zärtlichkeit sein gerettetes Kaninchen an sich, mit nackten sonnenverbrannten Armen, und von einem der Arme floß Blut und rötete das Fell des Tierchens.

Ein couragierter kleiner Schlingel, dachte der Graf und wußte gar gut, daß er den vor sich hatte, den er bisher so sorgfältig gemieden. Als das Kind sich jetzt abermals abwandte und dem Eingang zum Hofe entgegenging, rief er ihm zu: »Bleib da!« und forschend betrachtete er ihn. Ammenmärchen, wie sie schwatzen von der Stimme des Blutes; er wartete vergeblich, daß sie sich rege. Eine große Gleichgültigkeit war in ihm, während er doch zugab: »'s ist so, 's ist schon so, es ist mein Kind.« Er sah sich selbst, wie er als dreijähriges Knäblein auf dem schönen Bilde dargestellt war, das im Zimmer Elisabeths hing. Es war einst das Zimmer seiner Mutter gewesen, und wie oft hatte sie ihn, als er übermäßig in die Höhe schoß, eckig und ungeschlacht wurde, vor das Bild hingeführt und halb lachend, halb gekränkt gesagt: »So bist du gewesen, so gertenschlank und anmutig, so haben deine rabenschwarzen Haare sich gelockt und dein braunes Gesichtchen umkost mit wilder Zärtlichkeit. Ja, lache du nur, – wie ich's sage, so war's. Und in deinen Augen mit den langen, gebogenen Wimpern lag ein süßer Kinderernst, der jeden rührte und ergriff. Und die Nase, die jetzt schon anfängt, sich – pfui, wie häßlich! – zur Adlernase zu krümmen, wie fein war sie, und dein Mund, der jetzt in die Breite geht, war der Mund eines Eros. Oh, wie wurde ich beneidet um mein schönes Kind!« – Arme Mutter, der Gegenstand dieses Neides – da war er in dem weißgekleideten Schlingel wieder lebendig geworden! Sie hätte sich seiner gefreut, – vorausgesetzt, daß er in der Ehe und von einer Ebenbürtigen geboren worden wäre. Herzig war der Junge, der furchtlos zu dem Grafen hinaufsah und dessen Blick fragte: »Was willst du von mir?« Als Erwiderung kam eine Gegenfrage: »Wie heißest du? Wer bist du?«

Akos überlegte. Déry ist ein Herr, ist alt, ist groß, und dem muß man antworten: »Ganz einfach der Niemand.« Da ist wieder einer, der ein Herr ist und groß und alt, dem muß man dieselbe Antwort geben. So gab er sie, und sie erweckte ein unangenehmes Staunen – »Ganz einfach der Niemand.« Was das heißen sollte! Dummes, eingelerntes Zeug. Wenn sie glauben, ihn damit zu gewinnen, zu rühren, verrechnen sie sich.

Akos, des langen Betrachtetwerdens müde, freute sich, als seine Beschützerinnen am Eingang des Hofes sichtbar wurden; bevor er ihnen entgegenlief, ballte er aber die Faust gegen den Hund, weil der das Kaninchen nicht aus den Augen ließ, und schrie ihn noch zum Abschied aus allen Kräften an: »Kuschen du!«

Der Anblick des Grafen, der finster dreinsah – »stockfinster« berichteten die Fräulein später seiner Schwester –, hatte sie mitten in einem auf ungewöhnliche Tiefe berechneten Knickse erstarren gemacht. Er mußte lächeln, als er sie gewahrte in ihrer einem Versinken in den Boden so nahen Situation. »Sie sind eingeschnappt; schnappen Sie wieder auf«, sprach er, »und verbinden Sie Ihren Niemand; mein Hund hat ihn gebissen.«

Damit setzte er seinen Weg fort, ohne sich umzusehen.

Von nun an war es nichts Seltenes mehr, daß der Graf am Zátonyihaus vorüberkam und dabei flüchtig durchs Gittertor hineinsah. Wenn er eine der Schwestern erblickte, drehte er den Kopf zur Seite und beschleunigte seine Schritte. Ein Ereignis von hoher Bedeutung war es, als die Fräulein der Gräfin mitteilen konnten, Akos habe ihnen erzählt, daß der Hund heute bei ihm im Hofe gewesen sei. »Er hat mir aber nichts getan«, sagte das Kind. »Und der Herr«, hatten die Schwestern gefragt, »war er auch da?« – »Ja, der Herr auch.« – »Und was hat er getan?« – »Auch nichts getan.« – »Und nichts gesagt?« – Akos besann sich: »Etwas schon.« – »Und was?« – »Er hat gesagt: ›Wie geht's?‹«

Die Gräfin sah ihre höchsten Erwartungen übertroffen; dringend schärfte sie den Schwestern Verhaltungsmaßregeln ein. »Nur nicht dergleichen tun! Euch vor dem Grafen verstecken, ihn immer allein lassen mit dem Kinde!«

Maria und Etelka entflohen, sobald sie den Herrn von weitem erspähten, verschwanden hinter der ersten besten Hühnersteige; sie wären bereitwillig hineingekrochen, um eine Unterredung zwischen Vater und Sohn nicht zu stören.

Eines Tages stand Akos am offenen Tor des Geflügelparks als Hüter und sah den großen alten Herrn auf der Straße einherschreiten. Der Hund lief voraus, an dem Kinde vorbei, blieb stehen und wandte einer Perlhühnerfamilie, die in der Nähe spazierte, seine ganze, offenbar übelwollende Aufmerksamkeit zu. Dem Knäblein wurde bang um seine Schützlinge:

»Halten den Hund! Halten den Hund!« rief er dem herannahenden Grafen zu.

»Halt ihn doch selbst!« klang es ihm zurück, und rasch entschlossen hing sich Akos mit beiden Händen an das Halsband des Tieres. Voll Mißtrauen schielte es zum Gebieter hin: »Geschieht das mit deiner Erlaubnis?« Ein Wink, und Czigány ließ sich geduldig halten und zerren und hörte den Ermahnungen, die eine Kinderstimme ihm halb drohend, halb zärtlich erteilte, mit nachdenklichem Ernste zu. Plötzlich streckte er die Vorderbeine aus, zog das Kreuz ein, – der ganze Hund war gespannt wie eine Sehne. Er hob den Hals, sah mit seinen glänzenden Topasaugen unverwandt in die Augen des Knäbleins und brachte das lang gedehnte pfeifende Gähnen hervor, das in der Hundesprache unter anderem auch bedeutet: Ich kenne dich. Sei gegrüßt!

Das war die Geburtsstunde einer Freundschaft, wie sie nie treuer bestanden hat zwischen einem kleinen Kinde und einem großen Hunde. Czigány besuchte von nun an das Knäblein täglich und brachte immer den alten Herrn mit. Wenn die beiden ihre Wanderung fortsetzten, gab ihnen Akos ein Stück Weges das Geleite. Anfangs eine kurze Strecke, allmählich eine längere. Der Graf nahm zwar keine Notiz von dem Spielgefährten seines Hundes, duldete aber, daß Akos hinter ihm herlief, bis zum Garten und endlich bis zum Schlosse. Er machte auch keine Einwendung, als die Gräfin sich ein Herz faßte und den Kleinen mitnahm auf ihr Zimmer. Sie durfte sogar wagen, ihn tagelang bei sich zu behalten, und nach einiger Zeit wurde das Schloß sein ständiger Aufenthalt.

Die Gäste, die Verwandten waren ratlos, wie sie sich gegen ihn stellen sollten. Einige schmeichelten ihm; andere, hauptsächlich die Frauen, begegneten ihm mit der liebreichen Nachsicht, die man dem sichtbaren Beweis der Verirrung einer verehrten Persönlichkeit zu gönnen hat. Es flog ein entschuldigendes Lächeln über ihre Gesichter, wenn sie dem Kinde im Hause begegneten oder es im Garten mit Czigány umhertollen oder den Ball, den Reif schlagen sahen. Nie richtete der Graf in Gegenwart eines Dritten, und wenn es der geringste Diener war, das Wort an Akos, außer um ihn hart anzulassen:

»Marsch fort! Laß den Hund in Ruh!« – etwas anderes hatte man ihn noch nie zu dem Kinde sagen gehört. Es erschien aber jedem seltsam, daß der Gebieter dem Kleinen so gar keine Furcht einflößte. Nicht im geringsten erschrocken zog er still davon, wenn er fortgeschickt, behielt seinen heiteren Gleichmut, wenn er angefahren wurde.

Das Geheimnis dieser Furchtlosigkeit wurde der Gräfin durch einen Zufall gelöst.

Sie hatte scheidende Gäste zum Wagen geleitet und kam, einmal wieder voll Sorge und Bangigkeit, die Treppe heraufgehastet. Ihre Phantasie spielte grausam mit ihr. Als sie über den Hof gegangen war, hatte man das Pferd ihres Bruders eben in den Stall geführt, schaumbedeckt, mit Striemen auf dem feinen Fell. Wenn seine Pferde so aussahen, war er in bedrohlicher Stimmung heimgekehrt. Elisabeth zitterte Vielleicht hatte er einen Auftrag für sie, ist auf ihr Zimmer gegangen und findet dort das Kind. Es ist keck und plaudert in den Tag hinein, ärgert ihn, und er läßt seine böse Laune an ihm aus . . .

»Ist der Graf da?« fragte sie, ins Vorzimmer tretend, den Diener.

»Ist da, will die Frau Gräfin sprechen.«

Sie eilte durch den kleinen Salon, der von dem großen durch einen schweren Vorhang getrennt war. Auf den ging sie zu, schob ihn zur Seite und sah – und traute ihren Augen nicht. Einen Augenblick stand sie wie gebannt, im nächsten ließ sie den Vorhang sachte zurückgleiten. Unhörbar, mit Feenschritten, durchglitt sie wieder ihren kleinen Salon und flüchtete ins Schlafzimmer. Dort trat sie an das Fenster, öffnete es weit und sang mit bebender leiser Stimme in den Abendhimmel den schönen Psalm hinaus: »Laudate Dominum omnes gentes.«

Durch einige Tage war ihr schmales, weißes Gesicht wie durchleuchtet vom Ausdruck tiefinnerlicher Freudigkeit, und sogar ihr Bruder bemerkte, daß sie in dieser Zeit kein einziges Mal erschrak. Sie machte aber nur den Prediger zum Vertrauten ihres Glückes.

»Ich will ins Zimmer treten«, erzählte sie ihm, »ich bin von bangen Ahnungen erfüllt – wie gar oft, leider, Sie kennen mich ja. – Er hat das Kind bei mir gefunden, ist vielleicht aufgeregt; worüber – weiß man's denn? . . . Statt dessen – o Herr Pastor! was sehe ich auf den ersten Blick? – Ich habe nur einen getan, aber man kann viel sehen auf einen Blick! – Er hält das Kind in seinen Armen, liebreich, zärtlich, wie ich ihm nie zugetraut hätte mit einem Wesen auf Erden sein zu können: »Mein Bub, mein Bub«, sagt er zu ihm, und der Kleine umschlingt den Hals des Vaters mit beiden Ärmchen und drückt den Kopf an sein Gesicht . . .«

Sie konnte nicht weitersprechen, und Déry war ergriffen von ihrer großen Gemütsbewegung, dachte aber: Weiß Gott, was die gute Gräfin, exaltiert wie sie schon ist, sich einbildet, gesehen zu haben.

»Das ist recht schön«, sagte er nach einer Pause, »wenn der Herr Graf den Akos liebgewinnt. Er wird dann nichts dagegen haben, daß man dem Jungen eine gute Erziehung angedeihen lasse, auch dankbar sein, daß Euer gräfliche Gnaden sich seiner von jeher christlich angenommen haben. Es ist das etwas sehr Seltenes; die meisten hohen Damen hätten sich von dem Kind der Sünde verschämt und sogar mit Widerwillen abgewendet.«

»Nur die kalten!« rief Elisabeth, »nur die, denen die Liebeslehre unseres Heilands ein totes Wort geblieben ist. Ich sehe in diesem Kinde das Werkzeug, dessen der Herr sich bedient, um ein steinernes Herz zu erweichen, um einen, dem es nie einfiel, ein Unrecht gutzumachen, endlich, endlich einmal zur Sühne zu bewegen. O Herr Pastor! jetzt wage ich zu hoffen, daß Akos den Namen tragen wird, der ihm gebührt. Ich bin ohnmächtig, ich kann nichts dazu tun; nur wünschen und beten kann ich. Und auch das geschähe nicht so innig und heiß, wenn nicht mein Herzenskind Ilona die Mutter des kleinen Akos wäre . . . Ich glaube an eine Gerechtigkeit schon hier auf Erden, an einen Ausgleich, glaube, daß sie auf ihren Sohn einst so stolz werden wird, als sie sich jetzt seiner schämt.«

Déry sah zu Boden und schwieg. Er wollte der edlen und vortrefflichen Frau nicht widersprechen, die, seiner Meinung nach, in ihren Phantasien lebte und nicht einmal ihre nächsten Menschen kannte.

Noch eifriger als bisher bemühte sich die Gräfin, Ilona an sich zu ziehen, an ihren Umgang zu gewöhnen, ließ sie unter allerlei Vorwänden rufen, suchte sie in ihren Zimmern festzuhalten. Sie legte ihr eine Stickerei, eine feine Näharbeit in die Hand oder machte sie auf die Eigentümlichkeiten und Lebensbedingungen der Blumen aufmerksam, die sie gern und so gewissenhaft pflegte. An irgend etwas würde sie doch Interesse nehmen, irgend etwas würde sie doch freuen und sie veranlassen, von selbst wiederzukommen und ihre Scheu und ihr Fremdtun aufzugeben.

Dieses von der Gräfin innig erwünschte Ziel blieb unerreicht. Sie mußte zuletzt einsehen, daß Ilonas sehnsüchtige Aufmerksamkeit bei jeder Beschäftigung, die ihr auferlegt wurde, nach dem Augenblicke gerichtet war, in dem sie erhoffte, entlassen zu werden. Sie fühlte sich unselig dort oben in den Prunkgemächern, und auch schlecht und herzlos fühlte sie sich. Das Kind war immer da, lief aber nicht mehr auf sie zu, sprach sie, außer auf Befehl der Gräfin, nicht mehr an. Es saß an seinem Tischchen oder drückte sich in eine Ecke und verfolgte mit ernsten Augen jede ihrer Bewegungen, und sie bildete sich ein, einen Vorwurf in diesen ernsten Augen zu lesen, und führte einen lautlosen Kampf mit dem Kleinen.

Mache mir keinen Vorwurf! Die gut sein soll mit einem Kinde, darf nicht seinen Vater verabscheuen und einen anderen liebhaben.

Zwischen ihr und dem »andern« war ein wehmutsvoller Frieden geschlossen worden. Stephan hatte den Rat befolgt, den sie ihm vorzeiten gegeben, er hatte sein Geld im Wirtshaus vertan, hatte getrunken, getanzt, geküßt, der erratenden Liebe Ilonas aber nicht verbergen können, daß er dabei innerlich immer elender wurde. Und einmal wandte sie sich nicht ab, als sie ihm begegnete, eilte nicht an ihm vorüber; sie blieb stehen und sprach leise und zagend seinen Namen. Es war wieder unter den alten, windbrüchigen Eichen, und es war wieder Frühling, und der Tag war ebenso schön, wie er damals gewesen bei der ersten Begegnung eines wie von Ewigkeit her füreinander bestimmten Menschenpaares.

»Du!« rief er, und eine feurige Glut schoß ihm ins Gesicht, »du kennst mich noch?«

Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, preßte die gekreuzten Arme fest ans ungestüm pochende Herz und sprach: »Der Herr Pastor hat mit mir geredet; der Herr Pastor« – wie dankte sie ihm, daß sie sich auf ihn berufen durfte – »meint, wir sollen Frieden machen.«

Ein grausamer Zug verzerrte seinen Mund: »Frieden? Ich wüßte nicht, daß wir streiten.« Er wollte noch etwas hinzusetzen, aber die Kehle schnürte sich ihm zu, eine trostlose Ratlosigkeit malte sich plötzlich in seinem Gesichte, und Tränen schössen ihm in die Augen. »Glaube du nur nicht«, preßte er hervor, »daß ich dir etwas nachtrage. Ich weiß ja, du kränkst dich ohnehin.« Heftig strich er mit der Hand über die Wange, von der eine Träne herabrinnen wollte, warf den Kopf ins Genick und eilte hinweg.

Dann kamen neue Kämpfe. Wieder lauerte er ihr auf im Wirtschaftshofe oder in einem der langen, einsamen Gänge des Schlosses. Einmal suchte er sie an sich zu reißen und beschwor sie, ihn zu erlösen von seiner Liebesqual. Sie hatte Mühe, sich seiner zu erwehren.

»So war's nicht gemeint, Stephan, – das ist aus.«

Und er schrie und stöhnte: »Werde mein Weib! Alles soll wieder sein wie früher, und das andere werden wir vergessen und glücklich sein.«

»Nein«, erwiderte sie, »danach bist du nicht, und ich bin auch nicht danach. Wenn du bös würdest, wie du manchmal wirst, und dann im Zorne sagst und tust, was einen aufs Blut kränken muß, und ich bekäme zu hören, daß ich . . . daß . . . Ich kann es nicht aussprechen, und du weißt ohnehin, was ich meine. – Also, Stephan, so käme es gewiß, und gewiß! das könnte ich nicht ertragen, und darauf will ich es nicht ankommen lassen.«

Sie blieb unerschütterlich, aber sie war bemüht, sich ihren Widerstand verzeihen zu machen. Sie hatte, wenn sie den Geliebten traf, immer einen demütig-freundlichen Blick für ihn, eine schüchterne Erkundigung, einen leisen Gruß. Und er rang seinen Groll und seinen Schmerz mannhaft nieder. Doch ging eine Wandlung mit ihm vor. Aus dem übermütigen Stephan, dem Lebensfreudigkeit in allen Adern gepocht hatte, wurde ein stiller, in sich gekehrter Mensch. Die jungen Mädchen, mit denen er gekost und geliebt und von denen jede sich Hoffnung auf die Dauer seiner Zuneigung gemacht hatte, waren überzeugt: Der lebt nicht mehr lang.

Déry aber sah mit Befriedigung die Zeit und die Gelegenheit kommen, eine Seele zu retten. Wie die Gräfin sich Ilonas annahm, nahm er sich Stephans an; und er hatte mehr Glück als sie. Sein Einfluß wurde dankbar erfahren und wirkte segensreich, und der allem schmeichlerischen Selbstbetrug abgeneigte Pastor träumte nun doch auch von einer freundlichen Zukunft für Ilona, die freilich eine ganz andere war als die, die ihr die Gräfin zu bereiten wünschte.

Im Schlosse gingen indessen wieder sehr merkwürdige Dinge vor. Alle Söhne Elisabeths waren in Ováros versammelt. Der Graf selbst hatte für die beiden älteren, die schon im Staatsdienste standen, einen Urlaub erwirkt, und sie durften ihn während der Ferien ihrer jüngeren Brüder zugleich mit diesen bei ihm verleben.

Seine Schwester hatte an einen grausamen Scherz geglaubt, als er sagte: »Deine fünf kommen, – lasse Vorbereitungen zu ihrem Empfang treffen.«

»Alle? – während du selbst zu Hause bist – alle fünf?« Das war ja unerhört, undenkbar . . . Ein solches Glück konnte ihr nicht beschieden sein.

Ihre Zweifel, ihre Überschwenglichkeit machten ihn ungeduldig, und er sprach in seiner herbsten Art: »Nur nicht immer sentimental! Und merke dir: Keine Verhaltungsmaßregeln wegen des Buben. Die Deinen haben keine Rücksicht auf ihn zu nehmen. Komödienspielerei ist mir verhaßt.«

Die jüngeren Söhne Elisabeths fragten sogleich: »Wer ist der? Woher kommt der?« stellten sich aber zufrieden mit der Antwort, daß er Akos heiße, ein herziger Junge und der besondere Schützling ihrer Mutter sei. Sie befreundeten sich bald mit ihm; er war abwechselnd ihr Tyrann und ihr Sklave und immer ihr sehr lieber Spielgefährte.

Die beiden älteren Söhne staunten das Knäblein an, schwiegen, verstanden. In ihrer stolzen Jugendherrlichkeit belächelten sie die leidenschaftliche Wallung des alten Mannes, – in ihren Augen war er ein Greis –, deren lebendiger Zeuge vor ihnen wandelte. Sie glaubten ihn zu durchschauen: das Bastardchen um das er sich scheinbar nicht kümmerte, war ihm lieber als das Licht seiner Augen. Seinetwegen hatte er die Neffen berufen. Vermutlich sollten sie in Zukunft so viel bei dem Wohltäter gelten, als das Bastardchen sie schätzen werde. Wie bäumte da ihr Stolz sich empor! Wie rasch und fest war es bei ihnen ausgemacht: Für sie ist der Fratz, vor dem die erbschleichende Sippschaft kriecht, nicht vorhanden. Der Fratz wird aufs Fahnden nach Bücklingen dressiert, – auf die ihren kann er warten.

Es kam aber ganz anders, als sie sich's eingebildet hatten. Der »Fratz« wartete durchaus nicht auf Bücklinge, er machte sie selbst. Nicht aus Wohldienerei, nicht im Auszug auf Eroberungen, sondern mit dem sehnlichen Wunsche, sich die geneigt zu machen, denen sein Herz entgegenflog. Ein wunderbar richtiges Empfinden leitete ihn und entwaffnete sogar die jungen Leute, die es als Ehrensache ansahen, ihm Übelwollen zu bezeigen. Das Benehmen des Grafen hatte ihn zu der Meinung erzogen: Erwachsene beschäftigen sich wohl mit einem Kinde, aber nur, wenn nicht andere Erwachsene dabei sind. Vor anderen Erwachsenen sehen sie das Kind nicht an, und wenn es etwas fragt, antworten sie: »Sei nicht so keck.« Es verstand sich ihm von selbst, daß er fern von ihnen zu bleiben habe bei ihren Zusammenkünften.

Auf die Dauer widerstand keiner der Voreingenommenen der Anziehungskraft, die der kleine Sieger unbewußt auf sie ausübte. Die angehenden Staatsmänner hüteten sich wohl, ihre Spartanermasken voreinander zu lüften, aber jeder von ihnen freute sich, wenn er den »Fratzen« allein oder in Gesellschaft der jüngeren Brüder antraf, die ja völlig unbefangen waren. Da wurde Akos in die Luft geschwungen, da half man ihm einen Drachen steigen lassen, einen verschossenen Pfeil suchen, und etwas von der Glückseligkeit, die dabei aus den schönen Zügen des Kindes leuchtete, weckte einen Reflex in dem, der sich zu ihm herabließ.

Einer war, der, ohne es sich im geringsten merken zu lassen, alles sah, wußte, erriet. Er belächelte die Bestürzung Elisabeths über die zur Schau getragene verächtliche Gleichgültigkeit ihrer großen Söhne gegen Akos. Niemals hatten die Neffen ihren Onkel Wohltäter so »umgänglich« gefunden wie eben jetzt, und wenn er etwas Böses gegen sie im Schilde führte, verstand er sich zu verstellen. Daß irgendeine große Aktion im Werke war, konnte man nicht bezweifeln. Rechtsfreunde aus der Hauptstadt kamen angefahren und hatten lange Unterredungen mit dem Grafen, zu denen niemand außer Déry zugelassen wurde. Er versah auch bei der eifrigen Korrespondenz, die der Herr mit hohen Stellen führte, den Dienst des Sekretärs, gegen dessen Verschwiegenheit einige Verdachsgründe vorlagen. Ob sie berechtigt waren, darüber hätten die nächsten Agnaten Auskunft geben können. Was den alten bocksteifen Déry betraf, so würde man leichter ein verrostetes Kunstschloß durch Zureden geöffnet als ihm ein indiskretes Wort abgeschmeichelt haben.

*

Im Spätherbst, kurz vor seiner wie alljährlich um diese Zeit bevorstehenden Abreise von Ováros, erkrankte der Graf. Mit bedrohlicher Heftigkeit trat das Leiden auf und machte alle ärztliche Kunst zuschanden. Die großen, aus der Ferne herbeigerufenen Doktoren wußten ebensowenig Rat wie der Bezirksphysik Semen Isaak, der bald nach dem Ausbruch des Übels zu Déry gesagt hatte:

»Ein Wunder kann ihn retten; beten Sie, daß es geschehe, wenn Ihnen darum zu tun ist.«

Ihm selbst, dem runden Männchen, dem Selbstschätzung aus allen Poren schwitzte, war nicht darum zu tun. Zu oft hatte ihn der Graf zum Kurschmied erniedrigt, ihm zu viele »Esel« an den Kopf geworfen. Dennoch erfüllte er an dem Patienten seine ärztliche Pflicht mit unübertrefflicher Gewissenhaftigkeit. »Bitte, ruhig zu sein«, antwortete er der Gräfin, die ihn beschwor, den Kranken nicht aufzugeben, zu seiner Rettung das Menschenmögliche zu tun. »Bitte, darüber ruhig zu sein. Ein schlechter Soldat, der den Kampf aufgibt, weil er die Schlacht verloren sieht.«

Der Graf selbst war sich der Hoffnungslosigkeit seines Zustandes vollkommen bewußt. Er litt mit heldenhaftem Gleichmut und sah dem Tode grollend und finster, aber ohne Bangigkeit entgegen. Aus seiner großartigen Fassung kam er nur, wenn jemand versuchte, ihm Hoffnung auf Genesung einzuflößen. »Bildet euch nicht ein, mir etwas weismachen zu können, weil ich sterbend bin«, keuchte er dann, und furchtbar funkelten seine fieberroten Augen.

Elisabeth, sein ältester Neffe Ludwig, den er hatte bescheiden lassen, und der Pastor durften oft um ihn sein. Akos und Czigány, der Lieblingshund, mußten ferngehalten werden.

»Er fürchtet, daß ihn ihr Anblick weich machen würde; sie sind ihm ja das Liebste auf der Welt«, meinte Ludwig.

Trotz aller Vorsicht entwischte aber Akos eines Tages seiner Wärterin und schlich, gefolgt von Czigány, in das ans Schlafzimmer des Herrn stoßende Gemach. Die Gräfin und Déry waren da und waren beide eingenickt, Elisabeth auf dem Sofa, der Pastor auf einem Sessel neben der zur Hälfte geöffneten Tür der Krankenstube. An ihm vorbei stahlen sich leise das Kind und der Hund und traten ein.

Der Doktor saß an einem der Fenster. Er hatte soeben die dichten Rollvorhänge herabgelassen, weil die untergehende Sonne ihre grellen Strahlen auf das Bett warf. Nun herrschte so tiefe Dämmerung, daß er nicht unterschied, wer sich dem Bette näherte. Dieses stand, dem Eingang gegenüber, von drei Seiten frei, mit dem Kopfende an der Wand. Es war von einem reich dekorierten Himmel überwölbt und ruhte auf zwei niedrigen, mit Tuch überzogenen Stufen.

Die Augen des Arztes waren – obwohl er das um keinen Preis zugab – nicht mehr sehr scharf, sein Gehör war nicht mehr sehr fein. Er sah anfangs nur undeutliche Umrisse, vernahm nur ein, wie ihm schien, zärtliches Geflüster. Zwischendurch ein klagendes, demütiges Winseln, das nicht von einer menschlichen Stimme herrührte.

»Zum Teufel, der Hund! Jetzt haben sie den Hund hereingelassen . . . Und wen noch? Ich glaube gar . . .« Obwohl der Doktor sich unbeachtet wußte, zog er ganz verstohlen seine Brille hervor und steckte sie, nachdem er sich ihrer bedient hatte, wieder ein . . . Ja, er durfte seinen Augen trauen, sie hatten ihm nichts vorgespiegelt.

Der Kopf des kleinen Akos lag auf dem Kissen neben dem des Kranken, und der Arm des Kindes umschmiegte ihn zärtlich. Semen wagte sich näher; er erlauschte nun einzelne Sätze.

»Nicht wahr, Herr Graf, ich darf zu Ihnen kommen? . . . Ich darf und der Czigány auch . . . Sehen Sie, Czigány, der arme! er küßt Ihnen die Hand, er weint.«

Ein schweres Schluchzen – der Verräter mannhaft bis an die Grenzen der Möglichkeit niedergepreßter Rührung – unterbrach erschütternd die Reden des Kindes. Dem Doktor wurde eiskalt. Nein! das hatte er nicht zu erleben gedacht. Der Graf, der große Graf schluchzte! . . .

Jetzt aber fort! Weh dem, der als Zeuge dieser Erniedrigung ertappt worden wäre! Der Sterbende noch hätte ihn zu bestrafen gewußt . . . Semen entschwand, glitt wie ein Schatten ins Nebenzimmer und berichtete der Gräfin, was sich begeben hatte. Elisabeth faltete die Hände und betete.

Nach einer Weile erschienen das Kind und der Hund auf der Schwelle. Akos hielt den Finger an die Lippen gedrückt: »Still! man muß ganz still sein, der Herr Graf ist eingeschlafen.«

Wirklich schlief er durch einige Stunden.

Als er kurz vor Mitternacht erwachte, kniete Semen neben ihm und fühlte seinen aussetzenden, rieselnden Puls. Der Kranke öffnete die Augen und sah ihn fest an: »Haben Sie ein Gewissen?«

»Ein gutes«, erwiderte der Doktor mit seinem hochmütigsten Lächeln.

»Auf Ihr gutes Gewissen also: wie lange kann ich noch leben?«

»Solang es Gott beliebt.«

Der Graf stieß die Hand des Arztes hinweg: »Hüten Sie sich! Keine Scherze! . . . kann ich den Morgen erleben?«

»Den Morgen kaum.«

»Dann also ist es Zeit: Rufen Sie die Frau Gräfin und den Pastor. Hierher. Sogleich.« Eiserne Entschlossenheit klang aus dem Befehle, die alte, unbeugsame Willenskraft.

*

An diesem Abende fehlte nicht einer vom ganzen dienstfreien Personal in der Korona, die sich um Herrn von Sáskay versammelt hatte. Sie wußten es schon, durch das ganze Haus war die Kunde geflogen, daß der Graf die Nacht nicht überleben werde.

Er wird die Nacht nicht überleben, er wird den Morgen nicht mehr sehen.

Es kam keinem unerwartet – es bewegte mehr oder weniger alle. Der Graf, vor dem seine Untergebenen gezittert hatten, der große Graf, von dem ihr Wohl und Wehe abhing, stirbt. Nie hatten sie sich vorgestellt, anders als unter dem Drucke seiner Faust leben zu können, und nun lag der Riese, der für die Ewigkeit gebaut schien, gefällt. In den Kleinen und Schwachen regte sich instinktmäßig ein Gefühl des Triumphes über den Sturz eines Starken und ebenso instinktmäßig ein Bangen vor dem Unbekannten, das die Zukunft ihnen bringen würde.

Die Küche war heute schlecht beleuchtet; die Lampe, die vom hohen Gewölbe herabhing, rußte und mußte ausgelöscht werden. Sáskay ließ einige Kerzen auf dem längst schon kalten Herde und auf den Geschirrbrettern aufstellen. Sie flackerten, sie warfen einen unsteten Schein auf die Gesichter der vielen Leute, die sich zusammengefunden hatten, von demselben Gedanken und von den verschiedensten Empfindungen erfüllt.

Der steife alte Tafeldecker, der hinter Maria Zátonyi stand, beugte sich zu ihr herab und sprach: »Wissen Sie schon? Der Neujahrstag fällt dieses Mal auf einen Freitag.«

Maria seufzte: »Das stimmt. Oh, wie das stimmt!«

»Kann ich nicht finden«, versetzte der Kammerdiener und glättete mit den beiden wohlgepflegten Händen die rabenschwarzen, flügelartigen Scheitel an seinen Schläfen. »Auf einen Feiertag sollt er fallen. Lauter Feiertage eröffnen.«

»Einen Ball von Feiertagen, ja, wartet nur!« fiel Sáskay ein. »Freut euch nur auf das, was euch erwartet. Der nächste Agnat – je nun, Herr ist Herr. Aber Frau ist nicht Frau, und ich gratulier euch zu der, die dann kommt.«

»Wahr ist's, Frau ist nicht Frau«, wiederholte ein junger, schneeweiß gekleideter Koch, lächelte und kokettierte mit drei hübschen Mädchen zugleich. Sie saßen auf einem Bänkchen ihm gegenüber; eine stieß die andere an, und sie kicherten.

»Ja«, schallte es plötzlich laut und langgedehnt mit düsterer Stimme aus der Fenstervertiefung, in die Etelka Zátonyi sich zurückgezogen hatte, »ja, der große, große Graf!«

Ein unwillkürliches, sogleich unterdrücktes Lachen beantwortete den Ausruf.

Ganz still lehnte Stephan in einer Ecke, halb versteckt durch die stattliche Figur des Leibkutschers, einer seltenen Erscheinung in diesem Raume und in diesem Kreise. Er sah sich von Zeit zu Zeit nach Stephan um, der dann die Augen niederschlugen! sie gleich wieder auf Ilona zu richten. Wie war ihr zumute, was ging in ihr vor? Wenn er sie hätte fragen können, sie würde keine Antwort gewußt haben. Unklar regte sich in ihr das Gefühl einer großen Befreiung. Nicht mehr zittern vor dem Anblick des Entsetzlichen, nie mehr der Gefahr einer zufälligen Begegnung ausgesetzt sein – wie gut! Sie gab sich nicht dem Wahne hin, daß er sich ihrer noch entsann oder je entsinnen werde, und war doch nicht imstande, sich von der Angst vor ihm zu befreien . . . Aber er. Für ihn begannen bald die Schrecknisse der Hölle, er wird bald vor seinem Richter stehen und verdammt werden. Ihr schauderte. Er lag im Sterben . . . Was für ein Versöhner ist der Tod! Wenn ihre Verzeihung ihn retten könnte – sie würde ihm verzeihen.

Im Gegensatz zu ihrer tiefen Ergriffenheit äußerte die gute Laune ihrer Nachbarinnen sich immer unbefangener und lauter. Herr von Sáskay verlor die Geduld und befahl den Übermütigen, sich ruhig zu verhalten. Aber ein Geist der Unbotmäßigkeit war in das junge Volk gefahren, der Ausbruch des Unwillens erweckte einen Ausbruch der Heiterkeit.

In diesem Augenblick wurde die Tür, die auf den Gang führte, geöffnet; ein Lichtstrahl fiel herein, und wie von goldenem Grunde hob sich von ihm die schmale, schwarze Silhouette des Pastors ab.

»Ilona!« rief er in die plötzlich eingetretene Stille, und Ilona erhob sich und ging auf ihn zu. Beinahe fremd hatte seine Stimme ihr geklungen, beinahe fremd erschien er ihr in seinem feierlichen Ernst.

»Was befehlen Euer Ehrwürden?« fragte sie scheu und beklommen.

Schweigend faßte er ihre Hand, gehorsam und schweigend folgte ihm seine Schutzbefohlene.

*

Am frühen Morgen wurden die Beamten und die Dienerschaft in den Salon beschieden, der neben dem Krankenzimmer lag. Durch die geöffnete Flügeltür sah man den Grafen leblos auf seinem Lager ausgestreckt. Den Zügen der Leiche waren die Spuren eines schweren Todeskampfes eingeprägt.

Neben dem Bette knieten die Gräfin und Ilona, und ihnen gegenüber standen der Pastor, der Doktor, Ludwig und zwei Anwälte. Die Gräfin erhob sich, legte sachte die Hand auf die Schulter Ilonas, zog sie empor und schloß sie in die Arme. Beide Frauen verließen das Sterbezimmer, von dem Doktor und von Ludwig begleitet. Die Gräfin hatte rotgeweinte Augen, aber der Ausdruck eines edlen Triumphes verklärte ihr Gesicht. Zu ihrer Rechten, wachsbleich, schritt Ilona. Ihr Blick war starr und geradeaus gerichtet, in ihrer Miene malte sich weder Stolz noch Demut, als die Gräfin, auf sie deutend, zu den Versammelten sprach: »Meine Lieben, die Frau, die Witwe unseres Grafen.«

*

Beim Begräbnis schritt Ilona an der Seite der Gräfin. Dann, noch am selben Tage reiste Elisabeth mit Akos fort. Als es Abschied nehmen hieß, kam Ilona erst zum Bewußtsein dessen, was von ihr gefordert worden war und worein sie gewilligt hatte – in die vollkommene Lossagung von ihrem Kinde.

Wie in einem Traume, in dem das Wunderbare geschieht und nicht überrascht, war ihr ja zumute gewesen, als man sie dem sterbenden Grafen angetraut hatte. Sie erinnerte sich, allerlei versprochen und gelobt zu haben, was der Pastor ihr vorgesagt, etwas unterschrieben zu haben, das die Anwälte ihr vorgelegt. Die Verzichtleistung auf ihr Kind und auf ein Recht befand sich darunter. Worin das Recht bestand, wurde ihr nicht klar, obwohl man es ihr auseinandersetzte; deutlich aber erwachte und wurde mit der Zeit immer lebendiger die Erinnerung an die Verzichtleistung. Sie lautete:

»Du siehst deinen Sohn nie mehr. Er wird fern von dir von solchen erzogen, die seinen Vater liebten und ehrten. Du wirst die Gegend meiden, in der er wohnt. Du wirst das Haus, in dem er lebt, nie betreten. Er wird das Haus, in dem du lebst, nie betreten. Es wird zwischen euch kein Verkehr, nicht schriftlich, nicht durch eine dritte Person, stattfinden.«

Der Wagen war gemeldet worden, alles war zur Abfahrt bereit. Ilona hielt immer noch die Hand der Gräfin fest, zog sie immer von neuem an die Lippen und sah durch einen Tränenschleier zu Akos hin. Er kümmerte sich heute zum erstenmal nicht um sie; sein ganzes Interesse war in Anspruch genommen von einer kleinen Reisetasche, die man ihm umgehängt hatte.

Die Gräfin, kaum Herrin ihrer Rührung, umarmte Ilona, und flüsterte ihr zu: »Gott segne dich. Er lasse dich glücklich werden mit deinem Stephan, den du jetzt in Ehren heiraten kannst.«

Ilona ließ sich auf die Knie nieder, streckte die Hand nach dem Kleinen aus und fragte mit unterdrücktem Schluchzen: »Willst du mir nicht auch Lebewohl sagen, Akos?« Er stutzte, er kam ganz verwundert auf sie zu.

»O ja, o ja, ich sag dir Lebewohl.«

»Leb wohl«, wiederholte sie und küßte ihn zärtlich, mütterlich, zum erstenmal – zum letztenmal.

Er hatte namenlos beglückt ausgesehen, und sie blieb am Fenster und schaute dem Wagen nach, aus dem, solange das Schloß in Sicht blieb, ein Kinderköpfchen sich herausbog, ein Kinderhändchen winkte.

*

Vor zwölf Jahren war's, und an dem Tage hatte ihr stiller Kampf begonnen und den Schatten gebildet, tief im Hintergrunde ihres sonnigen Glückes.

»Nicht denken! nicht denken!« Die meinten es gut mit ihr, die ihr den Befehl erteilten. Sie hätten ihm nur auch die Fähigkeit mitgeben sollen, ihn zu befolgen. Aber nach dieser rang Ilona umsonst. Eine unbestimmte Sehnsucht, von der es keine Erlösung gab, begleitete sie durch alle Stunden ihres Lebens. Meist dumpf und leise, bei der geringsten Veranlassung auflodernd wie eine verdeckte Flamme, zu der ein Luftzug dringt.

Der Mann, dem sie das Liebste auf Erden war, ahnte nichts von ihrem unausgesprochenen Leiden; dem elenden Weibe, das heute nachts an ihr Fenster gepocht, hatte giftiger Haß die Augen geöffnet. Vilma Rezsa wußte, was sie tat, als sie das Bild des Jünglings in Ováros vor sie hinzauberte und jäh verschwinden ließ, eine fieberhafte Spannung in ihr erweckte, die unbefriedigt bleiben sollte.

Die Nacht war vorgeschritten und Ilona noch schlaflos. Das jüngere der Knäblein schrie aus dem Traume und erwachte weinend. Sie ging zu ihm; er klammerte sich an sie und lallte mit schwerer Zunge: »Mutterchen, mein Mutterchen, du bist ganz allein mein Mutterchen!«

Ilona beschwichtigte ihn, streichelte ihn, ließ sich das Versprechen abschmeicheln, bei ihm zu bleiben. Da zu bleiben, auf seinem Bette sitzend, da bei ihm, bis es Morgen wurde. Sie hielt Wort, auf ihrem Lager hätte sie ebensowenig Ruhe gefunden wie auf der Wacht bei ihrem kleinen Buben.

Ein Rad drehte sich in ihrem Kopfe, und jetzt stieg ein Gedanke empor und jetzt der andere. Der eine: »Er wächst auf in Glanz und Reichtum und ist doch arm. Hat nie gehabt, was die beiden . . . ach Gott! was die Kinder der Zigeunerfrau haben – der Bettlerin.‹ Gleich darauf der andere Gedanke: ›Gut, daß er's nicht hatte, daß ich ihm eine schlechte Mutter war. Eine liebevolle Mutter zu verleugnen, fiele ihm doch schwer.‹

Sie hatte die Augen geschlossen, lehnte sich an die Bettwand, fiel allmählich in leisen Schlummer, aus dem sie plötzlich erschrocken auffuhr. Deutlich hatte sie eine andere Stimme als die ihres Letztgeborenen zu hören geglaubt, eine junge, junge Stimme, die zornig und voll Schmerz zu ihr schrie: »Bei mir bleiben, mich liebhaben, Ilona!«

*

Stephan kam zurück, und als er aus dem Wagen sprang, die Kinder umarmte, die Frau ans Herz drückte, da fühlte sie sich wie eine von schwerer Krankheit Genesene.

»Nun, wie war's daheim?« fragte sie, und er sah mit einem langen, freudigen Blick sie an, seine Kinder, sein Haus und antwortete:

»Hier ist mein Daheim.«

Einige Nachrichten aus Ováros brachte er mit. Sie waren zufällig nach Hajau Boros gelangt und von dort nach dem Geburtsort Stephans. Aber sie hatten wenig Interesse für die Leute, waren überdies schon ein paar Jahre alt; er mußte sie mühsam zusammenlesen. Die gute Frau Gräfin – zögernd brachte er es vor –, von der es hieß, daß sie gestorben war – vor Jahren schon, und vom Herrn Pastor, daß er vielleicht gestorben oder vielleicht fortgereist sei. Jedenfalls, das wußte man sicher, befand er sich nicht mehr in Ováros. Und Herr von Sáskay auch nicht mehr. Der hatte ein Bauerngut gekauft irgendwo im Torontáler Komitat und lebte dort mit seiner Familie.

»Die gute Gräfin tot – schon lange.« Ilona brach in heiße Tränen aus. »Und der Herr Pastor fort . . . wahrscheinlich weit in die Fremde . . . Er hat sich ja immer gesehnt . . . Und – Stephan«, fragte sie nach einer Weile zögernd mit gesenktem Blicke, »von niemandem sonst hast du gehört . . . von niemandem sonst?«

Er verstand sie und erwiderte kurz abweisend: »Von niemandem sonst. Man muß den Leuten ohnehin alles langsam abfragen, und – du weißt, was du versprochen hast«, setzte er streng, fast hart hinzu.

Sie sah wohl, sie durfte ihm nicht von Vilmas Besuch erzählen, wie sie so gern getan hätte, sie durfte ihm nicht sagen, wie bang ihr seitdem ums Herz war. Tot für sie mußte die Vergangenheit scheinen. So schwieg sie, und Stephan schrieb die gedrückte Stimmung, in die sie oft verfiel, der Trauer um die Gräfin zu und ließ gelten, daß sie gerechtfertigt war. Ilona wäre nicht sein gutes, braves Weib gewesen, wenn die Nachricht vom Tode ihrer Wohltäterin und der seinen sie gleichgültig gefunden hätte.

Mit aller Kraft nahm sie sich zusammen, um den Seelenfrieden, den sie erheuchelte, zu erringen, sie suchte Rettung in einer unermüdlichen Tätigkeit. Von so tüchtigen Leuten sie auch umgeben war, die beste Arbeiterin auf dem ganzen Bauernhof blieb doch die Frau. Wenn die Fleißigsten erschöpft ruhten, gab es für sie immer noch etwas zu tun. So half sie sich durch und kam nicht mehr in Versuchung, ihrem Stephan anzuvertrauen, womit sie sich quälte. Es war etwas ganz Eigenes, das nur sie allein anging, das sie so mitschleppte und schleppen würde, stumm durchs ganze Leben. Es war der Preis, um den sie ihr Glück erkaufte: eine Sehnsucht, eine Reue, ein zu spätes Mitleid mit ihrem Erstgeborenen. »Er wächst auf in Glanz und Reichtum und ist doch arm«, das wiederholte sie sich immer. Wenn sie nur wüßte, o Herr Jesus! nur wüßte, ob er's fühlt, ob es ihn bekümmert!

Der Frühling dieses Jahres hatte besonders fruchtbares Wetter gebracht, der Sommer versprach reichen Erntesegen. Stephan fand es geraten, Fürsorge zu treffen, und begann den Bau einer neuen Scheuer, neben der, zum Entzücken der Kinder, ein Geflügelhof eingerichtet wurde. Da spazierten die Buben, genauso wie einst ein anderer getan hatte, mit Zweigen in den Händen herum und trieben die großen Gefräßigen, die sich am Futter der Kleinen vergriffen, hinweg und machten sich wichtig und jagten die Enten in den Teich. Sobald Ilona sich blicken ließ, stürzten sie ihr entgegen und hatten eine Fülle von Hühnerhof-Neuigkeiten zu berichten.

»Schau, Mutter.« – »Komm, Mutter.« – »Mit mir.« – »Mit mir auch.« – »Mutter! Mutter!«

In allen Tönen der Zärtlichkeit wiederholten sie das Wort; es klang wie eine gesprochene Liebkosung. Von ihnen genannt, war der Name ihr Ruhmestitel, von dem anderen ausgesprochen ihre Schande . . . Er durfte ihn ihr nicht geben, sie hatte ihn aus seinem Munde nicht hören können.

*

Vilma Rezsa war wieder da. Ohne erst um Erlaubnis zu fragen, hatte sie ihren Warenkasten in Stephans noch leerer Scheune aufgestellt. Er wollte sie daraus vertreiben, aber Ilona legte Fürbitte ein, und sie blieb, und am Abend, als die Leute von der Arbeit kamen, machten sie halt vor der improvisierten Bude, guckten und bewunderten. Was für Sachen hatte die alte Hexe mitgebracht! Der bloße Anblick war ein Genuß, sogar für die, die nicht kaufen konnten. Aber ihrer waren wenige. Die Alte ging auf Ratenzahlungen ein, verstand es, mit unnachahmlicher Kunst ein ganzes Lockvögelkonzert aufzuführen, und zog mit Meisterschaft den Leuten das Geld aus der Tasche. Allerdings gab sie auch etwas dafür, jedermann konnte Freude haben an dem, was er erstanden hatte.

Die Rezsa mußte zu erstaunlichem Reichtum oder zu erstaunlichem Kredit gekommen sein; ihr Warenlager war reich ausgestattet. Kinderspielereien gab es da, an denen jeder Erwachsene Vergnügen haben konnte, und Seidenbänder von blendender Farbenpracht und blinkende Ketten, Nadeln und Ringe für die Mädchen und Frauen, famose Pfeifen und Messer, Brieftaschen und Geldbeutel für die Männer. Die Neugier des Publikums war nicht zu stillen, besonders die des jugendlichen. Es bahnte sich, gleichgültig gegen Stöße und Püffe, einen Weg durchs Gedränge der Käufer, gaffte, machte sich lästig. Zu einem Tor hinausgejagt, erschien die ganze Bande alsbald beim anderen, die Buben Stephans beständig an der Spitze des beweglichen Völkchens.

Oh, der Kasten der Vilma mit den vielen Laden! Oh, die Schachteln, ganz voll mit Soldaten, und die Trompeten und die Kühe mit wirklichen Glöckchen am Halse! Oh, wer das alles hätte, wer nur etwas von dem allen hätte!

»Kaufe ihnen doch ein paar Sachen«, sagte Stephan zu seiner Frau, und nun war der Sturm entfesselt. Mit hartnäckigem Ungestüm liefen die Kleinen hinter der Mutter her:

»Mutter, ein paar Sachen kaufen! Der Vater hat's erlaubt! Der Vater will's!«

Und Ilona kämpfte, kämpfte!

Bis jetzt hatte die Unholdin, wenn sie an ihr vorüberkam, ein: »Gehorsame Dienerin, schöne Grofka!« ausgerufen und ihr den Rücken gekehrt. ›Mit Euch bin ich fertig !‹ ließ sich nicht deutlicher ausdrücken. Und Ilona war weitergegangen, ohne eine Miene zu verziehen. Doch gab es seit dem Tage von Vilmas Ankunft keinen Augenblick, in dem das Gefühl einer feindlichen Nähe nicht schwer und beklemmend auf ihr gelastet hätte. Des Nachts lag sie schlaflos und horchte und bildete sich ein, sie habe ans Fenster klopfen und rufen gehört wie damals . . .

So ging es fort, bis einmal ihre Söhnchen weinend und schreiend auf sie zugestürzt kamen.

»Mutter, Mutter, die Vilma geht weg! Sie hat schon alles eingepackt, und der Illés hat die Soldaten, und der Gyula hat eine Peitsche, die pfeift, und wir haben nichts!«

Nun entschloß sich Ilona, nahm an jede Hand einen ihrer Buben und ging mit ihnen zur Scheuer. Sie hasteten, sie glühten, sie riefen schon von weitem: »Vilma, nicht fortgehen mit den schönen Sachen! Die Mutter kommt, die Mutter wird kaufen!«

Die Händlerin empfing die verspäteten Kunden schlecht. Sahen sie nicht, daß der Kasten schon geschlossen auf dem Schragen stand? Ihretwegen wird sie nicht aufsperren, die schönen Sachen herausreißen und in Unordnung bringen.

»Das ist auch gar nicht nötig«, sagte Ilona, »Ihr wißt, wo Ihr das Spielzeug habt. Nehmt es heraus, ich handle nicht.«

Brummend zog die Alte eine Arche Noah und andere Gegenstände, für die sich ihrer Kostbarkeit wegen kein Käufer gefunden hatte, aus einer Lade, und sämtlich gingen sie ins Eigentum der Kinder über. Glückselig liefen die Knaben heim, ihre Schätze den Knechten und Mägden zu zeigen.

Die Bäuerin blieb zurück und kaufte allerlei Geschenke für das Gesinde. Vilmas Laune besserte sich nicht, trotz des Gewinns, der ihr noch kurz vor dem Aufbruch zufiel. Sie machte sich an die Versorgung ihres Kastens, zog langsam die Riemen durch die Schnallen und sah manchmal mit gespieltem Staunen seitwärts nach Ilona hin. ›Was wollt Ihr noch?‹ fragten ihre tückischen Augen. Plötzlich wandte sie sich, stemmte den Arm in die Seite und sprach:

»Ihr seid noch da? Wollt Zins einfordern, ich weiß schon. Ich bin ja hier nur geduldet, hinausgeworfen, ich Arme, von euch reichen Leuten. Hunzen lasse ich mich aber deshalb nicht, – ich zahle!«

Sie zog ein Päckchen aus der Tasche, wickelte den Inhalt aus seinen papiernen Hüllen und bot ihn der Bäuerin auf der Hand dar, deren innere Fläche wie bei einer Meerkatzenhand gegen die dunkle äußere hell abstach.

»Was Euch einfällt«, sagte Ilona; »ich werde doch kein Geschenk von Euch annehmen.«

»Ihr werdet, Ihr werdet, seht es nur an! Ein Messerchen, wie Ihr in ganz Ungarn keines mehr findet, seitdem ich das ganz gleiche verkauft habe . . . Ein Messerchen, – seht doch die Schale aus Perlmutter und die vier feinen Klingen.« Sie klappte eine nach der anderen auf und zu, »gehen wie Butter und sind scharf wie Gift. Und seht, so wie jetzt ich, hat er damit gespielt und sich nicht entschließen können, nimmt er das oder das . . . nicht entschließen können – recht wie ein Kind . . . So herrlich und groß und doch noch recht wie ein Kind.«

»Wie ein Kind?« wiederholte Ilona gepreßt und unwillkürlich in fragendem Tone.

»Was liegt Euch dran?« höhnte Vilma. »Ihr wißt ja nicht, von wem ich rede, und wer so lang gespielt hat mit den Messern und zu wem ich gesagt habe: ›Suchen Sie sich nur eines aus, hochgeborener Herr Graf, mir ist's gleich, welches Sie nehmen. Die Messer sind einander ähnlich wie zwei Wassertropfen.‹ – ›Das ist wahr, wirklich wie zwei Wassertropfen‹, hat er gesagt und dabei so süß ausgesehen! Grofka, er ist nicht bloß so schön wie die Sonne im Aufgang, auch so sanft und lieblich wie der junge Mond!«

Mit triumphierender Schadenfreude blickte die Alte in Ilonas Gesicht, das sich verfärbte, in dem es zuckte. – Plötzlich, ein wohlvorbereiteter Angriff, ein sicherer Stoß ins Herz, warf sie ihr die Worte zu: »Grofka, ein Kind haben wie dieses und sich vor ihm verkriechen müssen, schmeckt bitter, Grofka, was? Da lob ich mir am Ende noch mein Los; nach meinen elenden Rangen werd ich mich niemals sehnen . . . Nehmt das Messer, nehmt die Bezahlung Eurer Gastfreundschaft: da! – und lebt so wohl, als ich es Euch wünsche.« Sie steckte die Arme in die Gurtenschlingen ihres Kastens, bog sich zurück, ein Schub, und er saß ihr auf dem Rücken.

»Geht, Vilma, in Gottes Namen geht«, sprach Ilona leise und wie verloren. »Ich weiß nicht, warum ich Euch anhöre, – ich hätte Euch nicht anhören sollen.«

»Heuchlerin!« Die Alte trat dicht an sie heran, legte die Finger der Rechten auf ihren Arm und sah ihr mit einem bohrenden Blick in die Augen. »Ein paar Jährlein Seligkeit gäbt Ihr darum, so viel von ihm zu wissen, wie ich von ihm weiß. Durch mich aber, mein Seelchen, erfahrt Ihr nichts. Und wenn Ihr mich auf die Folter spannen ließet, Ihr brächtet nichts aus mir heraus. Die Freude an der Pein, die Ihr leidet, ich seh's! . . . Gott sei Dank, ich seh's! ließe mich meine eigene Pein nicht spüren.«

Sie trat aus der Scheuer und ging der Straße zu, und Ilona machte keinen Versuch, sie aufzuhalten; sie hielt das Messer in ihren hohlen Händen, hob es zu ihren Lippen empor und küßte es.

*

Im stillen Schlosse von Vicim herrschte seit einiger Zeit eine rastlose und lärmende Tätigkeit. Eine Schar Handwerker war aus Budapest angelangt, um das Haus glanzvoll herzurichten zum Empfang der Gebieterin. Nach vielen Jahren kam sie einmal wieder von ihren Besitzungen an der unteren Donau, ihr Gut an der Waag zu besuchen. Nicht für lange, nur um ihren jung verheirateten Neffen in Vicim, das sie ihm als Eigentum überließ, unter großen Feierlichkeiten zu installieren.

Triumphpforten, Böllerschüsse, Beleuchtung, Feuerwerk. Ganze Ochsen am Spieß gebraten, Stückfässer voll feurigen Villányers zu beliebiger Anzapfung aufgestellt . . . Wem von alledem nicht im voraus schon ein Räuschlein zu Kopfe steigt, der lasse sich in den Backofen stecken, der ist Teig.

Hunderte von Gästen, erzählten die Leute, waren zu den Konzerten, Theateraufführungen, Bällen, Jagden geladen, die nach der Ankunft der Herrschaften stattfinden sollten. Vorerst erschienen sie aber allein, die Frau Baronin und das junge Ehepaar. Die beiden Damen zeichneten sich durch große Liebenswürdigkeit aus und waren von der ersten Stunde an populär. Der Herr Baron hingegen mißfiel allgemein. Schon seine äußere Erscheinung hatte nichts Gewinnendes. Er war klein und vierschrötig und sah gar nicht nobel aus; und nobel auszusehen ist doch das Geringste, was man von einem hochgestellten Herrn verlangen kann, in einem Lande, in dem jeder Hajduck und jeder Csikós einen vornehmen Anstrich hat.

Bald nach dem feierlichen Einzug der Herrschaften, an einem Sonntagnachmittag, saßen Stephan und Ilona im Garten auf der Bank unter dem schönen Nußbaum, der ihr Stolz war. Wer weiß, ob sie das Haus des ehemaligen Richters überzahlt hätten, wie sie es getan, wäre nicht so ein prachtvolles Exemplar des Lieblingsbaumes der Magyaren dessen nächster Nachbar gewesen. Sein Anblick bestach sogleich ihre Augen und gewann ihre Herzen. Mit jedem Jahre gedieh er herrlicher. Hoch über das Dach hob er seine Wipfel, breitete kraftstrotzende Zweige über den Gartenweg; den Buchenzaun, die Straße noch beschatteten seine Äste. Wer in der Richtung vom Kastell, wo der Boden sich etwas senkte, kam und zwischen dem Blättergrün des Baumes und dem unter der Schere gehaltenen Zaune auf Ilonas Blumenbeete hinsah, glaubte einen herrschaftlichen Ziergarten zu erblicken.

Die Bemerkung war oft und nun auch, mit etwas kreischender Stimme, von einer Dame gemacht worden, die sich im Gespräche mit anderen Personen dem Hause näherte. Es war die Frau Baronin, von ihren jungen Verwandten und von der Oberlehrerin begleitet. Stephan und Ilona erhoben sich, als die Gesellschaft draußen vor dem Zaune stehenblieb, und die Domina führte eine kleine Komödie auf. Sie sah bloß den Garten und erging sich in Lobeserhebungen: »Seht doch, Kinder, seht, wie hübsch, wie gepflegt! Oh, oh! welcher Fleiß, welcher Schönheitssinn! Wer nur hier wohnen mag? Feine Leute, feine Leute, wenn ich von ihrem Werke auf sie schließe.«

Die stattliche Baronin war in Witwentrauer, machte jedoch einen äußerst freundlichen Eindruck. Ihre großen, runden Augen prangten in feurigem Himmelblau, und ihr sehr reiner Teint hatte einen angenehmen Anflug von vieux rose. In den vielen Löckchen, die ihre Stirn umkräuselten, schimmerten Silberfäden, aber noch überwog der Goldglanz ihres ursprünglichen Kastanienbraun.

»Ah!« rief sie aus und schien jetzt erst die Eigentümer des hübschen Anwesens gewahr zu werden: »Ah, da sind sie ja selbst, die lieben Leute! Entschuldigung! Entschuldigung! Vor lauter Bewundern bemerke ich nicht, daß Ihr selbst da seid! . . . Euer Garten, sag ich Euch, – das nenn ich einen Garten! Meine Gärtner – das heißt von nun an die seinen«, sie wies mit einer netten, huldigenden Handbewegung auf ihren Neffen, »könnten sich ein Beispiel nehmen.«

Stephan würgte noch an einer höflichen Erwiderung, als die Baronin und ihr Gefolge sich schon weiter bewegten, beide Damen herzlich grüßend, der Baron mit einer schiefen Herablassung und mit der Karikatur eines Lächelns in einem seiner Mundwinkel.

Die Oberlehrerin hatte sich bei den Herrschaften empfohlen, sie eilte sehr erhitzt der Bank unter dem Nußbaum zu, ließ sich auf sie niedersinken und ächzte: »Seelchen, laßt mich bei Euch ausschnaufen. Ich bin hin. Seit mittags im Kastell und muß Rechenschaft geben über jedes Kind, und was drum und dran ist. Und jetzt geht die gute gnädige Dame herum, Wohltaten spenden und Leutseligkeit ausstreuen wie aus der Zuckerbüchse.«

»Sie ist lieb, man muß sie gern haben«, sagte Ilona.

»Sie, ja«, die Oberlehrerin lehnte ihren mit einer Krausenhaube bedeckten Hinterkopf an den Baum, kreuzte die Arme und streckte die Beine aus: »Sie kann gern haben, wen's freut. Die Liebe zu ihrem Neffen, die sie in uns entzünden möchte, kann man sich schenken. Habt Ihr bemerkt, wie der grüßt, – der Hochmut! Und wenn man denkt . . . seine Mutter war eine Häuslerstochter.«

»Eine Häuslerstochter?« wiederholte Ilona gedehnt.

»Wie ich Euch sage. Aus Tolvadia, woher auch ich bin. Wir haben beide von dort weg geheiratet, ich meinen Alten, der damals noch gar nichts gewesen ist, sie einen Magnatensohn. War der verliebt! Nein, was der verliebt war in ihre rabenschwarzen Augen, die voll Übermut blitzten, in ihren kirschroten Mund, der immer lachte. Er soll sie liebgehabt haben bis an sein Ende und hat sich bis an sein Ende ihrer geschämt, ist nie mit ihr unter seinesgleichen erschienen. Und der Sohn, der schon gar. Der wird Euch wie ein Paradiesapfel, wenn jemand von seiner Mutter spricht. Er verachtet sie ganz einfach.«

»Und geht ihr aus dem Wege?«

»Ach, auf zehn Meilen!«

»Und sie? Und sie?«

»Was sie? Sie ist eine reiche Witwe und macht sich lustig über seinen Fumo.«

»Sie hat recht. Wohl ihr, daß sie es kann«, sprach Ilona hastig. Ihre Lippen zitterten, sie fühlte, daß etwas wie Reif ihre Wangen überzog; sie fühlte auch, daß der Blick ihres Mannes, dem sie auswich, hartnäckig auf ihr ruhte.

Es war seltsam und grausam und wie eine Fügung, daß sie zu keinem Augenblick Ruhe mehr kommen durfte in dieser letzten Zeit. Immer begab sich etwas, wurde etwas gesprochen, etwas erzählt, das eine Erinnerung weckte, eine peinliche Beziehung auf sie selbst hatte, an ihr rüttelte, sie verfolgte, sie zwang, zu denken – sie, die nicht denken wollte.

Im Schlosse strömten schon die Gäste zusammen. Die nicht Platz fanden in seinen Räumen, trotz deren Weitläufigkeit und großen Anzahl, wurden in den Nebengebäuden untergebracht, in den Prunkstuben der Beamten oder in den benachbarten Kastellen. Aus allen Teilen Ungarns waren sie gekommen, gar viele auch aus der Tiefebene, wo die größte Besitzung der Baronin lag. Ob denn nicht auch jemand aus Ováros? Einer der Söhne der verstorbenen Frau Gräfin vielleicht . . . Nein! – die Einbildung von sich zu weisen ist sie doch noch stark genug . . .

›Warum Einbildung?‹ fragte sie sich bald darauf; ›er ist ja kein Kind mehr.‹ Es reiten da und fahren und tummeln sich im Parke so manche Herrchen, die jünger sind als er.

Dennoch wiederholte sie sich: ›Einbildung! Gib dich solchen Einbildungen nicht hin.‹ Sie ahnte nicht, wie fest sich schon in ihr die Hoffnung eingewurzelt hatte: ›Er kommt, du wirst ihn sehen.‹

Und davon lebte sie und war nur noch in äußerer Gestalt bei den Ihren und übte nur noch mechanisch ihre langgewohnte Tätigkeit aus.

Eine Woche schon dauerten die Festlichkeiten, bei denen auch für die Dorfbewohner reichlich gesorgt war. Nicht nur Brot und Spiele – man bot Fleisch, Wein und Spiele. Stephan und Ilona nahmen teil an allem, machten alles mit. Ihn freute der Freudentaumel der anderen, auf ihn übte die Zigeunermusik ihre unwiderstehliche Anziehungskraft; das Feuerwerk, das Nacht für Nacht abgebrannt wurde und jedesmal Überraschungen brachte, erregte seine Bewunderung. Ilona ging neben ihm hin ohne Sinn und Blick für die Vorgänge, die das leidenschaftliche Interesse von alt und jung erregten. Eine brennende Frage lag ihr am Herzen, die auszusprechen sie nicht wagte, auch nicht vermochte. Das Wort quoll ihr im Munde, sie zwang es nicht über die Lippen, das einfache, an einen Diener, an einen Beamten gerichtete Wort:

»Ist jemand aus Ováros da?«

Den Abschluß der Festtage in Vicim bildeten die Jagden. Viel Jugend, viel Schönheit zog an Ilona vorbei, wenn sie, hinter einem Baume, einem Pfeiler des Parkgitters verborgen, den Aufbruch oder die Rückkehr der Jäger beobachtete. Manchmal auch pochte ihr Herz höher beim Anblick eines frischen Gesichtes, einer schlanken Jünglingsgestalt, und sie sagte sich: ›Der könnte es sein!‹ Niemals aber sagte sie sich: ›Der ist's!‹

Die Fasanenjagd war für den letzten Nachmittag aufgespart worden. Wenn der zu Ende ging, ohne die Erfüllung ihres Traumes zu bringen, dann war es ausgeträumt, und – sei es wie es sei! – dann wird es besser sein. Sie wird sich nicht mehr an eine Hoffnung klammern, die ihr ja selbst töricht erscheint, und der sie dennoch nachhängt, in der sie aufgeht, völlig, zu ihrem eigenen Entsetzen . . . Was tut sie? Versündigt sich, bestiehlt ihren Mann, ihre Kinder um Sorgfalt, um Liebe sogar, – ja, sogar um Liebe! und zieht wie verrückt einem Hirngespinste nach. Einem Hirngespinst, – sie sieht es ein und kann mit ihm doch nicht fertig werden. Der Schatten einer Möglichkeit, daß es sich verwirkliche, ist noch da, und Wunder – geschehen.

Sie bestellte ihr Haus, sie begleitete Stephan, der auf dem Steueramte zu tun hatte, ein Stück Weges, überwachte die Mägde bei der Gartenarbeit und blieb immer im Banne von etwas Dumpfem, Lastendem, mehr ein Gefühl als ein Gedanke: ›Wenn ich ihn heute nicht sehe, sehe ich ihn nie.‹

Am frühen Nachmittag bewegte sich ein langer Wagenzug auf der Straße den Fasanerien zu. Ilona stand schon eine Weile wartend mit ihren Kindern und ihren Mägden an der Gartentür, als er vorüber kam. Gefährt reihte sich an Gefährt; im raschen Trabe sausten sie dahin, von dichten Staubwolken umwirbelt. Man hörte Pferde schnauben und Peitschen knallen, sah die weißen, weiten Ärmel der rosselenkenden Csikóse flattern, sah die Läufe von Gewehren blitzen, konnte auch wahrnehmen, daß die Equipagen dicht besetzt waren. Ihre Insassen zu unterscheiden bemühte sich Ilona umsonst. Jetzt aber schien ihr – und sie täuschte sich nicht –, daß in einem der Wagen eine lange, schmale Gestalt emporschnellte und zurückgewendet stehenblieb.

»Da ist einer, dem gefällt Euer Haus«, sprach eine alte Magd zur Bäuerin und sah sie an und schrie auf:

»Ein Licht! Ein Licht! In Eurem Gesichte ist ein Licht aufgegangen.« Die langjährige Dienerin durfte sich einen Scherz erlauben: »Wie Ihr dem nachschaut, so schaut man nur einem Liebhaber nach. Ich habe nicht gewußt, daß Ihr einen Liebhaber habt.«

»Niemand lernt aus«, erwiderte Ilona, »nicht einmal du.«

Der Alten fiel auf, wie sich die Züge der Frau verändert und förmlich verklärt hatten und wie ihr Atem flog, als sie nach einer Weile sprach:

»Ich gehe zur Hegerin, zur Lepták. Sie ist krank. Wenn mein Mann früher nach Hause kommt als ich, sag ihm, daß ich zur Lepták gegangen bin.«

»Schon gut«, erwiderte die Magd und warf einen wohlgefälligen Blick auf ihre Gebieterin. Wahrhaftig, sie hätte noch für ein junges Mädchen gelten können, trotz der kleinen, steifen Haube, die ihre aufgesteckten Zöpfe bedeckte. Wie jugendlich leuchteten ihre Augen, wie rein und fein war noch das Oval ihrer Wangen, wie hold der Mund mit den rosigen Lippen! Wie zart waren noch die schönen Formen der geschmeidigen Gestalt! Wirklich, liebreizend mußte sie jedem erscheinen, in ihrem schneeweißen, reich gefalteten Ärmelhemd, in dem eng anliegenden, gestickten Leibchen, das auf der Brust mit silbernen Schnallen geschlossen war.

Ilona hatte einen weiten Weg bis zum Hause der Hegerin. Es lag inmitten alter Linden und Buchen am Saume der Fasanerie. Die Sonne war schon hinter der fernen Bergkette versunken, die den Horizont in sanft hingleitenden Linien begrenzte, als die Bäuerin nach kurzem Besuche Abschied von der Kranken genommen hatte. Nun hastete sie vom Hegerhause fort, über einen schmalen Fußsteig, dem Fahrwege zu. Dieser zog gradaus durch eine mit hohem Grase bewachsene Wiese. Drüben im Feldgehölze, wo die letzten Triebe abgehalten wurden, fiel Schuß auf Schuß, und in der Nähe ringsum herrschte die Stille der Todesangst. Was da atmete an kleinem Getier in Federn und in Pelzen, ahnte wohl, daß es in naher Nachbarschaft ein großes Morden gab. Nichts regte sich – manchmal nur ließ kaum vernehmbar ein scheues Huschen von Baum zu Baum, ein scheues Schwirren von Zweig zu Zweig sich hören, aus einem Vogelkehlchen stieg ein furchtsames Gezwitscher.

Ilona schritt unter weißstämmigen Buchen am Wiesenrande dahin. Die Jagd bewegte sich in entgegengesetzter Richtung; schwächer tönte schon das Knallen der Schüsse. Sie blieb stehen, ratlos, wohin sie sich wenden sollte, um den Zug der Heimkehrenden noch zu erblicken. Aber da kam jemand quer über die Wiese, ein Jägerbursche, der ihr gewiß Auskunft geben könnte. Trotz der Entfernung glaubte sie ihn zu erkennen, an seinem leichten Gang, an seiner Art den Kopf zu tragen, stolz und keck, und den Hals zu wenden wie ein Hirschlein. Es war der Sérer, der hübsche Béressohn . . . Ja – und – nein! nein! . . . Es war ein anderer, es war der, den sie suchte, den zu erblicken, nur einmal, nur von weitem, ihr Mutterherz dürstete.

Jetzt durfte sie sich an seinem Anblick erlaben, konnte jeden Zug in seinem Gesichte sehen, jeden Finger zählen an seiner Hand, die nachlässig auf dem Riemen des Gewehres ruhte. Er trug einen braunen Jägeranzug mit grünen Aufschlägen, der schmalkrempige Hut war tief ins Genick zurückgeschoben, und er hatte noch seine fragenden, werbenden Augen und war ja auch fast noch ein Knabe und glich noch immer dem schönen Bilde im Zimmer der Gräfin.

Unwillkürlich war Ilona weiter zurück unter die Bäume getreten, aber er hatte sie schon bemerkt, näherte sich ihr bis auf wenige Schritte, grüßte und sprach:

»Bin ich recht auf dem Weg ins« – er hielt inne und verbesserte sich: »auf dem Wege zum Kastell?«

»Er ist leicht zu finden«, sagte sie und nahm alle ihre Willenskraft zusammen, um nicht durch eine Miene, nicht durch ein Beben der Stimme ihre Gemütsbewegung zu verraten. Dennoch mußte etwas an ihr ihm aufgefallen sein. Mit großer Aufmerksamkeit betrachtete er sie und mit einer gar liebenswürdigen, unbefangenen Bewunderung.

»Leicht zu finden? Mir nicht. Ich möchte aus dem Wald hinaus und irre seit einer halben Stunde herum . . . freilich bin ich hier fremd.«

»Ihr seid ganz recht gegangen, junger Herr, und könnt nicht mehr fehlen.« Ilona stand gerade aufgerichtet mit ineinander gefalteten Händen, regungslos, aber ihre Augen hingen an ihm mit innigstem Entzücken; die konnte sie von ihm nicht wenden.

»Ihr braucht nur den Fußsteig zu verfolgen, der den Weg kreuzt, ganz nahe bei der großen Buche. Man sieht sie von hier . . .«

»Die große Buche, ja – die dort . . .« Er sah nicht zu der Buche hin; er sah die schöne Bäuerin mit forschendem Staunen an – mit scheuer Ehrfurcht – mit brennendem Zweifel. Und plötzlich schüttelte er den Kopf wie einer, der sich sagt: ›Nein, es ist unmöglich.‹

»Der Fußsteig führt zum Hegerhause«, begann sie wieder. »Es steht am Ausgang des Waldes und . . .«

»Danke, danke vielmals«, unterbrach er sie, mit leise aufflammender Ungeduld, als wäre ihm um nähere Auskunft nicht mehr zu tun, und sie meinte ihre Entlassung aus diesen Worten herauszuhören.

Und wenn sie darin irrte – gleichviel! Ihre Seelenstärke hätte nicht mehr vorgehalten, es war Zeit, zu scheiden. Was wollte sie noch, und was durfte sie noch wollen? Hatte sie nicht geschworen, und war nicht ihr höchster Wunsch erfüllt?

»Lebt wohl, junger Herr«, sprach sie, und ihr gewaltsames Ringen nach Festigkeit gab ihrem Abschiedsgruß einen herben Klang.

»Lebt wohl«, sprach auch er, jetzt aber zögernd und unentschlossen. Wieder richtete er einen langen Blick auf sie, und eine Bitte lag in dem Ton, in dem er fragte: »Ihr habt nicht denselben Weg wie ich?«

Sie antwortete mit einer frommen Lüge: »Den entgegengesetzten.«

*

Stephan war früher zurückgekehrt als seine Frau und hatte sie mit Ungeduld erwartet. Nach dem Abendessen ging er, seine Pfeife im Freien zu rauchen. Ilona brachte die Kinder zu Bette und folgte ihm. Sie besprachen allerlei wirtschaftliche Angelegenheiten und Anordnungen für den morgigen Tag. Es war hohe Zeit, die Leute wieder zur Arbeit anzuhalten, die sie fast verlernt hatten bei den ewigen Festlichkeiten. Zum Glück gingen diese heute mit einem Schmaus im Wirtshause zu Ende, bei dem auf Kosten des neuen Gutsherrn gegessen und getrunken wurde. Den Schluß sollte ein Tanz auf dem beleuchteten Dorfplatze machen, und die Herrschaften hatten versprochen, sich dort einzufinden. Bei ihrem Empfange mußte Stephan mit den Häuptern der Gemeinde anwesend sein. »Komm mit«, sagte er zu Ilona, gab aber ihren Bitten, sie daheim zu lassen, nach – ungern genug. Beim Fortgehen trug er ihr etwas verdrießlich auf: »Geh schlafen, warte nicht auf mich, – ich komme spät.«

*

Die Frau und die Kinder, ein alter Knecht und sein Weib, die sich längst zur Ruhe begeben hatten in ihrer Kammer neben dem Kuhstalle, niemand sonst befand sich im Hause oder in seiner Umgebung.

Ilona saß am Tische, ihre Arbeit auf dem Schoße: Bauernstickerei, ein reiches Muster, in rotem Garn auf ungebleichter Leinwand auszuführen. Sie zog den Faden langsam auf und ab, und ihr Herz und ihre Gedanken waren bei dem Sohne, den sie mit Stolz und Wonne wiedergesehen. ›Wunder geschehen‹, hatte sie sich gesagt, und ein Wunder erschien ihr die Erfüllung der Sehnsucht ihres Lebens. Voll Gnade und Herrlichkeit war sie gekommen und hatte ihr das ungeliebte, verwaiste Kind als Jüngling, schön, gesund, glücklich vor Augen geführt. Nun wollte sie zufrieden sein und nur noch Gott danken . . . Aber das eine – das tat ihr leid: daß sie sich überhastig von ihm losgerissen, ihrer Selbstbeherrschung doch zuwenig zugetraut hatte. Warum war sie nicht bei ihm geblieben? Warum nicht ein Stück Weges mit ihm gegangen? – Peinigende Reue ergriff sie. So war es auch dieses Mal gekommen, wie es einst immer kam. Eine traurig getäuschte Erwartung hatte aus seinen Zügen gesprochen, als sie ihm auf die Frage: »Ihr habt nicht denselben Weg wie ich?« eine verneinende Antwort gab.

Die Luft in der Stube schien ihr dumpf und schwer geworden und lastete auf ihrer Brust. Sie trat an das Fenster, öffnete den Laden und die Flügel. Die Zigeunermusik klang herüber, wild und süß, einschmeichelnd und ergreifend. Hoch am Himmel schwamm der volle Mond und leuchtete inmitten eines tiefblauen, kreisrunden Grundes, von einem schimmernden Wolkenkranze umgeben. Sein Licht lag glanzvoll auf der weißen Straße, und dort draußen . . . Allgütiger, dem sie soeben gedankt hatte! – dort draußen sah Ilona ihren Erstgeborenen stehen. Ein wenig versteckt durch die Zweige des Nußbaumes, die ein Lufthauch über seinem Haupte wiegte, stand er ganz versunken und betrachtete, ein Fremdling, das Haus, in dem seine Mutter wohnte, mit dem Manne, den sie liebte, und den Kindern, die sie ihm geboren hatte.

»Du Armer! Du Lieber! Du Meiner!« Sie schlug die Hände vors Gesicht; sie konnte ihn so nicht sehen, es tat ihr zu weh . . . Aber zu ihm konnte sie! Alle Fesseln fielen von ihr ab. Da war kein Versprechen mehr und kein Schwur, da war nur eine große, allmächtige Liebe, und wie auf Flügeln trug diese Liebe sie zu ihm.

Mit einem halberstickten Jauchzen begrüßte er ihr Erscheinen.

»So bist du's? . . . Bist es wirklich? . . . Wirklich du?« Akos riß den Hut vom Kopfe, machte eine flehende Gebärde, bog das Knie und stieß leise hervor: »Verzeih! Verzeih!«

›Was verzeihen, – daß du lebst?‹ dachte Ilona und hätte ihn vom Boden aufheben, in ihre Arme nehmen und herzen mögen wie ein Kind.

Aber sie erfaßte nur seine Hand mit ihrer bebenden Rechten, sagte nur sanft und beklommen: »Komm«, und führte ihn in den Garten.

Und nun saß sie auf dem Bänkchen unter dem Nußbaume, und ihr Sohn kniete vor ihr, umfing sie und sprach: »Mutter!« Und wie ihre kleinen Buben konnte auch er sich nicht satt sprechen an dem Worte. Er preßte den Kopf an ihre Brust und bog sich zurück, um sie anzusehen, und sie strich ihm über die welligen Haare und küßte seine Stirn und seine Augen.

»Sprich! sprich!« bestürmte er sie; »warum sprichst du denn nicht zu mir?«

Sie sah ihn an mit unsagbarer Zärtlichkeit, nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und beugte sich so tief über ihn, daß er die Bewegung ihrer Lippen auf seinem Gesichte fühlte, als sie sagte: »Ich habe zuviel zu fragen, weiß nicht wo anfangen . . . Wie kommst du daher, mein Kind? Mein Kind», wiederholte sie. »Du solltest ja von mir nicht wissen . . . Wer hat dir gesagt? . . . Und hast du dich denn nach mir gesehnt?«

»Ich habe mich immer nach dir gesehnt . . . Ich habe immer an dich gedacht, immer, immer! Schon deshalb, weil sie mir sagten: ›Denk nicht immer an deine Mutter‹« – er erschrak, warf sich über ihre Hände und küßte sie heiß und inbrünstig. »O nein, nicht bloß deshalb – du verstehst, nicht wahr? Nur ein bißchen auch deshalb . . . Sie denkt nicht an dich, was hast du immer an sie zu denken? . . . Ich habe ihnen das nicht geglaubt, daß du nicht an mich denkst, ich habe mich immer an den Tag erinnert in Ováros, wie du mich gefragt hast: ›Willst du mir nicht auch Lebewohl sagen, Akos?‹ – und wie du mich ans Herz genommen und umarmt hast.«

»Nur daran hast du dich erinnert, nur daran? O Dank!« sagte sie.

»Ich sollte nicht von dir wissen«, begann er wieder, ich sollte nicht zu dir kommen, aber ich wollte!« Kindischer Trotz und männliche Kraft mischten sich in seinem Tone. »Und ich habe mich erkundigt und gefragt und nichts erfahren können, nichts und nichts . . . bis endlich die Vilma Rezsa aus der oberen Gegend gekommen ist. Die liebe Vilma Rezsa«, brach er aus und lachte, »die göttliche! Mein ganzes Geld habe ich ihr in ihren Kasten geschüttet, und dafür habe ich durch sie alles erfahren: wo du wohnst, und wie dein Haus aussieht und wie du aussiehst . . . Nein, Mutter, nein! das hat sie mir nicht sagen können . . . und ich habe es mir nicht vorstellen können, Mutter, daß du noch so jung bist, und habe dich deshalb auch so fremd angesprochen und habe ins Dorf gehen wollen, dich zu suchen.«

»Wie verdien ich's nur, Akos, daß du mich aufsuchst? Ich verdien es nicht!«

Eine Flut von Liebkosungen unterbrach sie: »Das sage nicht! Um Gottes willen das nicht! . . . Du mußt wissen, liebe, liebe Mutter: Ich bin hinter alles gekommen, was sie so sorgsam vor mir verbergen . . . ich verstehe, ich begreife dich, Mutter. Alles, was du getan hast, war recht, und wie du's getan hast, so war's recht.«

»Gar nichts, gar nichts war recht«, unterbrach sie ihn aufflammend in Verwirrung, »und auch jetzt ist nicht recht, was ich tue. Ich sollte dich fern von mir halten, und sieh, ich schließe dich an mein Herz fest mit beiden Armen. Ich habe versprochen, daß du mein Haus niemals betreten sollst, und sieh, ich führe dich selbst hinein.«

»Ist denn das dein Haus?« fragte er. »Das ist ja nur dein Garten.« Ein Frohlocken war in seiner Stimme. »Du hast dein Wort gehalten. Ich aber«, nun erhob er den Kopf stolz und herausfordernd, »ich habe gelogen, betrogen, um dich nur einmal sehen, um nur einmal zu dir kommen zu können. Sie wissen nicht daheim, daß ich bei dir bin; sie glauben, daß ich noch in Dulana bin bei meinem Vetter. Ich habe mir eine Einladung verschafft für heute zur Jagd und bin die ganze Nacht wie der Teufel gefahren und geritten . . . Ich habe kommen müssen, Mutter. Ich habe nicht mehr schlafen, nicht essen und trinken können aus Sehnsucht. Immer nur habe ich gedacht: ›Ich will meine Mutter sehen, ich will sie fragen: Hast du mich lieb und willst du mich nicht segnen?‹ In einem Monat gehe ich zur Konfirmation, und meine Mutter lebt, und ich soll ohne ihren Segen zur Konfirmation gehen?« Er ließ sich tiefer in die Knie sinken, breitete beide Arme aus und rief ungestüm und voll heißer Inbrunst: »Mutter, segne mich!«

Sie legte beide Hände auf seinen Scheitel, sie schluchzte.

»Warum weinst du?« fragte er bestürzt; »ich bin glücklich und werde jetzt immer glücklich sein. Mir ist mein höchster Wunsch erfüllt.«

»Und mir der meine«, sagte sie.

»Dann also weint man nicht, man jubelt!« Er stand auf, stellte sich neben sie und war auf einmal der Überlegene und redete ihr zu, die köstliche Stunde, die ihnen geschenkt war, voll und rein zu genießen. Dann verlangte er, daß sie ihm von ihrem Leben erzähle, von ihrem Manne, ihrem Anwesen, ihrer Tätigkeit. Mit heiterer Spannung hörte er ihr zu, nur als sie von ihren Kindern sprach, flog ein Schatten über seine Stirn. Sie bemerkte es, sie schloß:

»Ich habe alles Gute gehabt, aber eine ganze Freude, selbst an den Kindern nicht. Der Gedanke, daß ich dir eine schlechte Mutter war, ist mir nachgegangen, hat mich gequält wie das böse Gewissen.«

»Wirf ihn weg, den Gedanken! wirf ihn weg! Besinne dich nur, daß wir einander übermenschlich liebhaben bis ans Ende unseres Lebens, Mutter! Auch das meine ist schön und gut, und auch das meine wird von nun an ganz ungetrübt sein.«

Ihm quollen die Lippen über, wie sein Herz überquoll. Er wußte alles von seiner Mutter, sie mußte alles von ihm wissen. Wieviel es schon zu tun gab für ihn in Ováros, unter der Leitung des Zweitältesten seiner Vettern, der die Güter verwaltete. Er hatte geheiratet, dieser Vetter, eine nette Frau, und hatte auch ganz nette Kinder. Aber wenn Akos nicht zum Rechten sähe, sie würden sehr verzogen.

Seine Mutter sah ihn mit strahlendem Blicke an: »Du Lieber! . . . und, sage mir, wer bereitet dich vor zur Konfirmation?«

»Nun, doch Déry . . .« Er verbesserte sich: »Der Herr Pastor.«

»Ist er wiedergekommen? Ich habe gehört, er sei nicht mehr in Ováros.«

»Ist wiedergekommen, und, Mutter, weißt du, was er mir gesagt hat?«

»Wie soll ich das wissen, Kind?«

»Er hat gesagt: ›Ich habe nach einem größeren Wirkungskreise gestrebt und dabei eine Erfahrung gemacht. Will's Gott, auch zu deinem Besten, Akos. Merke dir! Nicht wie weit, sondern wie tief du wirkst, darauf kommt's an.‹ Verstehst du das, Mutter? Ich glaube, ich versteh's.«

Ilona legte den Arm um seinen Hals und zog ihn an sich: »Du wirst dem Pastor sagen, daß du bei mir gewesen bist.«

»O nein, gewiß nicht, Mutter.«

»Ich bitte dich darum.«

»Und ich bitte und flehe dich an, Mutter, lasse das unser Geheimnis bleiben – unser Kleinod, unser vor allen anderen verborgenes Kleinod. Etwas will ich haben, muß ich haben, Mutter, das ganz allein dir und mir gehört!«

»Und wenn mein Mann fragt: ›Wer war bei dir?‹ Soll ich lügen?«

»Zu lügen brauchst du nicht. Aber wie lieb du mich hast, darf nur ich allein wissen, das sagst du nicht ihm und keinem. Versprichst du's?«

»Ich verspreche es. Und wie lieb du mich hast, das bleibt mein Geheimnis und mein Kleinod, und ich werde dir dafür danken alle Stunden meines Lebens.«

Daß aber die gegenwärtige Stunde, die einzige und gebenedeite, die sich nie wiederholen sollte, die höchste ihres ganzen Lebens bleiben würde, fühlte sie. Und dasselbe Bewußtsein blühte in ihrem Kinde auf. Das Beste, das zwei Menschen einander verdanken können, verdanken einander diese Mutter und dieser Sohn.

So war ihr Scheiden kein schmerzliches Losreißen, es fand sie beide bereichert um ein unschätzbares Gut. Er trug das Haupt hoch, auf dem der Segen seiner Mutter ruhte, sie hatte ihren Frieden gefunden.

*

Ilona schickte sich an ins Haus zu treten, als Stephan zurückkehrte und sie rauh anließ mit der Frage, die sie erwartet hatte:

»Noch im Garten: War jemand bei dir?« Er sah so dräuend aus wie damals, als er ihr im Gang aufgelauert, sie beschimpft hatte. Sie aber fürchtete ihn nicht mehr. Ruhig, mit gelassenem Stolze erwiderte sie:

»Mein Sohn Akos.«

»Was will er? Dich uns nehmen? . . . Hat er's nicht schon getan?«

»Mann«, sprach Ilona mit einem herrlichen Lächeln, »er hat mich Euch zurückgegeben.«



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